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Frankreich im Banne seiner Tradition. Die historischen Motive für das Scheitern der EVG | APuZ 43/1954 | bpb.de

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APuZ 43/1954 „Wir haben das Fundament gelegt für eine erweiterte europäische Organisation” Mèndes-France und Deutschland Frankreich im Banne seiner Tradition. Die historischen Motive für das Scheitern der EVG

Frankreich im Banne seiner Tradition. Die historischen Motive für das Scheitern der EVG

Otto K. C. Gerlach

Die Leidenschaft, mit der Deutschland sich an der Politik der europäischen Einigung beteiligt hat, ist unrealistisch genannt und für das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mitverantwortlich gemacht worden.

Daß sie das Mißtrauen Frankreichs in die deutsche Aufrichtigkeit zu heller Flamme angeblasen hat, war der großen Erklärung abzuhören, die der greise Herriot vor der Nationalversammlung abgegeben hat. Aber die Europa-Politik der Bundesregierung hat dennoch ihre gewichtigen Erfolge. Die angelsächsischen Länder, Italien und die kleinen, westlichen Nationen des Kontinents haben sie für einen vollständigen Nachweis des deutschen Einordnungswillens in die westliche Welt angenommen. Wäre dies nicht so, würde sich England nicht entschlossen haben, sich nun selbst aktiver in die Politik europäischer Zusammenarbeit einzuschalten und sein Außenminister Eden würde nicht überall in den westeuropäischen Hauptstädten so weit offene Türen gefunden haben.

Verschiedene Standorte historischer Erfahrung Dennoch bleibt die Befremdung über die französische Ablehnung in Deutschland groß. Sie rührt aus einer gewissen Verständnislosigkeit her, die ebenso wie die französische Ablehnung, ihre tiefgehenden, historischen Wurzeln hat. Deutsche und Franzosen führen ihr politisches Gespräch von zwei durchaus verschiedenen Standorten historischer Erfahrung her. Der Deutsche ist als Träger des überstaatlichen, römischen Reichsgedankens und als Schildknappe der übernationalen Idee der Christenheit in die europäische Geschichte eingetreten. Er hat diese beiden, miteinander verschwisterten Rollen ein paar Jahrhunderte lang gespielt, während von der ersten Stunde an der Franzose als sein Widerpart agierte, sich festsetzte im Widerspuch gegen das ordnende Richteramt der Kaiser, das von den römischen Cäsaren seinen Auftrag und seine Methoden, von der römischen Kirche seine Weihen genommen hatte. Hinter den hohen Legitimationen konnte Frankreich in der kaiserlichen Politik nur das Schalten der Willkür sehen. Es geschah wie aus einem Zwang der besonderen, geistigen und völkischen Legierung, die in der Ile de France zusammengeschlossen war zu einem neuen Volkscharakter: aus fränkischer Wurzel mit germanischem Unabhängigkeitsgefühl und aus dem römischen Reis, das der keltischen Lutetia aufgepfropft worden war, mit römischen Kaufleuten, Beamten und Soldaten, die eine Art bürgerlichen Freisinns hinterlassen hatten, der schon in den Legionen Cäsars gegen den fernen, zentralistischen Anspruch über die Alpen nach Süden marschiert war, wenn auch mißbraucht durch den Feldherrn. Schon dem Pariser zur hohen Kaiserzeit des Mittelalters schien es ganz klar zu sein, daß das Erbe Roms sich geteilt hatte. Krone und Schwert und mit ihnen der unter falschem Pathos versteckte, als anmaßend empfundene Befehl eines unruhigen Herrn waren den Deutschen zugefallen. Der alte, der echtere römische Sinn für Freiheit unter dem Gesetz, für Überschaubarkeit und System des bürgerlichen Zusammenlebens und die hierfür notwendige Begrenzung im Raum fanden ihre Stätte im Pariser Becken. Der bloße Anblick dieser von Pfalz zu Pfalz umherziehenden, ohne festen Wohnsitz vagabundierenden Kaiser, war dem Franzosen ein Greuel. Das unruhig Schweifende in diesem Bilde ist ihm zuwider. Daß sich darin nur ein notvoller Ersatz ausdrückt für das Fehlen einer fähigen Bürokratie, kann er nicht erkennen. Von da an ist ihm der deutsche Nachbar verdächtig geworden und verdächtig geblieben bis auf den heutigen Tag als der Unruhige, der Unberechenbare, als die „dynamische Natur“ schlechthin. Seit damals blickt Frankreich wie gebannt nach Osten und fühlt sich aufgeboten, den schweifenden Nachbarn in ein System zu binden, das ihn durch Berechenbarkeit ungefährlich macht.

