Rüstungsproduktion unter der Direktion eines internationalen Organismus. Das wurde von Herrn Teitgen gesagt und von Herrn Guy Mollet auch, und das ist genau die These, die wir auch in London verfochten haben.
Ich muß leider sagen, daß dieser Punkt zu Diskussionen Anlaß gegeben hat, die nicht nur schwierig, sondern bis zu einem gewissen Grade peinlich waren. Wir befanden uns einem lebhaften Widerstand gegenüber, der zu unserer großen Überraschung ganz besonders von den Niederlanden und von Belgien ausging, also von den Ländern, auf deren Beistand wir gerade gehofft hatten. Aber die Frage kann wiederaufgegriffen werden. Das Projekt der französischen Delegation wurde an das Ministerkomitee von Brüssel verwiesen, und wir hoffen, daß seine Hauptgedanken wenigstens in ihren Grundzügen beibehalten werden. Wenn nicht, könnte man immerhin noch bilaterale oder multilaterale Abkommen vorsehen, so wie einige Redner es angeregt haben.
„Ich habe noch etwas über die Saar zu sagen. Die Herren Vendroux und Loustaunau haben der Regierung vorgeworfen, sie sei zu schwach gewesen. In Wirklichkeit war aber gar keine Gelegenheit, die Saarfrage in London anzuschnei-den, und sie gehörte da auch gar nicht hin. Sie muß in französisch-deutschen Verhandlungen behandelt werden, die Neun haben nichts damit zu tun. Aber, ich versichere Herrn Vendroux, und ich habe dies auch nicht den anderen verborgen, sie wird zur selben Zeit wie die anderen zur Debatte stehenden europäischen Probleme geregelt werden. Der Nationalversammlung wird dann der gesamte Fragenkomplex vorgelegt.“
Mit Genehmigung des Verlages entnehmen wir der Offenburger Zeitschrift im Dienst übernationaler Zusammenarbeit „DOKUMENTE", Oktober 1954, 5. Heft, den folgenden Artikel von Pierre Viansson-Ponte. Der Artikel ist unmittelbar nach der Ablehnung der EVG-Verträge in der französischen Nationalversammlung geschrieben.
Der Regen hatte endlich nachgelassen. Eine helle Sonne verlieh Paris bereits herbstlichen Schimmer. Aber die Sonne dringt niemals in das Halbrund des Palais Bourbon, wo die französische Nationalversammlung tagt: als die Architekten das riesige Gebäude am Scineufer entwarfen, gaben sie -Vergessen oder Symbol? -dem Sitzungssaal keine Fenster. Die 627 Abgeordneten beraten über das Schicksal ihres Landes, ohne je zu sehen, was sich draußen abspielt: eingeschlossen in den Hexenkessel, in dem die französische Politik brodelt.
Am Rednerpult steht heute ein ernster, beinahe düster wirkender Mann, das schwarze Haar in Unordnung, Ränder der Müdigkeit unter den Augen: er spricht langsam und prägnant. Zu seiner Linken ein Kalender und eine Wanduhr: Sonntag, 29. August, 16, 15 Uhr. Pierre Mendes-France redet seit 11 Uhr, nur von der Mittagspause unterbrochen, zur Einleitung der EVG-Debatte. Keiner seiner Zuhörer -die Abgeordneten dicht gedrängt auf ihren Bänken, das Publikum auf überfüllten Tribünen, an die hundert Journalisten -zeigt ein Nachlassen der Spannung, die sich bei den einen in feindseliger Wachsamkeit, bei den anderen in Sympathie, auf den Pressebänken in geschäftsmäßiger Aufmerksamkeit ausdrückt.
Der Redner kommt zum Schluß; er bezieht Stellung. Drei Sätze genügen: „Für die EVG spricht meines Erachtens vor allem, daß sie die Bundesrepublik Deutschland politisch an die westliche Welt bindet: niemand darf den Wert dieser Tatsache unterschätzen. Das Inkrafttreten des Vertrages wäre ein wichtiger Schritt auf dem Wege der französisch-deutschen Aussöhnung, die eine der Voraussetzungen für den Frieden ist. Wenn Sie die Ratifizierung verweigern sollten, wird das Problem Westdeutschlands und seiner Wiederbewaffnung dadurch nicht geregelt sein; es wird sich Ihnen früher oder später, in der einen oder anderen Form, erneut stellen. Sehr leichtfertig würde jeder handeln, der heute mit la oder Nein stimmt, ohne alle Konsequenzen seiner Entscheidung zu bedenken.“
Vierundzwanzig Stunden später verzeichnet die Geschichte Frankreichs Nein zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Alle Begleitumstände -die Stimmenthaltung des gesamten Kabinetts in der Schlußabstimmung, die Entscheidung über eine Verfahrensfrage statt über den Vertrag selbst, die Leidenschaften und die Manöver eines Teils der Befürworter wie der Gegner -, alles sollte dazu beitragen, den Vorgang ins Zwielicht zu rücken und Mißverständnisse hervorzurufen.
