Mit der folgenden Darstellung, EUROPÄISCHE PUBLIKATION, Nr. 7 „Vorgeschichte und Beginn des militärischen Widerstandes gegen Hitler" von Dr. Helmut Krausnick, Referent im Institut für Zeitgeschichte, setzen wir die Veröffentlichungen der Münchener Arbeitsgemeinschaft „EUROPÄISCHE PUBLIKATION“ fort. (Vgl. Ausgaben der Beilagen von 4. /26. Mai und 2. Juni mit den Veröffentlichungen EUROPÄISCHE PUBLIKATION. 1— 6.)
Die verhängnisvolle innere und äußere Entwicklung Deutschlands unter dem sittlich entarteten Regime des Nationalsozialismus hat dahin geführt, daß an die Armee als den allein verbliebenen Träger ethischer Überlieferungen, der sich im Besitz materieller Machtmittel befand, Aufgaben und Verantwortlichkeiten herantraten, die ihm in gesunden Zeiten gewiß nicht obliegen. „Exercitus facit imperatorem" — die relative Wahrheit und die offenkundige Fragwürdigkeit, die diesem alten Satz gleichermaßen inne-wohnen bezeichnen auch die Problematik, die in der Wirklichkeit unserer Tage für ein Heer sich erhebt, das bei aller berechtigten Sonderung doch dem Wohl der Gesamtheit verbunden und verpflichtet bleiben will. Die Frage aber nach dem, w a s in einer außergewöhnlichen Lage diese Verpflichtung von der deutschen Wehrmacht forderte, und die weitere Frage, w i e von ihr solcher Forderung entsprochen wurde, beschäftigen diesseits und jenseits der deutschen Grenzen bis heute die Geister. Teil ihres Volkes und Kind ihrer Zeit, sollte die Wehrmacht nach der Meinung der einen die zeitlos gültigen Prinzipien der Menschlichkeit, des Rechts und der Sitte in ihrer Geltung für das Gemeinwesen bewahren oder aus eigener Verantwortung wieder in Geltung setzen. Bewährter Überlieferung gemäß bloßes Werkzeug welcher Staatsführung auch immer, hatte die Wehrmacht, so meinen andere, in den Bahnen soldatischen Gehorsams zu verharren, wenn sie ihrem Wesen treu bleiben und nicht für alle Zukunft die Grundlagen ihres Seins in Frage stellen wollte. Eine dritte Gruppe, noch heute ohne Gefühl für die Schändung des deutschen Namens durch das Regime Hitlers, möchte zumal den von Soldaten nach hartem Gewissenskampf geleisteten Widerstand aus naheliegenden Gründen für das Scheitern einer bis zum bitteren Ende durchgeführten Machtprobe verantwortlich machen. So steht das Handeln einer „militärischen Opposition“ in einem Kampf nach mehreren Fronten um seine geschichtliche Faktizität und Berechtigung. Es wird damit Aufgabe und Verpflichtung des Historikers, — zumal des deutschen, der den Faktoren des Geschehens in seinem Volke und Lande in ihrer Besonderheit und Mannigfaltigkeit von Hause aus näher steht —, die geistige Auseinandersetzung um den „militärischen Widerstand" über Meinungen und Vorurteile des Tages hinausheben. Es gilt, Haltung und Handeln der deutschen Wehrmacht unter den Voraussetzungen ihres Wesens und ihrer Entwicklung zu betrachten, sie hineinzustellen in die Einmaligkeit der konkreten geschichtlichen Situation und womöglich die einzigartige Atmosphäre der Zeit heraufzubeschwören. Erst damit werden die Maßstäbe für ein Urteil geschaffen, in dem Licht und Schatten gleichermaßen ihren Platz finden. Und allein die geistige Bewältigung des Erlebten wird imstande sein, aus den Irrtümern der Vergangenheit ein Erfahrungsgut für die Zukunft zu gewinnen.
Reichswehr, Weimarer Staat und Nationalsozialismus 1919-1933
Rolle und Schicksal des deutschen Heeres unter der nationalsozialistischen Herrschaft sind in vieler Hinsicht bereits durch die besondere Stellung bedingt, die das Heer und seine Angehörigen i n und z u der Republik von Weimar eingenommen hatten. So wirkte diese auch in der Problematik fort, die für den „militärischen Widerstand“ gegen Hitler Bedeutung gewann. Es gilt mithin, die allgemeinen Voraussetzungen und die tatsächliche Gestaltung des Verhältnisses von Wehrmacht und Staat nach dem ersten Weltkrieg ins Auge zu fassen.
1. Reichswehr und Republik 1919— 1928 Es muß, geschichtlich gesehen, als fragwürdiger Vorteil für die innere Entwicklung Deutschlands angesprochen werden, daß die militärische Niederlage von 1918 durch die Umstände, unter denen der Krieg vor dem völligen Zusammenbruch beendet und dann von zivilen Amtsträgern liquidiert wurde, in ihrer psychologischen Auswirkung eigentümlich abgeschwächt worden ist. Denn diese Tatsache förderte die Neigung einer in ihrem Selbstbewußtsein tief verwundeten Nation, Gründe und Ausmaß jener militärischen Niederlage hinwegzudisputieren und sogar zu verfälschen. Sie erschwerte zugleich die geistig-soziale Umstellung, die längst ein Gebot der Zeit gewesen war und die der Übergang vom Obrigkeitsstaat zur demokratischenHerrschaftsform nunmehr gebieterisch verlangte. Die geschichtlichen und politischen Belastungen, unter denen im übrigen der Weimarer Staat als „improvisierte Demokratie“ ins Leben trat, bestärkten weite und einflußreich bleibende Volksteile in ihrem Widerwillen, die neue Herrschaftsform als etwas Unabänderliches hinzunehmen, geschweige denn von innen heraus als eine positive Schöpfung zu bejahen.
Was die Gefühle wichtiger Bevölkerungsschichten Deutschlands bestimmte, galt aus gleichen und besonderen Gründen erst recht für die Wehrmacht des Versailler Vertrages. Von alten Offizieren des kaiserlichen Heeres als einem politisch und sozial annähernd homogenen Gefüge aufgebaut und geleitet, durch überlange Dienstzeit ihrer Angehörigen vom Volksganzen abgesondert, bildete sie einen Fremdkörper, einen „monarchischen Rest“ in einer demokratischen Republik, die ihres guten Willens von Anfang an bedurfte, um ein Abgleiten des jungen Staates ins Chaos zu verhüten. Nur mühsam und unter beiderseits schwer tragbaren Verzichten der Partner hatte dieses heterogene Zweck-und Notbündnis zunächst überhaupt funktioniert. Die Offiziere blieben, wie es nach Dauer und Stärke der alten Institutionen kaum anders zu erwarten war, mit geringen Ausnahmen den überkommenen Bindungen verhaftet. Ihrer gesellschaftlichen Exklusivität entsprach eine politische. Von der Republik und ihrem keineswegs von gemeinschaftlicher Grundauffassung und Gesamtverantwortung getragenen Parteileben tief befremdet, erblickten sie in dem neuen Staatswesen, das keine einheitliche Wehrpolitik herauszubilden vermochte und auch noch der alten Flagge entsagt hatte, kaum mehr als eine Übergangserscheinung, die eines Tages zusammen mit dem Versailler Vertrage wieder verschwinden würde. Position und Einstellung der Reichswehr aber waren in hohem Grade das unausweichliche Ergebnis der geschichtlichen Bedingungen, unter denen sie in und mit dem neuen Staat entstand und sich entwickelte. Dessen Träger wiederum sahen, so hat man nicht mit Unrecht gesagt, „hinter der steinernen Neutralität der Heeresführung eine Gegenmacht sich konsolidieren, die eines Tages doch als ein selbständiger soziologischer und politischer Körper ihr volles, mit Mühe zurückgehaltenes Gewicht einsetzen“ würde
Lebendige Verkörperung dieser inneren Haltung der Reichswehr war der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt. „Nicht zum Staat im Staat soll das Here werden", schrieb er einige Jahre nach seiner Verabschiedung, „sondern im Staat dienend aufgehen und selbst zum reinsten Abbild des Staates werden" Doch nicht der konkrete Staat der Gegenwart, die Republik von Weimar, hat ihm dabei vorgeschwebt, sondern das idealisierte Scheinbild einer überparteilichen Staatsführung „bessererVergangenheit" und schönerer Zukunft. In einem vertraulichen Brief sprach er es offen aus: dieser Staat (oder doch seine legitime Regierung) sei der Reichswehr „ w e s e n s f r e m d “ Er habe es daher von Anfang an für seine Aufgabe gehalten, die Reichswehr zu einer „Stütze der Autorität des Reiches, nicht einer bestimmten Regierung" zu machen. Nur insoweit, ohne innere Bindung also, war für ihn auch ein Festhalten an den „Formen und Wegen" der Verfassung gegeben, die nach seinem Bekenntnis „in den grundlegenden Prinzipien" seinem politischen Denken widersprach Es bleibt, selbst wenn man die Worte nicht pressen will, bezeichnend genug, wenn Seeckt dem Wehrminister Noske, der sich als ehrlicher Makler zwischen Altem und Neuem vor seiner eigenen Partei und für sie exponierte, im Januar 1920 unumwunden erklärte: Die Truppe habe „das Gefühl, daß ihre Interessen im Ministerium nicht genügend vertreten sind, sondern politischen und allgemeinen Interessen mehr als zulässig geopfert werden“ Der General, der nur ein einziges Mal an einer Verfassungsfeier teilnahm und in der Folge für diesen Tag stets eine unaufschiebbare Dienstreise in seinem Jahresprogramm „verankert" hatte gedachte sich mit der Demokratie und ihren Repräsentanten, bei denen er Sinn für Macht, Autorität und Führung vermißte, nicht tiefer einzulassen. Stellte man nicht ohnehin überkommene Ideale und Prinzipien zurück, um dem bedrohten Ganzen zu dienen? Der Chef der Heeresleitung und seine Offiziere empfanden vorab sich selbst gleichsam als „Staatsersatz", als eine Art Treuhänder des wahren, überdauernden Deutschland und seiner nationalen Interessen, wie man selbst sie verstand
Im politischen Alltag freilich bewegte sich Seeckt nolens volens auf der Diagonale zwischen den Idealen von Vergangenheit und Zukunft — und den harten Tatsachen der Gegenwart. Er sagte amtlich den Extremen ab und proklamierte für die Reichswehr harte, nüchterne Arbeit er selbst blieb jedoch bei aller äußeren Distanz fast unablässig mit antidemokratischer Grundtendenz in das politische Kräftespiel des Tages eingeschaltet. Als gar im Sturmjahr 1923 vielerlei Exponenten der Gegenrevolution ihn umwarben, als seine Mitarbeiter fürchteten, man werde von der „nationalen Welle" fortgerissen werden, sofern man sich nicht mutig von ihr tragen lasse, da hat der General weitreichende Pläne diktatorialer oder halbdiktatorialer Natur geschmiedet und ihre Verwirklichung insgeheim vorbereitet Indes, er überschritt den Rubikon nicht; sicherlich weitgehend aus politischer Vernunft und einem Pflichtgefühl gegenüber dem Schicksal des Reiches, in dem ihn hemmungslose Abenteurer nur bestärken konnten; aber er blieb wohl auch deshalb passiv, weil er, letztlich keine Herrschernatur und sich der Grenzen seiner Kraft zutiefst bewußt, auf den gewissensentlastenden Zwang aller politischen Fakten und Faktoren wartete. Die vielberufene „Sphinx“, deren Maske sowohl politischen Zwiespalt wie persönliche Schwäche verbarg, ermutigte die gegenrevolutionären Kräfte und band sie andererseits. Sie konnte es sich gleichennaßen gestatten, ihre Hoffnungen zu beflügeln und bitter zu enttäuschen. Im Ausnahmezustand von 1923/24 wurde die prätendierte Rolle des Heeres als Staats-und Reichstreuhänder zwar legitime Realität; doch Seeckt beschränkte sich auf die einwandfreie Durchführung seines grundsätzlich befristeten Auftrages. Zur Republik aber, die er m i t dem „Reich"
gerettet hatte, verharrte er in jener „steinernen Neutralität“.
So unleugbar die Politik der Reichswehr von dem Gesetz ihrer Anfänge und von der inneren Schwäche des glanzlosen Weimarer Staates bestimmt war, so unverkennbar ist die problematische Seite dieser Haltung, ihre Zwiespältigkeit und Zweischneidigkeit. Man diente der Republik mit innerem Vorbehalt und stützte sie doch. Es war Seeckt bisweilen unliebsam genug, daß seine Person „und damit die Reichswehr nach außen hin als stärkste Stütze einer Regierung angesehen werden mußte“, mit der er „innerlich in wichtigen Fragen nicht übereinstimmte" Doch alle prinzipielle Distanz hatte in der Praxis eine Grenze, wenn man dem „Staat an sich" wirklich dienen und — wenn man sich selber nicht ausschalten wollte. Ein Ausweg aus diesem Dilemma lag allenfalls darin, daß man, wenn nicht eine staatliche Umwälzung, so doch die Bildung einer Regierung förderte, die wenigstens „staatserhaltende Politik im Innern“ im Sinne — und auch im engeren Interesse — der Reichswehr trieb. Das erforderte ein taktisches Heraustreten aus der grundsätzlichen Zurückhaltung, ein Herausholen auch der Gesinnungsgenossen von rechts aus negierender Opposition und „unfruchtbarer“ Selbstausschaltung. Schon bei Seeckt zeigen sich Ansätze zu solchem Bemühen, die ihn immer wieder in die Tagespolitik eingreifen ließen
Gegenüber der Öffentlichkeit aber galt streng der Grundsatz einer „unpolitischen“ oder „überparteilichen“ Reichswehr; wobei auch der Begriff „überparteilich“ tatsächlich mehr innere Vorbehalte gegenüber dem bestehenden Staat enthielt, als eine wirklich positive Einstellung zu ihm vertrug. Erst recht mußte die Führung der Reichswehr diese Maxime bei Offizierkorps und Truppe zur Geltung bringen, schon um deren innere Geschlossenheit zu sichern. Gleichsam als bewährtes Prinzip aus der monarchischen Ära übernommen, wo auf der Grundlage einer einheitlichen positiven Staatsgesinnung die Fernhaltung des Soldaten vom politischen Tageskampf seinem Dienst am Ganzen zugute kam, besaß die unpolitische oder überparteiliche Haltung in Wahrheit jetzt einen weitgehend negativen Sinn und einen zwiespältigen Charakter. Aus der Rückschau des verhängnisvollen Sommers 1934 nannte ein Artikel des Ministers von Blomberg die einstige Überparteilichkeit der Reichswehr geradezu ein „notwendiges Mittel“, um „abseits zu stehen“ und sich „als brauchbares Instrument für die Zukunft aufzusparen“ Diese Formulierung überspitzte noch zweckhaft die Dinge. Zweifellos aber diente die „unpolitische Haltung“ des Heeres nur scheinbar einer Überbrückung der Kluft zwischen Denken und Handeln und machte diese bestenfalls „erträglicher": Sie erleichterte in Wahrheit das Festhalten an den „alten Gefühlswerten“ einer Zeit, in der man gehorchen konnte ohne innere Konflikte. Es ist recht aufschlußreich, wenn Dietrich von Choltitz über Seeckt schreibt: „Nach all der Unsicherheit rettete er uns in die reine Sachlichkeit des Dienstes und die klaren Verhältnisse, wie sie zu Zeiten der Monarchie bestanden hatten". Immer mehr, so fährt er fort, erschien die Politik „als eine Welt. .., aus der sich fernhalten müsse, wer sein Leben klar und sauber zu führen gedenke“ Die „unpolitische" Haltung war denn auch für die Masse des Offizierkorps keine bloße Scheinposition. Man täuschte damit auf die Dauer nicht sowohl andere, als vielmehr sich selbst. Denn, kraß ausgedrückt, salvierte man auf dieser psychologischen Rückzugslinie sein Gewissen auch darüber, daß man innerlich „abseits“ stand und dennoch mittat und den wirklichen oder angeblichen Erfordernissen des Tages nachkam. So wurde aus einer unzweifelhaft echten Not eine problematische Tugend. Sie enthielt die Gefahr, daß man sich gewöhnte, Vorgänge und Erscheinungen, die dem innersten Empfinden zuwiderliefen, dennoch hinzunehmen und vor Tatsachen, die von anderen geschaffen waren, zurückzuweichen Den Eid, den man geleistet hatte, wollte man ehrlich halten; doch er war nicht ein Eid des Herzens, sondern des Verstandes und vielleicht der Resignation.
