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Das Gesicht der Apokalypse im 20. Jahrhundert | APuZ 30/1954 | bpb.de

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APuZ 30/1954 Das Gesicht der Apokalypse im 20. Jahrhundert

Das Gesicht der Apokalypse im 20. Jahrhundert

Franklin L. Baumer

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir im folgenden den in der Zeitschrift CAHIERS D'HISTOIRE MONDIALE I, 3 (Paris: Librairie des Mridiens, Januar 1954) S. 623— 640, erschienenen Aufsatz von Franklin L. Baumer. Der Artikel wurde für die COMMISSION INTERNATIONALE POUR UNE HISTOIRE DU DEVELOPPEMENT SCIENTIFIQUE ET CULTUREL DE LHUMANITE geschrieben. „Zum ersten Male seit mehreren Jahrhunderten wird die Menschheit von dem Gedanken verfolgt, daß das En (Paris: Librairie des Mridiens, Januar 1954) S. 623— 640, erschienenen Aufsatz von Franklin L. Baumer. Der Artikel wurde für die COMMISSION INTERNATIONALE POUR UNE HISTOIRE DU DEVELOPPEMENT SCIENTIFIQUE ET CULTUREL DE LHUMANITE geschrieben. „Zum ersten Male seit mehreren Jahrhunderten wird die Menschheit von dem Gedanken verfolgt, daß das Ende der Welt möglich ist.“

Diese Feststellung traf im Jahre 1946 ein Franzose in der Eröffnungs--Sitzung der Unesco in Paris. In der gleichen Sitzung bemerkte der bekannte Schriftsteller und Kunstkritiker Andre Malraux, daß der Krieg und die auf den Krieg folgenden Ereignisse die Menschen veranlaßt hätten, ernsthaft über „den Tod Europas" 1) nachzudenken.

M. Mounier bezeichnet diese Geisteshaltung als das „apokalyptische Bewußtsein“. Bekanntlich war dieses bei den Juden in der Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft und bei den ersten Christen stark ausgeprägt. Es dürfte fast genau so bekannt sein, daß dies sich periodisch im Mittelalter, und zwar besonders im 10. und im 15. Jahrhundert, wiederholte. Es ist jedoch zumindest in den U. S. A. nicht so bekannt, daß die Europäer des 20. Jahrhunderts ihre eigene Version der Apokalypse her-vorgebracht haben: ein Phänomen, das man in der modernen Kultur sicherlich nicht erwartet hat.

Mounier und Malraux sind nicht die Einzigen, die davon Zeugnis ablegen; wenn dies der Fall wäre, würde diese Abhandlung niemals geschrieben worden sein. Es ist jedoch eine Tatsache, daß das apokalyptische Bewußtsein seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Intensität zugenommen hat, als Persönlichkeiten wie Burckhardt, Nietzsche und Dostojewski den Zusammenbruch der abendländischen Kultur voraussagten. Seit dem ersten Weltkrieg und vor allem in den letzten 10 Jahren hat es sich weit ausgebreitet. Es beeinflußt die zeitgenössische Theologie und Philosophie, die Dichtung und den Roman, die Geschichtsphilosophie und, wie man manchmal vermuten kann, sogar das astrophysikalische Denken 2). Es zeigt sich im allgemeinen Vocabularium, oftmals auch in den Buchtiteln, selbst in den Titeln der Bücher allgemeinerer Art, die nicht direkt in eine der oben angeführten Kategorien hineinpassen.

Man kann in fast jedes dieser Bücher hineinschauen und wird sicher auf apokalyptische Wendungen stoßen: „Der Zeiger der Weltenuhr bewegt sich unaufhörlich weiter bis zum 12. Schlag“ (Karl Heim); „Es war ein schöner, kalter Tag im April und die Uhren schlugen dreizehn“

(George Orwell); „Fünfundzwanzig Uhr . . . : Es ist nicht die letzte Stunde, es ist eine Stunde nach der letzten Stunde. Dies ist die abendländische Kultur im gegenwärtigen Zeitpunkt. Es ist jetzt!“ (C. Virgil Gheorghiu) 3) Zwischen dem ersten Weltkrieg und Heute prasselten Sätze wie die folgenden auf den Leser wie Hammerschläge nieder: „ ... Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß wir uns an der Schwelle der Apokalypse befinden“ (Leo Bloy, 1915); „Wir leben heute unter dem Zeichen des Zusammenbruchs der Kultur“ (Albert Schweitzer, 1923); „Man wird sich in zunehmendem Maße des drohenden Unterganges bewußt, das bedeutet die Furcht vor dem nahenden Ende alles dessen, was das Leben lebenswert macht“ (Karl Jaspers, 1932); ‘„Realitäten unserer Zeit . . . Der Untergang Europas . . . Gemetzel und Grausamkeiten, Armut, Hungersnot“ (Cyril Connolly, 1946); „Nun glaube ich aber, daß Europa dem Untergang geweiht ist, ein Kapitel in der Geschichte, das seinem Ende zugeht" („Julien Delattre" in einem Roman von Arthur Koestler, 1951); „ . . . Wir treten in eine Zeit ein, die mit den düstersten Zeiten der Menschheitsgeschichte zu vergleichen ist" (Germain Bazin, 1952) Es würde zu weit führen, hier fortzufahren. Diese Aussagen sind meines Erachtens symptomatisch für eine apokalyptische Geisteshaltung, die in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts allzusehr vorherrscht.

Man beachte die Ausdrucksweise, die überaus häufig an diesen und anderen Stellen wiederkehrt. Sie entstammt in erstaunlichem Maße der apokalyptischen Tradition. „Apokalypse", „dies i r a e , der Tag des jüngsten Gerichts", „Antichrist" — „Satan" — „Teufel“, „Eschatologie“, „Das Ende": die Bildersprache der Apokalypse ist unverkennbar. Wenn man nicht genau wüßte, daß etwas ganz anderes damit gemeint ist, könnte man versucht sein, dieser Aufzählung die von den Existenzialisten geprägten Ausdrücke hinzuzufügen — „Ekel", „Qual“, „Verlorenheit", „Verzweiflung". Nicolai Berdjajew und Arthur Koestler können als Beispiele für die verschiedenen Arten angesehen werden, in denen zeitgenössische Schriftsteller diese apokalyptische Terminologie anwenden. Für den „Religionsphilosophen" Berdjajew, der seit seiner Ausweisung aus Rußland im Jahre 1922 Europa mit seinen Büchern über die Krise der abendländischen Kultur überschwemmte, erscheint alles — Religion, Geschichte, Ethik, alle Arten der modernen Kultur — unter dem Zeichen der Apokalypse. Der Satz in seiner Autobiographie: „Es gibt eine individuelle Eschatologie und Apokalypse und eine historische Eschatologie und Apokalypse" kann gut als der Schlüssel für sein gesamtes Werk gelten. Berdjajew vertritt die Auffassung, daß das „eschatologische" Christentum im Gegensatz zum „historischen“ Christentum, das sich der Welt anpaßt und an ihr bereichert, steht — eine Ansicht, die ihn zumindest in dieser Beziehung mit der gesamten „neo-orthodoxen“ Bewegung in der protestantischen Theologie verbindet. Nach seiner Ansicht offenbart die Geschichte „eine interne Apokalypse", „ein Gericht“, und die Geschichte wird mit der Ankunft Christi enden, mit der auch jene negativen antichristlichen Mächte erscheinen, deren Höhepunkt in dem Kommen des Antichrist liegen muß — „Von den letzten Dingen. Eschatologische Ethik“ lautet die Überschrift eines ganzen Kapitels in seinem Buch über die Ethik Die Bestimmung des Me n s c h e n. Sogar Einstein's Relativitätstheorie soll eine „Art Apokalypse der modernen Physik“

sein.

