Man hat die Zeit in der wir leben, das Zeitalter der Sekurität genannt: Mit dieser Etikettierung wollte man ausdrücken, daß der Begriff der Sicherheit heute im Mittelpunkt menschlichen Lebens und Strebens, Denkens und Wollens steht. Das 19. Jahrhundert war demgegenüber eine Epoche der Libertät: Damals schien die Freiheit — Freiheit in jeglicher Form — einer der zentralen Begriffe in der Gedankenwelt der Zeitgenossen zu sein. Der Mensch des 19. Jahrhunderts kämpfte stets in irgendeiner Form für die Freiheit: bald im wirtschaftlichen, bald im sozialen, bald im politischen Bereich. Im Zeichen dieses Kampfs um die Freiheit stand der frühe Nationalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Weil er ein Nationalismus im Zeichen der Freiheit und nicht ein Nationalismus der Sicherheit war, deshalb unterscheidet er sich so grundiegend von unserem heutigen Nationalismus. Der Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts war im Grunde international: Er stellte nicht Nation gegen Nation, sondern er einigte alle Nationen gemeinsam im Kampf „in tyrannos“, gegen die Unterdrücker aus fremdem oder vielleicht auch aus dem eigenen Volk. Der Aufstand der Nationen gegeh Napoleon, die Polen-und Griechenbegeisterung in Deutschland, Frankreich und England in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts sind Äußerungen dieses „internationalen“ Nationalismus. Die Begriffe der „Freiheit“, der „Nation“ und des „Staats“ als einer Organisationsform dieser „Nation“ — Form einer Gestaltung in der „Freiheit" — waren für die damalige Zeit drei Begriffe, die zusammengehörten. Der Unterschied zwischen dem Denken jener Epoche und unserem heutigen Denken wird uns klar, wenn wir hören, daß an der Universität München, die damals in den 30er Jahren kaum mehr als 2 OOO Studenten hatte, an 200 Studenten — also fast jeder Zehnte — sich freiwillig gemeldet haben, um in Griechenland für die Freiheit des griechischen Volkes „in tyrannos“ zu kämpfen — und wenn wir uns dann weiter überlegen, wieviel Studenten sich heute an einer gleich großen Universität melden würden, um etwa für die Freiheit des griechischen Volkes zu kämpfen, wenn es wieder durch eine Gefahr aus dem Osten. bedroht wäre.
Die Freiheit, die dem beginnenden 19. Jahrhundert ein so erstrebenswertes Ideal, ein so hoher Wert schien, daß der Mensch glaubte, für sie eintreten zu müssen, wo immer sie bedroht war, war ihrem Wesen nach personale Freiheit: Freiheit der einzelnen Person als eines sittlichen Wesens. Freiheit und Person sind Begriffe, die zusammengehören. Personale Existenz ist das „Heraustreten“ aus einem bloßen, sinnlosen „Vorhandensein“ in sinnvolles „Dasein“; und zu dieser personalen Existenz gelangt der Mensch nur dadurch, daß er die Möglichkeit hat, sich frei zu entscheiden und in dieser freien Entscheidung zu sich selbst zu finden, sich selbst zu setzen. Freie Entscheidung zwischen selbst erlebten. selbst entworfenen und selbst gelebten Möglichkeiten macht das „vorhandene“ Individuum erst zur „existenten" Person: Erst diese freie Entscheidung führt hinaus aus dem Raum des bloßen Vorhandenseins in den eines sinnvollen Daseins.
Jede bewußte Begegnung mit dem „Andern“, mit dem „Du“, in der das „Ich“ sich erlebt, wird zu solcher freien Entscheidung und setzt damit Freiheit voraus oder verlangt sie. Auch die Begegnung im Tod wird letztlich bestimmt und gestaltet durch eine freie Entscheidung im Leben: Ja, jeder bewußte, erlebte Augenblick eines Lebens ist solche vorweggenommene Entscheidung der Begegnung im Tod und damit freie Entscheidung — eine Entscheidung in der letzten Freiheit, die dem Menschen gegeben ist. Ohne Freiheit gibt es keine Person, ohne Freiheit kein sinnvolles
Dasein. Jeder Determinismus bleibt beim bloßen Individuum und damit letzthin im bloßen, sinnlosen Vorhandensein stechen.
Der Einzelne steht — auch und gerade als Person — in der Gemeinschaft: Und auch diese Gemeinschaft wird vom Begriff der Freiheit her, der das Denken der Menschen erfaßt und erfüllt, neu gestaltet. Freiheit, personale Freiheit, ist der zentrale Begriff der Demokratie, die eben gerade deshalb in dieser Zeit des beginnenden 19. Jahrhunderts eigentlich entstanden ist — wenigstens in dem Sinn, in dem wir heute dieses Wort gebrauchen. Freiheit und Einzelperson sind die Ausgangspunkte demokratischen Denkens. Demokratisches Denken und demokratischer Lebensstil gehen vom einzelnen Menschen aus. In ihrem Mittelpunkt steht der Mensch als sittliche Persönlichkeit: Der Mensch in seiner Freiheit zu verantworten oder wenigstens mitzuverantworten, wie sich sein Leben gestaltet; in ihrem Mittelpunkt steht die Achtung vor dieser Persönlichkeit in ihrer Freiheit und in ihrer Würde. Für demokratisches Denken hat jeder Mensch eine Freiheitssphäre, in der sich seine Persönlichkeit entfaltet und in die einzugreifen auch dem Staat verwehrt ist. Ohne solchen staatsfreien Raum gibt es keine echte Demokratie, und infolgedessen sind Demokratie und Totalitarismus des Staates, d. h. ein Denken, bei dem der Staat in alle Lebensbereiche des Menschen eingreift, schlechterdings miteinander unvereinbar.
