Der im folgenden veröffentlichte Aufsatz von Prof. Michael Freund stand als Referat im Mittelpunkt eines Treffens ehern. Besucher der englischen politischen Hochschule „WILTON PARK" am 29. und 30. 5. 1954 in der Hans-Böckler-Schule des DGB in Hattingen.
Die 180 Teilnehmer dieses Treffens stellten repräsentative Querschnitte durch das öffentliche Leben der Bundesrepublik dar. Aus England waren der Rektor und einige Tutoren Wilton Parks als Gäste anwesend. Das Treffen dieser ehern. Wiltonen hatte den Sinn, die in England begonnenen Gespräche fortzusetzen und damit auch zur Festigung der deutsch-englischen Beziehungen beizutragen. Im Mittelpunkt der Diskussion standen die Fragen, die mit der Entwicklung einer tragfähigen Demokratie in Deutschland Zusammenhängen.
Es ist überhaupt schwer, von England nicht zu reden, wenn man über den Parlamentarismus spricht, so schwer es wäre, bei einem Vortrag über Kaffee nicht von Brasilien zu sprechen. Man mag sich drehen und wenden wie man will: der Parlamentarismus kommt aus England und er ist im Grunde überall im kontinentalen Europa ein fremdes Gewächs, das sich eingewöhnen und einwachsen muß. Das Repräsentativsystem zwar war einst eine gemeineuropäische Erscheinung. Das Ständewesen, aus dem es hervorwuchs, war jahrhundertelang die Lebensform von ganz Europa. Die Magna Charta war an sich nichts Eigentümliches. Verträge, wie die zwischen den Ständen und der Königsmacht hat es in einer verwirrenden Fülle in Europa gegeben. Das Bedeutsame an der Magna Charta liegt darin, daß sie am Anfang einer bis zur Gegenwart nicht unterbrochenen Entwicklung steht. Sie ist für die Engländer ein politischer Besitz. Unsere Magna Chartas dagegen nur ein Schrecken für Examenskandidaten. Denn auf dem Kontinent ist die Verbindung zwischen dem alten Ständewesen und Repräsentativsystem und dem modernen Parlamentarismus durch die große Cäsur der absoluten Monarchie und des Machtstaates monarchischer, cäsarischer und demokratischer Färbung unterbrochen worden. Als mit der französischen Revolution in Europa wieder Volksvertretungen ins Leben traten, hatte das kontinentale Europa keine geschichtlich gewordene Form für sie. Das Ständewesen und die altständischen Vertretungskörperschaften waren zu sehr von der Entwicklung zerstampft und eingeebnet worden, so daß sie — als das demokratische Zeitalter herauf-dämmerte — nur noch eine blasse und als reaktionär verschrieene Erinnerung waren. In England übernahm die Demokratie eine politische Form, die von der Aristokratie geschaffen worden war. Der Parlamentarismus ist ja primär eine Schöpfung nicht der Demokratie, sondern aristokratischer Schichten, und vielleicht liegt sogar die goldene Zeit des Parlamentarismus vor der demokratischen Ära. Auf dem Kontinent begann die Demokratie mit der Ausrottung jener Aristokratie, der die Welt die Schöpfung des Repräsentativsystems verdankt. Der Parlamentarismus des Kontinents hat keine aristokratische Epoche. Er fängt im großen und ganzen gleich an, es mit dem Parlamentarismus auf demokratische und revolutionäre Weise zu versuchen. Die Demokratie — der gewordenen eigenen Formen bar — schlüpft zwar in Formen, die England mit seinem ständisch-aristokratischen Parlamentarismus geschaffen hat. Als England aber ins 19. Jahrhundert eintrat, hatte es Formen des Vertretungs-und Repräsentativsystems und der Kontinent hatte keine. Auf dem Kontinent sind wir im Grunde noch immer dabei, die Formen der Demokratie zu schaffen.
Es gibt nun genug Leute, die meinen, man sollte das hoffnungslose Bemühen lassen. Unsere Form wäre nun einmal der Parlamentarismus nicht. Ich rede nicht von den autoritären und totalitären Bewegungen, ich rede von denen, die meinen, wir müßten andere demokratische Formen finden als den Parlamentarismus. Man redet von dem Parteien-staat als der Form unserer politischen Zukunft schlechthin. Aber machen wir uns nichts vor, der Parteienstaat mag gut und er mag unvermeidlich sein. Er kann durchaus eine mögliche Form des demokratischen Lebens sein. Aber Parlamentarismus in dem alten echten Sinne des Wortes ist er nicht. Es wird gesagt, daß das Repräsentativsystem einem versunkenen liberalen Zeitalter angehört. Es wird behauptet, daß die Vorstellung des unabhängigen Abgeordneten eine romantische Träumerei wäre. Aber ohne diese Vorstellung gibt es eben keinen Parlamentarismus. Wenn dem so wäre, dann hätte es in der Tat keinen Sinn, sich mit dem englischen Parlamentarismus überhaupt zu beschäftigen.
Man sagt meist und hält damit die Sache für erledigt, daß man politische Institutionen und Lebensformen nicht übertragen könne. Dieser Satz ist so unanfechtbar wie nur irgend etwas auf der Welt. Aber die falschen Ansichten sind ja immer dann am gefährlichsten, wenn man richtige Gründe für sie anführt. Alles Falsche in der Welt wird ja in der Regel mit richtigen Tatsachen bewiesen. Als im abendländischen Denken die Morphologie, die Lehre von der Gestalt der politischen Dinge, begründet wurde, war ihr erster befruchtender und gefährlicher Lehrsatz, daß die politischen Formen unübertragbar seien, daß sie wie die Lebewesen der Natur jede auf ihrem Erdreich wüchsen und gediehen, daß sie in fremdem Boden verkümmern müßten und so wenig zu verpflanzen seien wie Tan-nen in die Wüste Sahara oder Palmen in das Ruhrgebiet, daß amphibische Staatswesen wie England andere Lebensformen entfalten müßten wie die Landtiere der kontinentalen Staaten. In Rankes „Politischen Gespräch“ steht der unvergeßliche Satz, daß alle Staatsformen unmittelbar zu Gott seien. Man muß sich — ernsthaft wägend und ernsthaft prüfend — fragen, ob die Betrachtung der Gestalt der englischen Demokratie mehr zu bieten vermag als die sozusagen ästhetische Freude an der großartigen Schöpfung eines fremden Volkes, eine betrachtende Freude, wie man sie gegenüber den glänzenden vielfältigen Erscheinungen der Natur empfindet.