Eingrenzung in das Vernünftige Es ist hier nicht der Ort, mehr zu geben, als nur die gedrängteste Form der Darstellung, der Erinnerung. Als Antithese gegen den ewig unbestimmten Anspruch der Kaisermacht und ständig kraftvoller aufsteigend mit ihrem allmählichen Zerfall entstand frühzeitig in Frankreich der erste, große geschlossene, europäische Nationalstaat. Er führte eine glänzende Geschichte herauf. Er tat mehr, indem er den Franzosen für ein Jahrtausend fast den festen Standort des Menschlichen in der Flüchtigkeit einer sich immer wandelnden Welt gab. Denn was die Franzosen mit dem beunruhigend Schweifenden im deutschen Volkscharakter eigentlich meinen, ist letztlich die ins Metaphysische reichende Verzweiflung, in die das ganze Menschengeschlecht immer wieder getrieben ist durch alle Fragwürdigkeit von Leben und Welt, die mithin allgemeingültig ist, ihr unterworfen auch der Deutsche. Sich durch Eingrenzung in das Vernünftige, in die Raison, den bestimmten Platz zu sichern, hat sich Frankreich sein feststehendes Bild vom deutschen Widerpart geschaffen, vom Deutschen, der durch Gefühl und Affekt beherrscht wird. An diesem Bilde konnte der Franzose erfahren, wer er selber ist, indem er sich davon absetzte. Wo eine Grenze ist, fängt nicht nur die Nachdenklichkeit an, sondern auch das Denken. Deshalb hat Frankreich seine nationale Grenze als Staats-grenze ins mittelalterliche Reich gelegt, sich hinter ihr vor der geistigen Bedrängnis geborgen, der alles Menschsein ausgesetzt ist, und aus dieser Geborgenheit im Politischen seinen großen Beitrag zur europäischen Kultur geleistet. Es ist wirklich so, daß die großen Ausdrücke des französischen Geistes, Begriffe wie Maß, Vernunft, Klarheit, aus dieser politischen Trennlinie gegen den deutsch-römischen Reichsgedanken entstanden sind, aus dem Bilde der faktisch und geistig zigeunernden Kaiser deutscher Nation, — wie es der Franzose sieht. Der französische Nationalstaat ist also verankert bis in die feinsten Fasern des Menschlichen-und des Geistigen, er imprägniert Individuum und Masse, wie es der Deutsche mit einer nationalstaatlichen Geschichte von 75 Jahren kaum begreifen kann.