Gewiß kann ein Politiker vom Format eines Mendes-France -mag man ihm zustimmen oder nicht -zu einer Frage von solcher Tragweite persönlich nicht neutral stehen, selbst wenn er diese Haltung aus taktischen Gründen bei einer Abstimmung wählt, in der die Stimmen der Minister ohnehin bedeutungslos geblieben wären (sie hätten einfach die feindlichen Lager zu gleichen Teilen gestärkt). Ein Regierungschef, der in einem Buch nachweist, daß „Regieren sich entscheiden“ heißt, besitzt selbstverständlich eine Politik: eine Deutschlandpolitik, eine Europapolitik und schließlich eine internationale Strategie mit allgemeinen Zielen.
Die Reden von Mendes-France, seine wöchentlichen Radioansprachen, seine früheren Schriften und jüngsten Erklärungen lassen die großen Linien seiner Politik deutlich werden. An welchen Grundsätzen wird er in seiner Deutschlandpolitik unter allen Umständen festhalten?
Das einheitliche Ziel des Westens
Das Ziel der Politik des Westens in Europa darf nicht durch unzählige Varianten, Diskussionen über zweitrangige Fragen und Verfahrens-debatten verdunkelt werden. Es ist einfach und klar: den Kommunismus vermeiden, den Frieden bewahren.
Das sind nicht zwei verschiedene Aufgaben, sondern die beiden Seiten ein und derselben. Denn ein neuer Weltkrieg mit seinen Massen-vernichtungen und seinem Elend bedeutet zwangsläufig einen entscheidenden Schritt auf den Kommunismus zu. Wenn es andererseits aber dem Kommvnismus gelingen sollte, in weiteren europäischen Ländern die Macht zu ergreifen, würde das gegenwärtige Gleichgewicht der Kräfte bedroht sein: die vermutlich unausweichliche Folge hieße Krieg.
Den Frieden erhalten und die Demokratie bewahren sind also zwei Forderungen, die zusammengehören.
Beide gemeinsam müssen die Politik des Westens in Europa bestimmen.
Hier stellt sich unmittelbar das deutsche Problem.
Gäbe es nicht mitten in Europa die Spaltung Deutschlands, dann wäre es politisch klug, sich an den slatus quo zu halten. Aber die Tatsache besteht, Deutschland ist aufgeteilt. Zwei feindliche Regierungsformen, zwei rivalisierende Gruppen von Besatzungsmächten, die Haupt-Stadt Berlin eine westliche Insel mitten in der kommunistischen Zone: das muß eine bedrohlich labile Lage ergeben, die kein Politiker bei klarem . Verstand endgültig anerkennen kann.
Der Spaltung Deutschlands wegen ist ein Festhalten am Status quo unmöglich. Die Westmächte müssen sich also über eine aktive Politik klar-werden, sie müssen Entschlüsse fassen, auch wenn viele Franzosen im tiefsten Herzen das Gegenteil wünschen mögen. Die politische Stagnation in der Deutschlandfrage. kann nicht länger andauern. Es gibt einen einzigen zufriedenstellenden Weg, um Frieden und Demokratie zu erhalten: wir müssen erreichen, daß die Russen der Wiedervereinigung Deutschlands durch freie Wahlen im ganzen Lande zustimmen. Wenn sie sich im Interesse des Friedens dieser Bedingung beugten, wäre das ein großer Sieg des Westens. Ohne Zweifel würde das kommunistische Regime in Ostdeutschland zusammenbrechen, und dieses Ereignis ohne Beispiel in der Geschichte müßte, über die Wiedervereinigung Deutschlands hinaus, einen beträchtlichen psychologischen Schock auslösen.