In Gottes Thron steht leer bedient sich Koestler, der nicht religiös aber ebenfalls Exkommunist ist, der apokalyptischen Bilder-sprache, um das Gefühl der Spannung zu erhöhen. In dem Kapitel „Zwischenspiel“ z. B. erleben die Pariser des Jahres 195— die schlimmste Hitze und Dürre seit Menschengedenken. Den klimatischen Störungen, die die „Apokalyptiker" unter den Meteorologen begeisterten, folgten die „seltsamsten aller Epidemien seit Menschengedenken“ und „eigenartige Störungen im Rundfunkempfang und Sterne von seltsamer Gestalt sowie schartige Blitze wurden auf Milchglasscheiben der Fernsehgeräte sichtbar.“ Wer konnte sicher sein, daß zu solchen Zeiten auch die Jahreszeiten ihren gewohnten Gang nehmen? Zweifellos ist dieser Teil sehr ironisch geschrieben. Koestler verspottet nur zu offensichtlich das Auf und Ab der europäischen politischen Hoffnungen und Befürchtungen. Dort aber, wo M. Anatoles Leichenzug unter der Begleitung der Luftschutzsirenen seinen Weg durch die Straßen von Paris nimmt, hört die Ironie auf. „Die Sirenen heulten, aber niemand konnte sagen, was sie ankündigten, das Jüngste Gericht oder bloß eine neue Luftschutzübung". Als Hydie den angstvollen Ausdruck in den Augen einiger zuschauender Arbeiter bemerkte, dachte sie: „Mit solchen Augen hatten gewiß die Menschen des Mittelalters am Ende des Jahres 999 in den Himmel gestarrt und auf das Erscheinen des Kometen gewartet"

Was bedeutet nun dieses apokalyptische Bewußtsein? „Apokalypse" heißt wörtlich; eine Enthüllung oder eine Offenbarung der Zukunft. Bei den Juden und den ersten Christen zeigte sich aber auch ein tiefer Pessimismus über die Welt und die Menschheit. In der O f f e n b a r u n g des Johannes, diesem klassischen Werk der jüdischen und christlichen Apokalypse, wird das „neue Jerusalem“ erst am Ende der Welt errichtet und zwar nicht durch menschliche Werke sondern durch das Eingreifen Gottes. Überdies gehen die schrecklichsten und haarsträubendsten Ereignisse voraus, die vier apokalyptischen Reiter, Seuchen, Kriege und alle Arten von Naturkatastrophen. In diesem Sinne — im Sinne der Prophezeiungen der Offenbarung — gebrauche ich das Wort Apokalypse in dieser Abhandlung. „Apokalyptisch" bedeutet eine Gefühls-lage, die weitgehend dem entspricht, was Karl Mannheim die „utopische Mentalität“ nennt, einen Geisteszustand, der die „Zeit" oder vielmehr das, was der Mensch in der Zeit erreichen kann, in düsterem Licht sieht; der Leiden, Kampf und Tod als immerwährende Gegebenheiten des zeitlichen Lebens hinnimmt; der erkennt, daß dämonische Mächte an Kraft gewinnen und die menschliche Kultur zu überwältigen drohen — in einem Wort ein „Krisendenken".

Zwar erscheint die Version der Apokalypse des 20. Jahrhunderts, die Version, die ich in solcher Häufigkeit und in den verschiedensten Quellen entdeckt habe, selten in der gleichen Gestalt wie die frühchristliche Apokalypse. Bei einigen wenigen Theologen kann man aber tatsächlich eine wörtliche Renaissance der Prophezeiungen des Johannes feststellen: Eine Weissagung des Weitendes in wörtlichem Sinne, dem ein verstärkter Kampf zwischen Gott und Antichrist voran-geht, und dem „die Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde'folgt. Im allgemeinen jedoch bedeutet „der Tag des Herrn" entweder „das Gericht“, was Karl Barth „Krise“ nennt, Gottes Gericht über eine anthropozentrische und selbstgefällige Menschheit; oder, in säkularisierter Form, das Ende einer Kultur und der Beginn eines neuen „Mittelalters"; oder — und in diesem Sinne wird der Ausdruck am meisten gebraucht — nur als Warnung davor, was sicherlich Europa und den Europäern geschehen wird, wenn sie nicht einhalten und etwas tun, bevor es zu spät ist.

Das apokalyptische Bewußtsein, wie es hier umschrieben ist, rührt zweifellos von den Katastrophen her, die sich in der Geschichte ereigneten. So kann man in Prof. Huizinga's Herbst des Mittelalters lesen, daß Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts „das Gefühl einer allgemeinen Unsicherheit, das durch die chronische Form, die die Kriege annahmen, sowie durch die ständige Bedrohung, die von den gefährlichen Bevölkerungsschichten ausging und durch das Mißtrauen gegenüber dem Gerichtswesen verursacht wurde, sich dadurch verschlimmerte, daß die Menschheit von dem Gedanken an das kommende Weitende, der Furcht vor der Hölle, vor Hexen und Teufeln besessen war. Das Bild alles Lebens auf der Erde ist in düstere Farben getaucht“ Die Katastrophen und die apokalyptische Stimmung erscheinen Hand in Hand. Die alte jüdische und frühchristliche Apokalypse kann nur verstanden werden, wenn man sie auf dem Hintergrund von Israels verlorener Unabhängigkeit, der Verfolgungen des Antiochus Epiphanes und der römischen Kaiser in den ersten Jahrhunderten nach Christus betrachtet. In ähnlicher Weise erklärt sich das Krisendenken, das heute in Europa so vorherrscht, aus den Kriegen und Kriegsgerüchten, den Konzentrationslägern, der Tyrannei, den ökonomischen und sozialen Verschiebungen und, wie ich schon an anderer Stelle sagte, aus der „großen Maschine“, dem großen Staat, der Partei, dem Geschäft, den Gewerkschaften, den letzten militärischen Waffen, die das Individuum zur Bedeutungslosigkeit herabwürdigen Es ist ein Symptom des tatsächlichen Niedergangs, des ökonomischen und militärischen Niedergangs Europas im Vergleich zu Rußland und den U. S. A. (denn welcher Europäer oder Engländer könnte sich noch rühmen, wie Hegel sich einst rühmte,“ daß „die Weltgeschichte von Osten nach Westen wandert, denn Europa ist das absolute Ende der Geschichte, Asien der Anfang"? Berdjajew bemerkt richtig, daß „viele Menschen der eschatologischen Panik zum Opfer fallen, weil sie das Erlebnis des Untergangs eines Zeitalters nicht ertragen können, an das sie durch festgefügte Interessen, Befürchtungen und persönliche Verhaftungen gebunden sind" Aber das ist bei weitem noch nicht alles und nicht einmal das wesentlichste Merkmal. Einige der Apokalyptiker sind Exkommunisten oder Exmarxisten, einige sind Emigranten, die entweder aus eigener Wahl oder durch die Umstände gezwungen, weit von der Heimat fortgezogen sind. Letztlich aber spiegelt die Apokalypse des 20. Jahrhunderts den Schmerz und das Leiden sowie die vereitelten Hoffnungen der Völker eines ganzen Kontinents wieder, ohne sich auf eine einzelne Generation oder Nation oder Gesellschaftsklasse zu beschränken.