Dabei wurde die innere Distanz des Heeres zum politischen Leben der Nation von vielen seiner Angehörigen schmerzlich empfunden. Dies mußte ihren Wunsch lebendig erhalten, jene Distanz zu verringern und, wenn nicht den Staat zu stürzen, doch seine innere Form so weit zu wandeln, daß der Soldat ihm auch mit dem Herzen dienen konnte. 2. Hitler und die Reichswehr 1928— 1930 Hitler hat Stellung und Haltung der Reichswehr im Weimarer Staat zu keiner Zeit aus den Augen verloren. Er hat, wie wir sehen werden, ihren problematischen Charakter klar erkannt, mochten seine Äußerungen darüber auch von seiner jeweiligen politischen Zielsetzung bestimmt sein. Denn insgeheim beobachtete und beurteilte er Stellung und Haltung der Reichswehr stets unter den Gesichtspunkten, die ihm für die Eroberung der Macht wie für ihre künftige Ausübung und Behauptung durch ihn selbst gültig erschienen. Einen ersten Höhepunkt erreichte sein Kampf um und gegen den Kurs der Reichswehrführung vor dem Novemberputsch von 1923 in den bekannten Angriffen des „Völkischen Beobachters" auf Seeckt. Eine viel tiefer greifende, „prinzipiell“ angelegte Auseinandersetzung mit der politischen Gesamtkonzeption der Reichswehr aber kennzeichnet seinen zweiten großen Vorstoß, der in die Jahre 1929/30 fällt. Er richtete sich gegen die sogenannte „Oberste Heeresleitung von 1918“ die sich — mit Hindenburg als Reichspräsident, dem im Großen-Koalitions-Kabinett des Sozialdemokraten Müller als Wehrminister bestätigten Groener und dem Chef des Ministeramts v. Schleicher — in der Reichsführung wieder zusammengefunden hatte.
Von Hitlers Zielen und Interessen her war für solchen Vorstoß zu dieser Zeit Grund genug gegeben. Trotz aller Enttäuschung über Seeckt im Herbst 1923 konnte er sich, zumal aus der Rückschau, mit der attentistisch-neutralen Gesamthaltung des Generals, die zum Weimarer „System“ Distanz wahrte, noch einigermaßen abfinden. Sie bedeutete mindestens keine endgültige Vernichtung seiner Zukunftsaussichten. In der Ära Groeners und seines „Kardinals in politicis“ Schleicher jedoch schien jene Distanz sich spürbar zu verringern. Zwar kennzeichnete man weiterhin im Stile Seeckts die Aufgabe der Reichswehr dahin, „abseits aller Parteipolitik“ und mit dem „Kompaß auf strengste Sachlichkeit. . . nur der Idee des Staates“ zu dienen und selber ihr sinnfälliger Ausdruck zu sein Doch besaß der Begriff „Überparteilichkeit“ für die neue Leitung einen positiveren Charakter und damit mehr innere Echtheit. Groener sah den Weg zur völligen Überwindung der von seinen Standesgenossen verabscheuten Revolution gerade darin, „das deutsche Volk mit der Weimarer Verfassung, unbeschadet ihrer Verbesserungsbedürftigkeit auf manchen Gebieten, auszusöhnen“ Er lehnte es ab, „die Idee einer nationalen Wehrmacht einseitig zu orientieren“, und bemühte sich als Wehrminister der Großen Koalition offenkundig um eine Beseitigung des Mißtrauens, das die Linksparteien der Armee entgegenbrachten. „Die Wehrmacht“, so erklärte er im Juli 1928 in der Marineschule Flensburg« Mürwik, sei nicht etwa ein Staat im Staate, sie sei „das Machtinstrument der deutschen Republik, an dem von keiner Seite gerüttelt werden darf Setzte sich dieser Kurs in der Reichswehr durch, so mußte Hitler die Hoffnung aufgeben, mit ihrer Hilfe oder doch stillen Förderung den Weimarer Staat zu stürzen. Ein Wahlsieg aber wie der des 14. September 1930, der die Aussicht auf eine gewaltlose Eroberung der Macht eröffnete, schien noch in weiter Ferne zu liegen. So hing von der richtigen psychologischen Einwirkung auf die Reichswehr für Hitler Entscheidendes ab. Am 15. März 1929 führte er seinen Hauptschlag gegen den Kurs der Bendlerstraße in einer Massenversammlung in München mit einer großen, wohldurchdachten Rede zum Thema „Wir und die Reichswehr". Ihren Wortlaut ließ er bezeichnenderweise in einer „Reichswehr-Sondernummer" des „Völkischen Beobachters" weiter verbreiten Nach allem, was für ihn auf dem Spiel stand, kann es nicht wundernehmen, daß Hitler mit einer selbst bei ihm ungewöhnlichen Erbitterung und Schärfe sprach. Wenn je, so galt es jetzt, die problematische Stellung des Heeres im Weimarer Staat in ihren wunden Punkten zu treffen, um es in seiner Loyalität gegenüber der Republik zu erschüttern.
Hitler ging bei seiner Polemik von dem Grundsatz aus, daß ein Heer niemals Selbstzweck sein dürfe. Entscheidend sei nicht, ob etwas der Reichswehr nütze, sondern ob es dem Volk nütze. Für den Nationalsozialisten sei deshalb die Reichswehr, ob Miliz, ob Volksheer oder stehende Armee, immer nur ein Mittel zum Zweck. Denn — so behauptete er häufig — für den Nationalsozialisten stehe der Begriff „Volk“ noch höher als der Begriff „Staat". Und nun wollte Hitler eine Grundwahrheit über das Verhältnis von Heer und Staat verkünden, aber diese Grundwahrheit war nicht in seiner Schlußfolgerung, sondern in seinen Prämissen enthalten: „Wenn nämlich“, so führte er aus, „eine solche Organisation in keinem lebendigen inneren, sinngemäßen Zusammenhang mehr mit seinem wirklichen Zweck steht, sondern . . . sich als toter Mechanismus jeder Regierung zur Verfügung stellt, mag diese selbst aus einem Volke Riemen schneiden, sofern sie nur den Bestand dieses Mechanismus garantiert, dann -----haben wir vor uns eine Erscheinung, die wir begrifflich als „Militarismus'bezeichnen dürfen.“ Wir können diese ebenso törichte wie tendenziöse Definition des Militarismus auf sich beruhen lassen. Wir begnügen uns mit dem Hinweis darauf, daß Hitlers Beweisführung auch insofern unredlich war, als gerade die damalige Reichswehrleitung, wie er sehr wohl erkannte, die Armee aus der Exklusivität der Ära Seeckt zu lösen sich bemühte. Es entbehrt aus der Rückschau nicht einer gewissen Ironie, wenn Hitler sodann an die „wahre politische Mission“ der Reichswehr appellierte, „nicht etwa parteipolitisch zu denken, sondern das parteipolitische Getriebe und Ungeziefer zu vernichten“! Nun aber ging Hitler zum Hauptangriff über, indem er die Konzeption eines „unpolitischen" Heeres mit beißendem Hohn ad absurdum zu führen suchte: „Politik und Wehrmacht“, rief er nämlich aus, „müssen getrennt, vollkommen getrennt werden, d. h. die Politik wird von Gaunern gemacht, und an die Spitze der Wehrmacht müssen unpolitische Köpfe treten, gänzlich unpolitische Köpfe. Dann allein kann das Gaunertum ein Volk mit aller Seelenruhe beherrschen, dann hat das Gaunertum die offiziellen Machtmittel zur Seite, dann kann das Parteientum eine Nation zugrunde richten.“ Und nun sprach er, der als Inhaber der totalen Macht nie eine autonome Offiziersehre anerkannt hat, den großen Satz aus:
„Glauben Sie mir, es ist entsetzlich, wenn Offiziersehre sich nicht mehr deckt mit dem höchsten Ehrbegriff an sich.“ „Sobald überhaupt", betonte Hitler, „der Offizier hier ins Wanken geraten kann, sobald er überhaupt nur glaubt, sich auf irgendeiner mittleren Linie mit den Zerstörern des Vaterlandes, die er tausendfach vor sich enthüllt und entlarvt sehen muß, vielleicht doch treffen zu können, sobald er das tut, verläßt er seine Stellung. Im selben Augenblick . . . bricht etwas zusammen, was früher fast graniten und unerschütterlich schien,... um so mehr entfernt er sich vom Herzen seines Volkes." Wenn eine Staatsführung die höchsten moralischen Werte der Nation gefährdete, so gab es — Hitler zufolge — für den Offizier kein Zögern: Er verwehrte ihm vielmehr jedes Ausweichen vor der polititischen Mitverantwortung, indem er fortfuhr: „Man spreche sich nicht frei von Schuld! Es gibt keine Armee, die nur Selbstzweck hätte, sondern ihr Zweck heißt Dienst an der Nation . . . . Sie brauchen zunächst ein Volk, das gesund ist. Sie als Offiziere können nicht sagen, uns ist das gleich, wie die Nation aussieht, ob sie vergiftetoderverpestetist, obsieanGottglaubtodernicht. . .. Das können Sie nicht sagen. Sie brauchen das alles, sonstistIhreganzeTätigkeitnur oberflächlich, nur Scheintat.“ Gewiß war alles, was Hitler ausführte, auf die „Gefahr“ einer „marxistischen“ Diktatur gemünzt, die er der Reichswehr als Schreckgespenst vorhielt; aber das verringert nicht die grundsätzliche Bedeutung seiner Worte. Und nun entwarf der fanatisierte Redner ein Bild des künftigen Schicksals der Reichswehr selbst, indem er drohte: Siege der Marxismus dank des „genialen unpolitischen Verhaltens“ der Generale, so werde man diesen rote Jakobinermützen über den Kopf stülpen, so werde auch in Deutschland „eine Truppe entstehen, ähnlich der russischen Henker-armee. . . .“ Und Hitler vollendete das Bild mit der bezeichnenden Prognose: „Büttel des neuen Regiments können Sie dann sein und politische Kommissare, und wenn Sie nicht funktionieren, werden Weib und Kind hinter geschlossene Riegel gesetzt (!), und wenn Sie dann immer noch nicht funktionieren, fliegen Sie hinaus und werden vielleicht an die Wand gestellt; denn ein Menschenleben gilt wenig bei denen, die ein Volk vernichten wollen.“
Es war nach allen Begriffen der damaligen Zeit ein Zerrbild, das Hitler von der Zukunft einer „unpolitischen" Reichswehr entwarf, die sich den demokratischen Linksparteien der Republik nähern würde. Denn keine von ihnen konnte nach Lage der Dinge ernstlich das Ziel ins Auge fassen, die Reichswehr zum fügsamen Instrument einer schrankenlosen Willkür-herrschaft zu machen. Rückschauend aber stellt man mit Überraschung fest, daß Hitlers tendenziöses Zukunftsbild einmal in vielen Stücken Realität geworden ist: als er selber die totale Macht besaß. — Mit zweckhafter Theoretik wie immer, aber grundsätzlich und praktisch fraglos mit Recht arbeitete er zunächst die Schäden heraus, die eine Isolierung der Wehrmacht vom politischen Leben der Gesamtheit für die Entwicklung der Nation im ganzen und der Wehrmacht im besonderen nach sich ziehen mußte Demagogisch und fanatisch zugleich aber steigerte Hitler die Darstellung dieser schädlichen Folgen weiter bis zu einem Extrem, das allen zeitgemäßen Vorstellungen Hohn sprach und als Ausgeburt eines krankhaften Geistes gelten konnte. Was seine Phantasie entwarf, war das erschreckende Bild einer unpolitischen Armee, die sich dem wahren Interesse der Gesamtheit entfremdet hatte, in der Hand ruchloser Partei-Politiker. Wer hätte es besser vorauszeichnen können als er? Seine Verwirklichung in den von ihm geschilderten Erscheinungsformen aber erforderte nicht weniger als die Herrschaft einer moralisch entarteten Staatsführung. Hitler entwarf dieses Bild schon jetzt mit allen Gewissenskonflikten und -geboten, die sich nach seiner Auffassung für den ethisch verwurzelten Offizier unter den angenommenen Verhältnissen ergeben mußten. Damit enthüllt sich seine Prognose als das Bild von Vorstellungen und Handlungen, wie sie seinem Geist und Gewissen entsprachen. Wie so oft in Wort und Schrift, entwarf und „prophezeite“ er, was seine dämonische Natur heraufzuführen imstande war: weshalb denn auch seine Ausführungen eine so starke und lehrreiche Bezogenheit auf die Problematik besitzen, um die es uns geht.
Doch Hitler schreckte nicht nur die Reichswehr mit jenem düsteren Zukunftsbild; er zeigte ihr gleichzeitig die verführerische Perspektive eines Zusammenschlusses mit denen, „die in sich tragen die Kraft des Volkes und die bereit sind, . . . mit dieser Armee eines Tages auch für die Interessen des Volkes einzutreten“ Dieser Lockung mit der wehr-freudigen Gesinnung seiner eigenen Anhängerschaft setzte er die Armee in der Folgezeit in immer steigendem Maße aus. 1930 zerbrach zwar die ihm verhaßte Regierung der Großen Koalition. Doch den Bemühungen Groeners um Überbrückung der Kluft zwischen Reichswehr und Republik widerstritten wenigstens grundsätzlich nicht die Bestrebungen namentlich Schleichers, dem bestehenden Staat nach Abspaltung der „Volkskonservativen“ von Hugenbergs Oppositionsblock eine „regierungsfähige Rechte“ zu geben Mit dem so angebahnten Kabinett Brüning, das sich auf den Reichspräsidenten stützte und schließlich bei tolerierender Mitwirkung des funktionell gelähmten Parlaments weitgehend autoritär regierte, wurde die Reichswehr in zunehmendem Maße selbst aktiver Träger der Reichspolitik. Sie machte sich damit zur Stütze nicht sowohl der Republik, als vielmehr einer überparteilichen Staatsführung, wie sie ihren Anschauungen entsprach. Das war für Hitlers Ziele freilich eine kaum weniger gefährliche Entwicklung. Seinem Gegenspiel aber kam zugute, daß sich in der jüngeren Generation des Offizierkorps ein starker Widerwille gegen die geflissentlich als „Linkskurs“ diffamierte Haltung Groeners regte, der schon seine Haltung im November 1918 „belastete" Die Mißstimmung über diesen Kurs konnte sich für noch größere Teile der Reichswehr mit Bedenken gegen die „Politisierung“ der Armee überhaupt verknüpfen, zu der Groener und Schleicher die Hand boten -Verriet man damit nicht die „bewährten" Grundsätze aus den „großen Tagen“
Seeckts — ehe „der-Konflikt zwischen Front und Büro begann“, wie der im Leipziger Hochverratsprozeß verurteilte Ulmer Leutnant Scheringer in einem Brief aus der Festung Gollnow es zugespitzt formulierte? „Seit dem Rücktritt des Generals von Seeckt" — so ließ sich denn auch Hitler im Juni 1930 vernehmen — „ist der demokratisch-pazifistische Einfluß unermüdlich tätig, um aus der deutschen Reichswehr das zu machen, was den parlamentarischen Regenten des heutigen Staates als angenehmstes Ideal vorschwebt: eine republikanisch-demokratische Parlamentswache!" Wieder glaubte er der Reichswehr eine „schlechte Entwicklung" ihrer „moralischen Qualitäten" prophezeien zu müssen, „wenn sie immer mehr in der Rolle einer inneren Staatspolizei verkommt“. So plump, so demagogisch vor allem im Hinblick auf die damalige Reichs-führung, solche Parolen heute erscheinen müssen — private und öffentliche Stimmen der Zeit bestätigen ihre psychologische Wirksamkeit. Selbst eine Zeitung der gemäßigten Reckten attestierte anläßlich des Leipziger Offiziersprozesses den „zuständigen militärischen Stellen“ eine „bedenkliche Ferne vom Pulsschlag der jungen Generation auch in der Armee“. Den von einem relativ milden Urteilsspruch Getroffenen aber bescheinigte sie die Reinheit ihrer „innen-und außenpolitisch bedingten“ Motive. Ein Blatt der Zentrumspartei bemerkte verständnisvoll, Deutschlands Jugend „stehe in einem Ring feindlicher Nachbarn und unter den nicht nur wirtschaftlich, sondern in erster Linie geistig niederbeugenden Auswirkungen eines verlorenen Krieges“ Einer der Männer des 20. Juli aber, der damalige Oberleutnant Stieff, schrieb im Oktober 1930 von der „schweren Vertrauenskrise“, in die „das Reichswehrministerium mit seinem in diesen Fragen tonangebenden General von Schleicher“ das Heer gebracht habe. „Sind nicht ihre Nöte auch die unseren?", so fragte er im Hinblick auf die Verurteilten. „Die Berechtigung dieser Nöte ist doch, weiß Gott, anzuerkennen. Wenn man es nicht tut, stellt man uns seelen-losen Landsknechten gleich. Das sind wir aber nicht und wollen es nicht sein. Unsere höchste Führung aber glaubt es tun zu können, weil auch sie parlamentarisch verseucht ist und gar nicht mehr mit dem Herzen, sondern nur noch mit der Zahl und dem . Verstand“ jonglieren kann.“ — „Jeder Rationalismus . . . hat einmal ein Ende. . . . Und so muß auch eine politische und Heeresführung Rücksicht nehmen auf das Lebenselixier des Soldaten, seine uneigennützige Vaterlandsliebe.“
Hitler wußte längst von dieser Stimmung unter den Altersgenossen der Ulmer Offiziere, für die auch ihr Regimentskommandeur, kein anderer als der spätere Generalstabschef Beck, vor Gericht eine Lanze brach. Und Hitler hat alles getan, jenes Unbehagen, wenn nicht zu erzeugen, so doch zu fördern. Geschickt appellierte er jetzt an die wahre Rolle und Würde des Heeres, indem er dozierte: „Die Fortsetzung der alten Tradition liegt nun einmal nicht in der gelungenen Überwindung von ein paar inneren Streikrevolten, sondern im Ruhm siegreicher Schlachten sowie in der Pflege desjenigen Geistes, der dahin führt.“ Und es sprach nicht minder geschickt das Herz der militärischen Jugend an, wenn er fortfuhr: Je mehr die Reichswehr „aufhört, eine Repräsentantin des bewußt und betont nationalen Gedankens zu sein, je mehr sie in ihren eigenen Reihen den offensiven nationalen, also nationalistischen Geist tötet. . . , um so mehr entfremdet sie sich dem wirklichen (!) deutschen Volk. . . . Die schlauen Herren des heutigen Reichswehrministeriums mögen sich ja nicht einbilden, daß sie durch Konzessionen an den marxistisch-demokratischen Teil unseres Volkes den . Anschluß an das Volk'finden könnten. . . . Der einzige Teil, zu dem eine Armee mit militärisch wertvollem Sinn und Inhalt eine innere Beziehung unterhalten kann, ist jener bewußt nationale Kern eines Volkes, der nicht nur aus Tradition soldatisch denkt, sondern der auch aus nationaler Liebe, Gesinnung und Begeisterung jederzeit bereit ist, den Waffenrock zum Schutze, zur Ehre und zur Freiheit eines Volkes selbst anzuziehen.“ — „Wir selbst sind zu schwach und müssen den Anschluß an wehrwillige Kreise haben“, so kennzeichnete der junge Oberleutnant Stieff in seinem Briefe zutreffend die Auffassung zahlreicher Angehörigen des Heeres 3. Die Reichswehr in der Endphase der Weimarer Republik 1930— 1933 Der Ausgang der Reichstagswahl vom 14. September 1930, der den Nationalsozialisten 107 Mandate einbrachte, verschob den Schwerpunkt des innerpolitischen Kräftespiels. Wesentlich dieses Ereignis hat, im Zu-sammenhang mit anderen politischen und mit personellen Faktoren, der Konzeption Groeners die praktischen Voraussetzungen genommen. Namentlich Schleicher, bisher im Ziele wie im Wege mit Groener weitgehend einig, sah sich vor eine neue Lage gestellt. Nicht nur um des Staates, sondern auch um der Reichswehr selbst willen — sollte die eigenständige, überparteiliche Stellung des Heeres nicht durch die Einwirkung der nationalen Parolen auf seine jüngere Generation gefährdet werden —, schien es ihm unumgänglich, ihr Rechnung zu tragen. Das hieß nach seiner Meinung, die besonnene Elemente des jüngeren Offizierkorps teilten, keineswegs, sich der „Bewegung“ einfach ausliefern. Wohl aber hielt er es für erforderlich, die NSDAP so bald wie möglich aus ihrer bequemen Opposition heraus-und in die unpopuläre Verantwortung hereinzunehmen. So mochte die wehrfreudige Gesinnung ihrer Anhängerschaft den militärischen Zielen der Gegenwart und Zukunft nutzbar gemacht, gleichzeitig aber die Entwicklung zur autoritären Regierungsführung im Sinne der Reichswehr gefördert werden. Noch schien Schleicher die Position des Heeres intakt und stark genug dafür, Gelüsten der NSDAP nach schrankenloser Herrschaft zu begegnen und sie zu einer dienenden Rolle, wenn nötig, zu zwingen Ob die Persönlichkeit Hitlers solche Hoffnungen überhaupt gestattete, blieb dabei offenbar außer Betracht.