Weil jedes demokratische Denken von der Freiheit ausgeht und von der Einzelperson, deshalb hat in diesem Denken jeder Mensch in der Gemeinschaft das Recht zur Kritik: Ein Recht, das er in der verschiedensten Form, mit Stimmzetteln bei Wahlen und Abstimmungen, in der Presse, in der öffentlichen Rede, in Versammlungep und Vereinen, kurz: in irgendeiner Form ausüben kann. Wer Demokrat ist, der ist — um mit Goebbels zu sprechen, der genau wußte, warum er gerade diesen Typ von Menschen so stark bekämpft hat — der geborene „Kritikaster"; der ewige „Jasager" hingegen, der getreue Mitläufer, der brave, regierungsfromme „Nickesel", ist der geborene Antidemokrat. Nur, wenn wir die Demokratie als einen solchen Lebensstil erfassen, der aus dem Denken in der Freiheit und dem Denken in der Einzelperson heraus erst entstanden ist und aus diesem Denken sich immer neu wieder seine Kraft sucht, werden wir der Demokratie gerecht.
Das spätere 19. Jahrhundert, als eine Zeit des Determinismus, verstand weder das Wesen der menschlichen Freiheit noch auch das Wesen der menschlichen Person. Es trennte die Begriffe sowohl der Freiheit wie der Person vom lebenden einzelnen Menschen, dem sie notwendig zugeordnet sind, und verband diese Begriffe mit sozialen Gegebenheiten menschlicher Beziehungen, in die es den Menschen notwendig hineingestellt sah und von denen es glaubte, daß sie sich dem Menschen schicksalhaft auferlegten: Es verband die Begriffe der Freiheit und der Person mit den Gegebenheiten des Volks, der Klasse, des Staates. Nur diese sozialen Gegebenheiten schienen ein echtes und sinnvolles Dasein zu haben; innerhalb dieser Gegebenheiten nur war der einzelne Mensch vorhanden. Die Seinsgesetze dieser sozialen Gegebenheiten bestimmten unabänderlich seinen Weg.
Dieser Determinismus vernichtete den Begriff der Freiheit, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt des menschlichen Denkens stand. Er ersetzte die personale Freiheit durch eine andere Freiheit: Die Freiheit des Volks, oder die Freiheit der Klasse, oder die Freiheit eines Staates trat an die Stelle der sittlichen Freiheit des einzelnen Menschen; sic mußte an ihre Stelle treten, da die Person des Staates, die Person des Volkes oder die Person auch der Klasse in der Vorstellungswelt der Zeit die Stelle der Einzelperson eingenommen hatte. Wir alle haben die furchtbare, letzte Konsequenz dieses veränderten Denkens an uns selbst erlebt; wir haben es schaudernd in einer Zeit erlebt, in der im Namen der Freiheit eines Volkes, einer Klasse, eines Staates Millionen ihrer Freiheit beraubt, geknechtet, vernichtet wurden und in der, um die Person des Staates oder des Volkes zu erhöhen, Millionen Menschen für den Staat geopfert, die personale Würde von Millionen mißachtet und in den Schmutz gezerrt wurde.
Die große Krankheit unserer Zeit
Die Freiheit, die Erfüllung der Person sein sollte, wandte sich damit gegen die Person: Sie vernichtete die Person. Gegen diese schreckliche Freiheit, die ja nicht ihre Freiheit war, sondern die Freiheit eines Kollektivs, das sich zu erfüllen suchte, suchte die Person, suchte der Mensch Sicherheit. Er wehrte sich gegen diese Freiheit und verlangte nach Sicherheit gegen diese grausame Freiheit, die ihn versklavte. Die Entartung des Freiheitsbegriffs, die durch die Trennung von Freiheit und Einzelperson entstanden war, machte den Begriff der Sicherheit zum Zentralbegriff im Denken eines Menschen, dessen personale Freiheit von Vernichtung bedroht war, seit an Stelle der Lehre von einem personalen Gott, der personale Freiheit gewährte, das Evangelium von neuen Göttern in der Welt gepredigt wurde: Das Evangelium von der Nation, von der Klasse, vom Staat, Götter, denen allein in dieser neuen Lehre Freiheit zuzukommen schien.
An die Stelle des libertären Denkens des 19. Jahrhunderts trat damit im 20. Jahrhundert ein sekuritäres Denken. Während in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Mensch bereit war, um der Freiheit in irgendeiner Form willen — ja selbst um einer Freiheit willen, die nicht seine eigene war, sondern die Freiheit anderer Menschen — seine ganze Sicherheit zu opfern, weil ihm ein bißchen Freiheit wertvoller schien als j e d e Sicherheit, sind — wir wissen es und haben es leider selbst nur allzu oft erlebt! — heute Allzuviele bereit, um der Sicherheit willen — um ihrer eigenen Sicherheit willen — die ganze Freiheit hinzugeben: und nicht nur ihre eigene Freiheit, sondern auch die Freiheit anderer Menschen, weil sie ein bißchen Sicherheit — wirtschaftliche Sicherheit, politische Sicherheit, soziale Sicherheit — höher werten als jede Freiheit.
Dieses Sicherheitsdenken und dieses Sicherheitsstreben ist die große Krankheit, das große Rückenmarksleiden unserer Zeit. Jedes totalitäre System, das wir erlebt haben und noch erleben, jede moderne Despotie ist nichts anderes als die Frucht, die furchtbare Frucht dieser Krankheit. Sie kennen alle aus der nationalsozialistischen Zeit das Verslein: „Ein Bäumchen stand am Waldcsrand, es war organisiert, es war im NS-Wald-verband, damit ihm nichts passiert". Dieses Verslein drückt letztlich nur die Tatsache aus, daß der Nationalsozialismus nichts anderes war als eine kühne, aber nur allzu gut gelungene Spekulation auf das Sicherheitsbedürfnis des Deutschen — auf das Sicherheitsbedürfnis zunächst — aber durchaus nicht nur — des deutschen Spießers, sondern auch vieler anderer guter Deutscher; auf das Sicherheitsbedürfnis deutscher Hochschulprofessoren, deutscher Generäle, deutscher ... — ja welche Schicht kann von sich sagen, sie habe nicht aus diesem Sicherheitsbedürfnis heraus zu der einen oder der anderen totalitären Maßnahme „ja“ gesagt in einer Zeit, in der überall in den Straßen deutscher Großstädte die Hakenkreuz-Fahnen hingen.