Es ist in der Tat richtig, daß jedes Volk seine Demokratie zu bauen hat. Es wäre in der Tat Narrheit, kopieren zu wollen. England ist so, wie es ist, weil es eine Insel ist oder wenigstens eine Insel gewesen ist. Aber wir können uns nicht in das Weltmeer hinaus verpflanzen und ein LItopia, ein Nirgendswo werden. Doch bleibt es wahr: eine Analyse und eine Anatomie der englischen Politik ermöglicht uns, zu studieren, welche Minimalbedingungen gegeben sein müssen, daß die Demokratie und der Parlamentarismus zu funktionieren vermögen.
Lim es mit einem Wort zusammenzufassen: die Demokratie verlangt ein Minimum an Einheit und auch ein Minimum an Spannungen und Gegensätzen. Beides hängt übrigens zusammen. Die Engländer brauchen sich nicht, wie wir es meistens tun, vor Gegensätzen zu fürchten, weil sie nicht in Gefahr sind, diese Gegensätze zu einer mörderischen Feindschaft werden zu lassen. Der Ilmgangston im englischen Parlament ist durchaus nicht auf säuselnde Liebenswürdigkeit und veilchenblaue Sanftmut abgestellt, weil keiner überhaupt auf die Idee kommt, daß durch ein ein noch so kräftiges Wort der Gegner in seiner menschlichen Integrität angetastet werden soll.
Ein Minimum an Einheit Zuerst nun: das Minimum an Einheit. England hat das Glück gehabt, daß ihm im großen und ganzen die staatsfeindlichen Bewegungen fehlten. Die Kommunisten und Faschisten ganz Englands wären in einem deutschen Sportstadion unterzubringen. Ich frage nicht — noch nicht — ob die Demokratie funktioniert, weil die staatsfeindlichen Bewegungen fehlen, oder ob die staatsfeindlichen Bewegungen fehlen, weil die Demokratie funktioniert. Jedenfalls hört die Demokratie immer dann auf wahrhaft zu funktionieren, wenn ein erheblicher Teil der Nation der demokratischen Staatsform entfremdet ist. Die Erfahrungen mit der Weimarer Republik sind ja ganz eindeutig und die der französischen und italienischen Demokratie nach 1945 sind es nicht weniger.
Beinahe ein Gemeinplatz ist es, daß England die Entwicklung seiner Demokratie der Tatsache verdankt, daß es anstatt durch Armeen und durch den Machtstaat durch das Meer geschützt wurde. Die englische Demokratie ist geprägt worden in der Gußform einer Gemeinschaft, der die Klassenscheidung des Herrschafts-und Machtstaates abgeht. Bürgerkrieg, Revolution und Klassenkampf ist die Lebensform des Kontinents seit Jahrhunderten. Absolutismus und Diktatur sind Etappen dieses Bürgerkriegs, und die Demokratie des Kontinents hatte ihren Teil an dem ewigen inneren Krieg der Staaten. Anders in England. Man weiß, daß England das Land ohne Revolutionen gewesen ist. Seit dem Zusammenbruch der großen englischen Revolution im 17. Jahrhundert hat England keinen machtmäßigen Umsturz mehr gehabt. Nie ist der revolutionäre Machtkampf in England in das Gehäuse der Demokratie geschlüpft. Die Mehrheit ist nie als ein Instrument der politischen Vernichtung begriffen worden.
Das Gesetz der revolutionären oder — soll ich sagen? — der totalitären Machteroberung und Machtbehauptung ist in England am Beginn der Moderne zum erstenmal durch Thomas Hobbes bloßgelegt worden. Aber die Idee des Hobbes ist aus dem geistigen und politischen Werden Englands als ein Fremdstoff, ja als ein fremdes Gift wieder ausgeschieden worden. Hobbes hat von dem „Zustand der Natur" als der Form des politischen Kampfes gesprochen: Vernichte, damit Du nicht vernichtet wirst. Das sei das Lebensgesetz der „Natur": Aber kein Volk hat so wenig wie die Engländer die Furcht zur Herrin in der Politik gemacht. Die Demokratie des Kontinents hat immer am Kraterrand der großen politischen Katastrophen geruht. Aus Weltrevolutionen und Weltkriegen ist sie geboren worden, von Weltkriegen wurde sie immer wieder verschlungen. Auf dem Kontinent war Cie Demokratie fast immer bedroht, in England fast nie. Die politischen Bewegungen saugten nicht einen Geist des inneren Krieges und der Vernichtung ein. Sie wurden nicht revolutionär, weil das Land nicht im Zustand der latenten Revolution war.