Es entspricht nicht unserer Aufgabe, des näheren zu schildern, wie Schleicher bei seinem Bemühen der Eindämmung und Bändigung der NSDAP ein gutes Stück Weges mit Brüning zusammengehen konnte und wirklich zusammenging; wie er, der später von sich behauptete, seit September 1930 „konsequent und hartnäckig für die Heranziehung der NSDAP zur Regierung eingetreten" zu sein zur Erreichung dieses Zieles schließlich bedenkliche Mittel und Wege wählte. Höchstpersönlich ließ er sich auf fragwürdige Unterhandlungen mit der Partei ein. Seine Wandlung vom Anhänger zum Gegner des SA-Verbots führte den Staats-wagen auf die schiefene Ebene. War die (im Grunde doch unverbindliche) Anlehnung Brünings an die Sozialdemokraten, zu der ihn die Obstruktion der Rechten zwang, nicht nach dem Herzen der Reichswehr und Schleichers selbst? Wollte er es zur Kraftprobe des SA-Verbots treiben und sich persönlich dabei abseits stellen, glaubte er mit der Billigung dieses Verbots der Reichswehr zuviel zuzumuten und vor allem sein „hartnäckig“ verfolgtes Ziel zu gefährden oder verlor er einfach die Nerven? Wie er schließlich selber seine Politik von seinen Offizieren angesehen wissen wollte, zeigt das für Schleicher weit positiver gehaltene Bild des Oberleutnants Stieff vom 21. August 1932 „Die Parteien sind das Unglück Deutschlands. . . . Deswegen muß die Regierung von den Fesseln des Parlamentarismus befreit werden, um unabhängig arbeiten zu können, gestützt auf das Vertrauen des Reichspräsidenten und die Macht der Reichswehr. Beide Machtfaktoren verkörpern in sinnbildlichster Weise den Gedanken der Reichseinheit und sind infolge ihrer überparteilichen Stellung besonders geeignet, allein für das Staatswohl arbeitend, ausgleichend zu wirken und somit die einzige Basis für eine Regierung, wie wir sie jetzt brauchen, abzugeben. Brüning hat dem Reichspräsidenten auf diesem von ihm schon lange beabsichtigten Wege nicht folgen können, und er hat sich schließlich mehr oder weniger wieder von den Parteien abhängig gemacht (!). Deshalb mußte er gehen. Die NSDAP hat zweifellos der Schleicherschen Politik durch vieles die Wege geebnet. Ihre Forderung nach einseitiger Macht ihrerseits steht aber dem Erfordernis nach einer überparteilichen Regierungsgewalt entgegen. Deshalb wird man nun die NSDAP genau so als Parteiübel behandeln wie die anderen. Ich glaube, daß wir mit der Zeit noch überraschende Dinge erleben werden und daß wir in bezug auf die Struktur des Reiches an einem ebenso entscheidenden Wendepunkt stehen, wie es der IS. 1. 1871 und der 9. 11. 1918 waren. Ich habe die unbedingte Zuversicht, daß sich der zwölfjährige Ausbau der Reichswehr zu einem überparteilichen Instrument sehr bald zum Wohle unseres Vaterlandes auswirken wird.“
So hatte sich Schleicher, wie einer seiner Mitarbeiter zutreffend sagt, „durch seine politischen Erfolge und die Stellung, die er der Reichswehr geschaffen . . . , die unwillkürliche Anerkennung des Offizierkorps erworben" — ohne jedoch das Herz der Reichswehr gewonnen zu haben! Seinem eigenen Zeugnis zufolge ist Schleicher nach den Sommerwahlen 1932 „nachdrücklich“ für die Kanzlerschaft Hitlers eingetreten, wenn auch gewiß nicht im Sinne unumschränkter Gewalt. Seit der Absage Hindenburgs vom 13. August will er sie indes „nicht mehr für möglich gehalten" haben, weil er „den Widerstand des Reichspräsidenten bzw.seines einzig einflußreichen Beraters für unüberwindlich hielt“ Nachdem die Basis des Kabinetts Papen immer schmaler geworden war, übernahm Schleicher, in der Hoffnung und dem Wunsche, den offenen Kampf mit der NSDAP unter Einsatz der Reichswehr noch zu vermeiden und einen Weg für die Beteiligung der Partei an der Regierung zu finden, selber das Kanzleramt. Damit stand, wie es schien, nunmehr „die Reichs-wehr“ selbst als Inhaber der Macht Hitler und seinem Anspruch auf die Staatsführung gegenüber: im Grunde die unerwünschteste und bedenklichste Wendung, die für ihn die Dinge hatten nehmen können. Gab es für einen Realisten überhaupt noch eine andere Möglichkeit, als mit Schleicher zu „paktieren“ und die Politik des „Alles oder Nichts" aufzugeben? Solange Hindenburg hinter dem Kanzler-General stand, saß dieser am längeren Hebelarm, und die Zeit mußte für ihn arbeiten. Mit der ihm zugesagten Unterstützung des Reichspräsidenten konnte Schleicher notfalls einem Kampf in jeder Form vertrauensvoll entgegensehen; denn Putschversuchen der NSDAP gegenüber stand die Zuverlässigkeit der Reichswehr im ganzen außer Frage. Mit unwahrscheinlichem Glück und viel Geschieh gelang es Hitler jedoch, die Klippe zu umschiffen. Längst hatte die Entwicklung zum autoritären Staat die Entscheidungen in die Hände weniger gelegt und damit der Intrige unverhältnismäßigen Spielraum gegeben Lind vor allem: Schleicher war nicht „die Reichswehr". Die unerwartet auftauchende Möglichkeit neuer, wie es schien, „normaler" politischer Kombinationen entzog ihm die Unterstützung des bis zum 26. Januar 1933 Hitler widerstrebenden Reichspräsidenten. Parlamentarische und außerparlamentarische Gegenkombinationen Schleichers selbst aber scheiterten nicht zuletzt an der tragischen Entfremdung zwischen Reichswehr und Linksparteien, die somit d i e Tragik der Weimarer Republik bis zu ihrem Ende bleiben sollte. Hitler gelangte in die Reichskanzlei, mit Hilfe der Umgebung Hindenburgs, über die Hintertreppe.
Sang-und klanglos wurde die Reichswehr aus ihrer Riegelstellung heraus-manövriert
Die Reichswehr im Dritten Reich 1933/34
1. Reichswehr und „nationale Revolution"
Daß Schleicher, selbst wenn er anders gewollt hätte, still von der Bühne abtreten mußte, beruhte nicht nur auf der Entscheidung Hindenburgs als Obersten Befehlhabers der Wehrmacht, sondern auch auf anderen, tieferen Gründen. Es kann kein Zweifel darüber herrschen: Die unleugbare, sichtliche „Politisierung" der Reichswehr unter Schleichers Führung hat im Offizierkorps zwiespältige Empfindungen erweckt. Der erste Chef der Heeresleitung hatte ein „Vorbild“ aufgerichtet, an dem seine Nachfolger gemessen wurden; über seinen Sturz hinaus hatte er die Einstellung und Haltung der Reichswehr zur „Politik" geprägt. Zwar kann im Grunde nichts irriger sein, als auf der vermeintlich hellen Folie des „unpolitischen Soldaten" Seeckt die Gestalt des gewißlich „politischen Generals" Schleicher wie eine dunkle Silhouette erscheinen zu lassen Wohl aber hatte Seeckt es verstanden, in den höheren Regionen der Politik oder in der Kulisse zu bleiben. Seine Wesensart hatte es ihm erleichtert, die soldatischen Formen und Imponderabilien im ganzen zu wahren; sie hatte es ihm vor allem gestattet, zwischen seine Person und „die Politiker" D i s t a n z zu legen. So konnte es scheinen, als ob die „politische Abstinenz" die er von seinen Offizieren forderte, uneingeschränkt oder doch im rechten Verhältnis auch für ihn selber galt. Der anders geartete Typus Schleicher aber hatte auf jene Distanz verzichtet, sich unbekümmert auch in die Niederungen des politischen Spiels begeben und damit die „soldatischen Formen" nicht selten verletzt; seine stillose „Aufgeschlossenheit“ erregte aber um so mehr Anstoß bei den Kameraden, weil sie nach links gerichtet — mehr schien als wirklich war. Schleichers schwer faßbarer, komplizierter Natut, die bei sich selbst alle emotionalen Regungen unterdrückte und ihnen im Leben „realistisch“ Geringschätzung zeigte, fehlte das menschliche Ethos dem Anschein nach in noch viel höherem Grade, als es tatsächlich vielleicht der Fall war. Trotz aller verstandes-mäßigen Anerkennung seiner Persönlichkeit und Leistung hatte die von ihm verkörperte Politisierung der Reichswehr, die diese mehr als je mit der umstrittenen Staatsführung identifizierte, sie manchen wohl gar als letztes Bollwerk des scheinbar immer noch „Weimarer“ Staates gegen die „nationale Bewegung"'erscheinen ließ, im Offizierkorps wachsendes Unbehagen ausgelöst. Schien die Reichswehr doch ihre Stellung „als letzte Reserve der Volks-und Staatsführung“ zu gefährden oder abzunutzen Diese Stimmung kam jetzt den Interessen und Tendenzen Hitlers zugute.
Hitler war in seiner programmatischen Rede vom 15. März 1929 als entschiedener Gegner einer „unpolitischen Armee" aufgetreten In Wirklichkeit hatte sein Vorstoß jedoch einer befürchteten Politisierung des Heeres in einem ihm unerwünschten, republik-freundlichen Sinne gegolten. Im Oktober 1931 wandte sich denn auch der „Völkische Beobachter“ ausdrücklich gegen die „verschleierte Militärdiktatur“, auf welche die Mitübernahme des Reichsinnenministeriums durch den Wehrminister Groener hinauslaufe. Ja, Hitler selbst bezeichnete es in seinem ersten offenen Brief an Brünung als das „Allerbedauerlichste .... wenn das letzte weltanschaulich noch nicht angefressene Instrument, die Reichs-wehr, . . . direkt und indirekt“ in den „Strudel“ der innerpolitischen Kämpfe hineingezogen werde Lind zweifellos hat Hitler, zumal in dieser Spätphase der Weimarer Republik, viel zu tiefen Einblick in die politischen Strebungen der Bendlerstraße, viel zu engen Kontakt mit einigen ihrer Exponenten gehabt, um sich Täuschungen hinzugeben. Noch in der tendenziösen»Verzerrung, mit der Himmler nach dem 20. Juli Geist und Wesen des Offizierkorps in dem (wie er sagte) „Bürgerkriegsstadium“ der Weimarer Zeit diffamierte, steckt ein Kern wahrer Meinung, wenn er erklärte: „Es hieß nach außen eine unpolitische Armee, in Wirklichkeit war es eine im Generalstab im höchsten Maßstab (sic!) politisierende Armee.“ Nicht selten mögen Hitler daher im Hinblick auf die Zeit nach der „Machtübernahme“ Sorgen erfüllt haben, wie er mit der Reichs-wehr zurechtkommen werde. Weder ihre allgemeine „Gleichschaltung“ noch die Besetzung ihres Ministeriums mit einem Parteigenossen konnte er vorerst ernstlich ins Auge fassen. Ja, seine Zusage, „die Reichswehr als unpolitisches Instrument des Reiches zu bewahren“ stellte eine wesentliche Bedingung Hindenburgs für seine Ernennung zum Kanzler dar. Ganz abgesehen von diesen besonderen Gegebenheiten aber konnte Hitler nach der innerpolitischen Entwicklung der letzten Jahre schon recht zufrieden sein, wenn es ihm im Hinblick auf die Verfolgung seiner Ziele zunächst einmal gelang, die Armee auf ihre unpolitische Linie, auf „die reine Sachlichkeit des Dienstes“ zu beschränken. So wurde für Hitler nunmehr die Konzeption der „unpolitischen“ Reichswehr die taktisch gebotene Ausgangsbasis für die Gestaltung seines Verhältnisses zu ihr. Wie schon gelegentlich vor 1933, so proklamierte er in der Folge erst recht als die Aufgabe der Wehrmacht die Verteidigung des Reiches nach außen, während die Bekämpfung des inneren Feindes zu den Pflichten der Partei gehöre. Lind das Offizierkorps ging den Schritt, um welchen Schleicher die Wehrmacht auf der politischen Bühne vorgeführt hatte, nicht ungern wieder zurück. In sehr bezeichnender Weise wurde am 1. Februar 1933 Schleichers nächster Mitarbeiter und Nachfolger als Chef des Ministeramts, der Oberst von Bredow, mit der Begründung seines Postens enthoben, „daß die Entpolitisierung der Reichswehr von Grund auf geschehen müsse" Zwei Tage darauf, bei seiner ersten Ansprache vor den Befehlshabern im Hause Hammersteins, bekannte sich Hitler selbst zur Wahrung des „unpolitischen und überparteilichen“ (!) Charakters der Reichswehr. Neun Jahre später hat Hitler, als er rückschauend die große Bedeutung seiner „legalen Machtübernahme" im Hinblick auf die Haltung der Armee hervorhob, seinen Hintergedanken offen ausgesprochen: Durch jene Wahrung der Legalität habe die Wehrmacht so lange auf ihre rein militärischen Aufgaben beschränkt gehalten werden können, bis in Durchführung einer allgemeinen Wehrpflicht das Volk als Ganzes und mit ihm nationalsozialistischer Geist in sie einströmte und mit unaufhaltsam wachsender Kraft alle der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber oppositionell eingestellten Elemente, insbesondere des Offizierkorps, überwucherte"!