Und heute: wie ist es heute? Heute setzt der Bolschewismus seine Hoffnung auf einen Erfolg im jetzt noch freien Westen nicht bloß — vielleicht überhaupt nicht — auf die geringe Zahl aktiver, kommunistischer Kämpfer, sondern leider viel mehr — und vielleicht nur — auf die weit größere Zahl der Rückversicherer, die ihre Sicherheit durch das, wie es ihnen scheinen will, kleinere Opfer — für ein wenig hingegebene Freiheit — zu erkaufen bereit sind.
Dieses Sicherheitsdenken hat den Menschen nicht nur insoweit erfaß t, als er in seiner eigenen Sphäre, in seinem persönlichen Lebensbereich denkt. Auch wenn der Mensch von heute im Staat und an den Staat denkt, denkt er unwillkürlich fast gleichzeitig an die Sicherheit dieses Staates. In meinem kurzen Referat kann ich diese Tatsache hier nur andeuten; es ist für den Staatsrechtler sehr interessant zu verfolgen, wie das Problem der Sicherheit in den letzten 30, 40 Jahren langsam zum zentralen Problem des Staatsdenkens überhaupt geworden ist. Der Staat an sich, darüber hinaus die augenblicklich geltende Ordnung dieses Staats, seine Verfassung, sein Recht sollen gesichert werden.
Die modernen Despotien haben diese Sicherheitstendenz im politischen Raum sehr rasch erfaßt und sie haben es verstanden, daraus ihren Nutzen zu ziehen. Der legitime Begriff der Staatssicherheit wurde für sie zum Mäntelchen, um ihre illegitime Gewaltherrschafb damit zu decken und jede Freiheitsregung im Kein zu ersticken. Und wenn der gute Demokrat des Westens schaudernd festgestellt hat und immer noch feststellt, was an Verbrechen im Zeichen dieser Staatssicherheit alles geschieht, muß er vom Osten den höhnischen Vorwurf hören: „Was willst Du eigentlich? Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig! Ihr sorgt auf eure Weise für die Sicherheit eures Staats; ihr müßt schon gestatten, daß wir für die Sicherheit unseres — des despotischen, des kommunistischen — Staats auf unsere Weise sorgen!".
Dem Herrn sei's geklagt: wir können im demokratischen Westen solchem Einwand des Ostens nicht viel entgegnen. Leider hat mancher Politiker auch im Westen vergessen, worin eigentlich die Sicherheit des demokratischen Staates beruht; und deshalb scheint es mir nötig, daß wir von Zeit zu Zeit uns überlegen, wodurch denn eigentlich die Demokratie gesichert werden kann.
Das Sicherheitsdenken, von dem ich sprach, hat im Grunde zu einer latenten Krise der Demokratie geführt; denn keine Demokratie durfte auf dem Begriff der Sicherheit aufbauen, sondern, wie ich versucht habe zu zeigen, n u r auf dem Begriff der Freiheit. Weil am A ong echter Demokratie die Freiheit steht — und zwar eine ganz bestimmte, nämlich die personale Freiheit — und weil diese Freiheit eine Freiheit des Willens ist, eine Freiheit der sittlichen Entscheidung und Verantwortung, deshalb muß jede demokratische Institution auf Frei-Willigkeit gründen. Nicht staatlichem Zwang, sondern der Freiwilligkeit persönlicher Initiative — der Freiwilligkeit, die getragen wird von dem sittlichen Verantwortungsbewußtsein, der einzelnen Persönlichkeit — verdanken alle demokratischen Einrichtungen, die diesen Namen wirklich verdienen, ihr Dasein. Dies ist keine Erkenntnis von gestern oder heute. Vor 150 Jahren glaubten einige Franzosen schon deshalb gute Demokraten zu sein, weil sie in gleicher Weise Napoleon wie die Bourbonen ablehnten — ähnlich wie heute einige Leute glauben, es genüge schon zum guten Demokraten, antikommunistisch und antinazistisch zu sein. Diesen „guten" Demokraten seiner Zeit hat Tocqueville, der französische Staatslehrer, vor 140 Jahren gezeigt, daß das Wesen der Demokratie diese Frei-Willigkeit sei, die persönliche Initiative des Einzelnen, sein Verantwortungsbewußtsein im politischen Raum. Daß zur Demokratie wesensnotwendig diese Frei-Willigkeit und dieses Verantwortungsbewußtsein gehören, das macht die Verwirklichung der Demokratie so schwer: denn Frei-Willigkeit und Verantwortungsbewußtsein können nie durch Gesetze, nie durch eine Verfassung geschaffen werden; und sie können noch weniger durch Gesetze oder durch eine Verfassung ersetzt werden; im Gegenteil: Jeder gesetzliche Zwang steht ihnen im Wege. Zwischen Gesetzeszwang und Demokratie besteht eine unaufhebbare Spannung. Gesetze, die so tun, als ob sie durch den Zwang des Staates die Demokratie sichern wollten, unterbinden in Wirklichkeit durch diesen Zwang die Entwicklung einer echten Demokratie.
Ich will unsere heutigen Gesetze nicht mehr kritisieren, als sie Kritik verdienen! Manche dieser Gesetze sind in ihrem Wesensinhalt demokratisch; doch manch anderes Gesetz — und mancher Artikel des Grundgesetzes — führt uns bedenklich nahe an die Als-ob-Demokratie heran, von der Tocqueville schon spricht und die ein geistreicher Journalist unserer Tage „Demokratur“ genannt hat.