Ich will das Ausmaß dieses apokalyptischen Denkens nicht übertreiben. Es wäre irrig, es mit dem gesamten zeitgenössischen europäischen Geschichtsdenken zu identifizieren. Die Marxisten stellen sich z. B., obwohl sie eine Art apokalyptischer Sprache sprechen — gesteht nicht der kommunistische „Held“ in Koestler’s Roman seinen mystischen Glauben an „das Kommen der großen Umwälzung“? — eine Zukunft vor, die in keiner Weise im Sinne der christlichen Propheten apokalyptisch ist. Zweifellos teilen auch viele Schriftsteller, besonders die mit wissenschaftlicher Geisteshaltung, Bertrand Russel’s und Julian Huxley's Glauben an die Möglichkeit eines andauernden Fortschritts. Apokalyptisches Denken scheint übrigens im allgemeinen weniger chrakteristisch für die Engländer als die Kontinental-Europäer, und von den Apokalyptikern, die in dieser Abhandlung betrachtete werden, sind einige offensichtlich weniger apokalyptisch gesinnt als andere. Aber apokalyptisches Denken ist heute in Europa weit verbreitet, und es ist sicherlich eines der Zeichen, daß die Europäer in einer „Zeit der Schwierigkeiten" leben.

Da das Apokalyptische in der Geschichtsphilosophie seinen hauptsächlichen Niederschlag findet, soll nun im einzelnen aufgezeigt werden, wie die Apokalyptiker des 20. Jahrhunderts die zeitgenössische Kultur auffassen, wie sie sich über die Gegenwart Rechnung ablegen in der Sprache vergangener Ereignisse, und was sie für die Zukunft prophezeien.

Die Krankheitssymptome

Der Anfang der Offenbarung des Johannes könnte in der Tat eine Analyse des gegenwärtigen Weltzustandes sein. Johannes schreibt an die Kirche in Ephesus „Gedenke, wovon Du gefallen bist und tue Buße“. Auch die Apokalyptiker des 20. Jahrhunderts sehen nicht viel, was ihr Auge entzücken könnte, wenn sie ihre Welt überschauen. Sie sehen eine „gefallene“ Welt. Sie haben verschiedene Worte dafür — z. B. „Dekadenz“, und „Zivilisation“, die Spengler der „Kultur" gegenüberstellt —, aber sie stimmen alle darin überein, daß das Abendland aus den verschiedensten Gründen „untergeht". „Wir fühlen es ganz genau", schreibt Berjajew 1934, „daß wir in einer untergehenden Welt leben, die durch unheilbare Gegensätze auseinandergerissen wird“ Offensichtlich ist die Kurve der europäischen Selbstbelobigung steil abgefallen seit den Hoch-Zeiten der Fortschrittsapostel. Condorcet und Comte waren recht selbstgefällig, was den Zustand der abendländischen Kultur ihrer Zeit betraf; es war noch viel Arbeit zu tun, aber das Abendland, das den Geist des Aberglaubens überwunden und die wissenschaftliche Methode erfunden hatte, war nun vorwärts auf dem Wege zur Vollkommenheit. Zeitgenössische Apokalyptiker sind jedoch weit davon entfernt, darüber stolz zu sein, daß sie in Comtes wissenschaftlichem oder positivem Zeitalter leben und vergleichen ihr Zeitalter oft mit dem Abstieg und dem Fall des römischen Reiches und gebrauchen medizinische Metaphern, um seine „Krankheiten" und „Unpäßlichkeiten" zu diagnostizieren. „Zweifellos hat unsere Zeit, hohes Fieber“, schreibt Huizinga 1936. „Unser gesamter Kulturkreis“ sagt der müde Aristokrat in Gottes Thron steht leer, „leidet an Verkalkung, arteriellem Hochdruck und Verödung der Hormondrüsen“

Was sind nun die Symptome dieser abendländischen Krankheit? Bezeichnenderweise sollen die Symptome sowohl geistiger als auch kultureller Natur sein und sich mehr im menschlichen Geist und Charakter als in den institutionellen Gegebenheiten zeigen. In der Tat sehen einige Autoren die Krankheit gänzlich psychisch bedingt an. Um ein bekanntes Wort Jacques Maritains anzuführen, „die Krankheit, die die moderne Welt befallen hat, ist in erster Linie eine Krankheit der Psyche“ Allgemein wird die Krankheit jedoch als eine Mischung aus beiden Faktoren dargestellt.

Wie man erwarten kann, herrscht die geistige Diagnose bei den religiösen Autoren vor. Sowohl Katholiken als Protestanten neigen dazu, die moderne Krankheit in der sündigen Natur des Menschen zu sehen. „Das Böse“, sagt der englische Philosoph C. E. M. Joad, „ist im menschlichen Herzen endemisch vorhanden". „Man kann zwar die Meinung vertreten, daß sich das Böse in der abendländischen Kultur gegenüber dem Ende des vergangenen Jahrhunderts nicht vermehrt hat, aber man kann nicht leugnen, daß die zerstörende Wirkung des Bösen, das jetzt existiert, größer geworden ist" In einem seiner letzten Essays erzählt uns Graham Greene, daß er als Kind König SalomonsDiamanten und Marjorie Bowen's Die Viper von Mailand las. Von den beiden Büchern zog er Marjorie Bowen's vor, weil ihre bösen Charaktere dem Leben eher zu entsprechen schienen als der tugendhafte Allan Quartermain. Das Böse, sagt Greene, findet immer eine Heimat im Menschen. „Die menschliche Natur ist nicht schwarz und weiß sondern schwarz und grau. Ich las das alles in der Viper von Mailand, sah mich um und sah, daß dem so war“ Daß dem so ist, hat Greene in seinen Romanen zu zeigen versucht, dasselbe versuchen die katholischen Romane des Francois Mauriac und so versucht es die zeitgenössische protestantische Theologie. Wo die alte „liberale“ Theologie die Sünde und das Böse hinwegerklären wollte, dort belebt die neuere „Orthodoxie“ die Doktrin der Erbsünde. Karl Barth weist die thomisti-sche Analogie zwischen dem Sein und dem Seienden zurück und behauptet einen unendlichen qualitativen Unterschied zwischen der „Gerechtigkeit Gottes“ und der „Ungerechtigkeit des Menschen", der in der modernen Welt nur allzu augenfällig sei.