An den Vorgängen und Intrigen im Januar 1933, die zur Bildung des Kabinetts Hitler führten, fällt der Reichswehr und ihrer damaligen Leitung kein irgendwie maßgebender Anteil zu. Im übrigen hatte Hitler die Macht nicht „ergriffen", wie man es in der Folge auszudrücken beliebte — er hatte sie in legalen Formen, ja, unter mancherlei politischen und personellen Einschränkungen aus den Händen des Reichspräsidenten und Obersten Befehlhabers der Wehrmacht empfangen. Schon diese Tatsache hätte es jeder Reichswehrführung verboten, der neuen Regierung aus grundsätzlichen Erwägungen heraus feindselig zu begegnen. Und wenn das einmal nötig werden sollte, so war es zuvorderst Aufgabe anderer, spezifisch politischer Organe, die dazu noch keineswegs außerstande erschienen. Was einst den Plänen Hitlers zum größten Nachteil gereicht hatte — die Zuverlässigkeit der Armee als gehorsames Instrument der Staatsgewalt —, verwandelte sich nun in einen unschätzbaren Vorteil für ihn. So wenig er verheimlichen konnte und wollte, daß sich am 30. Januar weit mehr vollzogen hatte als ein bloßer Regierungswechsel, so brauchte er doch bei seinen Schritten hinfort nur den Schein ausgesprochener Illegalität zu vermeiden. Und er zeigte sich politisch und taktisch in der Lage, seine Maßnahmen — mochten sie der Sache nach noch so sehr verhüllten Staats'Streichcharakter tragen — über Institutionen und Organe zu leiten, deren Rechts-und Handlungsfähigkeit in Deutschland seit langem außer Frage stand. Statt eine Revolution zu machen, um die Regierungsgewalt zu erobern, konnte er die Regierungsgewalt nunmehr benutzen, um seine Revolution durchzuführen und ihre Etappen gleichzeitig miteinem Schleier der Legalität oder Pseudolegalität zu umgeben. Solange ihm dies möglich war, befand sich die Reichswehr in der paradoxen Lage, daß „Kampf gegen die Revolution" zugleich „Meuterei gegen die Staatsautorität" bedeutete.
Doch eine solche Erwägung greift für die Reichswehr der damaligen Situation und Stimmung entschieden vor. Keine Armee, die mehr ist als eine Söldnertruppe, kann auf die Dauer die innere Übereinstimmung mit den Grundprinzipien des politischen Lebens ihrer Nation ohne seelischen Schaden entbehren. So hatten es große Teile des Offizierkorps in der Weimarer Zeit — trotz ihrer Vorbehalte gegen die Republik — schmerzlich empfunden, daß die Armee im Staat nicht heimisch wurde. Sie hatten das Mißtrauen, das die demokratischen Parteien ihrer innersten Gesinnung nicht ohne Grund entgegenbrachten, peinlich vermerkt und im Hinblick auf ihre loyale Gesamthaltung entrüstet zurückgewiesen. Sie hatten die öffentliche Kritik linksradikaler Schriftsteller an Geist und Handeln der Wehrmacht in ihrer Bedeutung überschätzt, ja vom Staat die Unterdrückung solcher Angriffe erwartet. Da die meisten von ihnen keinen vollen Einblick in die vorsorgenden Planungen der Heeresführung besaßen, schien ihnen auch die aktive Landesverteidigung darunter zu leiden Bei aller (verstandesmäßigen) Loyalität war so gleichsam ein Hohlraum in der Gefühlswelt vieler Offiziere entstanden: Hitler wußte, warum er der Reichswehr in Aussicht stellte, der Sieg der nationalsozialistischen Idee werde sie „von der peinlichen Tatsache erlösen, ein Fremdkörper im eigenen Volk zu sein“. — Machte der 30. Januar 1933 dieser Problematik nun nicht ein Ende? Bot er nicht eine. Lösung, die das Heer aus dem Dilemma unnatürlicher Isolierung oder ebenso unnatürlicher Politisierung herausführte und es ihm erlaubte, die wesensfremde Sphäre der unmittelbaren Tagespolitik zu verlassen, ohne in die bedenkliche Exklusivität der Ära Seeckt zurückzufallen? Gerade für die jüngeren Offiziere, aus deren Reihen später aktive Widerstandskämpfer hervorgingen, darf eine solche Meinung gelten. Daß der damalige Kavallerie-leutnant Graf Stauffenberg sich am 30. Januar in Bamberg in voller Uniform an die Spitze eines Fackelzuges setzte, der den nationalsozialistischen Sieg feierte, ist ein bezeichnendes Indiz In vielen Reichswehreinheiten bildeten sich Gruppen jüngerer Offiziere, die offen mit der NSDAP sympathisierten, selbst unter den angehenden Generalstäblern der Kriegs-akademie Ohne Kenntnis ihrer Ideologie, ohne Erkenntnis der persönlichen Mängel ihrer Führung waren sie „geblendet von dem Anschein höchster nationaler Energie“, wie Friedrich Meinecke sagt Man traute Hitler den Willen und auch die Kraft zu, die Beschränkungen des Versailler Vertrages abzuschütteln. Er vertrat eine autoritäre Staatsführung, die eine breite Grundlage im Volk besitzen würde. Seine Bewegung war „wehrfreudig ; sie schien zugleich imstande, die Arbeiterschaft aus internationalen Bindungen zu lösen und damit auch die inneren Voraussetzungen für eine „Wehrhaftmachung“ der Gesamtheit zu gewährleisten. So mochte die Reichswehr ihren „Sinn“ erfüllen, Keimzelle einer größeren, wirklichen Armee zu sein; so bot sich dem jungen Offizier statt des engen Rahmens, der dem 100 000 -Mann -Heer gezogen war, eine Fülle neuer konkreter Aufgaben, mit deren Durchführung sich auch die Aussicht auf raschere Beförderung mit allen materiellen und gesellschaftlichen Vorteilen verknüpfte. Zum erstenmal seit 1918 schien für den Soldaten die Möglichkeit gegeben, die ihm gemäße Stellung zum Staat wiedereinzunehmen: ohne Verstrickung in die Tagespolitik, jedoch in voller Übereinstimmung mit den entscheidenden Prinzipien des nationalen Lebens dem Gemeinwesen mit dem Verstand und mit dem Herzen zu dienen „Nie war die Wehrmacht identischer mit den Aufgaben des Staates als heute“ — so leistete ein Kommentar des neuen Chefs des Ministeramts, Oberst von Reichenau, dieser Stimmung überschwänglich Vorschub
Mit einer unbestreitbaren inneren Distanz hingegen stellten sich Stabsoffiziere und Generale zum neuen Regime. Ihre Empfindungen entbehrten nicht einer guten Portion Skepsis. Fester in den Überlieferungen der Vergangenheit wurzelnd als eine jüngere Generation, erkannten sie schärfer als diese sowohl das Revolutionäre, wie das unecht Soldatische der Bewegung. Dazu kamen eine innere „Verachtung der Radau-und Gewalt-methoden des so wenig Kavaliersmäßigen des ganzen Parteibetriebs“, sowie Bedenken gegen die Herkunft ihrer führenden Männer Freilich besaßen die älteren Offiziere ebensowenig wie die jüngeren ein klares Bild von den entscheidenden Tendenzen und Wesenszügen des Nationalsozialismus, geschweige denn seines Propheten selbst. Was ihre Einstellung bestimmte, war ganz überwiegend keine ausgeprägte Ablehnung der neuen Staatsführung, sondern ein instinktives Unbehagen, sowohl hinsichtlich ihrer Grundrichtung, wie auch ihrer künftigen praktischen Politik. Fritsch, damals Wehrkreisbefehlshaber III (Berlin), erwiderte einem Generalstabsoffizier, der ihn auf die schwarz-weiß-roten Grundfarben der Hakenkreuzflagge hinwies: „Ja, aber etwas viel Rot“ Der neue Wehr-minister von Blomberg hielt es offensichtlich für notwendig, am 3. Februar vor den Befehlshabern der Reichswehr deren weitere „Überparteilichkeit in der Politik“ zu betonen und als gültige Auffassung herauszustellen, daß ein „Herabsinken zur Parteitruppe" die Grundlagen aufheben würde, „auf denen wir stehen“; „Zweifel und Kritik“ nach dem „ersten Begeisterungsrausch“ erklärte er für begreiflich Als Hitler selbst am Abend des gleichen Tages bei einem ersten, in gesellschaftliche Form gekleideten Zusammentreffen mit den Befehlshabern eine längere Rede hielt, begegnete er einer ihm deutlich spürbaren Zurückhaltung Wenn er bei diesem Anlaß bereits „die Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung" als zweckmäßige Verwendung einmal wiedererrungener politischer Macht bezeichnete, so mag es heute wundernehmen, daß diese Selbstenthüllung nicht allgemein hellhörig machte. Es war jedoch typisch, nicht nur für die Denkweise der Generale, daß einige alarmierte Zuhörer von anderen beschwichtigt wurden, solche Vorhaben würden von der Härte der Tatsachen schon auf ein nüchternes Maß zurückgeführt werden! Im übrigen glaubte man wohl, die Reichs-wehr werde schon durch ihr Vorhandensein ein Abgleiten des neuen Staates in hemmungslosen Radikalismus verhüten. Freilich kam dann alles auf die innere Selbständigkeit und nüchterne Umsicht der obersten Reichswehrführung an.
Wenn die Einstellung der höheren Offiziere von solchen Gesichtspunkten bestimmt wurde, so wird man dafür mindestens in dieser Phase noch nicht schlechthin politische Naivität und Opportunismus verantwortlich machen dürfen Hier gab vielmehr die normalerweise gültige Auffassung des Verhältnisses von Heer und Staat den Ausschlag. Die Befehlshaber der Reichswehr waren nötigenfalls in der Lage und auch bereit, nach dem Willen des Reichspräsidenten die innere Ordnung im Sinne der überlieferten Vorstellungen zu gewährleisten. In entscheidenden Fragen der inneren Politik eine eigene Autorität geltend zu machen aber fühlten sie sich von Hause aus weder berechtigt noch berufen. „Die bewaffnete Macht deliberiert nicht, sie führt bloß aus“, hatte beispielsweise Roon gelehrt und Seeckt hatte dieses Prinzip, mit inneren Vorbehalten gegen den bestehenden Staat ausgestattet, auch für die veränderten Verhältnisse nach 1918 im Offizierkorps zur Geltung gebracht. Und zweifellos droht jedes Abweichen von dieser Maxime die Armee zum willkürlichen Richter über innerpolitische Auseinandersetzungen zu erheben und dem Militarismus im vollen Sinne des Wortes Tür und Tor zu öffnen. Wer die Haltung der Reichswehr unter dem Nationalsozialismus kritisch zu prüfen unternimmt, muß daher zunächst einmal die grundsätzliche Berechtigung und die formende Kraft des Prinzips, daß im gesunden Staat „der bewaffnete Arm nur das ausführende Organ für den Willen des Herrschers“ ist für das höhere Offizierkorps sich bewußt machen. Erst eine Lage von extremem Ausnahmecharakter konnte den Soldaten Grenzen der Gültigkeit dieses Prinzips eikennen lassen. Die Vorstellung einer sittlich entarteten deutschen Staatsführung aber war den in, wenn auch erstarrten, Lebensformen des bürgerlichen Rechtsstaates ausgewachsenen höheren Offizieren im Frühjahr 1933 noch fremd. Gehen doch manche noch heute an das Problem der Haltung des Soldaten zum nationalsozialistischen Regime mit den unzulänglichen Kategorien von „guter“ oder „schlechter“ Regierung heran Entscheidend für eine Erkenntnis dessen, was wirklich auf dem Spiel stand, war die Frage, ob die religiös-christliche Verwurzelung des einzelnen Offiziers noch ausreichte, um ihm die richtigen Maßstäbe zu liefern, ob also die Reichswehr — wie gerade Hitler sagen mußte! — wirklich „das letzte weltanschaulich noch nicht angefressene Instrument" des deutschen Staates war
Die Menschen dieses Staates aber befanden sich im Frühjahr 1933 auf dem Höhepunkt einer schweren seelischen Krise. Kaum ein nachlebender Deutscher und gar ein Ausländer kann sich „die Atmosphäre vernunft-feindlichen Gefühlsüberschwangs" genügend vergegenwärtigen, die jene ersten Monate des „Dritten Reiches" erfüllte. Seelische Festigkeit, Besonnenheit und Geduld des deutschen Volkes hatten nicht ausgereicht, mit den inneren und äußeren Belastungen der Weimarer Zeit fertig zu werden. Die Bildung eines neuen staatlichen Gemeingefühls nach dem Sturz der alten Ordnung war nur in sehr begrenztem Maße gelungen. Unverständnis, Engherzigkeit und Mißtrauen des Auslandes, bei wiederkehrenden Anlässen betätigt und von einer hemmungslosen Parteipropaganda ausgebeutet, hatten die nationale Erregung aufs höchste gesteigert. Wirtschaftliche Not hatte die Gemüter verwirrt und in Verknüpfung mit einer innerpolitischen Dauerkrise den Ruf nach einem ebenso gründlichen wie simplifizierenden Wandel der staatlichen Struktur ausgelöst. Die Vertreter demokratischer Prinzipien aber schienen das Vertrauen zu sich selbst verloren zu haben, ihre vernunftbetonten Mahnungen des nationalen Impulses, der moralischen und reellen Kraft zu entbehren. — Auch jetzt, nach dem „Umbruch", war eine Bewältigung der nationalen Nöte noch gar nicht abzusehen: Und doch schien einer übergroßen Zahl mit einem Male der lähmende Drude beseitigt, die erhoffte und verheißende „Wendung“ gekommen, die von der neuen Führung pathetisch proklamiert und von einer gläubigen Gefolgschaft bereits lärmend gefeiert wurde. Der Strom des Gefühls riß auch rationaler bestimmte Naturen fort oder brachte ihre bessere Einsicht ins Wanken. Bedenkliche Ideologien und Programmpunkte erschienen von sekundärer Bedeutung gegenüber dem „neuen Geist“ und der Dynamik einer Volksbewegung, die alle moralischen und materiellen Energien der Nation zu mobilisieren versprach. Wohl sah man Gewalt und Brutalität mit alledem verknüpft: Sie schienen sich vornehmlich gegen Einzelne oder gegen begrenzte Gruppen zu richten; die Masse wandte Augen und Ohren davon ab und beugte sich willig dem „kraftvollen" neuen Staat und seinem Streben nach Totalität. Was galten ihr noch die Errungenschaften und Werte demokratischer Ordnung, was Grundrechte einer bürgerlich-normalen Zeit, die auch in kritischen Phasen der Weimarer Ära vor den Erfordernissen der Gesamtheit schon hatten zurücktreten müssen? Ihr Inhalt und ihre Anwendung erschienen teilweise fragwürdig, teilweise so selbstverständlich geworden, daß man sie nicht mehr zu schätzen wußte. Gewisse Verfallserscheinungen, die in ihrer Bedeutung überschätzt wurden, der Mangel an Führung im Weimarer Staat, leisteten einer Tendenz Vorschub, Freiheit als Zügellosigkeit oder, wie Spengler sagte, als „eine zur Gewohnheit gewordene Anarchie" zu diskreditieren Der überreizte Nationalismus suchte gar eine künstliche Alternative zwischen der Freiheit der Nation und der Freiheit des Individuums zu konstruieren Daß der Rechtsgedanke überhaupt und auf die Dauer von einer Staatsführung verleugnet werden könnte, kam breiten Schichten des Volkes gar nicht zum Bewußtsein. Auch die Reichswehr war ein Teil dieses Volkes. Emotionen, die so breite Kreise ergriffen hatten und die im Grunde das Ergebnis eines jahrzehntelangen geschichtlichen Prozesses darstellten, mußten sich bei aller Exklusivität der Armee auch auf diese auswirken.