Brandenburg — Preußen Der Deutsche ist einen ganz anderen Weg gegangen. In seinen Kaiser-traum, in dem sich alle Selbstlosigkeit und Grenzenlosigkeit des Deutschtums auslebte, hatte er verabsäumt, sich Form und Apparatur der seine Stammeselemcnte zusammenfassenden Staatlichkeit zu geben. Wie der Traum mählich wich in der ernüchternden Realität des Kampfes zwischen Kaiser und Papsttum mit seinem unaufhörlich in die Fremde strömendem Blutzoll traten die Bausteine des alten Reichs, die Länder, mehr und mehr zu selbständigem Dasein hervor. Sie waren es, die dem weltenttäuschten Deutschen die Zuflucht im Umgrenzten, im endlich überschaubar gewordenen, kleineren Bezirk darboten. Und sie waren es, die das staatlich geregelte Dasein der Deutschen schufen. Am eindrucksvollsten gelang es in Brandenburg-Preußen. Hier, auf einem Boden, der über die alt-reichischen Grenzen hinaus sich dehnte, entwickelte sich, ähnlich wie einst in der Ile de France, der Sinn, für die Wirklichkeit einer Geborgenheit der Stärke in Absetzung von dem tönernen Koloß des Heiligen Reichs. In Berlin fixierte sich der Sinn für Maß und Klarheit und Vernunft, wie in Paris früher schon. Aber es geschah in eigenartiger Leistung bereits unter den Kurfürsten und unter dem Soldatenkönig. Nicht etwa mußte es erst Friedrich der Große, der Liebhaber des Französischen, bewirken. Seine Francophilie war aus einer Scholle gebrochen, welche die Väter gepflügt hatten. Dieses seit seinen hohenzollerisch-brandenburgischen Anfängen in seinem staatlichen Geiste Frankreich so ähnlich gestimmte Preußen zog die Franzosen an, indes sie ihre mißtrauischen Blicke nach Wien, nach Österreich richteten, wo immer noch der „Römische Kaiser“ saß, mit dem vollen Anspruch lebendiger Überlieferung: richtender und ordnender Herr des Abendlandes zu sein.

Mit Friedrichs II. schlesischen Kriegen wandten sich die preußischen Deutschen endgültig von der Idee des alten Reiches ab. Es war weder bei ihnen selbst, noch bei den Deutschen in den anderen deutschen Ländern ein Gefühl des Verlustes dabei. Alle Deutschen empfanden sich nach wie vor als zusammengehörig, als ein Volk! Ein allumfassender Staat im modernen Sinne der Zeit waren sie ja niemals gewesen. Seit es Staat in Deutschland gibt, gibt es ihn in den Ländern, nicht im Reich. Im Reiche, in der Weite seines Gebiets, seiner Sehnsucht nach europäischer All-umfassung, im bunten Mosaik seiner vielvölkischen Glieder, hatten sich die Deutschen ja immer als ein Volk empfunden, auch in ihrer stamm-liehen Aufgliederung, die oft genug sogar Zerrissenheit war. Grenze und Zusammenhalt Deutschlands lagen in diesem Volksbewußtsein. Territoriale und verwaltungsmäßige, enge Zusammenfassung wurden nicht als dringlich empfunden von einer Nation, deren Söhne als Ritter, Landsknechte und Soldaten in einer gewissen, auf engem Raum nicht beschreibbaren Weise, generöse, großzügige Weltleute geworden und geblieben waren, bis in die Epoche der Duodezfürstentümer hinein, wie Goethe und sein Werk bezeugen. Deutschland war eine Realität aus dem Bewußtsein, gleicher Art zu entstammen, gleicher Gesittung unterworfen und durch die Reformation auch in einer Sprache und einer Gesinnung, bis ins katholische Bekenntnis dringend, verbunden zu sein. Das war keine eigentlich politische Realität, aber sie genügte für den lebendig empfundenen Zusammenhalt imn großen und ganzen, bei voller Freiheit und munterer Ausbildung der Teile und wurde erst schmerzlicher als Mangel verspürt in der Begegnung mit der französischen Großen Revolution, die der staatlichen Formierung Frankreichs den Akzent des Nationalen gab: die proklamierte Verdeutlichung lediglich der längst vollzogenen Wirklichkeit des Nationalstaats.