Wir sollten alle Mittel einsetzen, um zu diesem Resultat zu kommen. Auf der einen Seite heißt das, die Tür für eventuelle Deutschland-verhandlungen mit den Sowjets offenhalten; auf der anderen Seite, sich darüber einig werden, was wir ihnen als Preis anbieten wollen, um durch Verhandlungen zu einem Erfolg zu gelangen. Man könnte daran denken, eine gemeinsame Kontrolle der deutschen Aufrüstung vorzuschlagen. Damit erhielten die Sowjets eine ernsthafte Garantie gegen das Entstehen einer ihnen feindlichen, aggressiven deutschen Wehrmacht.
Es würde sich dabei keineswegs um eine „Neutralisierung“ Deutschlands handeln. Der wiedervereinigte und demokratisch regierte deutsche Staat müßte im Gegenteil wirtschaftlich und politisch fest in den Westen eingegliedert werden; er könnte zum Beispiel der Montan-Union weiter angehören. Aber es leuchtet ein, daß sich auf militärischem Gebiet keine andere Lösung finden läßt als das west-östliche Abkommen über ein Kontrollverfahren. Dieser Vertrag könnte übrigens möglicherweise zum Ausgangspunkt für ein allgemeineres Abkommen über eine internationale Abrüstungskontrolle werden.
Die Chancen einer Viererkonferenz
Fassen wir zusammen: das einzig vernünftige und zufriedenstellende Ziel der westlichen Politik in Europa sind freie Wahlen in Ostdeutschland. Bis jetzt haben die Russen sie stets abgelehnt. Können wir damit rechnen, sie zu einer anderen Haltung zu bewegen, und wie?
Jedes Verhandeln mit der Sowjetunion und den anderen kommunistischen Staaten ist ein schwieriges und verwickeltes Unterfangen und von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn man die Annäherung auf einem der beiden einfachsten Wege sucht, die sich zunächst anbieten; jeder von beiden hat überzeugte Befürworter in Amerika und Europa.
Der erste ist der Weg der Gewalt. Für ihn treten vor allem einige Politiker und Militärs ein, die sich Verhandlungen mit den Kommunisten nur als ein Ultimatum auf der Grundlage einer sogenannten „Position der Stärke“ vorstellen können. Frankreich ließ sich lange Zeit in Indochina, Amerika in Korea von dieser Idee leiten. Sie mußte in beiden Fällen aufgegeben werden. Ih den lokalen Konflikten des Fernen Ostens war sie nicht völlig absurd, aber doch wirklichkeits-fremd und unvernünftig. Auf die Lage in Europa angewandt verliert sie jedoch jeden Sinn. Wer sich darauf vorbereitet, die Kommunisten in Europa militärisch zu schlagen, um die beiden Hälften Deutschlands zusammenzufügen, akzeptiert und plant den Weltkrieg, den Gipfel des Wahnsinns.
Der zweite Weg ist der „systematische Versöhnungsgeist“.
Nur wenige Amerikaner, aber um so mehr Franzosen befürworten ihn -alle nämlich, die in gutem Glauben meinen: wir brauchen den Sowjets nur ein Lächeln und guten Willen zu zeigen, um sie ganz von selbst eines Tages zu der Erkenntnis zu bringen, daß es in ihrem Interesse liegt, sich mit uns zu vertragen.
Diese rosige Vorstellung birgt leider keinerlei Aussicht auf Erfolg. Wer irgendwann einmal mit Kommunisten zu verhandeln hatte, weiß, wie dumm es ist zu glauben, man könnte sie durch Höflichkeit zu irgendwelchen Zugeständnissen bewegen. Sie prüfen ganz nüchtern, wo ihre echten Interessen liegen, halten gar nichts von freundlichen Floskeln und sind die unzugänglichsten Gesprächspartner der Welt.
Die Anwendung des Genfer Rezepts
Die Genfer Verhandlungen brachten nach langen Jahren den ersten großen Erfolg in der Ost-West-Politik; sie stellen ein Musterbeispiel dar, das zu studieren und zu erwägen sich lohnt. Der erste Vertreter Frankreichs, Georges Bidault, drohte mit einer Ausweitung des Krieges; er wollte damit die Kommunisten zum Verhandeln zwingen, erreichte aber nur, daß sich ihre Haltung versteifte. Dann erschien ein neuer französischer Unterhändler. Die Kommunisten hielten Pierre Mendes-France zunächst für einen Pazifisten, der einen Waffenstillstand um jeden Preis akzeptieren würde; und sie versteiften sich von neuem, so daß die Verhandlungen ums Haar scheiterten. Der Erfolg kam mit dem Tage in Sicht, an dem die Kommunisten begriffen, daß Mendes-France aufrichtig und guten Willens den Frieden suchte, aber gleichzeitig auch fest entschlossen war, den Krieg durch Einsatz neuer Kontingente zu verschärfen, wenn die Gegner keine zufriedenstellenden Bedingungen annehmen würden. Das Rezept des Erfolges lautet: man muß die Verhandlung gleichsam in einen Schraubstock spannen; auf der einen Seite absolute Loyalität und Aufrichtigkeit, auf der anderen Entschlossenheit und eventuell sogar Drohung. Weder Aggressivität noch Schwäche, sondern Festigkeit: das ist der Schlüssel zum Erfolg von Genf. Wie läßt sich diese Methode auf die Deutschlandfrage anwenden?