Das dem Menschen innewohnende Böse wird oft in einer Art, die an die frühe Apokalypse erinnert, mit dem Satan in Verbindung gebracht und sogar in ihm verkörpert. Die moderne Literatur ist voll von Hinweisen auf den Satan oder das „Dämonische" — Berdjajew's „Antichrist“, W. H. Auden's „Lügenfürst", H. G. Wells'„Antagonist“, „Belial" in Aldous Huxley's Affe und Wesen, um nur einige wenige anzuführen. Manchmal sind sie nur in übertragenem Sinne gemeint, so wenn Wells in seinem letzten Buch einen „Antagonisten“ heraufbeschwört, um die Macht in der Welt aufzuzeigen, die dem Leben und den aufbauenden Kräften entgegenzustehen scheint Gelegentlich aber, und hauptsächlich in einer neueren. Essay-Sammlung kontinentaler Europäer römisch-katholischen Glaubens, nimmt der Teufel körperliche Gestalt an, die natürlich dem menschlichen Auge nicht sichtbar aber nichtdestoweniger wirklich ist und sich auf der Suche nach Zugängen zur menschlichen Natur befindet. Einige dieser Essays gehen knapp am Manichäismus vorbei. „Niemals zuvor hatte Satan solch mächtige Mittel zu seiner Verfügung“ sagt Germain Bazin. „Luzifer scheint sich jetzt, nachdem er aus der Natur, seinem früheren Königreich, herausgetrieben wurde, im Zentrum der menschlichen Intelligenz selbst angesiedelt zu haben ..." Im allgemeinen wird Satan jedoch lediglich als Symbol des Bösen, das im Menschen endemisch vorhanden ist, dargestellt. Paul Tillich scheint den Begriff „dämonisch" in diesem Sinne zu verwenden. Das „Dämonische“, das immer in der Geschichte und insbesondere auch im Denken am Werk ist, ist die auf Verneinung, Willkür und Sinnlosigkeit zielende Kraft im Leben des Einzelmenschen und der Gesellschaft Der Dichter Auden sagt, als er vom Teufel spricht: „Du existierst nicht wirklich, bist nur ein wiederkehrender Gefühlszustand von Furcht, Unglauben und Haß, der durch mich körperliche Gestalt annimmt“

Andere Anzeichen geistiger Unsicherheit, die uns von den nichtreligiösen sowie den religiösen Apokalyptikern ad nauseam vorgehalten werden, sind Verlorenheit und Angst; eine morbide Glaubenssehnsucht ohne jede Vorstellung davon, was einen starken Glauben ausmacht; Entmenschlichung und paradoxer Weise eine extreme Extrovertiertheit. Alle diese Anzeichen gipfeln in der Furcht — „Furcht, meine guten Freunde", predigt der Erzähler in Huxley’s Affe und Wesen, „Furcht ist die eigentliche Grundlage des modernen Lebens" — sowie im Schwund der schöpferischen Energie — „wir sind ausgeblutet, physisch und geistig. Wir (Franzosen) sind in der Lage eines Blutspenders, der an Anämie stirbt“ Es würde eines ganzen Buches bedürfen, um die Nuancen der von den Apokalyptikern gebrauchten Wendungen auszuschöpfen. Joad schreibt in Dekadenz, daß die Krankheit des modernen Geistes ihren philosophischen Ausdrude in Skeptizismus und Subjektivismus finde — unter Subjektivismus versteht er die Überzeugung, daß andere „Dinge“ als unsere eigenen Empfindungen nicht existieren oder nicht erfahren werden können. Albert Schweitzer würde sagen, daß die Krankheit in einer gefährlichen Mischung von „Weltbejahung" und „Mangel an ethischen absoluten Werten" bestehe, Emil Brunner würde sie in unserer irrigen Konzeption der „Zeit" sehen.

In vielen dieser Bücher wird, wie bereits erwähnt, die Diagnose des Geistes neben eine Analyse der Kultur gestellt. In der Tat sieht die Mehrzahl beide als die zwei Seiten derselben Münze an. So glaubt Tillich, daß der „Dämonismus" sich im Kapitalismus, Nationalismus und Bolschewismus ausdrückt. Eine Liste kultureller Symptome würde auch den Faschismus einbeziehen (eine besonders tödliche Abart des Nationalismus), den Kollektivismus im allgemeinen, die kulturelle Standardisierung und Spezialisierung, sowie die „Maschine“. Dem Amerikaner fällt bei dieser Liste besonders auf, daß der Kommunismus nur als eines von vielen Zeichen der kulturellen Krankheit erscheint. Zwar vertritt der rumänische Intellektuelle Gheorghiu zweifellos einen extremen Standpunkt, wenn er Rußland lediglich als eine gegenüber den LI. S. A. und ihren westlichen Alliierten fortgeschrittenere Form der Roboter-Zivilisation auffaßt. Doch führt keiner der Apokalyptiker, nicht einmal die ehemaligen Kommunisten, die europäische Krise auf einen bloßen Kampf zwischen Ost und West zurück. Die Symptome der Krankheit, der kulturellen sowie der geistigen, sind dafür zu weit verbreitet.

Von allen kulturellen Symptomen ziehen die „Maschine" und, was Ortega y Gasset „den Aufstand der Massen" nennt, die größte Aufmerksamkeit auf sich. Fast alle Bücher enthalten Kapitel über die „Maschine". In einigen von ihnen, z. B. in Karl Jaspers DiegeistigeSituation unserer Zeit und Gheorghiuh r ist es das Hauptthema. Die „Maschine“ ist ein Symbol der Hypertrophie und der Herrschaft des • „Apparates" in der modernen Zivilisation. Sie bedeutet die „Entmenschlichung“, die Zurückführung des Individuums auf die „Art", eine „Funktion“, eine „grammatikalische Fiktion". Die seelenlosen Städte, die aufgeblähte Bürokratie, der „Insektenstaat" sind ihre institutioneilen Produkte. Psychologisch wirkt sie sich dahin aus, daß dem Einzelmenschen der Sinn für Schönheit und Wunder verloren geht, und er von der Vergeblichkeit allen Tuns überzeugt ist. Einige wenige Beispiele sollen den Komplex der Apokalyptiker in Bezug auf die „Maschine“ aufzeigen.

Moderne Technik, sagt der Schweizer Theologe Emil Brunner, bedeutet „ungezählte Millionen von Menschen zusammengepfercht in seelenlosen Riesenstädten; ein Proletariat ohne Verbindung mit der Natur, ohne häuslichen Herd oder Nachbarschaft; sie bedeutet Asphaltkultur, Uniformität und Standardisierung. Sie bedeutet Menschen, die die Maschine von Denken und Wollen entbunden hat, die ihrerseits , der Maschine'in einem vorgeschriebenen Tempo und in einer stereotypen Art zu . dienen'haben. Es bedeutet unerträglichen Lärm und Hast, Arbeitslosigkeit und Lebensunsicherheit, die Konzentration des produktiven Potentials, des Reichtums und des Prestiges in wenigen Händen oder ihre Monopolisierung durch eine Staatsbürokratie ... Es bedeutet auch die’ schnell fortschreitende Standardisierung aller nationalen Kulturen und die Ausrottung ihrer historischen Wurzeln“ Die große Revolution unserer Zeit ist nach Gheorghius Ansicht ein Aufstand der mechanischen Sklaven gegen ihre Herren. Diese Sklaven wandeln die Menschen nach ihrem Ebenbild um, sie können mit menschlicher Hilfe „die Tiere der Apokalypse werden“

Der Aufstand der Massen hat kaum weniger Aufmerksamkeit erregt als der Aufstand der mechanischen Sklaven. Das klassische Wort ist natürlich von Ortega, aber kaum einer der Apokalyptiker versäumt auf das hinzuweisen, was Joad die „Kultur der Vielen“ und Arnold Toynbee „die Proletarisierung der Kultur" nennt. „Der Aufstand der Massen“ bedeutet die sich in unserer Zeit vollziehende Machtergreifung eines neuen Typs des „Naturmenschen“, der durch seine Mißachtung von Tradition und „Prinzipien“ alles zermalmt „was anders ist, alles was hervorstechend individuell, qualifiziert und erlesen ist“ Die Faschisten und Bolschewisten sind solche „Massenmenschen“, aber auch die Wissenschaftler und Fachleute, die eine „primitive Haltung" gegenüber allem, was außerhalb ihrer Spezialgebiete liegt, einnehmen und so zu der allgemeinen Unausgeglichenheit des kulturellen Lebens beitragen, sind Massenmenschen minderen Grades.