Hitler selbst aber hat zunächst alles darauf angelegt, dem „Umbruch“ einen Aspekt zu geben, der seine bürgerlichen Koalitionspartner und besonders die Reichswehr psychologisch kaptivierte. Geschickt stellte er die ersten Monate seines Regimes unter das Scheinzeichen einer „nationalen Erhebung" patriotisch-konservativen Stils, an der alle bürgerlichen Gegner der Weimarer Republik ihren Anteil nehmen konnten. Hindenburg, der kaiserliche Generalfeldmarschall des Weltkrieges, diente mit seiner Gestalt und seinem Lebensgang der Illusion echter geschichtlicher Kontinuität. Als verfassungsmäßiger Oberbefehlshaber verlieh er der Reichswehr am 15. März die schwarz-weiß-rote Kokarde, „um der inneren Verbundenheit der deutschen Wehrmacht mit den wieder erstarkten nationalen Kräften des deutschen Volkes auch einen sichtbaren Ausdruck" zu geben Während Hitler sich in der Notverordnung des Reichspräsidenten vom 28. Februar und im Ermächtigungsgesetz vom 23. März bereits wichtige Mittel zur Erringung der totalen Macht verschaffte, schien der Tag von Potsdam, am 21. März, die Verschmelzung von Revolution und Tradition zu versinnbildlichen. Man kann den „versöhnenden" Effekt der bekannten Szene am Grabe Friedrichs des Großen auf die Reichswehr kaum überschätzen. Auch kritische Beurteiler des neuen Regimes und seiner Exponenten mußten dieses Bekenntnis zu den inneren Werten der Vergangenheit (im Sinne bürgerlich-nationaler Vorstellungen) begrüßen, was der gefährlichen Auffassung Vorschub leistete, als sei der Nationalsozialismus eine nationale Bewegung, der „lediglich noch einige Mängel“ anhafteten Für viele Zeugnisse mag die Meinung eines der später aktivsten Mitglieder der militärischen Opposition gegen Hitler, Henning von Tresckows, stehen, der damals dem Vertrauen Ausdruck gab, die „nationale Erhebung“ werde in den Bahnen des Rechts und der Ehre verlaufen
Es bedurfte also schon eines beträchtlichen Maßes innerer Festigkeit und politischer Nüchternheit bei den Männern der obersten militärischen Führung, wenn sie die der Reichswehr vom Schicksal gestellte Aufgabe erfüllen sollten: „konservatives“ Gegengewicht gegen den revolutionären Nationalismus zu sein. Man sage nicht, daß diese Aufgabe aus der Rückschau konstruiert ist: auch wer sie nicht von vornherein als solche „sah“, konnte sie im weiteren Verlaufe schon des Jahres 1933 sehr wohl als gestellt erkennen! Es war nun ebenso ein Glücksfall für Hitler wie für die deutsche Entwicklung verhängnisvoll, daß die neuen leitenden Männer der Reichswehr den Anforderungen dieser Aufgabe persönlich nicht entsprachen. Freilich erscheint schon die Ernennung Blombergs zum Minister als ein für Hitler günstiger Kompromiß: er akzeptierte dabei zwar nach dem Wunsche Hindenburgs einen politisch unabhängigen Soldaten, konnte jedoch durch die Berufung des von ihm vorgeschlagenen Blomberg, der in Ostpreußen in den Fragen der Landesverteidigung unvoreingenommen mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet hatte, nicht nur eine neue Kandidatur Schleichers, sondern auch die Wahl eines ausgesprochenen Vertreters alter Schule vermeiden. Man wird Blomberg als früheren Chef des Truppenamts die fachliche Eignung für seinen nunmehrigen Posten gewiß nicht absprechen dürfen. Sein Wesensbild weist jedoch Züge auf, die ihn für ein Amt letzter politischer Verantwortung denkbar ungeeignet machten. Er besaß wohl eher zu viel Phantasie und zu wenig Sinn für die Wirklichkeit und war Neuem nur allzu aufgeschlossen. Seine lebhafte Natur reagierte auf kurze Eindrücke hin mit impulsiv gezogenen und dann starr festgehaltenen Konsequenzen. Er neigte zu verschwommenem, ja mystischem Denken, in der politischen Atmosphäre des Jahres 1933 eine gefährliche Mitgift. Vielseitig gebildet, ein geschickter und verbindlicher Unterhändler, nicht ohne persönlichen Charme, fehlte ihm nach dem Urteil sowohl vieler seiner Kameraden wie seiner nationalsozialistischen Partner die Stärke des Charakters. Seine persönlichen Interessen galten spekulativen Gedankengängen im Sinne Steiners und des Grafen Keyserling. Ohne die festgegründete Weltanschauung des Soldaten älteren Stils, versagte er gegenüber einem entschiedenen, zielbewußten Willen und verfiel schnell der suggestiven Persönlichkeit Hitlers. Dies gilt freilich mit der zum Teil situationsbedingten Einschränkung, daß Blomberg eine Sonderstellung der Reichswehr und ihre Unabhängigkeit von unmittelbaren Parteieinflüssen noch selbstverständlich erschien. — Persönlich und wesensmäßig Antipode Schleichers, war der neue Minister im Sinne der Wünsche und Interessen Hitlers eine unpolitische Natur.
Das Gegenteil gilt für seinen bisherigen Stabschef und nunmehr weiterhin engsten Mitarbeiter, den neuen Chef des Ministeramts, Oberst von Reichenau, der vermutlich schon der Kandidatur seines Wehrkreisbefehlshabers Blomberg bei Hitler oder dessen Umgebung das Wort geredet hat Reichenau war durch und durch politischer General — nur war er dabei überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus! Durch einen Verwandten, einen ehemaligen Diplomaten, der mit den „Völkischen" sympathisierte, hatte er Hitler bereits vor 1933 persönlich kennengelernt und verehrte ihn Der Einfluß des Königsberger Wehrkreispfarrers Müller, des späteren Reichsbischofs, wirkte in der gleichen Richtung Reichenau war nach Denkweise und Lebensstil ein höchst moderner Offizierstyp und legte sichtlich Wert darauf, als solcher auch zu erscheinen. Im Nationalsozialismus erblickte er die zeitgemäße politische Bewegung, die, anders als Hugenberg, auch die breiten Massen und die Jugend ansprach. Frei von bürgerlichen „Vorurteilen" brachte er ihren revolutionären Formen Sympathie, ihren Gewaltsamkeiten Verständnis entgegen. Mit klarem Blick für die Illusionen der Deutschnationalen erkannte er das volle Ausmaß des „Umbruchs" vom 30. Januar und bejahte ihn Wie Blomberg, wenn auch in anderem Sinne, war Reichenau ein Außenseiter im höheren Offizierkorps, dabei den meisten seiner Kameraden charakterlich suspekt. Klug und ehrgeizig, energisch bis zur Brutalität, nötigenfalls auch recht geschmeidig, Blomberg politisch überlegen, bestimmte wesentlich er den Kurs des Ministeriums Durchdringung der Reichswehr mit nationalsozialistischem Geist schien ihm die beste Garantie für ihre bevorzugte Stellung im neuen Staat, ein enges Verhältnis zu Hitler der sicherste Schutz gegen unsachgemäße Einflüsse und Ansprüche der Parteiorganisationen, die auch er abwehren wollte. Im ganzen gesehen aber wurde durch diese Reichswehrführung — zumal in Anbetracht der weitgehenden Passivität des einstweilen im Amt belassenen Chefs der Heeresleitung, General von Hammerstein — das den Nationalismus kritisch beurteilende Element des höheren Offizierkorps in seiner Auswirkung nach unten und nach oben in hohem Maße neutralisiert. Sie hat es, neben anderen Faktoren, Hitler wesentlich erleichtert, die schwierige Anfangszeit seines Regimes zu überstehen und seine totale Diktatur anzubahnen, ohne mit der Armee in Konflikt zu geraten oder von ihr abhängig zu werden.
Dabei kann nicht einmal behauptet werden, daß Blomberg von Anfang an gewillt gewesen wäre, die Reichswehr ohne jeden Vorbehalt mit den innerpolitischen Machtzielen und Kampfmethoden des neuen Regimes zu identifizieren. Nicht nur hat der Minister, wie erwähnt, vor den Befehlshabern betont, daß ein Herabsinken der Armee zur Parteitruppe die Grundlagen aufhebe, auf denen sie stehe. Er verhehlte sich (noch Ende Februar) auch nicht die Gefahr, daß die Reichswehr ihre „einzigartige Stellung im Staat" — „die wir uns durch unser überparteiliches Verhalten in zwölfjähriger mühseliger Arbeit erworben haben“, wie er sagte — „durch die Entwicklung der letzten Wochen verlieren" könnte! Er proklamierte zwar gegenüber dem Kampf der neuen Regierung „gegen den Kommunismus und Marxismus" für die Armee „wohlwollende Neutralität", zeigte aber immerhin soviel Einsicht, daß die Reichswehr im Ernstfall „auch die Volksteile“ brauche, „die jetzt wegen ihrer politischen Gesinnung der Verfolgung durch die Rechtsverbände ausgesetzt“ seien, und sie sich nicht für die Dauer entfremden dürfe Man mag Blombergs Berufung auf das „überparteiliche Verhalten“ der Reichswehr in den Weimarer Jahren, besonders in Verbindung mit den nunmehrigen Verfolgungsmaßnahmen auch gegen die demokratische Linke, als höchst fragwürdig empfinden. Dennoch regten sich hier aus dem noch nicht ganz verlorenen Bewußtsein heraus, daß die Reichswehr dem gesamten Volk gehöre und umgekehrt, wenigstens Ansätze eines gesunden und fruchtbaren Gedankens: denn allerdings konnten die rücksichtslosen Macht-tendenzen und Kampfmethoden der NSDAP letzten Endes, statt einer Stärkung, einer „Zersetzung der nationalen Wehrkraft“ Vorschub leisten, um die spätere nationalsozialistische Terminologie anzuwenden. Ein solcher Gesichtspunkt ging Blomberg nicht nur als politischen, sondern auch als Fachminister an; er durfte darüber hinaus für den Soldaten als berufenen Verteidiger des Staates nach außen schlechthin Geltung beanspruchen. Und wie viele Fakten und Maßnahmen der neuen Ära hätten nicht in der Folgezeit diesem Gesichtspunkt verstärkte Bedeutung verleihen können! Man fragt sich indessen vergeblich, wie Blomberg ihm in der Praxis Rechnung tragen wollte, wenn er die brutale Machtpolitik der Partei im Innern einfach gewähren ließ? Wandte sich diese doch schon im März und April selbst gegen ihre Koalitionspartner und angeblichen Teilhaber der „nationalen Erhebung": Durch den Mund Hugenbergs mußten sie bereits daran erinnern, „vollwertige und selbstbewußte Mitkämpfer zu sein“, die nicht „angetastet“ werden dürfen. „Jeder Führer", so mahnte der Vorsitzende der Deutschnationalen jetzt, „ist vor der Geschichte dafür verantwortwörtlich, daß Ziel und Ergebnis nicht ein Trümmerhaufen, sondern ein neuer Frühling des Volkes ist War nicht schon die, wenn auch kurzfristige, Auflösung des „Stahlhelm“ durch die Landesregierung von Braunschweig, Ende März, für die Reichswehr ein Sturmzeichen? Dennoch ließ sie Ende April die Gleichschaltung des „Stahlhelm“ in seiner Gesamtheit zu dessen willfährigen Bundesführer Seldte Blomberg selbst noch am 3. Februar den Befehlshabern als den geeigneten Mann im Reichs-kabinett bezeichnet hatte, „im Verein mit uns Soldaten“ die Aufgabe der Wehrhaftmachung des Volkes durchzuführen — Man wandte anfangs auf die neuen Verhältnisse in etwa noch „Weimarer“ Begriffe an. Wohl hatte man ein unbestimmtes Gefühl, daß der nationalsozialistische Umbruch die alte Position der Reichswehr beeinträchtigen könnte. Konkrete Vorstellungen aber, wie man sie politisch wahren sollte, besaß man ebensowenig, wie man erkannte, was Hitlers totalitäres Staatsideal für die Stellung der Armee letzten Endes bedeuten mußte.
Unter dem Eindrude der großen „nationalen“ Veranstaltungen (21. März, 1. Mai) der äußeren Wucht und Schlagkraft der Bewegung, gab denn auch Blomberg schnell seine ursprünglichen politischen Vorbehalte preis. Als er am 1. Juni wiederum vor den Befehlshabern der Reichswehr sprach, erklärte er es schlechtweg für falsch, wenn Deutschnationale und Zentrum von einem bloßen „Regierungswechsel“ sprächen, statt von einem „völligen Umschwung". Ja, er bestritt sogar einen deutschnationalen Anspruch auf Gleichberechtigung, da der besagte Umschwung allein das Werk der nationalsozialistischen Bewegung sei, und knüpfte hieran die naive Prognose: „Es wird ein Glück sein, wenn diese Bewegung bald zu der von ihr erstrebten Totalität kommt. Viele Schwierigkeiten würden dadurch erspart Hierbei hatte Blomberg natürlich keine Vorstellung von dem, was sich nach dem Wesen des Nationalsozialismus bald als letzter und schlimmster Sinn jener Totalität enthüllte: dem Vorrang der Verpflichtungen gegenüber dem Einparteistaat vor allen individuellen Bindungen des Gewissens. Er versprach sich vielmehr, wie sein Zusatz zeigt, von dem totalen Siege der Bewegung so etwas wie die Schaffung klarer Verhältnisse, wie er sie verstand, nämlich die Überwindung aller jetzt doch „unnützen" Rivalitäten und Eifersüchteleien zugunsten einer einheitlichen und tatkräftigen politischen Führung: damit mochten auch die revolutionären Erscheinungen dieser vermeintlich letzten Phase des inneren Kampfes ein Ende finden, was zugleich der Reichswehr ein peinliches Gefühl in Anbetracht ihres passiven Verhaltens fortan ersparen würde. Daß bei dem Umschwung „nicht an die Wehrmacht gerührt“ worden sei — was er schon mit Befriedigung verzeichnete —, schrieb Blomberg ihrer unpolitischen Haltung zu, die er nun aber als ein „bloßes „Mittel“ abtat, die Reichswehr „vor zu enger Verstrickung in das System der früheren Regierungen zu bewahren": „Jetzt ist das Unpolitischsein vorbei, und es bleibt nur eins: der nationalen Bewegung mit allerHingabe zu dienen . Damit hatte Blomberg den politischen Führungsanspruch der einen Partei auch für die Armee praktisch anerkannt. Mochte seinem ünklar-idealistischen Geist ein harmonisches Zusammenwirken der nationalsozialistischen Bewegung mit dem Heer unter Wahrung seiner Sonderstellung vorschweben: statt die Reichswehr gegenüber Hitler zu vertreten, entwickelte er sich nach und nach zum Repräsentanten Hitlers gegenüber der Armee.
Allerdings hat Blomberg es höchstwahrscheinlich für „nötig“ erachtet, zu den Befehlshabern so zu sprechen, wie er es tat. Denn von einer vorbehaltlosen inneren Übereinstimmung mit dem neuen Regime konnte beim höheren Offizierkorps selbst in dieser Phase kaum die Rede sein. Vielmehr machte sich offenbar eine Zwiespältigkeit des Empfindens geltend, die der Zwiespältigkeit des Wesensbildes und Handelns der nationalsozialistischen Führung selbst entsprach. Es gilt dabei, sich die Vorgänge des schon so weitgehend entscheidenden Jahres 1933 in ihrer Vielgestaltigkeit zu vergegenwärtigen. Der anarchische Terror, den die SA als Motor der „Gleichschaltung“ übte, befremdete zweifellos allgemein: von oberster Stelle gedeckt, nahm sie willkürliche Verhaftungen vor, beging Mißhandlungen und Morde, legte „wilde“ Konzentrationslager an, griff in schwebende Gerichtsverfahren ein und „beunruhigte“ die Wirtschaft. Auf der anderen Seite verkenne man nicht, daß große Teile der Reichswehr der Bekämpfung dessen, was eine skrupellose Propaganda als „Marxismus" zum Nationalfeind schlechthin gestempelt hatte, nur zuviel zugute hielten. Freilich beschränkten sich die „Übergriffe der SA und der Partei keineswegs mehr auf „Marxisten". Es war ebenso bezeichnend, wenn der Vorstand der Deutschnationalen am 3. Mai erklärte, daß „nach dem scharfen Abwehrkampf gegen die staatsfeindlichen Elemente ... eine feste Rechtsordnung so rasch als möglich wiederhergestellt werden" müsse, wie wenn sich der preußische Justizminister Kerll emphatisch gegen den darin enthaltenen „Vorwurf“ verwahrte, „als ob nur einen einzigen Augenblick die feste Rechtsordnung in Preußen aufgehoben gewesen wäre!“ Dazu kamen bestürzende Versuche zur Gleichschaltung der evangelischen Kirche, die der preußische Kultusminister am 29. Juni mit der Behauptung motivierte, „daß sich hier eine erste Zentrale des Widerstandes auf dem Wege zur Einheit des Volkes bilde“: Konflikte, die tags darauf immerhin zum öffentlichen Eingreifen Hindenburgs führten -Und nicht zuletzt eine Personalpolitik, deren rein parteipolitisch-korrupter Charakter einen Hohn auf den hochtönenden Namen des „Gesetzes zur Widerherstellung des Berufsbeamtentums" darstellte und die keineswegs „preußische“ Natur des neuen Regiments dem Soldaten wohl am deutlichsten enthüllen konnte. Ungeachtet dessen aber war die allgemeine Popularität Hitlers gestiegen, dem nicht nur die unermüdliche Parteipropaganda, sondern auch die maßgebenden außer-parteilichen Faktoren voreilig eine bereits geleistete „große vaterländische Arbeit“ bescheinigten Er trat den Militärs scheinbar im Zeichen ihrer eigenen Tugenden entgegen, überdies — wie am 17. Mai im Reichstag in der Frage der Rüstungsgleichheit—als Repräsentant höchst vertretbarer nationaler Interessen gegenüber den iniuria temporum. Vor allem aber erschien er ihnen, bei aller Fragwürdigkeit der Mittel, doch als Schöpfer einer bisher unerreichten faktischen Einheit ihres Volkes. Gleichzeitig hielt, abgesehen von allem Terror, die ständig gefährdete äußere Lage des Reiches die nicht parteigebundenen Kreise im Sinne „nationaler Disziplin“ auch zu einer freiwilligen politischen Zurückhaltung an, deren sich die Funktionäre ihrerseits keineswegs befleißigten.