Einige meinen: zuerst bewaffnen wir die Bundesrepublik und verstärken damit die Position des Westens; wir zeigen den Russen, daß wir zur Kraftprobe bereit sind, falls sie wollen... Das ist der Weg der aggressiven Haltung, der keine Aussicht auf Erfolg hat, uns vielmehr höchstwahrscheinlich in die Katastrophe führt.
Andere sagen: wir bewahren uns im Gegenteil alle Friedenschancen; wir fällen keine Entscheidung, die Verhandlungen kompromittieren könnte; wir weigern uns, irgendeine Initiative zur Aufrüstung Deutschlands ins Auge zu fassen, bevor wir nicht noch einmal am Konferenz-tisch mit den Sowjets gesprochen haben__ Das ist der Weg der Gutwilligkeit um jeden Preis, der Weg der Schwäche; er hat ebensowenig Aussicht auf Erfolg.
Erfolge können wir nur dann erzielen, wenn wir auch hier den Mittelweg finden. Frankreich muß deutlich und fest seine Absicht beweisen, die Bundesrepublik in die westliche Koalition aufzunehmen, wenn die Sowjets sich nicht für vernünftiges Verhandeln entscheiden. Die Ablehnung der EVG läßt in dieser Hinsicht alle Möglichkeiten offen. Wenn der Westen allerdings nicht bald eine Alternativformel ausarbeitet und die deutsche Wiederbewaffnung, an der er im Prinzip festhält, in einen neuen Rahmen stellt, werden die Sowjets unsere Entschlossenheit nicht ernst nehmen. Die Bundesrepublik muß volle Souveränität erhalten, . das Problem ihrer Bewaffnung gelöst werden.
Schalten wir hier eine Bemerkung ein. Selbst wenn Frankreichs Nationalversammlung der EVG in erster Lesung zugestimmt hätte, wären wir heute von der endgültigen Ratifizierung noch weit entfernt, und viele gefährliche Hindernisse blieben noch zu überwinden. Nach der Verfassung der Vierten Republik hätte ein Ja am 30. August den Ratifizierungsprozeß nur eingeleitet; das Wort hätte zunächst die zweite Kammer, der Rat der Republik (Senat), dessen Ausschüsse erst nach zwei Monaten ihre Berichte vorlegen müßten. Die Parlamentsferien hätten diese Zeitspanne noch verlängert, so daß die Senatoren frühestens im Dezember über die EVG abgestimmt hätten. Ihr Nein war beinahe sicher, da die Gegner der EVG im Rat der Republik immer schon die Mehrheit besaßen: von 318 Senatoren gehören nur 22 zur MRP. Die Nationalversammlung hätte dann in zweiter Lesung eine absolute Mehrheit (314 Stimmen) aufbringen müssen, um die Ratifizierung der Verteidigungsgemeinschaft durchzusetzen. In der Verfahrens-abstimmung, die den Vertrag beerdigte, brachten es die EVG-Anhänger und alle Feinde der Regierung Mendes-France jedoch nur auf 264 Stimmen.
Kurz, auch wenn alles nach den Wünschen der EVG-Anhänger gegangen wäre, hätte Frankreich erst im Februar oder März 1955, und auch dann noch längst nicht mit Sicherheit, ratifiziert. Wer heute so spricht, als könnte die Alternative in ein paar Wochen ausgehandelt, unterzeichnet, ratifiziert und in Kraft gesetzt werden, handelt wider besseres Wissen. Wer gar behauptet, eine solche Überstürzung sei technisch möglich, ist entweder rehr schlecht unterrichtet — oder er lügt bewußt.