Dies sind also die Hauptkrankheiten, an denen das Abendland jetzt leidet. Warum wurde das Abendland auf seinem Weg zur Gesundung aufgehalten und wann haben sich diese Krankheitssymptome zuerst gezeigt? Um diese Frage zu beantworten, müssen die Apokalyptiker Vergangenheit sowie Gegenwart kritisch untersuchen.

Deutung der Vergangenheit

Es gibt keine entgegengesetzteren Auffassungen der modernen europäischen Geschichte als die „Fortschrittsidee" und das apokalyptische Denken des 20. Jahrhunderts. Beide Ideen-„Schulen" betrachten die Renaissance und die Aufklärung als Wendepunkte der westlichen Geschichte. Aber die Apokalyptiker kehren das Urteil Condorcet's und Comte's um und geißeln diese Bewegungen als Vorboten nicht des Fort-schritts sondern des Untergangs der Welt. Schweitzer allerdings verherrlicht die Aufklärung und auch Arnold Toynbee glaubt, daß die abendländische Kultur, deren „Leidenszeit" in der Reformation einsetzte, sich noch einmal für kurze Zeit im 18. Jahrhundert erholte. Aber diese Varianten sind nur in der Minderzahl gegenüber der allgemeinen Ansicht, daß sich Frevel und Torheiten in der Geschichte während „dieser letzten 300 Jahre“ (einige sagen „seit Descartes") stark vermehrt haben. „Nach meiner Auffassung“, sagt der Erzvikar zu Dr. Poole in Affe und Wesen, „trug sich die Geschichte folgendermaßen zu: Jahrtausende fochten Gott und Belial einen unentschiedenen Kampf. Vor 300 Jahren begann dann die Flut plötzlich ohne Unterbrechung sich in einer Richtung zu ergießen.“ Berdjajew meint, daß die Geschichte in der Renaissance eine entgegengesetzte Richtung einschlug, die in Nietzsche und Marx ihren Höhepunkt ereichte. Der katholische Mystiker Leon Bloy verfolgt das 18. Jahrhundert mit seinem Zorn, dieses „unfaßbar oberflächliche Zeitalter", das einen „beispiellosen Tiefpunkt des französischen Geistes“ anzeigt Alle, auch Schweitzer, stimmen darin überein, daß Europa schon ungefähr in der Mitte des 19. Jahrhunderts sämtliche Krankheitssymptome aufwies, die in dem folgenden Jahrhundert sein Leben bedrohen.

Die Apokalyptiker kommen bei der Diagnose der Ursachen der europäischen Krankheit, die sich in den letzten drei Jahrhunderten stetig verschlimmerte, zu Schlußfolgerungen, die man logisch aus ihrer Analyse der Gegenwart erwarten muß. Spengler bekümmert sich bekanntlich nicht um Ursachen. Seine „Morphologie der Geschichte" stellt nur die „Tatsache" fest, daß jede Kultur durch die gleichen Perioden geht, die den Jahreszeiten oder den Menschenaltern entsprechen. Die Mehrzahl der Apokalyptiker aber läßt sich die Ursachen sehr angelegen sein. Sie wollen nicht nur wissen wie, sondern auch warum das augenblickliche Unheil heraufbeschworen wurde. Im allgemeinen postulieren sie die menschliche Freiheit, gerade die Willensfreiheit, die der spenglerische Determinismus leugnet. Der Untergang des Abendlandes soll nach ihrer Ansicht nicht unvermeidlich gewesen sein; im Gegenteil sei er nur die dialektische Folge insbesondere der Tatsache, daß sich der Mensch für die falsche Weltanschauung und das falsche Wertsystem entschieden habe. „Als ich (an meiner Kulturphilosophie) arbeitete", schreibt Schweitzer in seiner Autobiographie, „wurde mir der Zusammenhang zwischen Kultur und Weltanschauung bewußt, und ich erkannte, daß die Kulturkatastrophe von der Katastrophe der Weltanschauung her ihren Ausgang genommen hat" Damit sollen nicht die kulturellen Einflüsse einschließlich der ökonomischen Ursachen übersehen werden, aber diese Phänomene werden den Ideen des Menschen über sich und das All untergeordnet. „Alles, was den Nationen und der Menschheit als solcher geschieht“, fährt Schweitzer fort, „entspringt geistigen Ursachen, die in der vorherrschenden Weltanschauung ihre Wurzeln haben". Die Ursachen sind also nicht allein in der Kultur begründet. Sie sind primär geistigen und sekundär kulturellen Ursprungs.

Die Ausführungen des Erzvikars über die Geschichte in „Affe und Wesen" geben die allgemeine Ansicht wieder. Sie beginnen in einem trügerischen neomalthusischen Ton. „Es begann mit den Maschinen und den ersten Getreideschiffen aus der neuen Welt". „Nährung bedeutet Vermehrung" und „Begattung ergibt Bevölkerung", und die Überbevölkerung des Planeten führt zu „der neuen Hungersnot", die die nationalistischen Kriege der modernen Zeit unvermeidlich gemacht hat. Bis dahin werden geistige und seelische Ursachen nicht erwähnt. Aber der Erzvikar fährt fort, daß die Menschen von Anbeginn der industriellen Revolution durch die „Wunder ihrer eigenen Technologie so anmaßend und aufgeblasen" wurden, daß sie bald allen Wirklichkeitssinn verloren. Es ist eine historische Tatsache, so belehrt er Dr. Poole, daß „die überwiegende Mehrheit der Menschen in einer bestimmten Epoche“ sich zu einer Weltanschauung bekannte und in einer Weise handelte, die nur zu allumfassendem Elend, allgemeiner Entartung und unbegrenzter Vernichtung führen konnte“. Der Kem von Huxley's Ansicht liegt in der Bemerkung, die der Erzähler später macht: am Morgen, als die Sonne aufgeht, „wacht unser Affe noch einmal zu seinem alten Selbst und seiner persönlichen Willensfreiheit auf — um wieder einen Tag lang Unsinniges zu tun oder um sich endlich zur Selbstbesinnung zu entscheiden" So sind also weder die Maschine noch die Übervölkerung, nicht einmal Belial, die wirklichen Bösewichter des Schauspiels, sondern der Mensch selbst, der den Weg zur Zerstörung aus freier Wahl eingeschlagen hat, weil er sein „Wesen" nicht erkennt.