Anwalt des großen Zusammenschlusses Nach dem Verbilde des Nachbarn im Westen nun, und nicht nur durch ihn angeregt, sondern durch maßgebliche Franzosen zuweilen auch befeuert, bildete also auch Deutschland sich zum Nationalstaat aus, im . Werke Bismarcks, das von 1870 bis 1945 bestanden hat und das nach den Potsdamer Beschlüssen der Sieger des zweiten Weltkrieges noch besteht. Es existiert auch noch im Herzen und im Willen der Deutschen dieser Zeit, so unglücklich seine bisherige, kurze Geschichte gewesen ist, mit zwei Niederlagen innerhalb von drei Generationen, von denen die Letzte wie das Ende selbst aussah. Vom Scherbenhaufen seines nationalen Elends blickt der Deutsche auf und sieht sich mit der Gefahr aus dem Osten konfrontiert. Lind nach dem Gesetz, nach dem er einst angetreten, macht er sich zum erstgeborenen Anwalt des großen Zusammenschlusses, in den er nun freilich nicht als Bayer, Sachse, Hesse, Westfale eintreten will, sondern als Deutscher, wie ihn die jüngste Geschichte gemacht hat: mit Bund und Reich, statt mit Ländern, aber doch mit Bund und Reich als Land unter Ländern dieses Zusammenschlusses gesehen. In französischen Augen nimmt sich das so aus, als würfe der Deutsche einen Staat weg, den er gar nicht hat, um wieder in die europäische Weite zu schweifen, unberechenbar und abenteuerlich, wie im Aufgang seiner Geschichte. So sieht es übrigens auch in preußischen Augen aus. Denn Preußen ünd Franzosen meinten und meinen, daß keine Not der Stunde groß genug sein kann, mit den Elementen der Abhilfe allein, die sie immer anbietet, einem Verhängnis wirklich zu entrinnen. Nur ein von Herz und Gefühl abgezogenes, über menschliches Schwanken erhabenes, mechanisch funktionierendes System erscheint ihnen zu echter Abhilfe fähig: die Armee und die Politik des Gleichgewichts, die bleibende Interessen gegeneinander auswiegt.

Das Prinzip des Gleichgewichts Das Prinzip, nach dem der französische Nationalstaat sich in den Zusammenhang Europas eingeordnet hatte, wie wir gesehen haben, mit der echtesten Essenz des französischen Geistes selber, war das des Gleichgewichts. Es handelt sich um ein Ordnungsprinzip, das eine originale Leistung französischen politischen Denkens ist.

Spätestens im Jahre 1584 hebt es in bewußter Anwendung an. Damals schreibt ein französischer Publizist seinem Könige, dem Dritten Heinrich, einen ersten „discours" über die nationale Notwendigkeit, den Kaiser „zu verkleinern“ (diminuer), den Habsburger, der indessen auch auf dem Madrider Throne saß. Er meint, die Stärke eines jeden Staates, wie groß oder wie klein er auch sei, sei stets relativ, abhängig von der Stärke oder Schwäche seiner Nachbarstaaten. Der kluge Staatsmann müsse also immer versuchen, dem stärkeren Nachbarn ein Gegengewicht zu bieten, wenn er es allein nicht vermöge, so durch Allianzen. Gelinge die Bildung eines solchen Gegengewichts, so werde die überlegene Macht, die zu immer größerem Wachstum tendiere, von Übergriffen abgehalten, wenigstens doch von erfolgreichen Ausschreitungen. Der Schwächere findet seinen Schutz in der Gruppierung mit den Nachbarn des Nachbarn. Er finde darin seine Stärke, ja, er verkleinere eben dadurch den Großen. Auf solche Weise werde der Friede gewahrt oder doch der Krieg soweit gezähmt, daß er nicht mehr wie ein Ungeheuer die Staaten verschlinge. In einem solchen Kombinieren von Gewichten und Gegengewichten liege das gemeinsame Interesse aller Staaten. Denn die Anwendung dieser Politik der Balance schütze sie alle.