Demokratie im Grunde immer gefährdet?
Ich habe eben gesagt, daß zum Wesen der Demokratie die Kritik gehöre, weil der zentrale Begriff der Demokratie die Freiheit sei. Diese Kritik findet jedoch, da ihre Wurzel die personale Freiheit ist, die die Demokratie dem Einzelnen gewährleistet, auch im Wesen dieser Freiheit, d. h. also auch in der Selbstverantwortung, ihren Maßstab und ihre Grenze. Kritik, die nicht auf sittlicher Verantwortung gründet, verantwortungslose Kritik, kann niemals demokratische Kritik sein! In dem Augenblick aber, in dem der Freiheitsbegriff nicht mehr der zentrale Begriff einer Demokratie ist, hat die Kritik in dieser Demokratie ihren M a ß s t a b und ihre Grenze verloren; sie hat das Maß verloren, das ihr die Freiheit gibt, und es bleibt dann nur die maßlose Kritik übrig oder aber — aus dem Sicherheitsbedürfnis des Staates heraus — die Unterbindung der Kritik durch das Gesetz, das das verlorene Maß vergeblich zu ersetzen sucht.
Hans Kelsen hat in einer kleinen Schrift, die 1932 gerade noch rechtzeitig erschien, um auf dem Scheiterhaufen nationalsozialistischer Bilderstürmer verbrannt zu werden, die These aufgestellt, daß die Demokratie im Grunde immer gefährdet sei: Stets kämen in einer Demokratie antidemokratische Strömungen auf, deren Adepten bereit sind, mit undemokratischen Mitteln die Demokratie zu vernichten. Solchen Strömungen gegenüber habe, so sagt Kelsen, die Demokratie im Grunde nur die Wahl, entweder sie gewähren zu lassen und damit dann mit offenen Augen in den Tod zu gehen: denn undemokratische Mittel werden stets die Demokratie vernichten können; oder aber die Demokratie müsse es auf sich nehmen, diese antidemokratischen Strömungen mit undemokratischen Mitteln zu bekämpfen, d. h. mit den gleichen Mitteln, die gegen sie angewandt werden. Dann werde zwar formal noch die Demokratie gerettet, aber sie habe sich gerade durch die Anwendung dieser undemokratischen Mittel selbst verraten — gewissermaßen Selbstmord verübt — und diesen Selbstmord nur dem Todesstoß vorgezogen, den ihre Feinde gegen sie führen wollten. Wäre diese These richtig, die Kelsen selbst zu widerlegen versuchte, dann wäre letztlich jede Demokratie von vornherein dem Untergang geweiht. Sie wäre ihrem Wesen nach ein Übergangsregime: der Übergang von einer Despotie zur anderen. Vor wenigen Tagen erst versuchte mir ein spanischer Kollege, den ich sprach, an Hand der Geschichte seines Landes diese Übergangsfunktion der Demokratie zu beweisen; er bediente sich der gleichen Argumente, die auch Kelsen gebrauchte. Die klassische Lehre, die in der Diktatur wesensmäßig einen Übergang sah, eine vorübergehende Notlösung in Krisenzeiten des Staats, um eine andere dauernde Staatsform zu retten, wird dadurch geradezu ins Gegenteil verkehrt.
Ich sagte schon: Kelsen selbst hat an der geschichtlichen Richtigkeit dieser zunächst verblüffenden und scheinbar überzeugenden These gezweifelt und sie zu widerlegen sich bemüht; und es scheint mir noch heute eine lohnende und notwendige Aufgabe, sie auf ihre Begründetheit und ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen.
Autorität und Zwang
Im Begriff der politischen, vor allem der staatlichen Macht sind stets zwei Komponenten enthalten: Autorität und Zwang — oder, um in der Sprache der mittelalterlichen Theorie zu sprechen, die diese Tatsache viel klarer erkannt hat als spätere Zeiten: auctoritas und potestas. Was Zwang ist, brauche ich nicht weiter zu erläutern; das weiß in Deutschland heute jeder. Ich darf aber doch mit einigen Worten sagen, worin das Wesen der Autorität besteht. Autorität ist ein „Anerkannt-werden" und ein „Anerkannt-sein“: Grundlage der Autorität ist die freiwillige Anerkennung sei es einer bestimmten Ordnung, sei es einer bestimmten Persönlichkeit in ihrer Stellung durch alle die, die mit dieserOrdnung oder mit dieser Persönlichkeit in Berührung kommen, indem sie ihnen unterstellt oder neben sie gestellt werden. Autorität darf mit Popularität nicht verwechselt werden: Nicht alles, was populär ist, besitzt Autorität: nicht jede Autorität ist populär. Autorität ermöglicht im Gegenteil manchmal auch eine unpopuläre Maßnahme.
Diese beiden Komponenten — Autorität und Zwang — machen, ich möchte sagen, das Gesamtvolumen der Macht aus; wenn eine dieser beiden Komponenten abnimmt, muß entweder die Macht an sich geringer werden oder aber die andere Komponente zunehmen, um das gleiche Machtvolumen zu erhalten. Mit anderen Worten: Will ich die Macht im Staat gleich stark erhalten, muß ich jeden Verlust an Autorität durch ein Mehr an Zwang ersetzen; umgekehrt ermöglicht jeder Gewinn an Autorität den Abbau des Zwangs.