Der Sündenfall der Demokratie Das mag als eine theoretische Betrachtung erscheinen. Aber so müßig sind diese Überlegungen nicht, wie es zunächst den Anschein hat. Wir Deutsche scheinen die historische Situation hinter uns gelassen zu haben, da alles auf einen Bürgerkrieg zugeschnitten war und der Gegner Reichs-feind, vaterlandsloser Geselle oder reaktionäre Bestie war, der zertreten werden mußte. Aber es gibt einen „ideologischen Bürgerkrieg“, der als eine Gefahr bleibt. Die geistig ideelle Einheit der Nation muß unweigerlich zerreißen, wenn politische Bewegungen und Programme sich in Heilslehren verwandeln. Es ist keine Gefahr, die nur auf eine Partei beschränkt ist. Sicherlich müssen die politischen Ideen an den letzten Werten orientiert sein. Wo aber eine Partei beansprucht, allein die Wahrheit zu sein und einen letzten Wert ausschließlich zu verkörpern, was immer er sei, den Fortschritt, die Menschlichkeit, den Frieden, die christliche Kultur, die soziale Gerechtigkeit, da wird die gegnerische Partei zur Widersacherin der ewigen Werte abgestempelt. Dann zerreißen schnell die Vertrags-bande, die Voraussetzung jeder Demokratie und des Parlamentarismus sind. Der Parlamentarismus beruht ja darauf, daß alle eine gleiche Chance im Kampf um die Macht haben. Wer aber meint, daß seine politische laee ein großes, ewiges Heil für die Menschheit bringt und ein nahezu überirdisches Glück verbürgt, wer Mächte dieser Welt „verteufelt“, gleichgültig ob nun den Marxismus oder den Kapitalismus, wer meint, daß die Wege der gegnerischen Parteien in den Abgrund und das Verderben führen müssen, der muß notwendigerweise zu dem Schluß kommen, daß es ein Verbrechen an dem Guten und Wahren in der Welt sei, dem Gegner die gleiche Chance zu geben. Der Teufel hat kein Recht auf die gleiche Chance; zum Glück meinen wir nicht mehr, daß der Teufel kein Teufel mehr sei, weil er verfassungsmäßig zur Macht kam, wissenschaftlich gesagt: wir haben uns von der „Wertneutralität“ der Verfassung freigemacht. Aber die Demokratie ist nur möglich, wenn der andere ein Mensch ist und kein Teufel und nicht einmal „des Teufels“. Wenn man so auch nur in Andeutung wie in Ansätzen die andere Partei „verteufelt , ist der ideologische Bürgerkrieg da. In einem gesunden demokratischen Gemeinwesen unterscheiden sich die Parteien hauptsächlich durch die verschiedenen Wege, auf denen sie ein gemeinsames Ideal verwirklichen wollen, durch den Ort, von dem sie zu dem gemeinsamen Ziele streben; sie stellen nicht mehr ein absolutes Ideal gegen ein absolutes Böses. Anders geht die gemeinsame Basis verloren, ohne die Parlamentarismus und echte Demokratie undenkbar sind. Der Sündenfall der Demokratie liegt darin, daß wir uns besser fühlen als die anderen, anstatt uns bewußt zu bleiben, daß unser politisches Rezept im besten Fülle ein kleineres Übel ist. Die Abneigung der Engländer gegen superior people, wie sie sagen, gegen die Leute, die das Gras der Notwendigkeit wachsen hören, — nach dem Ausdruck von Jakob Burckhardt — und die in alle Geheimnisse der Weltentwicklungen und des irdischen Geschehens eingeweiht sind, hängt aufs engste mit ihrer Fähigkeit zur Demokratie und zum Parlamentarismus zusammen. Parlamentarismus ist nur dann möglich, wenn man es sich, den Menschen und der Welt erlauben mag, unvollkommen zu sein.
Die Herrschaft des Rechts Die Einheit der Nation setzt voraus, daß wir nicht von verschiedenen moralischen Ebenen zueinander sprechen wollen. Die Einheit der Nation aber ist vor allem die Einheit des Rechts. Eins ist ein Volk und damit fähig zum Parlamentarismus, indem es sich der Herrschaft des Rechts unterwirft. Der Gedanke der „Herrschaft des Rechts" ist zuerst in England geschaffen worden. „Lex Rex" hieß es in der englischen Revolution: „Das Recht sei unser König".
Das Parlament in England faßte sich selbst nicht nur als souveräne Gewalt im Lande auf, sondern auch als ein Gericht, als High Court of Parliament. Das Parlament ist nach dieser Auffassung ebenso sehr sein rechtsprechendes wie gesetzgebendes Organ. Es deutet wie der Richter das Recht und wendet es an. Natürlich schafft das Parlament neues Recht. Aber dieses Recht muß herauswachsen aus der Summe des bestehenden Rechts. Es ist die Anpassung des alten Rechts an die flutende Entwicklung der Dinge und an den neuen Tag des Lebens. Die Gesetzgebung ist daher auch Rechtfindung, eine Jurisdictio. Die Formel „nulla poena sine lege“ sieht also für den Engländer anders aus (Man hat das bei der Auseinandersetzung um die Nürnberger Urteile vielfach verkannt.). Ein Recht ist lange schon da nach englischer Auffassung, bevor es im Parlament weniger geschaffen als kundgetan und „gefunden“ wird. Die Übergänge zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung sind daher in der angelsächsischen Welt fließend. Das Urteil der niederen Gerichtshöfe, die unter und neben dem Parlament stehen, haben Politik und Geschichte in England ebenso häufig gemacht wie das Parlament. Ganz große und politische Entscheidungen sind nicht durch einen rechtsetzenden Akt der höchsten Gewalt vollzogen worden, sondern durch das Urteil des Gerichts. Die Leibeigenschaft ist durch Richterspruch beendet worden. Den Hexenprozessen hat in England ein Richter ein Ende gesetzt — auf dem Kontinent mußten sie durch Gesetz aufgehoben werden — als wieder einmal eine Frau beschuldigt war, sie wäre auf einem Besenstiel durch die Luft geritten. Der Richter sprach sie frei mit der Begründung, er habe kein Gesetz finden könne, das einem Untertanen Seiner Majestät verbietet, auf einem Besenstiel durch die Luft zu reiten.