Im Grunde zeichnete dieser Publizist nur eine Praxis nach, die das Pariser Kabinett, mit dem Könige und seinen politischen Gehilfen, bereits in den Anfängen ausgebildet hatte. Es steht nirgendwo verzeichnet, wie in diesem Kreise der „discours" ausgenommen wurde, wahrscheinlich aber gut, denn auch ihr Absolutismus hat den Königen niemals verwehrt, von mitdenkenden Geistern zu profitieren, die nicht beamtet waren, und die Bewußtmachung einer Praxis durch den Vortrag ihrer Theorie, die von der instinktiven Anwendung erst abgesehen gewesen sein mochte, hat zu allen Zeiten der Perfektionierung des Handwerklichen und Technischen gedient. — Die Gewichte, die das Prinzip verlangte, lagen im deutschen Raum, bei den landesfürstlichen Gewalten. Es ist bekannt, wie virtuos sie durch Jahrhunderte gehandhabt worden sind, in verschiedentlich wechselnden Kombinationen bis zur französischen Revolution eben, bis zur unerfreulichen Aufweichung der deutschen Nation, aber mit dem Gewinn, zwar nicht des totalen Friedens, doch der zivilisierten Kavaliers-kriege, welche die Kombattanten blessierten, ohne sie zu töten. Napoleon I. zerriß das alte Konzept. Die Fouragiere seiner Armeen führten im Proviant nicht nur die Ideen der Bürgerfreiheit mit über den Rhein, sondern auch den Gedanken der deutschen Einheit, nicht nur in einem deutschen Volk, sondern auch in einem deutschen Staat. Ehe er verwirklicht wurde, besann sich Frankreich noch einmal auf das alte Ordnungs-prinzip im Miteinander der europäischen Staaten. Die Besinnung geschah im Widerpart gegen Napoleon III. Schon wie er die Einheitspolitik der Italiener begünstigt hatte, war durch die Pariser Kammer betont worden, dies werde nur die deutsche Einheit nach sich ziehen, die einen Umsturz aller politischen Verhältnisse in Europa zur Folge haben müsse. „Les Allemagnes", sagte man damals ...

Am 3. Mai 1866 hielt der größte französische Historiker der Epoche, der Abgeordnete Adolphe Thiers, seine große Rede, in der er sich zum Anwalt und Wiedererwecker der Gleichgewichtspolitik machte. Er betonte die ewige Gültigkeit ihrer einfachen, stets berechenbaren Prinzipien, die allein in der Lage seien, nicht nur die Sicherheit Frankreichs und der Welt, sondern auch die deutsche Sicherheit zu garantieren, eben die Sicherheit der deutschen Länder. „Les Allemagnes“, sagte man damals, nicht „l’Allemagne". „Heute", rief Thiers der Politik seines Kaisers entgegen, die zwar noch nicht die Einheit des ganzen Deutschland, aber die seines Nordens unter preußischer Führung goutierte, „heute möchte man dises Wort vom europäischen Gleichgewicht der Lächerlichkeit preisgeben, aber ich könnte Ihnen, wenn ich die Zeit und die Kraft dafür hätte, zeigen, was alles es ist an Größe und durchdachter Tiefe, wie weit es davon entfernt ist, alles auszudrücken, was es enthält“. Glühend redete er einer Aufgabe der „proportions des forces allemandes" das Wort, die Frankreichs Politik sein müsse im Zeichen des Gleichgewichts. Am nächsten Tage mobilisierte Preußen, um die Österreicher aus Schleswig-Holstein zu vertreiben. Napoleon III. mischte sich nicht ein .. .

Die Franzosen haben dem verlorenen „equilibre europeen“ nachgetrauert, aber sich unter der Staatsmannskunst Bismarcks mit dem Verlust abgefunden. Sie wurden wieder daran erinnert, als mit der Entlassung des Kanzlers der junge Kaiser seinen „Neuen Kurs" steuerte. Erschrocken rieben sich die Franzosen die Augen: waren nicht in der Gestalt Wilhelms II., der nicht nur mit Bahn und Schiff in der Weltgeschichte herumreiste, der heute in Kassel, morgen in Wiesbaden, übermorgen in München, dann wieder in Königsberg und wo es sonst noch sein mochte, seinen Hof hielt, wie die alten Kaiser in ihren Pfalzen, heute hier und morgen da, der auch politisch von Möglichkeit zu Möglichkeit vagabundierte, sich heute in England aufspielte, morgen, nach einem Treffen mit seinem russischen Vetter, sich „Admiral des Atlantik" nannte, dann den Sultan aufzumöbeln trachtete, um schließlich Frankreich in Marokko in die Quere zu kommen und anderntags die Buren zum Kampfe gegen England zu beglückwünschen. — waren nicht die alten, schweifenden Kaiser aus deutschem Blute, wieder auferstanden, unberechenbar in ihrer launischen „Dynamik“?