Ein Mindestsatz von jeder Komponente muß in jedem Machtvolumen enthalten sein: Es gibt keine politische, es gibt keine staatliche Macht ganz ohne Zwang, und es gibt keine politische und keine staatliche Macht ganz ohne Autorität. Keine Herrschaft kann ganz des Polizisten und des Büttels entbehren; jede Herrschaft braucht eine kleine Spur freiwilliger Anerkennung durch die Beherrschten. Politische Herrschaft, die sich nur auf Zwang gründet und die nicht einmal mehr im engen Kreis der näch-sten Gefolgsmänner eines Despoten diese freiwillige Anerkennung findet, ist notwendig dem Untergang geweiht.
Je nach der Verteilung dieser beiden Komponenten der Macht, von denen ich gesprochen habe, je nach der Verteilung also von Zwang und Autorität in einem Staat ist Herrschaftsform und Lebensstil dieses Staates verschieden. Demokratie ist, so scheint mir, nur dort vorhanden, wo die Autorität überwiegt und der Zwang nur eine Ergänzung dieser Auto-rität ist. Demokratie muß auf freiwilliger Anerkennung aufbauen, sonst ist sie keine Demokratie mehr. Mit anderen Worten: Jede Demokratie ist so stark wie die Autorität, die sie besitzt, — so stark wie die freiwillige Anerkennung, die sie bei den Bürgern findet; und jede Demokratie ist schon in dem Augenblick ihrem Wesen nach verloren, in dem der Zwang, den sie ausüben muß, um sich noch zu erhalten, diese Autorität, diese freiwillige Anerkennung, zu überholen beginnt.
Ein ständiges Ringen um Autorität
Demokratische Staatsführung ist deshalb im letzten Grund ein beständiges Werben um diese freiwillige Anerkennung — ein Werben bei all denen, die im Staat leben; demokratische Staatsführung ist ein ständiges Ringen um Autorität. Die freiwillige Anerkennung durch die Geführten ist für eine demokratische Staatsführung so notwendig wie für den Fisch das Wasser: Solange sie demokratisch bleiben will, kann sie ja einen Verlust der Autorität nur bis zu einem gewissen Grad durch Zwang ersetzen. Sinkt die Autorität derart, daß im Gesamtvolumen der Macht der Zwang mehr Raum einnimmt als die Autorität, so steht die demokratische Staatsführung vor der verzweifelten Alternative, entweder dem Zwang einen größeren Raum einzuräumen und damit wesensmäßig auf die Demokratie zu verzichten oder aber ihr Machtvolumen zu verkleinern und damit den Staat selbst zu gefährden.
Dies ist die eigentliche Alternative, vor die die Demokratie gestellt ist; nicht jene andere, von der ich eben sprach. Freilich: Gerade in der Demokratie ist es ungeheuer schwer, um Autorität zu werben, weil ja — wie ich eingangs sagte — an der Autorität gerade der demokratischen Staatsführung ständig die Kritik nagt, eine Kritik, die eben zum Wesen dieser Demokratie gehört. In dieser Spannung zwischen der freien demokratischen Kritik und der Notwendigkeit, sich Autorität zu schaffen, steht jede demokratische Führung.
Wenn in einer Demokratie antidemokratische Strömungen auftauchen und Menschen bereit sind, diese antidemokratischen Strömungen mit undemokratischen Mitteln durchzusetzen, dann bleibt der Demokratie zu ihrer Sicherung und zur Sicherung des Staates nur die Möglichkeit, der Gewalt, die ihre Feinde anwenden, die freiwillige Anerkennung durch ihre Freunde entgegenzusetzen; sie darf zur Bekämpfung dieser Gewalt selbst nicht mehr Zwang ausüben, als ihr diese freiwillige Anerkennung gewährt.
Ich höre Ihren Einwand — einen Einwand, der uns immer wieder begegnet: „Man kann Terror nur durch Terror bekämpfen: Die Weimarer Republik ist an ihrer Schwäche zu Grunde gegangen; sie wurde die Beute ihrer Feinde, weil sie nicht gewagt hat, gegen sie rücksichtslos Zwang anzuwenden“. Solchem Einwand muß ich widersprechen. Aller Zwang hätte die Weimarer Republik nicht gerettet. Die Weimarer Republik ist letztlich daran gescheitert, daß sie zu wenig freiwillige Anerkennung im Volk fand. Sie ging unter, weil sie nicht verstand, um diese freiwillige Anerkennung, um diese Autorität, zu kämpfen und zu ringen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich predige nicht ein Evangelium der Gewaltlosigkeit im demokratischen Staat. Ich bin mir dessen bewußt, daß auch der demokratische Staat unter Umständen gegen seine Feinde Gewalt anwenden muß; aber er muß immer dafür sorgen, daß der Zwang im rechten Verhältnis zu der Autorität steht, die diese Demokratie besitzt. Und wenn deshalb in einer Krisenzeit — in Tagen, in denen antidemokratische Strömungen wuchern wie Pilze nach einem Sommer-regen und die Feinde der Demokratie sich anschicken, nach der Macht zu greifen — die Demokratie diese Strömungen und diese Feinde mit Zwang bekämpfen will, dann muß sie zuerst ihre Autorität und ihre Stellung im Herzen der Staatsbürger festigen; sie muß zuerst um freiwillige Anerkennung werben und in diesem Kampf um das Herz des einzelnen Bürgers alle Mittel anwenden, bevor sie sich zum Zwang entschließt: Der Zwang, den sie anwenden will, muß in der freiwilligen Anerkennung seine sittliche Begründung finden. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich die personale Freiheit, die den Kern jedes demokratischen Denkens und jeden demokratischen Lebensstils bildet, durch staatlichen Zwang sichern.