Der Gedanke der Herrschaft des Rechts hat eine Nutzanwendung, die auf dem Kontinent sehr leicht übersieht. Bei uns scheinen die Parteien manchmal darauf zu lauern, all das ungeschehen zu machen, was die vorangegangene Regierung getan hat. In England aber gilt es als anstößig, Gesetze wieder aufzuheben, die von der vorhergegangenen Regierung geschaffen wurden. Bei der Aufhebung der Stahlsozialisierung hat es in England eine lebhafte Debatte darüber gegeben — in allen Lagern — ob die konservative Regierung damit diesen alten Grundsatz verletzt hat. Die Regierung fängt da an, wo ihre Vorgängerin aufgehört hat. Was bis dahin geschaffen worden ist, ist eine gültige Ordnung, innerhalb derer eine neue Regierung ihr Werk zu tun hat. Man kann die Auswüchse beschneiden, man kann durch die Praxis das dämpfen, was man als Überspannung und Überspitzung ansieht. Aber das Werk der verflossenen Regierung ist nicht schlechthin ein Teufelswerk, das man auszumerzen hat, sondern ein Stüde der lebendigen Ordnung, die sich im Wechsel zwischen den großen Ideen und Gruppen der Nation lebend entfaltet.
Die Ablösung der Parteiregierungen, die alle ein geschlossenes und scharf abgehobenes Programm verwirklichen, wäre in unserer Welt mit ihren komplizierten und empfindlichen sozialen und wirtschaftlichen Zuständen in der Tat nicht möglich und müßte zu einer Kette revolutionärer Zersetzungen führen, wenn nicht bei den entgegengesetzten politischen Gruppen der Wille bestünde, von dem Werk der vorhergehenden Regierung das anzuerkennen und bestehen zu lassen, was sich in der lebendigen Erfahrung der Nation bewährt hat. Wäre es anders, dann würde jede politische Bewegung mit größeren Zielen notwendigerweise in die Wege politischer Gewaltherrschaft hineingedrängt. Jedes Planungsvorhaben auf größere Sicht wäre dann nur noch möglich, wenn die Partei und die Bewegung, die es trägt, fähig und willens wären, sich in der Macht zu verewigen. Die englischen politischen Bewegungen aber beugen sich vor dem Spruch der öffentlichen Meinung. Es bildet sich doch immer eine unabhängige, im Stillen von allen Parteirichtungen geteilte Meinung zu den großen Fragen der Nation heraus. In diesem Sinne gilt noch immer die Losung: Lex Rex. Das Gesetz ist der König, ein Gesetz, das über dem Leben der Nation waltet. Das Leben Englands ruht so auf einer nie abreißenden lebendigen Erfahrung.
Das Kabinett regiert Soviel zur Einheit. Diese Einheit erlaubt es, der Macht zu geben, was der Macht ist und der Regierung, was der Regierung ist. Eine Voraussetzung für das gute Funktionieren des Parlamentarismus scheint nach allen geschichtlichen Erfahrungen zu sein, daß das Parlament nicht selbst regiert. In England regiert nun in der Tat das Kabinett und nicht das Parlament. Es gibt keine parlamentarische Gesetzesinitiative. Das Gesetz wird im Rahmen des Gesamtplanes der Regierung geschaffen und bleibt nicht dem Zufall parlamentarischer Wechselfälle unterworfen. Es gibt keine Parlamentsausschüsse, die wie bei uns recht eigentlich die Gesetze machen. Die sachliche Arbeit, die auf dem Kontinent in den Fachausschüssen des Parlaments getan wird, verrichten in England im wesentlichen die Ministerien.
Montesquieu glaubte im 18. Jahrhundert, die Gewaltentrennung wäre das eigentliche Wahrzeichen der englischen Verfassung. Doch ist die Trennung zwischen Exekutive und Legislative in England nur sehr unvollkommen durchgeführt. Bei einer vollkommenen Teilung der Gewalten ist ja die Idee der verantwortlichen Regierung nur schwer zu verwirklichen, die eine der großen Voraussetzungen des Parlamentarismus ist. Die Idee der verantwortlichen Regierung war der Gedanke, der beim Kampf um die demokratische Ordnung in Europa voran leuchtete.
Wir haben in Amerika erlebt, daß unter Roosevelt in Form der Neutralitätsgesetze große außenpolitische Entscheidungen ohne und gegen den Willen der Regierung gefallen sind und unter der Regierung Truman, daß in Gestalt des Taft-Hartley-Gesetzes die Arbeitsbeziehungen wiederum ohne und gegen den Willen der Regierung geregelt worden sind. Das wird also nun von der Regierung nicht mehr verantwortet. Es kann geschehen — es k a n n , ich lasse die Frage ausdrücklich beiseite, ob das mit den Entscheidungen und der Art und Weise unseres Bundesverfassungsgerichts geschehen ist — es kann also geschehen, daß mit dem Urteil eines Obersten Verfassungsgerichts Entscheidungen fallen, die nicht eigentlich das Volk als ein Ganzes zu fällen hätte, und die der Verantwortung der Regierung entzogen werden dürften. Sicherlich muß uns der Grundsatz heilig sein, daß eine Regierung nur das tun darf, was das Gesetz erlaubt. Aber man kann auch als Grundsatz aufstellen — in England hat er sich als ein wohltätiger erwiesen — daß in einer Nation keine Entscheidungen fallen dürfen, die nicht von der Regierung gewollt sind, oder die Regierung hört auf, verantwortlich zu sein. Ein der Kontrolle der Regierung entzogenes Parlament bedeutet unverantwortliche Regierung. Es gibt ohnehin genug Tatsachen in der Welt, die von der Regierung nicht zu ändern und nicht zu verantworten sind. Aber es ist gut, daß sich eine Regierung am Tage, da sie vor der Nation Rechenschaft abzulegen hat, nicht ausreden kann und ausreden will auf ein widerspenstiges Parlament oder einen störrischen Koalitionspartner. Der Rechenschaftsbericht einer Regierung sollte nicht nur aus den Dingen bestehen, die das Kabinett getan hätte, wenn es sie hätte tun dürfen.
