Ein Vortrag, gehalten anläßlich einer staatspolitischen Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vom 26. — 29. März 1954.
Ein Rückblick auf das erste Jahrfünft eines von eigenen Kräften getragenen staatlichen Aufbaus im Westen Deutschlands wird sich nicht damit begnügen können, die äußeren Umrisse des Neubaus und die organisatorischen Einrichtungen nachzuzeichnen, sondern er wird versuchen müssen, auch die Fundamente des Bauwerks zu prüfen. Ein Staat ist nicht nur eine Organisation, nicht nur ein Gebilde der Macht. Sondern er ist, wie eine jede große, viele Menschen vereinigende und überdauernde Einrichtung des sozialen und öffentlichen Lebens eine überindividuelle geistige Strömung, die den Zusammenhang über die Zeiten wahrt und die immer neue Kreise von Menschen in ihre formende Wirkung einbezieht. Der Bestand des Staates ruht auf den einzelnen Menschen auf, die er umschließt, die er prägt, und die er in seine Gefolgschaft und in seinen Dienst zieht. Die Fähigkeit aber, von einer Generation zur anderen als eine wirkende Einheit zu dauern, kommt dem Staat aus den Werten und. Ideen zu, die ihn durchdringen und in deren Zeichen er die Menschen vereinigt und zu gemeinsamem Handeln integriert. Nach diesen Grundlagen des Staates gilt es zu fragen, wenn wir Bestand und Zukunft unseres deutschen Staatswesens prüfen wollen.
Es ist eine widerspruchsvolle Erscheinung, daß wir auf der einen Seite der Klage über die wachsende Macht des Staates begegnen, die das menschliche Leben immer weitgehender in ihren Bann zieht, auf der anderen Seite aber in Deutschland, vor allem bei der Jugend, feststellen müssen, daß eine Staatsgesinnung, ein inneres Verhältnis zum Staate, nur in geringen Ansätzen vorhanden ist. Der Widerspruch löst sich, wenn wir uns klar machen, daß die anwachsende Macht des Staates eine ganz allgemeine für alle demokratischen Staaten geltende Erscheinung darstellt. Die Zweifel am Staate aber sind eine besondere Gegebenheit unseres Landes, begründet in der jüngsten Geschichte und ihren mehrmaligen Katastrophen.
Es hat in Deutschland ein weitgehender Rückzug vom politischen Leben stattgefunden, der sich manchmal in der vollen Abwendung von aller Beteiligung daran, in einer generellen „Ohne-Mich" -Stimmung auswirkt. Dahinter steht die Tatsache, daß unserem wirtschaftlichen Aufbau-und Arbeitseifer keine entsprechende Anteilnahme am politischen Leben gegenübersteht. Die alten Anschauungen und Vorstellungen sind zerbrochen oder entwertet. Haben sich bereits neue Grundlagen eines staatlichen Bewußtseins gebildet?
Die nachfolgende Betrachtung wird die Lage des Staates in Deutschland unter zwei Gesichtspunkten sehen; Sie hebt zunächst diejenigen Züge hervor, die den demokratischen Staat der Gegenwart allgemein betreffen. Sodann aber werden wir die besonderen Probleme und Situationen des deutschen öffentlichen Lebens ins Auge fassen.