Schwerlich war das höhere Offizierkorps in seiner Gesamtheit so blind für die zielbewußten Machtbestrebungen des Nationalsozialismus im innerpolitischen Bereich wie Blomberg, der ein „baldiges Verschwinden“ von Deutschnationalen und Zentrum für erwünscht erklärte und die Lesart vertrat, erst nach Erreichen der Totalität könne und solle (!) „das wertvolle Personal der früheren Epoche wieder ausgenützt werden“ Aber auch skeptische Offiziere ordneten wohl ihre Bedenken dem Wunsche unter, die große nationale Bewegung möge um ihrer selbst willen glücklich und erfolgreich verlaufen. So erblickten sie in den unverkennbaren Mißständen mehr Erscheinungen einer Übergangszeit als ein Wesenselement des neuen Regimes. Der sehr kritisch eingestellte Chef des Truppenamts, General Adam, nannte im Sommer 1933 in Garmisch vor höheren Generalstabsoffizieren die Schäden der inneren Entwicklung offen beim Namen in der Überzeugung, damit dem Empfinden seiner Kameraden zu entsprechen. Doch auch er machte die Einschränkung, die für zahlreiche Offiziere wohl in noch höherem Grade galt: „Aber denken Sie daran, daß wir in einer Revolution leben. Noch immer trieb in solchen Zeiten zuerst der Schmutz an die Oberfläche, um später wieder zu Boden zu sinken. So ist unsere Aufgabe, zu warten und zu hoffen“ Und Hitler selbst sparte, auch während er seinen Unterführern noch die Zügel schießen ließ, nicht mit beruhigenden Versicherungen Anfang Juli, nach der Beseitigung aller anderen Parteien, verkündete er sogar in aller Form das Ende der Revolution und den Beginn der Evolution — freilich, wie er sie verstand: im Sinne einer geistigen und seelischen Gleichschaltung, einer „Sozialisierung der Menschen“ Zahllose „Bürger“ und Offiziere aber glaubten gern an „normale gesetzmäßige Aufbau-arbeit“ trennten den „Führer“ von der „Partei“ und wollten in ihm die Verkörperung der „guten“ Kräfte erblicken. Und Hitler, der nicht wie die schutzbedürftige Republik von 1918 militärische Hilfe im Innern brauchte, ließ die Sonderstellung der Reichswehr einstweilen unangetastet. Am 9. November 1933 feierte er das nunmehrige Zusammenstehen der „Repräsentanten unseres Heeres und der Vertreter unseres Volkes", am 30. Januar 1934 die „herzliche Verbundenheit“ zwischen den „Kräften der Revolution und den verantwortlichen Führern einer auf das äußerste disziplinierten Wehrmacht“ — als ob es sich um zwei gleichberechtigte politische Partner handelte. In Wahrheit wurde die Reichswehr, entgegen der von Blomberg ausgegebenen Parole, jetzt wirklich „unpolitisch“. Als vorsichtiger Rechner wertete Hitler sie zwar noch als bedeutsamen politischen Faktor. Tatsächlich aber wurde sie in raschem Tempo isoliert, um ihrer politischen Unabhängigkeit die Grundlage zu entziehen und schließlich nur noch ihren „Mechanismus zu garantieren" — wie Hitler es im Falle einer totalen Parteiherrschaft prophezeit hatte.
Schon aber sah sich die Reichswehr auch in ihrem eigensten Aufgabenbereich durch die Revolution bedroht. Es lag in der Natur der Dinge, daß das Verhältnis der Reichswehr zur NSDAP eine Funktion ihres Verhältnisses zu deren „Kampfverbänden“ wurde. Nicht nur das beispiellose Vorgehen der SA gegen innerpolitische „Feinde", sondern auch das persönliche Auftreten ihrer Mitglieder gegenüber Angehörigen der Armee ließ nichts Gutes erwarten. In den einzelnen Wehrkreisen und Garnisonen, die der Berührung mit ihr stärker ausgesetzt waren als die Zentrale, wuchs daher das Mißtrauen; bei den Offizieren aber, die im Osten in den Angelegenheiten des Grenzschutzes mit der SA zusammenarbeiteten, verdichtete sich dieses Mißtrauen zu ausgesprochener Abneigung. Einer von ihnen bezeugt: „Die erste Berührung mit der SA hatte bei allen beteiligten Offizieren die absolute Gewißheit geschaffen, daß man es mit einer minderwertigen Führerschaft zu tun hatte“ So vermittelte ihnen die Haltung der SA eine Ahnung davon, daß mit der NSDAP Elemente zum Zuge gekommen waren, für welche die sittlichen Grundsätze des Soldaten keine Geltung besaßen. Zwar sprach Anfang Juli der Stabschef Röhm in Reichenhall vor höheren SA-und SS-Führern offiziell von der „ganz deutlichen Grenze" zwischen Wehrmacht und SA, und Hitler selbst betonte anschließend, das Heer politischer Soldaten der deutschen Revolution wolle niemals die Armee ersetzen oder in Konkurrenz mit ihr treten Dennoch vertiefte sich die Kluft, auch ohne daß Röhm und seine Unterführer ihre Ambitionen immer klar erkennen ließen. Ende August sollte ein Treffen höherer Offiziere mit SA-Führern in Godesberg die Unstimmigkeiten beheben, die sich von Seiten der SA bereits in einer „Fülle von Beschwerden über das Heer“, insbesondere wegen mangelnder nationalsozialistischer Gesinnung und Haltung, geltend machten. Die Tagung blieb jedoch ohne positives Ergebnis, sie hinterließ vielmehr bei den beteiligten Offizieren „den Eindruck, daß eine Gemeinsamkeit des Denkens in den politischen Fragen, um die es ging, mit den SA-Führern nicht gefunden werden“ könne Es entwickelte sich so im Offizierkorps ein zwar mehr gegen die SA als gegen den Nationalsozialismus überhaupt gerichteter Affekt. Gleichwohl hätte eine nüchterne und umsichtige oberste Führung diese Stimmung auswerten und die Reichswehr noch geschlossener als Gegenkraft gegen die Tendenzen der Partei im staatlichen Gesamtbereich zur Geltung bringen können. Blomberg und Reichenau waren jedoch solche Gedankengänge fremd. Sie setzten auf Hitler persönlich und begnügten sich im übrigen mit entschiedenem Festhalten an den beiden Grundsätzen, daß alle Waffen der Reichswehr gehörten und daß die gesamte Landesverteidigung ihre Sache sei; sie behaupteten für die Armee ferner gewisse „Reservatrechte“, etwa eine eingeschränkte Geltung des Arierparagraphen und die obligatorische kirchliche Trauung für Offiziere Hinsichtlich des „Ariergesetzes“ aber machte Blomberg bald von sich aus Konzessionen. Und auch in seiner Personalpolitik war die gleiche Tendenz spürbar 2. Röhmkonflikt und Hitler-Eid 1 Unterdessen bahnten sich Ereignisse an, die für die Stellung der Wehrmacht im und zum nationalsozialistischen Staat eine folgenschwere Wendung zeitigten. Denn nach dem Jahreswechsel 1933/34 verschärfte sich der Gegensatz zwischen SA und Reichswehr erheblich und spitzte sich auf konkrete Fragen von größter Bedeutung zu.
Die SA hatte ihre Aufgabe im Dienst der Gleichschaltung erfüllt. Ihre damaligen Funktionen nahmen jetzt weniger sichtbare Organe der Partei und des neuen Staates geschickter und „wirksamer“ wahr. Was sollte aus der SA werden? Längst fühlte sich ihre Führung von dem Ertrag des Umbruchs im Vergleich mit den Funktionären der Partei benachteiligt, die Masse der SA-Männer in ihren unklaren antikapitalistischen Hoffnungen enttäuscht. Die Revolution schien ihnen unvollendet, die „Reaktion“ unangetastet geblieben. So richteten sich die Blicke der SA immer mehr auf die Armee und deren geplanten Ausbau. Weiterbildung zum nationalsozialistischen Volksheer, das die Reichswehr umrahmte und aufsog, womöglich auch Übernahme leitender Stellungen in dieser, schwebte den Führern der SA als logischer Abschluß ihrer Entwicklung vor. Tatsächlich äußerten manche von ihnen gegenüber hohen Offizieren entsprechende Erwartungen. Ja, nach der Darstellung Blombergs reklamierte Röhm Anfang Februar praktisch das Gesamtgebiet der Landesverteidigung und ihre Leitung für die SA, deren Führern die Befehlshaber der Reichswehr fortan als „Berater" zur Seite treten sollten. Da ein Versuch unmittelbarer Einigung mißlang, mußte Hitler entscheiden
Hitler konnte nicht einen Augenblick im Zweifel darüber sein, was die Forderungen Röhms in den Augen der Reichswehr bedeuteten. Er mußte sich sagen, daß es für die Armee trotz ihrer zunehmenden Wandlung zum unpolitischen Instrument seines Staates hier um die Existenz schlechthin ging, daß also eine Förderung solcher Ansprüche die Reichs-wehr auch wider ihre Neigung zum offenen Gegner des Nationalsozialis-mus machen würde. Auf lange Sicht stimmte Hitler wohl mit den politischen Grundgedanken des Stabschefs überein. In der gegebenen inneren und äußeren Lage aber, bei kaum erreichter Konsolidierung des Regimes, alle Erfolge aufs Spiel zu setzen, die er mit Unterstützung Blombergs und Reichenaus in seinem Verhältnis zur Reichswehr errungen hatte, mußte ihm undenkbar erscheinen. Eine Begünstigung der Aspirationen Röhms drohte das Heer mit den enttäuschten bürgerlich-konservativen Kreisen zusammenzuführen, die im Frühjahr 1934 noch nicht alle Chancen eines come back verloren hatten, mindestens in Hitlers Augen, solange Hindenburg lebte, keineswegs schon völlig ungefährlich waren. Eine blutige Auseinandersetzung gar, bei der sich Hitler etwa an die Spitze einer „zweiten Revolution“ stellte, mußte trotz der zahlenmäßigen Stärke der SA bei der qualitativen Überlegenheit der Reichswehr mit seinem Untergang enden. Im übrigen konnte er zum Aufbau eines modernen Heeres, wie seine außenpolitischen Pläne es erforderten, den technischen Sachverstand der aktiven Reichswehroffiziere schlechterdings nicht entbehren. Das rivalisierende Element der ehemaligen Offiziere in der SA war ihnen ebensowenig gleichwertig wie eine Miliz einer modernen Armee. Und endlich hatte Hitler mit SA-Führern, von seinem Standpunkt gesehen, schon trübe Erfahrungen gemacht. Während der „Revolution“ und nach ihrem offiziellen Ende hatte ihre mangelnde Anpassung an die taktische Linie seiner Politik schließlich die Konsolidierung seines Regimes gefährdet; ihre Tendenzen zu einem „Eigendasein", die Rudolf Heß bereits öffentlich tadelte ihre zunehmende Wendung gegen die „Bonzen" der Partei, das alles konnte bei Hitler keine Neigung erwecken, die SA zur bewaffneten Staatsmacht zu erheben — unter Röhm, der schon früher Beweise seiner Unabhängigkeit gegeben hatte und innerhalb der SA einen starken persönlichen Anhang besaß. „Grundsätzlich“ war Hitlers Entscheidung denn auch von Anfang an getroffen. In seiner großen Rede vor den am 28. Februar in der Bendlerstraße versammelten hohen Offizieren und SA-Führern bestätigte er unzweideutig die Reichswehr als den einzigen Waffenträger der Nation und beschwor die SA-Führer, ihm in so kritischer Zeit keine Schwierigkeiten zu machen. Kriegerische Perspektiven, die er bei dieser Gelegenheit eröffnete mochten seinen militärischen Zuhörern als Zukunftsphantasien und momentan vor allem als Argument gegen den Kampfwert einer Miliz erscheinen. Es kam anschließend bekanntlich zur Unterzeichnung eines vorbereiteten Abkommens durch Blomberg und Röhm, das für alle wesentlichen militärischen Aufgaben die Zuständigkeit der Reichswehr festlegte. Der äußere Eindruck aber, als habe sich Röhm damit ins Unvermeidliche gefügt, war offenbar irrig. Höchst abfällige Bemerkungen über den „lächerlichen Gefreiten“, die er noch am gleichen Tage zu seinen Getreuen getan haben soll, mit dem Zusatz, nötigenfalls werde man eben „die Sache ohne Hitler machen“, wurden dem „Führer" bald darauf in dieser Form von Röhms Gegner Lutze berichtet. Hitler aber zeigte keine Neigung zu sofortigem Eingreifen, sondern entschied sich nach längerer Überlegung dafür — „die Sache ausreifen zu lassen“.
Was hatte dies zu bedeuten? Hitler wollte vielleicht die weitere Entwicklung des innerpolitischen Kräftespiels zunächst noch beobachten; er mochte auch noch nicht jede Möglichkeit ausschließen, daß die SA-Führung sich seiner politischen Linie wieder einordnete. Die Äußerungen Röhms aber waren geeignet, seine stärksten Zweifel an einer Beilegung des Konflikts zu erregen; ja, sie mußten einem Hitler als eine gefährliche und kaum mehr verzeihliche Mißachtung seiner Autorität erscheinen. Er hatte seinen Standpunkt in der für ihn als Führer der Bewegung so heiklen Streitfrage für seine Gewohnheiten deutlich gekennzeichnet. Das Weitere lag nun bei Röhm und seinen Getreuen. Mit Besänftigungen oder auch Maßregelungen einzugreifen, hielt Hitler offenbar nicht mehr für angezeigt: Palliativmittel mochten in seinen Augen die Fronde zeitweilig und äußerlich unterdrücken, während sie tatsächlich weiterwirken und unabsehbare innerpolitische Machtverschiebungen anbahnen würde. Längst hatte sich die SA zu einem Element der Unbotmäßigkeit entwickelt, das sein innen-und außenpolitisches Konzept störte und unter einer nicht mehr „linientreuen“ Führung ein wachsendes Hindernis für die Vollendung seiner Diktatur werden mußte. Totalitäre Regime besitzen gegen solche Abtrünnigen von der „Generallinie“ im Grunde nur immer dasselbe Heilmittel: ihre Liquidierung. Wahrscheinlich schwebte Hitler die „Lösung“ des Konflikts in ihrer späteren blutig-radikalen Form bereits im allgemeinen vor, zumal ihm eine Ausschaltung Röhms und seines Anhangs mit halbwegs normalen Mitteln kaum durchführbar erscheinen mochte. So neigte er dazu, den Konflikt „ausreifen“ zu lassen, um für seine Lösung die politischen und psychologischen Voraussetzungen zu schaffen. Wohl war er auch in der Lage, einem tatsächlich putschenden Röhm mit der Reichswehr defensiv zu begegnen oder m i t i h r gegen die SA einzuschreiten. Dann aber wurde das Bild ein ganz anderes als am 30. Juni, und Hitler lief Gefahr, vor seiner Partei als Exponent der Reichswehr, der „Reaktion“ abgestempelt zu werden, ja in die politische Abhängigkeit der Armee und etwa mit ihr sich verbindender Kräfte zu geraten. Sollte der Gewaltstreich gegen die SA in seinem Interesse und im Sinne seines Totalitätszieles verlaufen, so mußte Hitler ihn zwar scheinbar als Sachwalter der Reichswehr, aber im wesentlichen selbständig, mit einem eigenen Apparat, und unter den von ihm bestimmten Umständen — also vor allem präventiv führen.
Hitlers Verhalten in der Folgezeit entsprach diesen Erwägungen, und die natürliche Entwicklung kam ihm zu Hilfe. Tatsächlich hatte Röhm auf seine Pläne nicht verzichtet. Wenn nicht sogleich, so würde mit der Zeit der Zwang der Dinge und das natürliche Schwergewicht seiner SA jene konstruktive Lösung durchsetzen, die das Problem in seinen Augen erforderte. Auf Besichtigungsreisen scharte Röhm seine Formationen fester um sich und trieb die Bewaffnung mindestens seiner Stabswachen voran ohne daraus ein Geheimnis zu machen. Zweifellos erfüllte ihn die nachgiebige Haltung Hitlers gegenüber der Reichswehr mit Unmut — gelegentlich allerdings auch mit Resignation —, und es ist nicht von der Hand zu weisen, daß er mit dem Gedanken einer Aktion gespielt hat. Schwerlich aber hatte Röhm schon alle Hoffnung aufgegeben, den „zögernden“ Hitler durch geschaffene Tatsachen in seine Bahnen zu ziehen. Dessen weitgehende Zurückhaltung in den Monaten nach dem 28. Februar mußte Röhm und seine Unterführer in ihrem Denken und Handeln bestärken. Gegen die fortschreitende Bewaffnung der SA, sei es aus Grenzschutzlagern, sei es aus dem Ausland schritt Hitler nicht ein; selbst gegenüber Röhms Finanzforderungen für die weitere Vermehrung seiner Formationen versteckte er sich möglichst hinter dem zuständigen Fachminister Durch diese Zurückhaltung jetzt, durch zusätzliche künstliche Mittel später, steigerte Hitler die potentielle SA-Gefahr auf einen Grad, der einerseits die ihm vorschwebende Radikallösung ermöglichte und als „Befreiung von einem Alpdruck" rechtfertigte, andererseits die Reichswehr ihm in die Arme trieb und die „Opferung“ der SA ihr gegenüber erst voll verwertbar machte. Obwohl nur im Interesse seiner Machtstellung angelegt, mußte die Niederschlagung der „Prätorianergarde" wie eine Abkehr von der Revolution, wie eine Entscheidung für das Gemeinwohl wirken. Reduzierten sich doch bereits für viele Offiziere die Begriffe „Nationalsozialismus“ und „Revolution“ in verhängnisvoller Weise auf die konkrete Erscheinung „SA“.