Wir sollten aufhören, immer nur eine einzige Form von Demokratie für demokratisch zu erklären. Wir sind allzu schnell dabei, immer wieder etwas für „undemokratisch“ zu erklären. Wir sagen, es sei undemokratisch, wenn es kein Verfassungsgericht gäbe — in England gibt es keines — es sei undemokratisch wenn der Regierungschef der Kontrolle des Parlaments weitgehend entzogen ist — in Amerika ist er es — es sei undemokratisch, wenn die Trennung zwischen Legislative und Exekutive nicht bestehet — in England besteht sie nicht — es sei undemokratisch, wenn die Stimmen der Minderheit bei der Wahl unter den Tisch fallen — in England fallen sie unter den Tisch. In Wahrheit gibt es unendlich viele Möglichkeiten — so unendlich, wie die Vielfalt der Völker in der Welt und ihre Geschichte — eine Demokratie zu ordnen. Nur eine Grundbedingung muß erfüllt sein, damit wir überhaupt von Demokratie sprechen können: es muß grundsätzlich die Chance bestehen, und sie muß leidlich realisierbar sein, auf friedlichem Wege eine Regierung durch eine andere zu ersetzen. Auf irgend eine Weise muß sich die Regierung dem Urteil des Volkes stellen und sich einem Votum der Nation unterwerfen. Unerläßlich für eine Demokratie ist das Recht der Nation, sich ein Urteil über das Werk ihrer Regierung zu bilden, Zustimmung zu geben oder zu verweigern, Vertrauen zu gewähren oder zu versagen, und zwar so, daß das mehr als ein ohnmächtiger Seufzer und ein platonischer Wunsch ist.
Verantwortliche Regierung setzt voraus, daß die Regierung auch regiert. Eine Regierung, die nicht regiert, hat ja nichts zu verantworten. Wenn man nach den Ursachen der Entwicklung frägt, die in England die Regierung zugleich stark verantwortlich gemacht hat, dann ist es vor allem die Tatsache, daß keine politische Katastrophe, kein Staatsstreich, kein 18. Brumaire und kein 30. Januar das englische Volk gelehrt haben, vor seiner Regierung Angst zu haben. Die politische Entwicklung des Kontinents hat sich oft genug in einem verhängnisvollen Kreise vollzogen. Das Mißtrauen, das oft berechtigte Mißtrauen, gegen die Macht hat die Volksvertretungen bestimmt, die Macht so verkümmern zu lassen, bis dann — da kein Volk ohne Macht, Regierung und Führung wirklich leben kann — Macht und Gewalt über das Volk wieder wie eine gestaute alles niederbrechende Flut gekommen sind. Die Beziehungen zwischen Regierung und Parlament brauchten sich daher nicht — ein großer französischer Staatsmann hat es so formuliert — in der Formel zu erschöpfen: Angeklagter, stehen Sie auf. Wo die Führung fehlt, stellen sich die „Führer“ ein.
Ein echtes Plebiszit Die starke Stellung der Regierung hat in England dazu geführt, daß das englische Volk am Tage der Parlamentswahl genau so sehr eine Regierung wählt wie ein Parlament. Die Bestellung des Regierungschefs ist zwar nicht losgelöst von der Parlamentswahl, so wie es in Amerika der Fall ist. Trotzdem ist die Parlamentswahl gleichzeitig ein Plebiszit, eine unmittelbare Volksbefragung über die Bildung der Regierung. Der englische Wähler bestimmt in Wahrheit das Haupt der Regierung. Er entscheidet sich für diesen oder jenen Mann als den künftigen Leiter der englischen Politik. Der Ministerpräsident wird ernannt sogleich nach der Wahl und nicht erst nach dem Zusammentritt des Parlaments. England hat eine neue Regierung, bevor es ein neues Parlament hat.
Dieses Plebiszit aber ist ein echtes Plebiszit, eine Entscheidung zwischen echten Möglichkeiten. Das Plebiszit der totalitären Ordnungen läßt ja nur die eine Wahl, die bestehende Macht zu bestätigen oder die eigene Stimme in den Abgrund einer gestaltlosen und stummgemachten Opposition zu werfen. Das Plebiszit, das Hitler zuweilen veranstaltete, ließ nur die Wahl zwischen seiner Allmacht und dem Nichts. Das Plebiszit, das sich im Rahmen einer Wahl zum Parlament in England vollzieht, ist die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, zwischen zwei Parteien und zwischen zwei Persönlichkeiten. Solch ein Plebiszit läßt dem Volk das Recht, ein Urteil über das Werk der Regierung zu fällen, wenn ihre Uhr abgelaufen ist und sie fortzuschicken, wenn sie nach seiner Meinung versagt hat. Aber diese Form der Wahl schaltet das Volk auch nicht aus der wesentlichsten Entscheidung im Staat aus. Welch Geschehnis wäre denn wichtiger in einer staatlichen Gemeinschaft als die Bildung der Regierung! Auf dem Kontinent hat das Volk nur selten einen unmittelbaren Einfluß auf die Bestellung der Regierung. Die Regierung ist nicht unmittelbar zum Volk und das Volk nicht unmittelbar zur Regierung. Zwischen beide schieben sich die zuweilen undurchschaubaren parlamentarischen Beratungen. Nehmen wir ein französisches Beispiel: Monsieur Mendes-France ist sicherlich ein ehrenwerter und tüchtiger Mann. Kein Wort gegen ihn! Aber wer möchte behaupten, daß das französische Volk bei der letzten Wahl zum französischen Parlament auch nur mit einem Hauch eines bewußten Willens gewollt habe, Monsieur Mendes-France, dessen Name fast unbekannt war, zu seinem Regierungschef zu machen.