Ich darf zusammenfassen: Die Sicherung unseres, die Sicherung des demokratischen Staates, ruht auf zwei Säulen: zuerst auf der Autorität, die dieser Staat bei seinen Bürgern besitzt, auf der freiwilligen Anerkennung, die er findet und erst an zweiter Stelle auf irgendwelchen Mitteln staatlichen Zwangs. Infolgedessen hat in jedem demokratischen Staat, auch in der Bundesrepublik, das Problem der Staatssicherheit — oder das Problem des Verfassungsschutzes, wie es bei uns jetzt heißt — zwei Seiten: Es ist zunächst ein Problem der Stärkung der Autorität dieses Staats, und erst in zweiter Linie das Problem der Unterdrückung staatsfeindlicher Kräfte und der vorbeugenden Verhinderung verfassungsfeindlicher Akte. Dem repressiven und präventiven Verfassungsschutz, dessen Aufgabe es ist, den Terror staatsfeindlicher Verschwörergruppen zu bekämpfen und Hochverratshandlungen zu verhindern, muß der konstruktive Verfassungsschutz notwendig vorausgehen und ständig ergänzend zur Seite stehen — jener konstruktive Verfassungsschutz, dessen Aufgabe es ist, das freiwillige „Ja" des einzelnen Staatsbürgers zu dem, was der Staat tut, zu gewinnen. In der Bejahung des demokratischen Staates durch die große Mehrheit seiner Bürger liegt seine eigentliche Sicherung. Das gilt auch für die Sicherung unseres Staates. Geheime Postüberwachung, Abhören von Telephongesprächen, Tonbandaufnahmen von privaten Unterhaltungen und ähnliche Mätzchen sind nicht nur ihrem Wesen nach keine demokratischen Mittel: Sie sind darüber hinaus auch ungeeignet und unfähig, die Demokratie zu sichern. Sie gefährden sie vielmehr: Denn sie führen den Einzelnen, der von diesen Mitteln betroffen wird, zur Staatsverneinung statt zur Staatsbejahung.
Allerdings: Um diese Staatsbejahung muß der demokratische Staat jeden Tag immer wieder von neuem ringen. Die Demokratie ist im Grunde ein ungeheueres Wagnis — sie ist das Wagnis der personalen Freiheit im politischen Raum. Jede Freiheit ist für den, der sie gewährt, ein Wagnis; das Urbild aller anderen Freiheit — die Freiheit, die Gott dem Menschen gegeben hat — ist ein so unendlich kühnes Wagnis, daß nur ein Gott sie wagen konnte! Und dieses wahrhaft göttliche Wagnis der menschlichen Freiheit zwingt seit der Erschaffung des Menschen Gott immer wieder, um den Menschen zu ringen; Gott kämpft um den Menschen — um den Menschen, dem er es freigestellt hat, sich auch gegen ihn, gegen den Gottessinn und für seinen Eigensinn zu entscheiden. Verzeihen Sie den Vergleich, der durchaus nicht blasphemisch gemeint ist: Auch die Demokratie wird durch das Wagnis, das sie darstellt — durch das Wagnis der politischen Freiheit, der personalen Freiheit im politischen Raum — gezwungen, immer wieder um den einzelnen Menschen zu kämpfen, der sich — das gehört ja zum Wesen der Demokratie — auch gegen die Demokratie, etwa für die Despotie entscheiden kann. Wer nicht den Mut zu diesem Wagnis der Demokratie hat und die Kraft zum Kampf um den einzelnen Menschen, der soll lieber die Finger von der Demokratie lassen; er kommt doch höchstens nur bis zur Demokratur.
Der Weg, auf dem der einzelne Bürger bei der wahren Demokratie von der ihm gewährten Freiheit im politischen Bereich Gebrauch macht, führt notwendig über die politischen Parteien als die eigentlichen Handlungseinheiten, als das Sprachrohr des Bürgers, der sich aktiv im Staat betätigen will. Demokratische Freiheit bedeutet deshalb in erster Linie Parteienfreiheit: Freiheit, politische Parteien zu gründen; Freiheit, politischen Parteien beizutreten; Freiheit des Einzelnen, in politischen Parteien und für politische Parteien zu arbeiten und zu werben. Ein Staat, der diesen Grundsatz der Freiheit der Parteien — sei es, was ihre Gründung, sei es, was ihren Beitritt, sei es, was ihre Tätigkeit anlangt — verletzt, kann sich kaum mehr als Demokratie bezeichnen. Im demokratischen Staat ist die Freiheit der politischen Parteien die erste Bürgschaft der Demokratie. Allerdings: Freiheit bedeutet nicht Schrankenlosigkeit. Es gehört zum Wesen jeder Freiheit, daß ihr irgendwelche Grenzen gesetzt sind; Freiheit ist nur in einer bestimmten Ordnung möglich; ohne Ordnung wird jede Freiheit zur Willkür.
Das gilt auch für die Freiheit der politischen Parteien im demokratischen Staat. Der demokratische Staat kann von den politischen Parteien verlangen, daß sie ihn wenigstens in seiner Existenz und in seinen existentiellen Grundlagen bejahen; was er hingegen nicht verlangen darf, ist, daß die politischen Parteien die bestehende Verfassung als die einzig mögliche, als die beste, oder auch nur als eine gute ansehen. Der demokratische Staat kann Parteien nicht verbieten, wenn sie versuchen, auf demokratischem Weg eine Verfassungsänderung zu erreichen. Die politischen Parteien auf die bestehende Verfassung zu vereiden und sie an diese bestehende Verfassung zu binden, wäre undemokratisch. Der demokratische Staat muß jedoch verlangen können, daß die Parteien eine solche Verfassungsänderung nur auf einem Weg zu erreichen versuchen, der dem Grundgedanken der Demokratie, d. h.dem Prinzip der personalen Freiheit des Einzelnen entspricht; er muß weiter verlangen können', daß durch eine solche Verfassungsänderung dieser Gedanke der personalen Freiheit, als Grundlage der Demokratie überhaupt, auch in der neuen Verfassung nicht angetastet wird.