Das russische Bündnis Jetzt besann sich Frankreich wieder auf seine große Tradition in der Außenpolitik. Freilich, die Tatsache Deutschland war nicht mehr rüdegängig zu machen. Aber: war es denn ganz unmöglich, ein neues Gleichgewicht der Kräfte herzustellen? So faßte Frankreich das russische Bündnis ins Auge. Es wird ganz auf das Prinzip des Gleichgewichts gegründet, das nun zu einem Prinzip von wissenschaftlichem Rang erhoben wird. Dem von Berlin geführten Dreibund mit Wien und Rom wird der Zwei-bund Paris—St. Petersburg gegenübergestellt. Eine Koalition wiegt die andere auf. Die Dinge sind im Gleichgewicht. Frankreich kann mit Deutschland wieder auf gleichem Fuße verkehren, denn der Kaiser weiß nun, wo er halt zu machen hat. Andre Tardieu schreibt 1910 seine berühmte Schrift, der er den Titel gibt: „La France et les alliances. La lutte pour 1‘equilibre“, — der Kampf für die Wiederherstellung des Gleichgewichts also.

Man darf auch als Deutscher nach der abklärenden Wirkung von 44 Jahren, die seither vergangen sind, zugeben, daß dies, die Wiederherstellung des Gleichgewichts durch das russische Bündnis, das echte Ziel der französischen Politik gewesen ist, nicht die Einkreisung, nicht der Krieg. Es ist kein aggressiver Triumph, wenn Tardieu, ein Nationalist, der später Ministerpräsident wurde, in seiner Schrift tief befriedigt verzeichnet, die französisch-russische Allianz habe Deutschlands Hegemonie zerstört. Damit sei aber die Stunde einer deutsch-französischen Annäherung gekommen. Und es spricht nicht gegen die Aufrichtigkeit dieser Erwartung, die ja als wissenschaftlich fundiert angesehen wurde, wenn schließlich doch der erste Weltkrieg gerade wegen der Pariser Allianz mit der großen Macht im Osten ausbrach, die ihren eigenen allianzfremden Zielen folgte und den schwächeren Partner mitriß, der bei Gefahr der Vereinsamung, wie er sie sah, sich nicht mehr zurückhalten zu dürfen glaubte. Poincare, der leitende Architekt des Russenbündnisses, brach seelisch in der Stunde zusammen, in der die Kanonen zu sprechen begannen. Er war ein „homme de l'equilibre" von reinstem Blut, und Clemenceau mußte ihn ablösen, der das Gegenteil lebte ... „Wissen ist Voraussehen"

Das Gleichgewicht ist dem Franzosen mehr als ein bloß politisches Prinzip. Es ist eingebunden in die „raison“, in der der französische Geist aufgebrochen ist gegen alle „incertitudes", gegen alle Ungewißheiten des Lebens, die sich im Weiten, im Unbestimmten, im Grenzenlosen tummeln. Auf der schwankenden Scholle des schicksalhaft durch Zeiten und Räume treibenden Daseins will die Vernunft dem Menschen das wohnliche Haus errichten, „mit klarem Horizont, geschlossenen Räumen, festen Wänden", das heißt: mit logischem Denken, exakter Erforschung von Ursachen und deduzierter Voraussicht von Wirkungen, — nach der großen Parole des Positivismus, der die echte französische Philosophie ist: savoir c’est pr-voir, „Wissen ist Voraussehen". Das glaubt der Franzose, mit Ausnahme der Existenzialisten. So traut er sich auch den nützlichen Gebrauch der Methode zu, die ihm Romain Rolland abschildert: „Um zu wissen, was er denkt, muß der Franzose wissen, was sein Nachbar denkt, um dann dasselbe oder das Gegenteil davon zu denken ..." So verfährt Frankreich im Politischen, und wer Politik mit ihm machen will, muß es wissen und berücksichtigen. —