Keiner der Apokalyptiker bestreitet, daß kulturelle Faktoren als sekundäre Ursachen wirksam sind. Man halte sich die lange Abhandlung über „oligarchischen Kollektivismus“ in Orwells 1 9 8 4 vor Augen, in der „Emmanuel Goldstein“ das Dilemma der Welt in den Begriffen der technologischen Revolution und einer Art Klassenkampfes mit umgekehrten Vorzeichen erklärt; Ortegas Abhandlung über Bevölkerung und Erziehung; Schweitzers und Jaspers Beobachtungen über die industrielle Revolution, die sich nach ihrer Meinung zu weit entwickelt hat und damit die „Überorganisation" des öffentlichen Lebens und die Verkümmerung des seelischen Lebens nach sich gezogen hat; Brunners Kapitel über die „Technik" in seinem Werk Christenheit u nd Kultur. Die Maschine soll in unserer Zeit eine „dämonische Autonomie" angenommen haben. Die Technologie steigert die Macht des Bösen in großem Maße und setzt die abendländische Menschheit fast unerträglichen Versuchen aus oder, wie Toynbee sagen würde, stellt sie einer Bedrohung gegenüber, der seine Vorfahren in einem solchen Ausmaß niemals standzuhalten hatten. Mit anderen Worten, die einmal ausgestreute Drachensaat bringt unweigerlich bewaffnete Krieger und Blutvergießen hervor.

Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß Cadmus selbst den Gedanken faßte, die Drachensaat zu säen Auf diese Tatsache legen die meisten Apokalyptiker das Hauptgewicht. Der Keim, so sagen sie, war schon im menschlichen Geist vorhanden, bevor er sich in äußeren Erscheinungen verwirklichte. Die Bedrohung der Kultur kommt eher von innen als von außen, sie kommt, wie Schweitzer sagt, aus dem Reich der philosophischen Ideen, unter dessen Einfluß jedes Zeitalter steht und fällt.

Die neo-orthodoxe Theologie sagt dies mit aller Bestimmtheit. Brunner z. B. weist verächtlich die Theorie zurück, die die Übelstände der Gesellschaft darin sieht, daß sie sich noch nicht an den technischen Fortschritt anpassen konnte. „Nicht die Technik hat den modernen Menschen geschaffen, sagt Brunner, „sondern der moderne Mensch hat die Technik geschaffen". „Die Hypertrophie des technischen Interesses, das einen Hyperdynamismus der technischen Entwicklung nach sich zieht, ist die notwendige Folge davon, daß sich der Mensch der Welt der Dinge hingegeben hat, nachdem er sich von Gott emanzipierte" Man ist geradezu versucht zu sagen, daß für Brunner der Sündenfall nicht im Paradies begann, sondern im 17. Jahrhundert oder in der Renaissance.

Berdjajew und Tillich interpretieren die neuere Geschichte dialektisch, doch auch sie setzen die menschliche Freiheit und Entscheidung voraus. Insbesondere Berdjajew begeistert sich an der schöpferischen Kraft des Menschen. Er hält nichts von der traditionellen Theodizee, die den Menschen unter die göttliche Vorsehung stellt. Weniger noch scheint er für irgendwelche vereinfachenden Theorien über kulturellen oder ökonomi-schen Determinismus übrig zu haben. Nach Tillich’s Ansicht steht es dem Menschen frei, sich dem „Sinn“ der Geschichte zu widersetzen oder ihn zu verwirklichen. Das geschah in der Renaissance. Der Mensch riß sich von seinem religiösen Zentrum los, nach dem sich während des Mittelalters alles Leben ausgerichtet hatte, und dieser „Humanismus" lief im 19. Jahrhundert, so wie man voraussagen konnte, in seinen dialektischen Gegensatz, i. e. in „Entmenschlichung“ und seelenlosen Kollektivismus, aus

Jaspers und Schweitzer, Koestler und Joad vertreten annähernd die gleiche Ansicht. Jaspers schreibt die gegenwärtige Krise wenigstens zum Teil der Entseelung der Welt durch die Philosophen zu, die sich Jahrhunderte lang fruchtlos mit der Idee eines transzendentalen Schöpfers beschäftigten, der sowohl in als auch außerhalb der von ihm geschaffenen Welt existiert. Als Ergebnis dieses Bemühens „fühlen wir eine beispiellose Leere des Daseins" Bei Schweitzer finden die Philosophen keine Gnade. Er lobt die „Illuminati" des 18. Jahrhunderts, weil sie eine „weltbejahende Haltung" mit ethischen absoluten Werten verbanden. Im nächsten Jahrhundert habe aber die Philosophie ihre Pflicht vergessen, habe aufgehört „elementar" zu denken, und habe sich in einem solchen Ausmaß in bloß technische Probleme versenkt, daß sie die Menschen nicht mehr mit einer sinnvollen Lebensphilosophie versorgen konnte.

Joad, den man einen objektiven Idealisten nennen könnte, erklärte, daß die „Dekadenz" unausweichlich wurde, als die Philosophen und der moderne Mensch im allgemeinen sich dazu entschlossen, „sich vom Objekt abzuwenden“, i, e. aufhörten, an objektive, vom Menschen unabhängige Werte zu glauben. Jedesmal, wenn sich Ähnliches im Laufe der Geschichte ereignete, wurde der Mensch vor Stolz anmaßend und rief so das Unheil herbei, daß die Titanen in ihrem Kampf mit den Göttern befiel. Koestler, der zwar Joad's religiöse Überzeugung nicht besitzt, kommt nichtsdestoweniger zu derselben Schlußfolgerung, als er sein Sprachrohr bemerken läßt, daß „der Grund, warum Europa vor die Hunde geht, ganz einfach darin liegt, daß wir die Unwiderruflichkeit des Todes als festen Bestandteil in unser Denken übernommen haben“. „Dieser Verlust des kosmischen Bewußtseins ... hat uns ein neues Goldenes Kalb beschert: Die menschliche Gesellschaft“ der der Individualismus zum Opfer gebracht wird und die den totalen Krieg fordert.

Die Apokalyptiker weisen also sowohl die „liberale" wie die marxistische Geschichtsinterpretation des 18. Jahrhunderts zurück. Europas verhängnisvolle Lage soll grundsätzlich weder auf ein Versagen der Institutionen noch auf einen zeitweiligen Kulturstillstand zurückzuführen sein, sondern auf die Weltanschauung, zu der sich die Menschen entschieden haben. „. . . Im Geist, und insbesondere im Reich der Metaphysik und Religion wird in Wahrheit alles entschieden“ Was bedeutet das für die Zukunft? Auf die Diagnose folgt logisch die Prognose. Der apokalyptischen Prognose wollen wir uns im nächsten und letzten Abschnitt zuwenden.