Man kann sagen, daß eine Politik spannungslos wird, wenn ihr nicht ein gewisses plebiszitäres Moment innewohnt. Sie muß verständlich, in einem gewissen Sinne dramatisch und sportlich sein. Sie ist es nur, wenn sie sich in die Frage zusammenfassen läßt, ob A. oder B. Regierungschef wird, oder ob große entscheidende Dinge getan oder unterlassen werden, z. B. ob Deutschland Soldaten bekommt oder nicht. In der Weimarer Republik gab es eine Theorie, daß der Parlamentarismus zum Untergang verdammt sei, weil er nicht decisionistisch wäre. Er sei eine endlose Diskussion, ein „ewiges Gespräch“. Die Autorität aber und nicht die Wahrheit, sei nach der berühmten Formel von Hobbes die Grundlage von Staat und Gesetz. Die Demokratie hat sicherlich ein Mittel der Entscheidung, nämlich die Abstimmung und die Wahl. Die Demokratie ruht ganz und gar nicht auf dem Grundsatz, daß Volkesstimme Gottesstimme sei, sondern auf der Notwendigkeit, zu entscheiden, obwohl und weil wir nicht wissen, was Gott in diesem Augenblick von uns will. Wenn wir das genau wissen — es hat in der jüngsten Geschichte Augenblicke gegeben, da wir es hätten wissen müssen — ist auch eine 99°/oige Mehrheit der Volkesstimme gleichgültig. Wenn aber im Volke das Bewußtsein verlorengeht, daß die Wahl Entscheidungen bringt, und wenn unsere Wahlen nicht mehr sind als ein imposantes Bekenntnis schöner und nicht schöner Seelen, dann läuft das Volk der Demokratie davon und lauscht wieder auf die Rattenfänger, die ihm versprechen, die ganz großen Entscheidungen herbeizuführen, wie sie nur alle Jahrtausend einmal kommen. Wenn in der Politik gar nichts mehr geschieht, außer daß die Mandatsziffern der Parteien sich um ein paar Prozente ändern — dann geschieht eines Tages wieder allzu viel. Als ein französischer Staatsmann feststellte, daß Frankreich sich langweile, endete das mit einer sehr blutigen Kurzweil. Brot und Spiele darf beileibe nicht zur Losung der Demokratie werden. Aber es darf von ihr auch nicht die bleierne Langeweile der völligen Entscheidungslosigkeit ausgehen.
Die Wahl vom September — ich habe selbstverständlich nicht darüber zu sprechen, ob die richtige Partei gewählt wurde — war ein großes Ereignis, weil sie wieder einen festen und umrissenen Willen der Nation zeigte. Das Parlament der Weimarer Republik ging daran zu Grunde, daß ihm vom ersten Reichstag 1920 an die feste und klare Regierungsmehrheit fehlte. Das schaurige Paradoxon der deutschen Geschichte liegt darin, daß man Hindenburg für die Regierungsbetrauung Hitlers mit der Vorspiegelung gewann, daß die Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten wieder eine richtige Mehrheit im Parlament schaffe und daß es dann ein Ende mit dem unsauberen Regieren, den Notverordnungen, den unklaren Tolerierungspakten habe. Hindenburg behandelte zwar die Verfassung, als wäre es die preußische Felddienstordnung, aber er wollte doch, daß verfassungsmäßig Ordnung herrsche.
Um morgen zu regieren . . .
England ist jener Bewegungslosigkeit entgangen, die auf dem Kontinent vielfach herrscht, einer Bewegungslosigkeit, die oft als wechsel-reiche Bewegtheit in Erscheinung tritt und eben doch nur die Bewegung des Karussels ist. In England kommt nicht — wie in manchen kontinentalen Demokratien — als Ergebnis einer Wahl nur heraus, daß die Minister die Plätze tauschen. Das öffentliche Geschehen vollzieht sich in England vielmehr in einem einfachen und klaren Widerspiel von Mehrheit und Minderheit, von Regierung und Opposition. Es wäre nun falsch zu sagen, daß nur das Zweiparteiensystem diese Form der englischen Demokratie möglich gemacht habe. Vielmehr ist das Zweiparteiensystem aus dieser Form der Staatspolitik erst herausgewachsen. Regierung und Opposition bildeten den Kristallisationskern des englischen Partei-wesens. Parteien entstanden in England, um zu regieren oder um Opposition zu machen, was für den Engländer heißt, um morgen zu regieren. Die Parteien und selbst die Parlamente sind auf dem Kontinent außerhalb der politischen Macht gewachsen: Ihr Wesen war Protest, Widerspruch, Opposition als heiliger Widerstand gegen die Mächte dieser Erde, mit denen man nichts gemein haben will. Die Wahl ist in England deshalb nicht darauf abgestellt, getreulich alle Meinungen der Nation wiederzugeben, sondern die Bildung einer Regierung zu ermöglichen. Es ist die radikale Überzeugung der Masse der Engländer, daß man wählt, um eine regierungsfähige Regierung einzusetzen und daß eine Wahl nur mehr eine eitle Demonstration des ohnmächtigen Willens ist, wenn die Wahl nicht unmittelbar zur Bildung einer aktionsfähigen Regierungsmehrheit führt.