Die politischen Parteien, ein unentbehrliches Mittel
Man hat — meist mit einem keineswegs berechtigten abwertenden Ton — die moderne Demokratie eine Parteiendemokratie genannt. Diese Bezeichnung ist Ausdruck für die Erkenntnis, daß die Parteien in der modernen Demokratie eine zentrale Rolle spielen. Die moderne Demokratie verwirklicht sich durch die Parteien; jede Krise der Parteien führt notwendig zu einer Krise der Demokratie; konstruktiver Verfassungsschutz bedeutet in der modernen Demokratie mindestens auch konstruktiver Schutz des Parteilebens. Dazu gehört das Heranführen des einzelnen Staatsbürgers an die Parteien und das Heranführen der Parteien an ihre großen Aufgaben im Staat.
Die Partei erscheint in der Demokratie nicht nur als notwendige Handlungseinheit, die dem Einzelnen überhaupt erst die schöpferisch-initiativ gestaltende, über eine bloße Ablehnung oder Zustimmung hinausgehende Teilnahme an der Bildung des Gemeinschaftswillens ermöglicht; sie ist nicht nur durch die Aufstellung der Kandidaten und des Programms Organ der Wahlvorbereitung; sie ist nicht nur in Fraktionsbesprechungen und -beschlüssen Organ der Vorbereitung von Akten der Gesetzgebung und Vollziehung; die Partei erscheint im demokratischen Staat schließlich nicht nur in der merkwürdigen Wechselbeziehung zur öffentlichen Meinung, die sie einerseits beeinflußt und gestaltet und der sie anderseits schmeichelt und manchmal fast sklavisch folgt: Die Partei hat in der Demokratie auch die Aufgabe, politische Eliten zu bilden und dem demokratischen Staat die Führer zur Verfügung zu stellen; die Parteien sind das unentbehrliche Mittel, um die Beteiligung des einzelnen an der Staatsführung— über die Beteiligung an der Willensbildung des Staates bei der Wahlentscheidung hinaus — zu ermöglichen.
Demokratie ist im Grunde nicht die Herrschaft des Volkes; Demokratie ist nicht Identität von Geführten und Führern: Solche Identität führte zur Anarchie. Das Wesen der Demokratie besteht in einem ständigen Auf-strömen aus dem Volk, der Schicht der Geführten, in die Führung hinein.
Auch die Demokratie kennt eine Schichtung: Die unterste Schichtung ist das Volk, zu dem jeder gehört: das unmündige Kind, der zweijährige Junge auf der Straße, der Wahnsinnige im Irrenhaus, der Zuchthäusler. Aus dieser Schicht bildet sich im Aufströmen die nächste Schicht, die der Aktivbürgerschaft; sie umfaßt all diejenigen, die mitwirken können an der Bildung des politischen Willens. Das ist durchaus nicht das ganze Volk: Das sind bei uns nicht die Unmündigen, auch nicht die, die der Bürgerrechte verlustig erklärt wurden; in der Schweiz gehören nicht einmal die Frauen dazu, irgendwoanders nicht die Soldaten.
Aus der Aktivbürgerschaft hebt sich als nächstes wieder die Schicht der tatsächlich Aktiven ab — die Schicht derer, die nicht nur wählen können, sondern auch wirklich wählen. Das sind in jedem Staat Kontinentaleuropas — soweit nicht die Frauen ausgeschlossen sind — kaum 50% der gesamten Bevölkerung. Nicht ganz 50% bestimmen in Wahlen und Abstimmungen den politischen Willen des Staates!
Aus dieser Schicht der wirklichen Wähler hebt sich als eine weitere Schicht die Gruppe derer ab, die sich nicht damit begnügen wollen, alle 4 Jahre einmal wählen und abstimmen zu können, sondern die ständig mitwirken wollen an der Gestaltung des politischen Lebens: Es sind die Parteibürger; die Partei nur gibt ihnen die Möglichkeit zu der erstrebten größeren Aktivität.
In der Partei schließlich steigt der Parteibürger zu den Führungsschichten im Staat auf; die Partei ist, wenn nicht der einzige, so doch der einfachste Weg für den einzelnen Staatsbürger, um in die politische Führungsschicht zu gelangen.
Die Schichtung, die ich in großen Zügen eben darzustellen versucht habe, widerspricht an sich nicht dem Gedanken der Demokratie; es muß freilich auch in dieser Schichtung der Grundgedanke der Demokratie verwirklicht werden, das heißt, dem Einzelnen muß die Möglichkeit gegeben sein, von der untersten Schicht bis in die oberste aufzusteigen. Nicht das Fehlen einer Schichtung im politischen Raum, sondern das ständige Auf-strömen von unten nach oben innerhalb des Stufenbaus dieser Schichten kennzeichnet die Demokratie; in allen anderen Staatsformen sind die einzelnen Schichten gegeneinander abgeschlossen und abgekapselt. Der Übergang von einer Schicht zur anderen ist die Ausnahme.
Nichts ist so falsch wie die Behauptung, im Parteienstaat werde das Volk von den Parteien „mediatisiert“. Das Volk wird — wir sahen es eben — wenn überhaupt, dann schon durch die Aktivbürgerschaft mediatisiert; die Nichtwähler werden mediatisiert durch die Wähler. Schichten gibt es überall: Doch nur in der Demokratie sind sie durch einen Prozeß des steten Aufströmens unlöslich miteinander zur Einheit verbunden.