Pessimistische Prognosen

Die Apokalyptiker sind sich in der Prognose nicht so einig wie in der Diagnose. Im Gegenteil nehmen sie gegenüber der Zukunft die verschiedensten Standpunkte ein, die sich von gemäßigtem Optimismus bis zu extremen Pessimismus erstrecken. Die Mehrzahl ist jedoch pessimistisch. Zumindest wenn man sie mit der „utopischen Mentalität“ des 18. und 19. Jahrhunderts vergleicht. Man kann sich nicht vorstellen, daß einer von ihnen die Ansicht von Walter Mehrings Vater teilt, der, wie sein Sohn berichtet, einen „blinden religiösen Glauben an die Aufklärung der menschlichen Spezies“ hatte, der dachte, daß „die Verbrüderung der Welt und das Recht der Selbstbestimmung des Individuums mit Hilfe der Maschine erreicht werden würde — deus ex machina“, der „überzeugt war, daß mit dem Schlage 12 in der Neujahrsnacht, die das 19. in das 20. Jahrhundert hinüberführte, auch die Stunde der intellektuellen Befreiung der Welt geschlagen hat". „Als loyaler Schüler der Aufklärung" konnte der Vater niemals geahnt haben, daß sein Sohn eines Tages Bücher aus seiner Bibliothek lesen würde „während ringsumher die Kultur zusammenbrach und der Westen kopfüber in das Finale der . Götterdämmerung'stürzte“

Zunächst wollen wir die beiden extremsten Einstellungen betrachten. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die der Ansicht des älteren Mehring am nächsten kommen. Autoren wie Bertrand Russel und Julian Huxley, die, um mit einem Titel von Russels letztem Werk zu sprechen „neue Hoffnung für unsere Welt" haben. Diese Denker sind nur in der Weise apokalyptisch gesinnt, daß sie den Ernst der gegenwärtigen Krise anerkennen. Aber die Krise kann überwunden werden, so wie viele Krisen in der Vergangenheit überwunden wurden, durch die menschliche Intelligenz und den Glauben an die Möglichkeit des Fortschritts, durch internationale Institutionen, sowie durch einen Ausgleich der Überbetonung, die das Materielle in der westlichen Zivilisation erfährt. Selbst wenn ein dritter Weltkrieg ausbrechen würde, beschwört uns Russel, „wird es nicht das Ende der Welt bedeuten; es wird eine lange

Krankheit sein aber nicht der Tod. Und es wird unsere Pflicht sein, durch noch so tiefe Finsternis hindurch die Hoffnung wach zu halten und unsere Gedanken trotz der augenblicklichen Not auf die Zukunft hin auszurichten. Diese augenblickliche Not stellt vielleicht nur die Geburtswehen der Zukunft dar“ Das andere Extrem kontrastiert in aller Schärfe mit dieser Einstellung, die noch Raum für Hoffnung läßt, es ist die „Todessehnsucht": Eine Vision der Zukunft ohne jede Hoffnung, die deshalb wünscht, die Kultur zu zerstören oder zerstören zu lassen, ohne die geringste Anstrengung zu ihrer Verteidigung zu machen. „Das Schlimmste an der ganzen Sache ist", bemerkt der amerikanische Colonel in G o 11 e s Thron steht leer, „daß man niemanden gegen seinen Willen retten kann“. „Glaubst Du wirklich, daß ein ganzer Kontinent den Willen zum Leben verlieren kann? . . . Ich will mal versuchen, Freud zu lesen, um zu erfahren, was das mit diesem Todesbazillus für eine Bewandtnis hat Jaspers hatte schon in den 30er Jahren diesen Todesbazillus entdeckt (er nennt ihn „die Lebensangst“) und auch Russel gesteht, daß er ihn in den 50er Jahren am Werk sieht. Es ist die Seite unseres Wesens, sagt er, die sich im Grunde in der vorherrschenden Stimmung der „impotenten Bestürzung“ wohl fühlt — „und so haben wir in Wahrheit garnicht den Willen, dem Unheil aus dem Weg zu gehen, und unser Seelenleben ist bis in die tiefsten Schichten in einen normalen und einen anormalen Teil aufgespalten“ Es würde eines ganzen Buches bedürfen, um die Spuren der Todessehnsucht in der neueren apokalyptischen Literatur zu verfolgen. Ich wüßte auch nicht, wie ich Spenglers These, daß jede Kultur „ihren eigenen Tod“ wie auch ihr Leben hat und daß die jüngsten Ereignisse „das Vorspiel einer Zukunft sind, durch die die Geschichte der westlichen europäischen Menschheit endgültig abgeschlossen sein wird" besser charakterisieren könnte. Wie anders als aus der Sicht der Todessehnsucht her, könnte man Bloys Freude über das Kommen „der Kosaken und des Heiligen Geistes“ oder das endlose Gerede Cyrill Connollys (sowie das der Existenzialisten) über „die Angst", von der er sich nicht frei machen kann, und die ihr historisches Gegenstück in der Neurose und Dekadenz der Welt hat, erklären. Autoren wie Auden und Koestler füllen ihre Bücher mit Menschen an, die in Angst und Beben leben und die, wie die „furchtlosen Dulder" in Gottes Thron steht leer, das Schlimmste erwarten. Selbst der große H. G. Wells wurde gegen Ende seines Lebens von dem Todesbazillus angesteckt Dieses sind nur einige wenige Beispiele eines im wesentlichen nihilistischen Zukunftsbildes, das sich seit den Ereignissen von 1917—18 stetig ausbreitet.

Die meisten Apokalyptiker halten sich zwischen den beiden Extremen. Im ganzen ist ihre Prognose aber eher pessimistisch als optimistisch. Sie setzen den menschlichen Möglichkeiten in geschiditlicher „Zeit" Grenzen. Sie sind nicht sehr zuversichtlich über die nahe Zukunft. Obwohl sie sich sträuben, Voraussagen zu machen, beschreiben sie oft in düsteren Einzelheiten, was fast in jedem Augenblick mit dem Abendland geschehen könnte, 195—, 1984 oder 2108. Das Abendland könnte Harakiri begehen — Gheorghiu’s Roman endet z. B. damit, daß die Welt wieder einmal im Kriegszustand ist und die Barbaren vor den Toren stehen. InAffeund Wesen ist der Krieg vorüber, Europa und Amerika liegen in Trümmer und für eine lange Zeitspanne gibt es nur noch Hoffnung für eine Handvoll entschlossener Menschen, den Klauen Belials zu entrinnen. Ganz gleich, ob ein Krieg ausbricht, könnte das Abendland in ein „Insekten-Stadium" (Joad) in der Art des Staates von Ozeanien in Orwells phantastischer Erzählung geraten. Es könnte in einem neuen „Mittelalter“ (Berdjajew) untertauchen, in dem die Kräfte des Nichtseins mit dem Sein um die Macht ringen. Alles dies könnte geschehen, aber es braucht nicht zu geschehen — so ist die allgemeine Ansicht. Was der Mensch zerstört, kann er auch aufbauen, obwohl es notwendig werden könnte, daß er Hilfe von höheren Mächten erflehte und auch erhielte. „Wir alle erhalten genau das zugeteilt, um was wir bitten", sagt Huxley’s Erzähler und er spricht von Zukunft und Vergangenheit.