Vielleicht die wichtigste Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung seiner Taktik des „Ausreifenlassens“ aber war, daß Hitler sich das Vertrauen der Reichswehrführung erwarb und erhielt, er werde zwar nicht sofort, jedoch zur rechten Zeit eingreifen, um die SA „zugunsten, der Wehrmacht" auszuschalten. Dies ist ihm in vollem Maße gelungen. Für die Verzögerung seiner Aktion besaß er partei-oder außenpolitische Argumente und Gründe genug Schon im Februar bereitete Blomberg denn auch die Befehlshaber der Reichswehr auf einen „Schwebezustand“ vor Nach dem 30. Juni aber konnte er ihnen sagen: „Der Führer war seit Wochen entschlossen zu handeln. Nur der Zeitpunkt war offen und hing von außenpolitischen Dingen und Rücksichten auf Parteibelange ab.“ Im Februar verfügte der Minister die Anbringung des nationalsozialistischen Hoheitsabzeichen an der Uniform der Wehrmacht, erklärtermaßen zur moralischen Unterstützung Hitlers gegen die SA Im April befahl er, die Reichswehr in dem üblichen Unterricht über politische Tagesfragen in den „Leitgedanken des nationalsozialistischen Staates“ zu schulen Solche Maßnahmen und seine abwartende Haltung während des spannungsvollen „Schwebezustandes“ trugen Blomberg scharfe Kritik aus den eigenen Reihen ein Ohnehin erreichten die Sympathien des Heeres für den Nationalsozialismus in diesen Monaten wohl ihren Tiefpunkt Man suchte ihnen aufzuhelfen, indem Goebbels in Vorträgen vor dem Offizierkorps den nationalen und sozialen Geist und die Erziehungsgrundsätze der preußisch-deutschen Armee als vorbildlich für die Partei erklärte Hitler konnte denn auch seiner Verzögerungstaktik nur so lange treu bleiben, als er sicher war, daß nicht etwa Reichswehrkreise im Bunde mit bürgerlichen Kräften gegen die revolutionären Strömungen zur Selbsthilfe griffen. Gewiß wurden auch Blomberg und Reichenau wegen der SA immer wieder bei ihm vorstellig. Tatsächlich aber legten sie, wie gin ehemaliger Mitarbeiter Reichenaus sagt, „die Entscheidung über mögliche Präventivmaßnahmen ganz in die Hand des Kanzlers und Parteiführers, ohne dessen Absichten im einzelnen zu kennen“ Vom Wesentlichen jedoch, nämlich eben von der ausgesprochenen präventiven Tendenz Hitlers, waren sie zweifellos unterrichtet und befanden sich mit ihm in engem Einvernehmen Die Heeresleitung unter Fritsch und Bede dagegen durchschaute Hitlers Spiel kaum, und Blomberg hat sie schwerlich genau eingeweiht Wohl machte sie sich ebenfalls zum Kampf mit der SA bereit, aber in defensiver Tendenz Von Hitlers Hauptrolle abgesehen, vermutete Fritsch später völlig richtig, „daß Himmler und Reichenau wohl die Dinge im wesentlichen gestaltend beeinflußt" hätten In der Tat beteiligte sich Reichenau im Bunde mit Himmler schließlich mit Eifer an 112 den Einzelakten des Präventivschlages gegen Röhm ohne zu ahnen, daß auch er längst eine Schachfigur im Spiel Hitlers geworden war. Stolz soll er später es als wirklich nicht so leicht bezeichnet haben, die Dinge derart „hinzukriegen", daß der 30. Juni sich als eine „reine Parteiangelegenheit“ darstellte Wenn dies zutrifft, so verkannte er, daß das wahre Interesse der Reichswehr vielmehr ihre führende Beteiligung an einer — natürlich entsprechende Formen wahrenden — Aktion gegen die revolutionären Elemente mit ihr gemäßen politischen Zielen geboten hätte.
In der Tat bestand im Frühjahr 1934 für die Reichswehr eine einzigartige Gelegenheit, staatserhaltenden Kräften wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Noch hatte das Regime außenpolitisch alles andere als Erfolge zu verzeichnen; noch war die Arbeitslosigkeit keineswegs beseitigt. Der Rausch der „natiönalen Erhebung" war im „Bürgertum" verflogen; der Kirchenkampf hatte die Illusion unzähliger Gutwilliger zerstört. Eine tiefgehende Unzufriedenheit mit dem Einparteisystem, seiner stereotypen Propaganda, seiner Knebelung der freien Meinung, seinem Terror und seiner Korruption machte sich geltend: der hohe Absatz deutschsprachiger Zeitungen des Auslandes im Reich war dafür ebenso bezeichnend wie der Versammlungsfeldzug der Partei gegen „Miesmacher und Kritikaster“. Eine Aktion der Heeresführung würde daher der Resonanz in breiten Schichten des Volkes ebensowenig entbehrt haben wie in der über das Auftreten der SA hoch erregten Truppe. Vor allem fehlte es noch nicht an „politischen" Kristallisationskernen eines militärischen Eingreifens: noch gab es „bürgerliche" Amtsträger von einiger Autorität; noch bestanden, mehr äußerlich gleicbgeschaltet, die Gliederungen des „Stahlhelm"; noch lebte Hindenburg, der zwar dem Einfluß der ihm politisch nahestehenden Kreise weitgehend entglitten war, jedoch immerhin, statt Reichenau, als Chef der Heeresleitung Fritsch durchgesetzt hatte
Wirklich waren denn auch Männer der Umgebung des Vizekanzlers von Papen von dem Gedanken beseelt, den heraufziehenden Konflikt zwischen SA und Partei bzw. SA und Wehrmacht im Sinne der Wiederherstellung geordneter Staatsverhältnisse auszunützen. Mit entgegengesetztem Endziel wie Hitler baute auch diese Gruppe ihre Pläne auf eine Zuspitzung jenes Konflikts auf: die Revolte der SA sollte Hindenburg zur Erklärung des Ausnahmezustandes veranlassen. Zu diesem Zweck trat man mit den Generalen v. Witzleben, v. Bock und v. Rundstedt in Verbindung, die im Falle der erwarteten Erhebung der SA mit ihren Truppen eingreifen sollten, um es auf diese Weise zur Verhängung des Ausnahmezustandes und damit zu einer vorübergehenden Militärdiktatur zu treiben. Die genannten Generale waren offenbar hierzu geneigt. Der Form nach sollte sich die geplante Aktion nicht gegen Hitler richten, vielmehr dachte man, diesen durch die Gewalt der Umstände zum Mitgehen zwingen zu können. Mit einer großen oppositionellen Rede aber, zu der man Papen veranlaßte, sollte die Spannung auf den Höhepunkt und womöglich zur Auslösung gebracht werden Am 17. Juni hielt der Vizekanzler in der Tat in Marburg die von Edgar Jung vorbereitete Ansprache, die eine einzige Verurteilung der vom NationalSozialismus angebahnten staatspolitischen Entwicklung darstellte. Der Gegenschlag des Regimes, zunächst in Gestalt eines Verbreitungsverbotes der Rede, folgte alsbald. Papen kündigte Hitler darauf seine Demission an — ließ sich aber von ihm beruhigen und auf eine gemeinsame entscheidende Aussprache mit Hindenburg vertrösten: „Ohne Hitler nach Neudeck zu fahren“, so bekennt er selbst, „sah ich keinen Grund, bevor ich seine Verzögerungstaktik durchschaute“ . . . Wenn jedoch in der gegebenen Lage ein Ereignis Hitler alarmieren mußte, so war es Papens Marburger Rede. Hitler, der — wie alle Totalitären — nicht die Neigung hatte, innerpolitische Gegner zu unterschätzen, konnte unmöglich die Gefahr verkennen, daß sich die Reichswehr mit den Resten des bürgerlichen Konservatismus gegen die SA zusammen-fand, wenn er noch lange passiv blieb. Wesentlich dank seiner wohlerwogenen Zurückhaltung hatten sich die beiden „Fronten“ scharf gegeneinander herausgebildet: die Reichswehr, zumal die über das Reichsgebiet verstreute Truppe, sah in der SA, worauf Hitler es angelegt hatte, eine ernstliche Bedrohung Die Entwaffnung des Gegners war ihr begreiflicher und dringender Wunsch. Es kam für Hitler jetzt nur noch darauf an, die Spannung auf den höchsten Grad zu treiben und einleuchtende „Gründe“ für die blutige Form zu schaffen, in der die Aktion für ihn allein vorstellbar war. Sie wurden geschaffen wesentlich durch die Alarmierung der Reichswehr, nachdem die Mordaktion mit Hilfe des von Himmler und Heydrich seit Mitte April gebildeten „zuverlässigen“ Apparats von SD-Männern schon im einzelnen vorbereitet war Was nach allen Indizien die natürliche und gewollte Folge der militärischen Maßnahmen darstellte, lieferte als angeblich spontane „Meuterei" der SA Hitler den Vorwand für sein auch nach der Festnahme der versammelten SA-Führer jeder Rechtsform entsagendes Handeln. Mit der Niederwerfung der SA aber sollte sich ein Schlag gegen die „Reaktion" verknüpfen, deren Exponenten man teils liquidieren, teils durch Verhaftung während der kritischen Stunden handlungsunfähig machen, vor allem aber durch exemplarischen Terror von der Fortsetzung ihres politischen Spiels abschrecken wollte
Sein unabhängiges, „blitzschnelles Handeln" am 30. Juni brachte Hitler alle mit wohlberechneter Taktik erstrebten Erfolge, namentlich was die Reichswehr angeht. Von entscheidender Bedeutung war dabei allerdings deren Führung durch Blomberg und Reichenau. Fest in ihrer Hand leistete die Reichswehr bei der Niederwerfung der SA in mehrfacher Hinsicht technische Hilfe und wurde so mittelbar zum Komplizen Hitlers — ohne Einfluß auf den Charakter seiner Aktion. Blomberg und Reichenau selbst aber machten sich, sei es aus persönlicher Animosität, sei es im Glauben an das vorliegende „Material", auch zu Komplizen des Vorgehens gegen Schleicher, über dessen potentielle Gefährlichkeit es für Hitler keinen Zweifel gab. Während Beck die Gerüchte über Schleichers politische Betätigung zu einer Warnung seines früheren Chefs veranlaßten, stimmte Blomberg dessen Verhaftung zu Reichenau entwarf den Text der Meldung, die Schleichers Erschießung wegen Widerstandes behauptete Am 5. Juli schilderte Blomberg Ursachen und Verlauf der „Säuberungsaktion“, wie es sagte, fast restlos in der Lesart Hitlers Er „rechtfertigte" nicht allein die Form des Vorgehens. Selbst die Beseitigung der bürgerlichen Oppositionellen, die die Reichswehr endgültig politisch isolierte, billigte er „auch im Interesse der Wehrmacht" als „unumgänglich nötig“: „Wir, die Wehrmacht, sollten nach dem Willen dieser Kreise in ein Lager verschoben werden, in dem wir nicht stehen können“, lautete seine bezeichnende und warnende Begründung dafür. Natürlich gab er auch Hitlers Version über Schleichers Verbindung mit Röhm und dem Ausland wieder; nur von einer Erschießung wegen Widerstandes sprach er nicht mehr, so wenig wie Hitler am 13. Juli im Reichstag Sichtlich war Blomberg bestrebt, dem Eindrude vorzubeugen, als sei mit Schleicher die Armee getroffen, wenn auch nicht gerade mit der peinlichen Bemerkung Reichenaus gegenüber einem französischen Journalisten, Schleicher habe seit längerer Zeit aufgehört, Soldat zu sein Die Quintessenz seiner Rede aber war: Der sinnfälligste Ausdrude des Staates für den „Führer" sei die Wehrmacht. „Nicht zum geringsten in ihrem Interesse" habe er so gehandelt, und es sei ihre Pflicht, ihm dies durch womöglich noch größere Treue und Hingabe zu danken
In Wahrheit hat der 30. Juni die Führer des Heeres zum ersten Mal akut vor die Entscheidung zwischen Gehorsam und Mitverantwortung, zwischen Befehl und Gewissen gestellt Und mußte nicht die Ermordung zweier so prominenter Kameraden wie Schleicher und Bredow ihnen die Entscheidung erleichtern? Sie sind dennoch in den Bahnen des überkommenen Gehorsams geblieben. Wer dafür, ehe er verurteilt, eine Erklärung sucht, wird die Umstände, die damals die Lage der Reichswehr bestimmten, in ihrer Gesamtheit betrachten müssen. Durch sein blitzartiges Handeln vermochte Hitler seiner Aktion nicht nur den vollen Erfolg zu sichern, sondern ihr vor der deutschen Öffentlichkeit auch das ihm erwünschte Bild zu geben. Genau wie er später seine Gewaltakte in der Außenpolitik zu verbrämen verstand, proklamierte er jetzt die willkürliche Beseitigung der großenteils moralisch fragwürdigen SA-Führer unter hochtönenden Versprechungen als Beginn eines „Gesundungsprozesses" mit entrüsteter Verdammung derer, „die im Nihilismus ihr letztes Glaubensbekenntnis gefunden" hätten Die einseitig unterrichtete Truppe aber sah in der Aktion zunächst einmal die Niederschlagung ihres großen Feindes, die sie als Tat des „Führers" zu ihren Gunsten vielfach mit Jubel begrüßte -„Der , obere Kreis'der Wehrmacht“, so hat ein Abteilungchef des Ministeriums später geurteilt, „sah doch klar, daß Hitler so scharf handelte, weil sich der Putsch in erster Linie gegen ihn selbst bzw.seine Machtbefugnisse richtete. Er hat es .. . die Masse der Offiziere sie ansah“ Schon im Bürgertum machte sich bei allem Entsetzen über die Brutalität des Regimes doch ein Gefühl der Befreiung von dem Alpdruck der hemmungslosen Revolutionäre geltend. Hatte darunter der ohnehin erschlaffte Sinn für Recht und Ordnung so weit gelitten, daß man Äußerungen hören konnte, wie: „besser zu früh als zu spät schießen“, „lieber einer zu viel als zu wenig“ so erblickte die Truppe in den ihr ebenfalls bekannten Erschießungen bloßer potentieller Gegner des Regimes — die dem 30. Juni seine eigentliche Signatur gaben — erst recht Erscheinungen am Rande eines turbulenten Geschehens. Hitler konnte seine Urheberschaft so weit verschleiern, daß sie vielen noch heute als fraglich gilt. Weniger denn je aber war der Soldat geneigt, den Führer mit den „Übergriffen" seiner Organe zu identifizieren Hatte Hitler sich nicht gerade von einer Reihe der unerfreulichsten und radikalsten Elemente seiner eigenen Partei getrennt, ja gegen diese für die Wehrmacht optiert, die schwelende Revolution ausgelöscht, kurz, sich als Staatsmann bewährt Schleicher endlich war der Truppe erst als Minister eine deutlichere Gestalt geworden und auch dann in ihren Augen mehr der virtouse Beherrscher des politischen Schachspiels als der Repräsentant echten Soldatentums geblieben. Zum mindesten schien es ihr wohl denkbar, daß seine Leidenschaft ihn gefährliche Wege geführt hatte. Wäre eine Gewalttat gegen Fritsch ohne schwerste Rückwirkungen auf die Haltung des Heeres kaum vorstellbar, so berührte das Schicksal Schleichers allenfalls den Verstand, nicht das Herz der Truppe
Ohne Zweifel waren somit, nachdem Hitler am Morgen des 30. Juni seine Präventivaktion einmal ausgelöst hatte, einem selbständigen Eingreifen des Heeres die Voraussetzungen weitgehend entzogen. Auf Resonanz im Volk und in der Truppe konnte unter den mit einem Schlage veränderten Umständen kaum mehr gerechnetwerden. Fritsch, der inzwischen ebenfalls von den Plänen der Umgebung Papens unterrichtet worden war, begegnete später dem Vorwurf, angesichts so ungeheuerlicher Ereignisse passiv geblieben zu sein, mit dem Einwand, daß es zu der vorausgesetzten Erhebung der SA ja nicht gekommen sei In der Tat hätte sich ein Eingreifen jetzt von vornherein gegen Hitler richten müssen. Ohne einen Befehl Blombergs oder Hindenburgs, erklärte Fritsch jedoch Papen selbst nach dessen Freilassung, habe er nicht handeln können In der gegebenen Situation und angesichts der Haltung der obersten Reichswehrführung unvermittelt die Schranken der überkommenen Loyalität zu durchbrechen und selbständig einen Umsturzversuch mit unabsehbaren Folgen zu unternehmen, war einem unpolitischen Soldaten wie Fritsch nicht gegeben, hätte in diesem Augenblick wohl auch jeden anderen General überfordert.