Die englische Politik hat in ihrem Wesen ein Mißtrauen gegen die reine Zahl und gegen den Zufall des Augenblicks. Die genauen arithmetischen Zahlen einer Wahl sind ja immer ein Zufall. Die politische Wissenschaft bemüht sich seit einiger Zeit, die soziologische, soziale und geistige Gestalt der einzelnen politischen Wahlen herauszuschälen und stößt da manchmal auf gräßliche Zufälle und komisch-tragische Tatsachen. Der Engländer folgt nicht den antidemokratischen Lehrmeistern, die daraus ein Scherbengericht über die Demokratie machen, aber er spricht den Zufall der Zahl auch nicht heilig. Er möchte in seiner Demokratie die politische Kraft und dynamische Bewegung und nicht eine Zahl regieren lassen. Man darf auch nicht vergessen, daß in der tausendjährigen Geschichte des englischen Parlaments das allgemeine Wahlrecht nur ein ganz kurzer Augenblick ist. Der Kontinent hatte das allgemeine Wahlrecht, bevor er ein Parlament besaß. Eben darum gibt es bei uns häufig auch die Wahl um der Wahl willen. Der Engländer bezeichnet sein Wahlrecht als dynamisch, konkret und real. Er gibt die Regierungsgewalt jener Partei, die im Augenblick die lebendigste und aktivste Kraft der Nation darstellt und die in der stärksten Strömung der öffentlichen Meinung liegt.
Es ist der Grundsatz der verantwortlichen Regierung, der die englische Demokratie trägt. Verantwortliche Regierung ist in einem doppelten Sinne verstanden, wenn die beiden Dinge auch im Grunde nur ein verschiedener Ausdrude ein und derselben politischen Idee sind. Verantwortlich ist die Regierung einmal in dem Sinne, daß sie Rechenschaft vor dem Volke für ihre Leistung und ihr Werk abzulegen hat und zurücktreten muß, wenn sie nach Ansicht der Mehrheit versagt. Verantwortlich aber ist sie auch in dem anderen Sinne, daß ihr die Macht gegeben ist, das zu formen und zu gestalten und in eigener verantwortlicher Entscheidung zu ordnen, wofür sie einzustehen hat. Give him a chance, gebt ihm eine Chance, ist im allgem-inen Leben und im politischen Dasein der Engländer eine große Losung. Die englische Demokratie beruht auf dem Grundsatz, daß einer Regierung, einer Bewegung und einer Partei, die Chance zu geben ist, zu zeigen, was sie vermag.
Der Gedanke der Repräsentation Unlösbar — eine letzte Bedingung für das Funktionieren des Parlamentarismus — ist der Gedanke der Repräsentation. Der unabhängige Abgeordnete ist durch schier übermächtige Entwicklungen der wirklichen Welt in seiner Stellung bedroht. Aber der Idee nach muß der Abgeordnete nur seinem Gewissen verantwortlich sein und er muß der Repräsentant einer lebenden Einheit der Nation sein. Parteien sind notwendig, aber sie können den Wahlkreis nicht ersetzen. Wir müssen weit mehr das Bewußtsein im Volk erwecken, daß jeder Kreis seinen Abgeordneten hat: Das ist mein Vertreter im Parlament. Ich würde so weit gehen, in jedem Wahlkreis einen repräsentativen Dienstsitz des Abgeordneten zu errichten, so daß der Vertreter eines Wahlkreises immer zu bestimmten Zeiten erreichbar sei. Es ist heute ja für den einfachen Staatsbürger schwer zu wissen, wie er „seinen" Abgeordneten finden kann.
Das Repräsentativsystem des „liberalen" Parlamentarismus — liberal im weitesten Sinne verstanden — ruht auf dem Honoratioren, dem unabhängigen, vermögenden Manne, der nach dem berühmten Ausdruck von Max Weber für die Politik und nicht von der Politik zu leben vermochte.
Er gehörte einer Partei an, aber er gehörte nicht der Partei. Die Partei bedurfte seiner, denn er bestritt aus seinem Vermögen die Kosten für seine Wahl. In dem ständisch-aristokratischen System, aus dem das Repräsentativsystem hervorwuchs und das die Gestalt des Honoratioren-Politikers prägte, wirkte noch die Vorstellung nach, daß das Vermögen ein Lehen sei, gegeben, um Gemeinschaftsaufgaben zu erfüllen. Die Honoratioren konnten sich der Politik widmen, weil sie nicht zu arbeiten brauchten, um zu leben. Vermögen macht den Menschen unabhängig. Im alten Griechenland waren nur diejenigen Vollbürger, und nur sie galten als für die Politik berufen, die nicht zu arbeiten brauchten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Banausen, die Handwerker und die Krämer, die sich durch ihre Hände Arbeit das Leben verdienen mußten, sie hatten in der Politik nichts zu suchen, denn sie hatten ja keine Zeit für die Politik. Die soziale Revolution des 20. Jahrhunderts, deren Hauptinstrument das Finanzamt war und ist, machte nun fast alle Menschen zu Banausen, und wir alle müssen arbeiten, um zu leben. Auch die Politiker sind in diesem Sinne zu Banausen geworden. Ihre Arbeit, eine harte Arbeit, von der sie leben, ist die Politik. Die große Krise des Parlamentarismus beginnt . in der Tat mit dem Verschwinden alles dessen, was einst „Besitz und Bildung" hieß. Von nun an wird der Politiker mediatisiert. Der Politiker, dem die große soziale Revolution die Mittel der unabhängigen Existenz geraubt hat, muß nun von der Politik leben (was nicht zu bedeuten braucht — Max Weber hat das schon betont —, daß er nicht auch der Aufopferung für die Politik in einem großen Maße fähig sein könnte). Die Abhängigkeit von der Politik wird aber zur Abhängigkeit von den Parteien, die vorherrschend die Verfügungsgewalt über alle jene Lebenschancen im ehaben, durch die ein „Leben von der Politik" möglich wird. So trägt die Revolution in der Sozialstruktur, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht, den Parteienstaat hoch.