Jaques Bainville Die Gleichgewichtsliteratur hat sich mit den historischen Darlegungen von Thiers oder der Schrift Tardieus nicht erschöpft. Sie ist zumal nach dem ersten Weltkriege zu neuer Blüte gediehen. Jaques Bainville schrieb seine „Geschichte zweier Völker", in der er die napoleonischen Verstöße gegen die Gleichgewichtspolitik anprangert, aber auch die Fehler der Dritten Republik, die von der Weisheit der Bourbonen nichts übernommen hat Und es zuläßt, daß das besiegte Deutschland eine einheitliche Armee bekommt, die es 1914 noch nicht hatte, die den Amerikanern erlaubt, im Zeichen der Nationalstaatsidee Osteuropa durch Zerschlagung der österreichisch-ungarischen Monarchie zu zersplittern, so daß Frankreich die zuverlässigen Elemente für die Errichtung eines neuen Gleichgewichts fehlen, da auch Rußland durch die Bolschewisierung auf unbestimmte Zeit ausgefallen ist. Polen, das zwischen dem deutschen und dem russischen Feuer liegt, kann kein Gegengewicht bilden. Wenn sich Frankreich mit ihm verbindet, kann es nur in den Sog eines polnischen Untergangs her-eingerissen werden. Mit der Tschechoslowakei, mit Rumänien und Jugoslawien sieht Bainville die Geschichte kaum anders. Es sind Länder, die das Spiel nicht verstehen, das im Interesse des Friedens gespielt werden muß, und die auch in sich zu wenig gefestigt sind, um nicht noch lange einer Unterstützung zu bedürfen, die Frankreich schwächen muß, anstatt es zu entlasten. Denn Deutschland ist auch nach seiner Niederlage nicht berechenbarer geworden. Vorerst kann das Gleichgewicht nur ersetzt werden durch Faustpfänder, die sich Frankreich in Deutschland sichert und die es nicht herausgeben darf. Amerika liegt zu weit ab von Europa. Nach Vernichtung der deutschen Flotte hat auch England, das über die Meere blicht, das Interesse am Festland verloren, auf em Frankreich mutterseelenallein ist, allein mit Deutschland, das Revanche brütet . . . Bainville schließt seinen Umblich mit den Worten: „Die Franzosen des Krieges von 1914 und 1915 haben heroisch für die Fehler ihrer Vorfahren gebüßt. Sie haben für die nächsten Generationen eine bessere Zukunft vorbereitet, als die Zeit war, in der sie selbst gelebt haben. Aber für diese Generationen wird der Kreislauf der Mühen und Nöte nimmer geschlossen sein . . ." Noch ein Jahr vor Hitler sagt der einflußreiche Publizist Thibaudet im Hinblick darauf, daß es „Ideen“ sind, denen die Deutschen als Motoren einer bessern Zukunft den Vorzug geben: in der Politik gebe es jedenfalls keine dauernde Trennung von Ideen und Interessen. Die Ideen hätten lediglich zu bewirken, „die Interessen in ein System zu bringen und sie einem allgemeinen, humanen Ordnungsprinzip zu unterstellen“. Damit meint er das Gleichgewicht. Man muß Frankreich Allianzen bieten Was wir hier in unvollständiger Kürze nachgezeichnet haben, wirkt für den Deutschen wie Vergangenheit. Aber es ist für den Franzosen Vergangenheit und Gegenwart — und Zukunft! Die handelnde Generation der Franzosen ist von der Notwendigkeit des Gleichgewichtsgedenkens gegenüber Deutschland ebenso durchdrungen, wie die handelnde Generation in Deutschland von dem Gedanken beherrscht ist, der alte Gegensatz müsse in der größeren Zusammenfassung aufgehoben werden, freilich, fügen die Deutschen hinzu: bei gleichem Recht in der Verbindung, die die Not gebietet. Die Antithetik von französischem Gleichgewichtsstreben und deutschem Gleichberechtigungsanspruch, gerade etwa hundert Jahre alt, hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, auch wenn wir sie gerne für legendär erklären möchten, indem wir nach Europa rufen. Der Franzose hält ichts, seit vielen hundert Jahren nichts von einer Politik, die ihre Richtlinien und Manipulationen aus wechselnden Lagen schöpft, wie es Machiavelli in seinen Discorsi empfiehlt, wie es bismarckischer Stil, italienische, englische und amerikanische Auffassung ist. Es ist ein verbreiteter Irrtum, daß der Franzose dem Improvisieren geneigt sei, daß er sich darauf verstehe. Er leidet unter dem „muddling through“, das die inselländische Politik Englands von Anbeginn bis heute beherrscht, wie er unter dem Unberechenbaren litt und leidet, daß er im deutschen politischen Charakter sah und sieht. Er will seine Systematik, seinen verläßlichen, unbeeinflußt von Ideen und Gefühlen ablaufenden Mechanismus in der Außenpolitik. Wer darauf eingeht und einzugehen vermag, gewinnt die beständige Mitarbeit Frankreichs. Man muß Frankreich Allianzen bieten, aus denen es ein neues, stabiles Gleichgewicht konstruieren kann, wenn es seine Pflicht für den Westen tun soll. Das kann nicht Deutschlands Sache sein. Wir müssen es begreifen, auch wenn wir es reinen Herzens und aus ruhigster, abgeklärtester Überlegung eine Legende heißen müssen, daß Frankreich in unserer Wirtschaftskraft das Wiederauferstehen der deutschen „Dynamik" erkennen zu müssen vermeint.