Für die nächsten sechs Monate wenigstens bleibt alles genau so in der Schwebe, wie wenn die Abgeordneten den EVG-Vertrag in erster Lesung gebilligt hätten. Die deutsche Wieder-bewaffnung bleibt eine Möglichkeit, die sich der Westen offiziell reserviert hat. Ihre näheren Um-stände bleiben zunächst im Stadium des Suchens und Verhandelns. Ihr Termin kann sich vielleicht noch etwas verzögern, liegt jedoch nicht sehr fern.
Unter diesen Voraussetzungen muß Frankreich die Zeit der Vorbereitungen nützen, in der von neuem alle Möglichkeiten offenstehen. Frankreich muß den Sowjets jetzt unzweideutig zu verstehen geben: wenn ihr nicht in den nächsten Monaten dem Prinzip freier Wahlen in der deutschen Ostzone — unter bestimmten Bedingungen — zustimmt, dann wird unsere Regierung das Parlament auffordern, die deutsche Aufrüstung in dieser oder jener Form zu billigen, welche Folgen das auch haben möge.
Die Schwierigkeiten des mittleren Weges
Wir sind in großen Linien den Überlegungen gefolgt, die den außenpolitischen Kurs des gegenwärtigen französischen Ministerpräsidenten bestimmen. Seine Entscheidungen in der EVG-Frage werden von allen Seiten erbittert kritisiert. Die rechtsstehenden EVG-Gegner warfen ihm mit aller Energie vor, in seinem Kompromißvorschlag gewisse wesentliche Züge des Vertrags anerkannt zu haben. Drei Minister, die dieser Meinung waren — an ihrer Spitze General Koenig —, traten deshalb vor der Brüsseler Konferenz zurück. Denn hielten ihm die EVG-An-hänger in seinem Kabinett vor, in Brüssel bestimmte Abstriche von seinen Forderungen verweigert zu haben. Wieder traten drei Minister zurück. Nun klagen ihn die linken Sozialisten an, einen wichtigen Schritt auf die deutsche Aufrüstung hin zu vollziehen, bevor er eine Viererkonferenz mit der Sowjetunion durchgesetzt habe. Im Gegensatz dazu beschweren sich die Amerikaner, er habe vor der Ratifizierungsdebatte von eventuellen Verhandlungen mit dem Osten gesprochen und dadurch die Chancen der EVG noch mehr verschlechtert. Schließlich kritisieren verschiedene europäische Partner (besonders die Deutschen) heftig seinen Versuch, den EVG-Vertrag aufzuweichen und die Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten stärker in Rechnung zu stellen.
Alle diese Vorwürfe sind teilweise gerechtfertigt. Stellt man sie aber zusammen, so beweisen sie eher, daß die Grundsätze der Politik von Mendes-France ungefähr den Überlegungen entsprechen, die wir hier anstellten. Sie räumt mit der Unklarheit auf und zeigt deutlich Frankreichs Absichten. Sie schlägt nicht die Tür für Verhandlungen mit dem Osten zu, die möglicherweise das einzige echte Ziel erreichen könnten: freie Wahlen in Ostdeutschland und eine Kontrolle der Rüstungen. Sie präzisiert die Formel für eine eventuelle Aufrüstung, die Frankreich weder von Großbritannien noch von der Union Fran-
aise abschnürt und endlich von einer breiten Mehrheit angenommen werden könnte.
Diese Prinzipien bestimmen die Haltung des französischen Ministerpräsidenten. Er wird sich an sie halten, wie auch immer die Reaktionen ausfallen mögen. Darum ist es in seinen Augen auch keine Tragödie, daß die EVG zu Grabe getragen wurde. Sie lastete zu schwer auf jeder Möglichkeit einer Neubelebung im Inneren, auf jeder umfassenden Konzeption in der Außenpolitik. Die Ungewißheit mußte endlich aufhören. Für Pierre Mendes-France ist es ein positives Ergebnis, daß nun ungefähr der Rahmen deutlich wurde, in dem sich die französische Europa-Politik bewegen kann. Die lange Periode des leidenschaftlichen Streites und der Kämpfe um zweitrangige Verfahrensfragen ist vorbei.
Aber diese Gedanken stellen uns vor eine recht komplizierte Rechenaufgabe: wenn Mendes-France eine solche Politik betreiben will, braucht er unbedingt in ihren verschiedenen Etappen parlamentarische Unterstützung. Auf welche Abgeordneten und Fraktionen darf der Ministerpräsident dabei rechnen? — Dieselbe Frage stellte ihm am Tage nach der Ablehnung der EVG von der Rednertribüne der glühendste Verfechter des Vertrages, Pierre-Henri Teitgen, der Vorsitzende der MRP: „Mit welcher Mehrheit gedenken Sie die französische Politik auf neue Wege zu führen?"