Die Lage des demokratischen Staates im 20. Jahrhundert
1. Wandlungen der Demokratie Es ist allgemein anerkannt, daß das Bild des freiheitlichen Staates gegenüber der liberalen Epoche der Mitte des 19. Jahrhunderts tiefe Veränderungen aufweist. Der bürgerliche Charakter des Staates, damals in der Regel noch durch Beschränkungen des Wahlrechts nach dem Besitz betont, die entsprechende personelle Zusammensetzung der Parlamente mit Honoratioren und wirtschaftlich Selbständigen, der stark rationale Charakter einer auf die Auseinandersetzung in einer kleineren gebildeten Schicht beschränkten politischen Welt, der feste Glaube an die Richtigkeit der Lösungen des Gesetzgebers, d. h. an die unbedingte Autorität der Volksvertretung gehören der Vergangenheit an. Der Individualismus wird nur mit erheblichen Einschränkungen noch vertreten. Es ist heute nicht mehr möglich, die soziale Problematik allein in dem Gegensatz Individuum — Staat aufzufangen. Im Westen haben sich einzelne Züge dieser liberalen Staatsidee tiefer eingegraben und länger bewahrt, so vor allem das Vertrauen in die Legislative als letzte und‘oberste Instanz. 2. Der demokratische Staat im Massenzeitalter Die heutige Demokratie wird durch die Teilnahme aller Bürger an der politischen Willensbildung bestimmt. Das bedeutet auch eine Veränderung des politischen Stils. Die politischen Auseinandersetzungen müssen für die Massen einfacher und prägnanter formuliert werden, sie werden mehr auf Empfindungen abgestellt als auf rationale Diskussionen und Überzeugungen. Zwischen dem Volk und der politischen Leitung aber bedarf es vermittelnder Erscheinungen, die die Herausarbeitung und Vertretung der politischen Meinungen und Ziele, ihre Vorformung und propagandistische Vorbereitung übernehmen. Die Parteien bestanden als losere Gruppen schon im 19. Jahrhundert, aber sie sind erst seither fortschreitend zu fest disziplinierten Organisationen geworden, die das politische Leben beherrschen. In ihnen ist maßgebend nicht mehr der sozial und wirtschaftlich unabhängige Volksvertreter. Die Politiker, wenigstens in der Stufe der nationalen Vertretung, sind zum großen Teil Berufs-politiker geworden. Sie müssen ihren finanziellen Unterhalt empfangen; schon besteht in Amerika eine Pensionskasse für Abgeordnete, und in Großbritannien erwägt man eine solche Versorgung. Beruht aber das Funktionieren der modernen Demokratie darauf, daß sich in ihr verschiedene Ansichten frei gegenübertreten und in ihrem Ringen die Linie des Staates bestimmen, so ist die Existenz mehrerer organisierter politischer Gruppen in den Parlamenten eine notwendige Bedingung des politischen Lebens, das auf dem Wechsel der herrschenden Richtung und der gegenseitigen Kontrolle der Kräfte beruht. Ein weiteres Kennzeichen der modernen demokratischen Entwicklung ist der starke egalitäre Zug. Neben der Freiheit erfährt die Gleichheit steigende Betonung (gleicher Zugang zur Bildung, Angleichung der Einkommen, soziale Einheitlichkeit). Dem Gesetzgeber bringt die Gegenwart nicht mehr das gleiche un-beschränkte Vertrauen entgegen. Sie sucht ihn vielmehr in der deutschen Entwicklung durch Aufrichtung einer über ihm stehenden Verfassungsordnung zu beschränken, die seine Bewegungsfreiheit erheblich einengt. 3. Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur Hinter den Wandlungen im Bild der staatlichen Institutionen und der Prozesse des politischen Lebens stehen die tieferen Umgestaltungen der gesellschaftlichen Struktur. Unter ihnen kann als die weitestreichende der Aufstieg der Gruppen und Verbände im öffentlichen und sozialen Geschehen bezeichnet werden. Die Menschen organisieren sich in beruflichen, wirtschaftlichen, kulturellen Verbänden und diese Zusammenschlüsse gewinnen ein starkes Eigenleben, einen großen Einfluß auf die Politik, und in vielen Fällen eine vermittelnde Stellung zwischen dem einzelnen und dem Ganzen. Wer nicht diesen Rückhalt der organisierten Interessen und Anschauungen hat, steht isoliert und schwach da. Die Verbände vermögen, anders als die Parteien, das unmittelbare Interesse ihrer Anhänger zu erwecken, sie vermögen sogar auf ihre Opferwilligkeit zu zählen. Gewährt die Gruppe dem einzelnen Schutz und Hilfe, so kann sie aber auch ihm gegenüber zu einer Macht werden, die ihn in seiner Freiheit beschränkt. Darum bedarf auch zuweilen der einzelne des Schutzes gegen die Übermacht sozialer Mächte, den nur der Staat als übergeordnete Instanz zu gewähren vermag. Die zwischen Individuum und Staat stehenden Verbände sind zu einer grundlegenden Tatsache des gesellschaftlichen Lebens geworden. Die öffentliche Meinung wird von ihnen weithin beherrscht. Auch dort, wo die modernen Einflußmittel der Meinungsbildung, Presse, Rundfunk, Fernsehen, vom Staate unabhängig, gewissermaßen „neutralisiert" sind, sitzen die Vertreter der Gruppen in ihren leitenden Gremien. Eine Folge des Einflusses der Verbände ist die steigende Bedeutung, die heute die Leitungsschicht dieser Organisationen im öffentlichen Leben gewinnt (Manager). Trotz der politischen und sonstigen Gegensätzlichkeit der Verbände bildet sie eine mehr und mehr einheitliche Schicht, in der sich Einfluß und Macht nicht auf Besitz gründen, sondern auf personelle Fähigkeiten und Leistungen. Sie erscheint daher in einem gewissen Sinne zur Vermittlung und zum Ausgleich berufen.