Politische Erziehung
Ich glaube nicht, daß unsere Parteien diese ihre Aufgabe heute schon genügend erkannt haben. Eliten werden gebildet; die Parteien erscheinen hier als Bildungsfaktoren. Ich gebe zu: in der Praxis hat man von diesem Bildungsfaktor „Partei“ noch nicht viel gespürt. Dies schließt nicht aus, daß die Parteien die genannte Bildungsaufgabe haben; ich habe eine Aufgabe auch dann, wenn ich sie nicht sehen oder ihr nicht nachkommen will. Die Krise unserer Demokratie ist z. T. darin begründet, daß die Parteien ihre Bildungsaufgabe nicht erfüllen. Zu dieser Bildungsaufgabe gehört auch eine bestimmte Erziehung: Bildung und Erziehung sind eng miteinander verbunden. Bildung erschöpft sich nicht in Erziehung; doch jedenfalls gehört Erziehung zur Bildung. Und diese Erziehung muß in der Demokratie — soweit sie in den Aufgabenbereich der Parteien fällt — eine Erziehung zur Freiheit sein, eine Erziehung damit auch zur Kritik, eine Erziehung zur Opposition.
Wenn wir heute von staatsbürgerlicher Erziehung sprechen, dann müssen wir — meiner Ansicht nach — uns über zwei Dinge klar sein: Erstens, daß die eigentlichen Träger dieser Aufgabe nicht die Schulen, nicht irgendwelche Stellen desStaates, nicht irgendwelcheVereine oder Organisationen sind. Alle eben genannten Institutionen können nur subsidiär an dieser Erziehung mitwirken: die Schulen, der Staat, die verschiedenen Zusammenschlüsse — sie alle haben hier nur eine subsidiäre Aufgabe zu erfüllen. Sicher: Sie leisten dabei ungeheuer wertvolle Arbeit; doch ihre Arbeit ist umsonst, wenn die eigentlichen Träger dieser Bildungsaufgabe, die Parteien, versagen. Sie sind die primären Träger dieser Erziehung; alle anderen können sie dabei nur unterstützen.
Im Mittelpunkt dieser Aufgabe steht nicht die Vermittlung von Kenntnissen der Verfassung, der Gesetze usw. -. Politische Erziehung ist Erlebnisvermittlung, nicht Wissensvermittlung. Das Erlebnis, das vermittelt werden soll, ist das Erlebnis des Staates, das Erlebnis der Demokratie. Das Erlebnis der Demokratie ist das Erlebnis der Freiheit. Im Mittelpunkt dieser Bildungsarbeit steht die Erziehung zur Freiheit, die der zentrale Begriff der Demokratie ist; im Mittelpunkt steht damit die Erziehung zur Kritik, die Erziehung zur Opposition. Man braucht nur einmal zu versuchen, in kleinerem Kreis über politische Fragen wirklich zu diskutieren, um zu sehen, daß diese Erziehung zur Kritik weiten Kreisen des Volkes völlig fehlt. Entweder nimmt man, was ein anderer sagt, hin, denkt sich vielleicht seinen Teil und äußert jedenfalls seine Gedanken nicht; oder aber man übersieht die Grenzen der Kritik, die im Gesetz der Freiheit und in der Verantwortung gegeben sind. Hier ist tatsächlich noch ungeheuer viel an echter Erziehungsarbeit zu leisten.
Wir müssen endlich dazu kommen, an die Stelle eines Aneinanderreihens von Monologen echte Diskussion zu setzen. Im Grund genommen ist die Diskussion in Deutschland heute abgeschafft. Nehmen sie als Beispiel eine Diskussion im Plenum des Bundestags: Niemand erwidert auf das, was ein früherer Redner gesagt hat; jeder Redner hat sein Manuskript ja schon fertig in der Tasche, bevor er überhaupt hört oder erfährt, was sein Vorredner gesagt hat. Ich rate deshalb jedem Studenten, immer nur das zu lesen, was der Vertreter seiner eigenen Partei im Plenum des Bundestags gesagt hat: Er wird dadurch nicht verwirrt und doch voll in die Materie eingeführt. Wenn es nicht zur Diskussion kommt, genügt im Grunde e i n Monolog. Politische Erziehung ist aber Erziehung zur Diskussion. Ich habe die Rolle der Parteien bei der Verwirklichung eines konstruktiven Verfassungsschutzes vielleicht allzu sehr betont: Man möge es mir verzeihen. Ich glaubte auf diese Rolle besonders hinweisen zu müssen, weil sie — auch von den Parteien selbst! — viel zu wenig erkannt wird. Zu Ende der Weimarer Zeit entbrannte eine heftige Diskussion in der deutschen Staatsrechtslehre um die Frage, wer der eigentliche Hüter der Verfassung sei. Ich will diesen Streit, der im Grund von der völlig falschen Voraussetzung ausgeht, es gäbe nur einen einzigen berufenen Hüter der Verfassung, nicht neu entfachen; zweifellos hat das Verfassungsgericht eine wichtige Funktion im Rahmen des Verfassungsschutzes — es ist ein Hüter der Verfassung. Zweifellos hat auch das Staatsoberhaupt stets die Aufgabe, in seinem Bereich Hüter der Verfassung zu sein; es wäre jedoch verhängnisvoll, wollten wir den ganzen Verfassungsschutz diesen beiden höchsten Staatsorganen überlassen. Auch die Parteien sind Hüter der Verfassung! Auch ihnen obliegt die Sicherung unseres Staates.
Normen allein können den demokratischen Staat nicht sichern; die letzte Sicherung dieses Staates liegt in der freiwilligen Anerkennung, die er in seinem Wirken bei seinen Bürgern findet — sie liegt in der Freiwilligkeit und in der individuellen Initiative im politischen Raum, in der Verantwortungsbereitschaft und Verantwortungsfreude des einzelnen Bürgers, im Willen eines jeden, seine personale Freiheit auch im politischen Raum zu wahren und in verantwortlicher Kritik von dieser Freiheit Gebrauch zu mähen. Die Sicherung unseres Staats liegt letztlich in der Erkenntnis eines jeden, daß die Freiheit, um derentwillen dieser Staat besteht, mehr wert ist als jede Sicherheit. Wenn wir arbeiten wollen für die Sicherheit unseres Staats, dann müssen wir — davon bin ich überzeugt — für die Freiheit und in der Freiheit arbeiten.