Wir können das Rad der Geschichte nicht zurückschrauben. Über die Vergangenheit haben nicht einmal die Götter Gewalt, sagten die Griechen. Bei den Engländern heißt es noch drastischer: Jede Restauration ist ein Versuch, Rührei in ein Hühnerei zurückzuverwandeln. Wir können nicht mit einem Zauberschlag wieder herstellen, was einst das Fundament des unabhängigen Politikers war: das Vermögen. Wir sollten nicht so voreilig den Partcienstaat als die Form unserer politischen Zukunft verkünden und den Parlamentarismus alten „englischen" Stils für tot erklären. Die Parteien sind notwendig. Ein Parlament aus lauter Persönlichkeiten ist handlungsunfähig. Die Engländer sagen: Ein Kabinett der Köpfe ist ein Kabinett ohne Kopf. Ein Parlament aus lauter Persönlichkeiten ist ein Parlament ohne Willen. Gott schütze uns vor einem Parlament aus lauter unabhängigen Persönlichkeiten. Aber die Parteien-macht stellt sich ohne unser Zutun her. In einer Hungersnot predigt man nicht die Mäßigkeit im Essen. Die christliche Theologie lehrt uns, daß die Sünde untrennbar von der menschlichen Existenz ist. Doch pflegt die Sonntagspredigt unserer Geistlichen nicht mit einer Aufforderung zur Sünde zu enden. Die Tatsache, daß wir alle sterben müssen, ist kein Grund Selbstmord zu verüben, im Gegenteil. Die Tatsache, daß höchst mächtige und reale Kräfte zum Parteienstaat drängen und ihn in gewissem Sinne schlechthin unentrinnbar machen, ist kein Grund, die alte Ordnung früher sterben zu lassen als sie muß.
Keine politische Ordnung wird in unserer unvollkommenen Welt ihr Prinzip rein verwirklichen und ohne Zugeständnisse an die Mächte der Erde bestehen können. Aber keine Ordnung kann ihr Prinzip schlechthin verleugnen. Vom Parlamentarismus ist die Idee der Diskussion und des geistigen Ringens um den rechten Weg nicht zu trennen. Sicherlich ist viel, allzu viel vorentschieden, so daß die Diskussion hauptsächlich ein historischer Bericht über Geschehnis ist. Aber der Raum freier Diskussion muß bleiben und verteidigt werden. Der einzige Weg dazu ist: es muß mehr Dinge geben, bei denen die Partei eine freie Meinungsbildung zuläßt, bei denen also sie als Partei keine Meinung hat. Die Parteien müssen aufhören, ihre Mitglieder ganz und gar für sich zu fordern und von ihnen zu verlangen, daß sie ihnen ihre Seelen verschreiben. Also: Weniger Weltanschauung und mehr Politik: Politique d’abord.
Die großen Werte sind unteilbar lichkeit die Tatsache hervor, daß die englische Demokratie die Stärke und Macht ihres Daseins einmaligen historischen Umständen und dem ganzen geschichtlichen Lebensraum des englischen Volkes verdankt. Es wäre ein eitles Unterfangen, sie so einfach in andere Räume zu verpflanzen. Die englische Demokratie ist durch „eine Serie von Zufällen“, wie Sidney Low, der große englische Verfassungsrechtler, sagt, so geworden wie sie ist. Über diese Zufälle hat keine Macht der Erde Gewalt.
Es gibt nur noch zwei Institutionen in Europa, die älter sind als das englische Parlament: die englische Krone und das Papsttum. Das Szepter der Speaker, das ist der „Plunder“, den fortzuschaffen Cromwell seine Soldaten hieß und den der Vorsitzende seines nächsten Parlaments still und heimlich zurückholte. Die Glocke des Präsidenten unserer Parlamente ist dagegen gräßlich neues Fabrikat. Vergangenheit und Traditionen aber kann man nicht kaufen. Die englische Demokratie ist gewachsen und nicht gemacht worden. Noch weniger kann sie nachgemacht werden.
Aber wir müssen versuchen, bei ihrer Analyse bis zu dem Punkte durch-zustoßen, an dem zu erkennen ist, was der englischen Demokratie ihre greße innere Kraft und den leuchtenten geschichtlichen Erfolg gegeben hat. Andere Völker haben dann zu prüfen, wie in ihren Lebensverhältnissen und in ihrer geschichtlichen Welt die universale Lehre verwirklicht werden kann, die uns die englische Demokratie gibt. Formen können nicht kopiert, Vergangenheiten nicht exportiert werden. Verfassungen können nicht in der Konfektionsabteilung der Geschichte bezogen werden. Aber jede politische Ordnung muß — auf ihre Weise und an ihrem Ort — einigen elementaren Anforderungen genügen.
Die englische Demokratie gibt uns eine Lehre, welches diese Anforderungen sind. Wir sahen, welche sie sind: Einheit und Gegensatz, die Einheit, die es dem bewegenden, vorwärtsweisenden und auch mitreißenden Gegensätzen ermöglicht — ohne Gefährdung des Ganzen — voll auszuschwingen.
In England sind die Parteien klarer ausgeprägt als auf dem Kontinent. Die Regierungen sind Regierungen mit einem scharfen Parteiprofil. Aber die Parteien in England — der fundamentalen Einheit der Nation wegen — teilen nicht auf, was nicht aufgeteilt werden kann. Partei heißt wörtlich „ Teil“ (Party). Die letzten Ideale und die großen Werte aber sind unteilbar. Wo in den politischen Kämpfen die großen Ideale gegeneinander-stehen, sind sie immer durch Barrikaden geschieden. Wenn wir aber eins im Grundsätzlichen sind, dann können wir auch den Mut zur Tat haben, den Mut zur Autorität und selbst den Mut zu unseren Gegensätzen.