Mit dieser Entwicklung zusammen hängt der Zug zum Funktionalismus. Der gesellschaftliche Zusammenschluß zeigt die Tendenz, nicht mehr nur örtliche, räumlich greifbare Verbindungen hervorzurufen, sondern der heutige Mensch ist weithin nach seiner beruflichen, konfessionellen oder geistigen Funktion zusammengeschlossen oder solidarisch. Diese funktionalen, meist ganz von örtlichen Nachbarschaften absehenden Bindungen gewinnen zusehends an Kraft. Gewiß sind im ländlichen Bereich die alten Nachbarverhältnisse noch erhalten, aber auch sie werden in der Durchdringung auch des Landes mit der Arbeitswelt lockerer. Manche Schwierigkeiten des modernen Lebens, namentlich in der Kommunalgemeinde, aber auch wohl in der kirchlichen Gemeinde, kommen von diesem Zuge her. Auf der anderen Seite entwickelt sich aus der Ansprechbarkeit des modernen Menschen vom Berufe als dem wirtschaftlichen Mittelpunkt her die Bindung an den Betrieb, die in ihrer weitgehenden Existenzhingabe möglicherweise präfeudale Züge annehmen kann. 4. Die Substanz des Staates Die technokratische Überlegenheit des Staates ist ein Moment unserer Zeit, das auch in den freiheitlichen Staaten immer mehr fühlbar wird.
Hand in Hand damit geht ein langsames Ansteigen der Macht der Exekutive innerhalb der Staatsorganisation. Dahin drängt auch die steigende Verantwortung, die der Staat für das Wohlergehen seiner Bürger übernimmt, seine immer mehr ausgedehnte Obsorge für ihn. Die alte, den Liberalismus durchziehende Gegenüberstellung einer freien Gesellschaft und des freiheitsbeschränkenden Staates hat sich aufgelöst. Nicht minder hat die illusionäre Erwartung des Sozialismus auf die Überwindung des Staates durch eine egalitäre Gesellschaft sich als Irrtum erwiesen. Stattdessen steuert der Sozialismus heute unter dem Zeichen der Sozialisierung und der gelenkten Wirtschaft einem Etatismus zu. Auf der einen wie auf der anderen Seite fehlt heute ein klares Bild der Zukunft. Der Gegensatz des Rechtsstaates zum Wohlfahrtsstaat, wie ihn Bischof Berggrav in Hannover (1952) kennzeichnete, berührt nur einige Seiten der Frage. Im Gedanken des Rechtsstaates tritt uns das Bild des gemäßigten, in Grenzen gebannten freiheitlichen Staatswesens entgegen, wie er der westlichen Anschauung zugrundeliegt. Am Wohlfahrtsstaate hat Berggrav bedenkliche Erscheinungen kritisiert: Das Schwinden der menschlichen Verantwortung, die übermäßige Leitung durch den Staat, die Bedrohung der Freiheit. Aber gerade in der sozialen Frage haben wir noch kein klares Bild der kommenden Entwicklung. Die sozialen Ziele der neueren Zeit sind zu einem erheblichen Teile erfüllt. Wie soll es weitergehen? Nicht neue Forderungen und Verheißungen, sondern allein die Rückkehr zu einem in sich geschlossenen Bilde des Menschen können hier helfen.
Wo sind die Grundlagen des Staates? In der deutschen Entwicklung haben sie allzulange in der monarchischen Obrigkeit gelegen, und in der Forderung nach Rückkehr zu Autorität und Einigkeit wird immer wieder an dieses Vergangene und unwiederherstellbare Staatsbild appelliert. Ganz anders in der angelsächsichen Tradition, die seit dem 16. Jahrhundert im Staate einen Zusammenschluß, eine Art Vertrag sieht, zu dem die Bürger kraft freien Entschlusses zusammentreten. Dabei wird diese Staatsbildung alsbald dem höheren Gebot des natürlichen und moralischen Gesetzes unterstellt und von selbst ergeben sich in ihr die Grenzen des Staates. In Frankreich dagegen ruht der Staatsbegriff auf der Idee der nationalen Souveränität. An die Stelle der Könige ist das souveräne Volk getreten, das aller rechtlichen Schranken bar ist. Aus der radikalen Konsequenz dieser Lehre (Rousseau) können sich gefährliche Folgerungen entwickeln: Unter der Berufung auf den aktuellen Volkswillen entsteht auch die Diktatur, kann sich die totalitäre Form einer Volksdemokratie entwicklen. Denn die absolute Gewalt der Volkssouveränität kennt keine Bindungen und Grenzen mehr, sie ordnet das Individuum der Gesamtheit unter. Es ist demgegenüber die Vorstellung der Grenzen der Staatsgewalt, des gemäßigten Staates, die die westliche Welt trägt. Dort, wo in den unerschütterten Staaten der Boden gemeinsamer Überzeugungen und Werte fortbesteht, hat dieser Staat auch über dem Wechsel der jeweils regierenden Gruppen eine beständige Substanz. Wie aber steht das damit in Deutschland? Hier wird sich dieses gemeinsame Erbe, das auf Erlebnis und Tradition beruht, erst wieder neu bilden müssen.