Die parlamentarische Lage ist in der Tat vielschichtig und ziemlich undurchsichtig. Zwei vorläufige Feststellungen drängen sich dem Beobachter auf, der objektiv den Debatten der letzten Wochen gefolgt ist.
Arithmetik der Nationalversammlung
Erstens lehnt ein erheblicher Teil der Nationalversammlung jede Form einer deutschen Wiederbewaffnung grundsätzlich ab. Das Nein der 100 Kommunisten ist aus den bekannten Gründen selbstverständlich; wir brauchen sie nicht zu nennen. Die Mehrzahl der EVG-Gegner unter den 105 Sozialisten ist überzeugt, daß ein ausgerüstetes Deutschland sich rasch zur tödlichen Gefahr für die europäische Verständigung entwickeln werde. Von den sozialistischen EVG-Anhängern haben viele nur der supranationalen Struktur wegen mit Ja gestimmt; sie werden sich einer deutschen Remilitarisierung gegenüber zutiefst abgeneigt zeigen, sobald diese Neuerung fortfällt.
Halb-nationalistische Reflexe und der Trikolore-Mythos spielen für die militaristischen Elemente der Rechten und der Mitte eine Rolle. In den gleichen Fraktionen wird aber auch der Wunsch nach einem Übereinkommen laut, das einen dauerhaften Frieden sichert: die deutsche Wiederbewaffnung könnte diesen Wunsch zunichte machen. Kurz, viele Franzosen wünschen (um ein bekanntes Bonmot zu wiederholen), die zukünftige deutsche Armee möge „stärker sein als die Sowjetarmee mit ihren 175 Divisionen und schwächer als die französische mit ihren 14 Divisionen“... oder sie möge überhaupt nicht sein!
Zweitens hat die Opposition gegen die Regierung Mendes-France ihren Generalstab in etwa dreißig Männern aus der MRP und rechts von ihr gefunden, die seit zehn Jahren auf den Kommandohöhen der französischen Politik standen und um die sich alle konservativen Kräfte kristallisieren. Diese Männer traten auch für die EVG ein und forderten dringend den europäischen Zusammenschluß. Andererseits erschienen sie identisch mit einer Politik der wirtschaftlichen und sozialen Stagnation im Innern, mit der leeren Prahlerei in Indochina und der Gewaltherrschaft in Nordafrika. Das mußte der europäischen Idee selbst schwer schaden und Mendes-France samt den Anhängern seiner dynamischen Politik in das gegnerische Lager hinüberzwingen.
Gehen wir von diesen beiden Feststellungen aus, dann zeichnen sich die Konturen der Majorität ab, die Pierre Mendes-France für die verschiedenen politischen Operationen zu gewinnen hofft.
Die erste Frage: die deutsche Wiederbewaffnung in einer Form, die mit den USA und Großbritannien ausgehandelt würde und ausreichende Garantien (im Rahmen der NATO) vorsähe. Eine solche Formel würde wahrscheinlich von den meisten „Europäern" trotz ihrer Feindschaft gegen die Regierung Mendes-France als Ersatz für die EVG gebilligt werden. Der nationalistische Teil der „Anti-Europäer“ (Generäle, Konservative usw.) könnte sich anschließen, ebenso vielleicht ein Teil der Linken, die auf Vierer-Verhandlungen hinsteuern möchte. An diese Möglichkeit dachte Mendes-France wohl, als er auf Teitgens Versicherung: „Ich bezweifle, daß es für Ihre Politik eine Mehrheit gibt; meine Freunde werden auf keinen Fall dazu gehören!" zur Antwort gab: „Darüber wissen Sie nichts."
Die zweite Frage: Verhandlungen mit dem Osten, wie sie der Ministerpräsident wünscht und suchen wird. Hierfür findet er seine Links-mehrheit wieder, die ihm über die EVG-Debatte hinweg treu blieb: am Tage nah der Ablehnung billigte die Nationalversammlung seine Außenpolitik mit 418 gegen 162 Stimmen, das heißt mit absoluter Mehrheit der Nicht-Kommunisten. Diese Majorität wird Mendes-France auch dann unterstützen, wenn der Weg zur Viererkonferenz über das Aushandeln einer eventuellen Aufrüstung der Bundesrepublik führen sollte.
Die dritte Frage: die Wiederherstellung der vollen Souveränität Deutschlands mit Ausnahme des militärischen Bereichs. Es steht fest,