Hindenburg aber sandte, offenbar von Meißner und Funk beraten 2und zweifellos mangelhaft unterrichtet, die bekannten Glückwunschtelegramme an Hitler und Göring. — Dennoch werden für die Heeresleitung unter Fritsch und Beck — so wenig sie mit dem Verhalten Blombergs und Reichenaus identifiziert werden darf — andere Maßstäbe gelten müssen, als für die einseitig unterrichtete Truppe. Gewiß konnte auch sie das diabolisch-meisterhafte Spiel Hitlers vor dem 30. Juni kaum durchschauen. Wohl aber dürften ihr größere Möglichkeiten zuverlässiger Information über das immerhin zwei Tage fortgehende Morden und seine Ausdehnung auf potentielle Gegner des Regimes zur Verfügung gestanden haben als den Truppenkommandeuren. Was man bei Trägern so hoher Verantwortung vermißt, ist weniger ein sofortiger Umsturzversuch als eine entschiedene Reaktion mindestens auf jene Willkürakte gegen offensichtlich Unbeteiligte, mit dem Vizekanzler an der Spitze, ein entschlossener Versuch etwa, den Ring um Hindenburg zu sprengen, wie dies immerhin zugunsten des bedrohten Stahlh^lmführers Duesterberg gelang — so sicher die Machthaber für ernstere Fälle vorgesorgt haben dürften.
Moralisch wie politisch noch schwerer wiegt das Ausbleiben einer gebührenden Reaktion der Heeresführung auf den Mord an Schleicher, seiner Gattin, sowie an Bredow — einer Reaktion, die dieser beispiellosen Tat ohne Untersuchung und Urteil entsprochen hätte. Trotz aller Verwirrung der ersten Tage, aller „motivierenden“ Versionen des Regimes und der eigenen obersten Führung konnten sich die Generale dem ungeheuerlichen Geschehen am Ende nicht verschließen; kaum einer hat es wohl auch als solches verkannt. Hammerstein, der an dem für die Beisetzung Schleichers ursprünglich vorgesehenen Tage Fritsch besuchte, fand diesen tief betroffen Bereits am Nachmittag des 30. Juni war der ehemalige Staatssekretär Planck bei Fritsch gewesen und hatte ihm erklärt, er selbst „müsse bei dem vollständigen Versagen Blombergs handeln und energische Maßnahmen gegen diese Ungeheuerlichkeiten ergreifen. Wenn er, Fritsch, tatenlos zusähe, . . . würde er früher oder später das gleiche Schicksal erleiden“ Mehrere Befehlshaber — wir hören von Witz-leben, den auch sein Stabschef Manstein drängte, Leeb und Rundstedt — forderten von Blomberg eine kriegsgerichtliche Untersuchung und scheinen eine Aktion bei Hindenburg immerhin erwogen zu haben. Blomberg erklärte jedoch eine Untersuchung für unmöglich und die Generale ließen es dabei bewenden. Ein Mitglied des pommerschen Adels unterrichtete nacheinander Witzleben, Bock, Rundstedt, Brauchitsch, den Feldmarschall v. Mackensen und den Kammerherrn v. Oldenburg-Januschau mündlich über den Hergang bei der Ermordung Schleichers in der Hoffnung, einer der Genannten werde Hindenburg aufklären und ihm ein Einschreiten gegen Hitler nahelegen. General v. Bock erwiderte, falls er sich gegen Hitler wende, würde er als erster von seinen eigenen Soldaten niedergeschossen werden. Wenn sich auch alle übrigen versagten so wird man davon zwar nicht auf ihre innersten Empfindungen schließen dürfen, überhaupt den Mißerfolg dieses besonderen Appells nicht zum Maßstab der Kritik schlechthin erheben. Allerdings aber sah die Generalität angesichts der Haltung Blombergs im Rahmen der konventionellen militärischen Disziplin „keine Möglichkeit“ auch nur auf einer Untersuchung zu bestehen. Politisch mochte man, sei es naiven Glaubens, sei es im Bedürfnis einer Vertrauensbasis, Hitler noch immer eine Stellung über seinen Funktionären einräumen und so als Sonderfall werten, was in Wahrheit schon dem soldatischen Gehorsams-prinzip eine Grenze setzte. Konvention oder moralische Indifferenz aber erwies sich selbst stärker als Korpsgeist und einfaches Kameradschaftsgefühl, die der Mord an Schleicher doch aufrief! War die Wehrmacht wirklich „das letzte weltanschaulich noch nicht angefressene Element“ des Staates, wie Hitler gesagt hatte? Die Maßstäbe für richtiges Handeln auf der Grenzscheide zwischen Gehorsam und Mitverantwortung, die ebenfalls Hitler einmal so beredt vertreten hatte, waren ihr ohne Zweifel verlorengegangen. Sie mußten in schweren Gewissenskämpfen erst wieder erworben werden. Und gerade das Erlebnis des 30. Juni trug in seiner Fortwirkung dazu bei, manchen Offizieren für den unausweichlichen Konflikt zwischen Gewissenspflicht und Gehorsam unter einer entarteten Staatsführung die Augen zu öffnen
Der 30. Juni zeitigte jedoch noch ein weiteres, sowohl für das Schicksal der Reichswehr selbst als auch für das Verhältnis ihrer Angehörigen zum nationalsozialistischen Staat folgenschweres Faktum. Unter dem frischen Eindruck der „Leistung“ seiner SS bei der Niederschlagung der SA verfügte Hitler noch am Morgen des 30. Juni, angeblich auf Vorschlag Sepp Dietrichs, daß die „Leibstandarte" als selbständiges, modern bewaffnetes Regiment neben der Reichswehr aufgestellt werden solle Wenige Tage später konzedierte Blomberg der SS bereits „Waffen für insgesamt eine Division“ Es war bestenfalls menschlich, allzu menschlich, wenn die meisten Offiziere im Vergleich mit der zahlenmäßigen Stärke der geschlagenen SA in dem beschränkten Umfang dieser bewaffneten SS-Verbände keine Gefahr erblickten, statt nach den gemachten Erfahrungen an das „principiis obsta“ zu denken. Hatte die SS der Reichswehr doch auch die Beteiligung an der Exekutivaktion „erspart", womit viele ihr Unbehagen über die beispiellosen Vorgänge gefühlsmäßig kompensierten. Immerhin hegten manche Offiziere sogleich Bedenken, zumal die Erwägung nahelag, „daß Blomberg , heute'von Hitler alles hätte erreichen können und statt dessen Himmler das Feld überlassen“ habe Tatsächlich hatte Hitler damit die Grundlagen für eine Verwirklichung der Pläne Röhms geschaffen, wenn Zeit und Umstände dafür günstig waren.
Das Verhängnis wollte es, daß Hitler bald darauf Gelegenheit erhielt, die Wehrmacht vollends an sein Regime zu binden und jeden Widerstand entscheidend zu erschweren. Am 2. August starb Hindenburg in Neudeck. Nun konnte Hitler der Reichswehr für die Ausschaltung der SA eine Gegenrechnung präsentieren. Nach den letzten Ereignissen, zu denen auch der Fehlschlag des Wiener Putsches gehörte, unter dem Eindruck der oppositionellen Strömungen vor dem 30. Juni, scheint er die sofortige Regelung der Nachfolge in seinem Interesse für unerläßlich gehalten zu haben. Offensichtlich sollte allen Diskussionen und Kombinationen, allen verwirrenden Einflüssen eines Interregnums vorgebeugt werden. Noch zu Lebzeiten des Reichspräsidenten, am 1. August, beschloß daher die Reichsregierung das „Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs“, wonach mit dem Tode Hindenburgs das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinigt wurde Damit war die unabhängige Spitze des Reiches beseitigt und Hitler auch Oberster Befehlshaber der Wehrmacht geworden. Für Blomberg hatte es sich von selbst verstanden, daß er jenem Gesetzentwurf zustimmte. Offenbar konnte ihn auch der Mord an Dollfuß in seinem Glauben an die Integrität Hitlers nicht beirren. Und es kennzeichnet gleichermaßen die prekäre Situation wie die Neigung des Soldaten zu sachlich-unpolitischem Denken, daß selbst Offiziere, deren „Vertrauen in die heutige Führung“ nach eigenem Bekenntnis „schwer erschüttert" war, sich der „staatspolitischen Notwendigkeit" nicht verschließen wollten, nach den inneren Erschütterungen der jüngsten Zeit jeden Schwebezustand zu vermeiden Doch Blomberg ging noch einen entscheidenden Schritt weiter. Noch am 2. August befahl er „die sofortige Vereidigung der Soldaten der Wehrmacht auf den Führer des Deutschen Reiches und Volkes". Nach dem Gesetz vom 1. Dezember 1933 hatte die Eidesformel bisher gelautet: „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich meinem Volk und Vaterland allzeit treu und redlich dienen und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen“. Im Gegensatz dazu besagte der Wortlaut der neuen Formel, die Reichenau einem Offizier seines Amtes diktierte „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat jederzeit bereit sein will, für diesen Eid mein Lepen einzusetzen“. Die ungeheuere Bedeutung der Maßnahme ist offenkundig. Ohne Rücksicht auf das geltende Vereidigungsgesetz von 1933, lediglich auf sein Verordnungsrecht als Minister gestützt, hatte Blomberg auf eigene Verantwortung und mit ganz unmotivierter Eile einen Schritt getan, der das politische Gefüge Deutschlands tief und nachhaltig berührte: es handelte sich praktisch um einen Staatsstreich
Nicht mehr „Volk und Vaterland", also dem Gemeinwohl, verpflichtete die neue Eidesformel die Reichswehr, sondern allein dem „Führer" Adolf Hitler. Damit wurde der Schlußstrich unter einen Zeitabschnitt gezogen, in der sich die Reichswehr mit einem gewissen Recht als „sinnfälliger Ausdruck" der Staatsidee als eines überpersönlichen Ethos begriff. Nur scheinbar, wenn auch insofern gewollt, eine Rückkehr zum persönlichen Eid auf den Monarchen der geschichtlichen Vergangenheit, ging die neue Formel durch die Verpflichtung der Eidgeber zu „unbedingtem Gehorsam" gegenüber dem Eidnehmer und Obersten Befehlshaber über alle früheren weit hinaus Es kam hinzu, daß die am 25. Februar 1934 von Hindenburg proklamierten „Pflichten des deutschen Soldaten“, die von diesem auch eine gottesfürchtige Haltung verlangten —woraus sich entsprechende Konsequenzen für die Befehlsgebung des Eidnehmers ergeben mußten — nicht (wie früher die „Kriegsartikel“ der alten Armee) in die neue Eidesformel ausgenommen waren. Vielmehr schob diese Formel der Wirkung nach jene „Pflichten" beiseite, ließ den Eidgeber über die an ihn künftig gerichteten Forderungen im Dunkeln, und tendierte praktisch dahin, den Bereich eigener Verantwortung auszuschalten sowie den Eid-nehmer vor j^dem Einspruch eines pflichtbewußten, gottesfürchtigen Gewissens zu sichern. Hitler durfte damit seinen Kampf um die Macht als abgeschlossen betrachten. Mit der Vereidigung der Reichswehr auf seine Person und die vorausgegangene Beseitigung fast aller übrigen Beschränkungen seiner innerpolitischen Handlungsfreiheit vereinigte er eine Machtfülle auf sich, die einen Vergleich mit derjenigen spätrömischer Imperatoren nahelegt. Der Soldat empfand den Eid noch in seiner vollen Strenge. Eine offiziöse Schrift über die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat von L 93 5 bezeichnet den persönlichen Eid auf den Führer als „die Rückkehr zu dem natürlichsten Gesetz soldatischen Wesens... Es ist die Eidesform, die keine Vorbehalte, keinen Ausweg in sich schließt" Jede Verweigerung eines Befehls, der gegen die Gebote Gottes und das Gemeinwohl verstieß, war damit aufs äußerste erschwert, ja, jede verantwortungsbewußte Differenzierung zwischen Führerbefehl und Gemeinwohl von vornherein zum Hochverrat gestempelt. Mit dem Namen Gottes aber band der Gewissenlose gerade die Gewissenhaften Denn . wie viele besaßen noch genügend christliche Substanz, um sich davon leiten zu lassen, daß ein Eid, der bei Gott geschworen war, nicht dazu zwingen konnte, Gott zu beleidigen und gegen seine Gebote zu verstoßen, daß der Inhalt des sorgfältig geprüften Gewissens auch die Geltung des Eides begrenzen durfte Wer nicht mehr Christ war oder nur noch einem zur Form erstarrten Christentum anhing, dem mochte dieser Eid eine Schranke schlechthin bedeuten. Bis zum Eintreten einer ganz außergewöhnlichen Situation hatte Blomberg damit selbst hohen und höchsten Offizieren den Mund verschlossen und die Hände gefesselt. Und dann hing es fast nur noch von ihnen ab, ob das Heer vor einem Mißbrauch durch seinen Obersten Befehlshaber bewahrt bleiben würde.
Bei ihrem Handeln mochte Blomberg und Reichenau der Gedanke geleitet haben, die Verpflichtung der Reichswehr auf Hitler werde diesen auch gegenüber der Reichswehr binden und ein Verhältnis zwischen Armee und Staatsoberhaupt wie in der Monarchie begründen. Ihrer Annahme, die bevorzugte Stellung der Wehrmacht gefestigt zu haben, leistete Hitler nachdrücklich und erfolgreich Vorschub „Je enger wir dem Führer verpflichtet sind*, schrieb unter dem unmittelbaren Eindruck der Todesnachricht aus Neudeck selbst ein kritischer Offizier wie Stieff, „um so mehr wird er sich auch auf uns stützen zum Wohle der Weiterentwicklung. Davon bin ich bei der Lauterkeit des Charakters des Führers fest überzeugt, und das gibt wieder die Kraft, mit neuer Hoffnung trotz aller Schicksalsschläge in die Zukunft zu sehen“ Schon in seiner Reichstagsrede vom 13. Juli hatte Hitler ein außergewöhnliches Zugeständnis an die Wehrmacht vorgetäuscht, indem er erklärte, er könne von den Offizieren und Soldaten nicht fordern, daß sie im einzelnen ihre Stellung zu seiner Bewegung fänden Nunmehr, am 20. August, bedankte er sich regelrecht bei Blomberg selbst und der Wehrmacht für den ihm geleisteten Treueid und gelobte: So wie die Offiziere und Soldaten der Wehrmacht sich dem neuen Staat in seiner Person verpflichtet hätten, so werde er, Hitler, es jederzeit als seine „heiligste Pflicht ansehen, für den Bestand und die Unantastbarkeit der Wehrmacht einzutreten“ und sie „als einzigen Waffenträger in der Nation zu verankern“
Trotz solcher, einem „Gegeneide" gleichkommenden Versicherungen nahmen die Offiziere Hitlers die neue Vereidigung teilweise mit geteilten Empfindungen auf. Vielleicht waren sich die meisten über den vollzogenen Wandel nicht im klaren. Manche aber erkannten seine Bedeutung und fragten sich mit Sorge, ob die Wehrmacht unter der gegenwärtigen Staats-führung vor einem Mißbrauch ihres Eides bewahrt bleiben werde. Sogar von Versuchen, sich der Eidesleistung zu entziehen, wird berichtet Bede erinnerte sich später seiner Äußerung, dies sei der schwärzeste Tag seines Lebens, und hat geschildert, wie er sich persönlich „überrumpelt“ -gefühlt habe und nie mehr von dem Gedanken losgekommen sei, „daß er vielleicht damals nicht hätte schwören dürfen" Selbst ein so rein militärisch denkender und in seiner Haltung gegenüber dem Regime so loyaler Offizier wie Guderian schrieb damals an seine Frau: „Morgen werden wir den Eid auf Hitler leisten. Einen folgenschweren Eid! Gebe Gott, daß er beiderseits mit der gleichen Treue gehalten wird zum Wohle Deutschlands. Die Armee ist gewohnt, ihren Eid zu halten. Möge sie es in Ehren tun können" Die Gefühle nicht weniger Offiziere, ihre Hoffnungen und ihre Bedenken, den erschütternden Zwiespalt ihres innersten Empfindens hat stellvertretend für andere wohl wiederum Stieff bezeugt, wenn er am 12. August 1934 schreibt „ .. . Ohne Hoffnung im Herzen könnte man ja vollends verzweifeln. Und nur aus diesem Grunde heiße ich die sofortige Vereidigung von uns gut. Ich klammere mich dabei an den einen Hoffnungsstrohhalm, daß damit ein sehr verpflichtendes Gegengewicht gegen den Wahnsinn der Einpartei-Herrschaft geschaffen wird. Meine großen Bedenken in bezug auf die Herauslassung der Begriffe . Volk und Vaterland'sind damit aber nicht beseitigt. Es ist, wie gesagt, nur eine Hoffnung, ohne die man überhaupt nicht weiterkäme. Vielleicht ist es auch ein Selbstbetrug."