Die geistige Situation des deutschen Staatsdenkens
1. Das Erbe Die Überlieferung des preußisch-deutschen Staatsgedankens, in der wir noch gewisse Restbestandteile lutherischer Ethik der weltlichen Herrschaft erkennen, freilich in Umformung durch die idealistische Denkweise (insbesondere Hegels) vom Staate und seiner historischen Mission, ist zu tief erschüttert und fragwürdig geworden, um einen Neubau zu tragen. Die Idee des Volkes, aus der romantischen Vorstellung von der schöpferischen Kraft der einzelnen Völker entsprungen, aber dann umgebogen zum Nationalstaatsgedanken, hat " in der Zeit nach dem ersten Weltkriege zeitweise sich an die Stelle des Staates als des Trägers geschichtsphilosophisch-spekulativer Vorstellungen gesetzt. Überhöht in einer nationalen Metaphysik, hat man die Völker als die eigentliche Grundlage der Staaten ansehen wollen, dabei die Erfahrung verkehrend, daß die meisten europäischen Nationen in der Geschichte umgekehrt durch Staatsgrenzen maßgeblich in ihrer Entstehung beeinflußt wurden. Im Geschehen der jüngsten Jahre haben aber die Staaten durch die Vertreibung von Volksgruppen ihre Überlegenheit bewiesen. Ganz zurückgetreten ist die Reichsidee, die nur noch in Restvorstellungen einer Mittlerstellung Deutschlands zwischen Ost und West fortlebt.
So sind es nicht viele bleibende Werte, die wir aus dem Niederbruch unseres Schicksals gerettet und bewahrt haben. Sehe ich recht, so sind es ihrer nur zwei: Die Freiheit, die stärker und echter als früher in ihrem Werte erkannt und erlebt wird. Nirgends ist es deutlicher geworden, was sie heute dem deutschen Volke bedeutet, als in dem Geschehnis des 17. Juni 1953. Und zweitens die Einheit. Sie ist trotz der Trennung, trotz der weltanschaulichen Linie, die mitten durch Deutschland gezogen wird, lebendig geblieben. An den Rändern freilich, etwa im Saarland, zeigt sich eine Abschwächung dieses Bewußtseins der deutschen Zusammengehörigkeit. In diesen beiden Werten, Freiheit — in die der Gedanke des Rechts einbeschlossen liegt — und Einheit liegen wohl diejenigen Grundlagen, die allein allen Deutschen heute noch als gültiges gemeinsames Fundament bewußt und lebendig sind. 2. Die soziale Frage Wenn wir uns nun dagegen nach einem Bilde der künftigen sozialen Entwicklung umsehen, das die deutschen Menschen zusammenführen könnte, so müssen wir sein Fehlen feststellen. Noch fehlt es — sehen wir von dem mehr erhaltenden Ideal des Rechtsstaates ab — an einer genaueren Vorstellung des Sozialgefüges, dem wir zustreben oder das wir verwirklichen möchten. Der Wohlfahrtsstaat ist ein umstrittenes, übrigens auch schillerndes und unklares Bild. Im Grunde beschränkt sich die sozialistische Forderung auf einzelne Fragen und auf das Verlangen nach einer bestimmten Wirtschaftsverfassung. Noch ist auf dieser Seite ein klares Bild der Ziele, die man nun anstreben soll, nicht gewonnen. Auf der anderen Seite sehen wir manche restaurativen Tendenzen. Inwieweit der „Rückzug auf die Familie“, von dem Schelsky spricht, nicht auch ein Sich-versagen vor der öffentlichen Mitarbeit, vor dem Gewinnen einer Vorstellung der sozialen Zukunft entspringt, will ich hier nicht näher untersuchen. In jedem Falle ist aber eines sicher: Einen Umriß der sozialen Gestaltung in Deutschland wird man erst gewinnen können, wenn die Sowjetzone wieder in das Gesamtgefüge eintritt. Dann werden sich hier wichtige Fragen stellen. 