Dies alles weiß Mendes-France. Er hat sich das Wissen erworben mit der ganzen Akribie, die den Franzosen auszeichnet, dem Frankreich erst in zweiter Generation Heimat ist. Es ist übrigens ganz dieselbe Wachheit, mit der die Elsässer Schuman und Koenig und viele andere, die heute in der Politik Frankreichs große Stellungen einnehmen, die wirkenden Kräfte der französischen Gegenwart erkennen und respektieren. Die volle Kenntnis einer geistigen Situation, die wir als Deutsche und Europäer beklagen müssen, hatte den französischen Ministerpräsidenten bewogen, jene große Gegenüberstellung der Meinungen in der Nationalversammlung zu veranstalten, die der Absetzungsantrag des Generals Aumeran verhindert hat. Die Gegenüberstellung hätte erbracht, was wir nun bedacht haben.

Anmerkung Pierre VIANSSON-PONTC (geboren 1920) ist lothringischer Herkunft. Er promovierte in Paris zum Doktor der Rechte. Den Krieg 1939/40 machte er bei den Panzertruppen mit, wurde verwundet, geriet in Gefangenschaft und floh. Seit 1941 wirkte er aktiv in der Wiederstandsbewegung mit und tauchte 1943 in die Illegalität unter. Nach 1945 arbeitete er für Agence France-Presse, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur. Er ist Experte in Fragen der Innenpolitik und Wirtschaft und schreibt für verschiedene französische und ausländische Blätter.

Im Juni 1953 gründete er zusammen mit Jean-Jacques Servan-Schreiber, Eeitartikler und Außenpolitiker von »Le Monde“, und Franoise Giroud, Chefredakteur von . Elle“, die Wochenzeitung „L’Express" und übernahm ihre Chefredaktion. »L’Express” stand von Anfang an Pierre Mendes-France nahe; er hat heute die höchste Auflage (sie stieg von 40 000 im Juli 1953 auf 135 000 im Juli 1954) aller politischen Wochenblätter in Frankreich.

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