3. Staat, Souveränität, Europa Der Mangel einer klaren Beziehung zum eigenen Staat und seiner Zukunft kommt nicht selten häufig in einer „Flucht nach vorn“ zum Ausdruck, in einem vorbehaltlosen Sichhingeben an die Idee der europäischen gemeinsamen Zukunft, in der die einzelstaatlichen Fragen ganz aufgehen sollen. Dabei wird aber übersehen, daß die europäische Einigung notwendig eine föderalistische Struktur haben wird, daß sie daher über die Einschmelzung der fortbestehenden nationalen Traditionen in eine höhere Einheit erreicht werden wird. Das Eintreten für den europäischen Zusammenschluß enthebt daher nicht der Notwendigkeit einer Stellungnahme zum eigenen Staat. Ebensowenig kann aus der heute so eindringlich erhobenen Forderung nach Einschränkung, ja, Überwindung der staatlichen Souveränität die Bedeutungslosigkeit der einzelstaatlichen Erscheinung entnommen werden. Wenn auch die Bedeutung des einzelnen europäischen Staates in der kommenden Zeit nur mehr in einem Anteil an einem größeren Ganzen gelegen sein wird, so wird wie in einem Bundesstaate die engere nationale Beziehung zu dem einzelnen Staate nach wie vor die Grundlage des weiteren europäischen Bewußtseins bleiben. 4. Die geschichtliche Lage Deutschlands Die fehlende Beziehung zu unserem heutigen deutschen Staatsaufbau erklärt sich vor allem auch aus dem Mangel eines klaren Durchdenkens der deutschen Lage in der Gegenwart. Weithin treten restaurative Vorstellungen, Hoffnungen auf Wiederherstellung vergangener Zustände oder einfach mangelnde Bereitschaft zu realistischer Würdigung der Entwicklung an die Stelle einer Erfassung der heutigen Wirklichkeit. Hier liegen ernste Gefahren für die deutsche Entwicklung. Es gilt den eingetretenen tiefen Wandel der geschichtlichen Situation Deutschlands zu erkennen. Solche Zeiten, in denen eine ganze Epoche der Geschichte endgültig abgeschlossen erscheint, haben auch andere Völker durchlebt (England nach dem Abfall Amerikas, Schweden nach Karl XII). Es ist eine schmerzliche Aufgabe, sich für das eigene Volk in eine neue und bescheidenere Lage hineinzufinden, aber sie darf nicht verkannt oder durch einen bequemen Antibolschewismus verdeckt werden. Es ist eine Änderung in der historischen Qualität der Lage aller europäischen Staaten durch die Übermacht der beiden Weltmächte eingetreten, die es einfach anzuerkennen gilt. Nur durch eine solche Bereitschaft zu einer Neugestaltung unserer Vorstellung von der eigenen Lage und Aufgabe kann auch wieder ein Verhältnis Deutschlands zu den Völkern des europäischen Ostens gefunden werden, das heute noch hoffnungslos belastet erscheint, aber dessen Herstellung ein Gebot der Nachbarschaft und des Friedens sein wird. Nur von hier aus können auch Ideen über die Zukunft entwickelt werden, nicht aus Rückblicken in das Vergangene. 5. Ausblick Das Bild des deutschen Staates, wie es sich im Blick auf die Zukunft darstellt, kann nach innen hin nur aus den Ideen der Freiheit und des Rechtes und aus einer klareren Vorstellung des eigentlichen sozialen Zieles der Entwicklung gewonnen werden. Für das Verhältnis nach außen, zu anderen Völkern aber, kommt es namentlich auf die Einsicht in den Wandel der geschichtlichen Lage in Europa, in die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der Völker an. In dieser Richtung ist es das Verlangen nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit, das uns stärkstens bewegt. In allen diesen vor uns liegenden Aufgaben wird es auf die Entschiedenheit und die Kraft ankommen, mit der wir die Fundamente unseres politischen Lebens aus der Erfahrung heraus und aus dem Gedanken eines freiheitlichen und gemäßigten Staatsbildes zu formen und zu beleben imstande sein werden.