Der Faktor, der die Apokalyptiker aber endgültig davon abhält, die Zukunft in rosigen Farben zu sehen und, wie ich hinzufügen möchte, das wahrhaft Neue in ihrer Geschichtsphilosophie, ist ihr Begriff der „Zeit". Den meisten der Gedankengänge, die in dieser Abhandlung besprochen wurden, liegt eine eschatologische Auffassung, die der Offenbarung des Johannes nahesteht, zugrunde, die im theologischen und religiösen Denken offen hervortritt. Die „modernistische Theologie", die um die Jahrhundertwende noch in Blüte stand, hatte versichert, daß Gottes „Immanenz" im Universum eine allmähliche Höherentwicklung der Menschheit und ihren möglichen Aufstieg zum Ideal der allgemeinen Brüderlichkeit verbürgte“ Die Apokalyptiker aber, die durch die Erfahrungen im 20. Jahrhundert bitter geworden sind, bestreiten, daß das Reich Gottes anders als höchstens fragmentarisch und zeitweilig in der zeitlichen Welt verwirklicht werden könnte. „Ist die Zeit vielleicht etwas, was an sich gar keinen Sinn haben kann?". Auf diese Frage, eine der Kardinalfragen der Apokalyptiker, antwortet der deutsche Theologe Karl Heim kategorisch: „Es liegt ganz einfach in der Natur der Zeit, daß alles, was in die Zeitform eintritt, nach einer kurzen Blütezeit verwelkt und veraltet, rostig, verbraucht und ausgesogen wird" Dean Inge, Karl Barth, Paul Althaus und andere lassen Ausnahmen von Heim's „realistischer" Eschatologie zu. Aber sie stimmen mit ihm überein, daß die Wahrheit über-geschichtlich ist, und daß der wahre Sinn der Geschichte jenseits der Geschichte, jenseits der „Zeit" zu suchen ist. Aus dieser Sicht heraus wird die Geschichte — die zukünftige Geschichte sowohl wie die vergangene Geschichte — zu etwas Tragischem. Berdjajew sagt in seinem ersten bedeutenden Essay über Geschichte, das 1923 veröffentlicht wurde, „der vollkommene Staat kann sich nicht innerhalb der Geschichte verwirklichen .... Die geschichtliche Erfahrung des Menschen war ein stetiges Scheitern, und es ist kein Grund ersichtlich, daß sich je daran etwas ändern könnte .... Die Bedeutung der Geschichte liegt in den Begriffen der antithetischen Prinzipien, in ihrem tragischen Kampf und schließlich ihrem entscheidenden Zusammenprall“ Letzlich wird aber das Lamm über das Tier triumphieren, so prophezeit Berdjajew in seiner Autobiographie, und das Tier wird in Fesseln geschlagen werden, nicht für die Ewigkeit sondern für die Dauer der Zeit — „denn die Hölle ist das, was in der Zeit zurückbleibt“ Die Oxforder Konferenz von 1937, die christliche Theologen aus allen Ländern vereinte, stimmte in des Russen zwiefachen Refrain ein, daß das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist, und daß die Geschichte einen unentschiedenen Kampf zwischen den Zwei Städten darstellt. Der lutherische Theologe H. D. Wendland trug der Konferenz vor, daß „jeder Schritt vorwärts in der menschlichen Herrschaft über die Welt eine neue Form des Dämonischen nach sich zieht“, und daß das völlige Auslöschen des Gegensatzes zwischen der weltlichen und geistlichen Geschichte erst am Ende der Welt erfolgen könnte. Der Katholik Christopher Dawson erklärt, daß der Kampf zwischen den Zwei Städten so alt wie die Menschheit sei „und bis zum Ende der Welt andauern müsse“ Es hat keinen Sinn, noch weitere Beispiele anzuführen, es sei denn, um zu demonstrieren, daß dieser Begriff der „Zeit" keineswegs nur den Theologen eigentümlich ist. Er findet sich vielmehr zweifellos auch in der Überzeugung des Historikers Toynbee, daß der Mensch dazu geboren ist, um Kämpfe zu bestehen, daß Leiden in Wahrheit eine Vorbedingung für das „Lernen" und den geistigen Fortschritt der Menschheit ist. Er prophezeit daher, daß Sorge und Not für die Zeitspanne andauern werden, die wir von der Zukunft überschauen können“

Trotz dieses Zeitbegriffs geben die Apokalyptiker (außer denen, die von dem Todesbazillus angesteckt sind) die Hoffnung auf die abendländische Kultur nicht vollständig auf. Eine „teilweise“ wenn auch nicht vollständige „Verwirklichung“ des Reiches Gottes wird als ständige geschichtliche Möglichkeit gesehen, und niemand darf mit der Feldarbeit aufhören, weil er weiß, daß bis zum „Ende“ das Unkraut mit dem Weizen zusammenwächst. Es wird zugestanden, daß die Zeiten schlimm sind, so schlimm, daß Joad (und andere) glauben, daß der Mensch nicht vorankommen kann „ohne daß ihm von oben Hilfe zuteil wird“ Die meisten stimmen im übrigen mit Schweitzer überein, daß die Chancen, die für eine Wiederaufrichtung der Kultur sprechen, geringer sind als je in einer der früheren Perioden des Niedergangs, und zwar deshalb, weil so viel von der Persönlichkeit des Einzelmenschen abhängt. Doch auch David gelang es, Goliath zu besiegen. Und Toynbee sagt uns, wie die Aussichten verbessert werden könnten. Er zählt drei Wege auf: In der Politik soll auf eine Weltregierung hingearbeitet werden, in der Wirtschaft soll ein Kompromiß zwischen Sozialismus und freiem Unternehmertum gefunden werden, „im geistigen Leben soll der weltliche Überbau auf religiöse Grundlage zurückgeführt werden“ Im ganzen tendieren die Apokalyptiker dahin, die äußeren Einrichtungen gering einzuschätzen, oder vielmehr billigen sie ihnen unverhältnismäßig weniger Bedeutung zu als Toynbee's drittem Weg. Dean Inge gibt in seinem letzten Buch einen Überblick über die neuere apokalyptische Literatur und bemerkt zutreffend, daß diese ihre Hoffnung für die nahe Zukunft in erster Linie auf einen Wandel des menschlichen Herzens und Geistes setzt Inge erwähnt Jaspers Die geistige Situation unserer Zeit nicht, aber dieses Werk gibt so gut wie je eines die allgemeine Über-zeugung wieder. „Die bewunderungswürdigsten Institutionen“, „die wirksamste Technik", sagt Jaspers, „können in entgegengesetzter Weise gebraucht werden. Sie sind ohne Nutzen, es sei denn, der einzelne Mensch fülle sie mit wirksamer und wertvoller Realität. Was also wirklich geschehen wird, kann nicht durch verbesserte Sachkunde modifiziert werden, sondern wird entscheidend durch das menschliche Wesen bestimmt. Ausschlaggebend ist des Menschen innere Haltung Nach Jasper's Ansicht muß der Einzelmensch das Bedürfnis haben, zur Erkenntnis seines Wesens zu gelangen, um sich so von der „Herrschaft des Apparates" zu befreien. Weniger unbestimmt als diese „Existenzphilosophie“, aber von gleicher Denkungsart, ist Schweitzers Wunsch nach einer Vereinigung von Wissen, Macht und Ethik; Aldous Huxley’s und Joad's „Wiedergeburt der Mystik"; Koestler’s „kosmische Loyalität mit einer für den Menschen des 20. Jahrhunderts annehmbaren Doktrin“, die gegebenenfalls als Bremsvorrichtung dienen könnte, die aber unglückseligerweise nicht im Laboratorium angefertigt werden kann Brunner nimmt in seinen Gifforder Vorlesungen von 1947— 48 einen ausgesprochen religiösen Standpunkt ein. Die wahre Hoffnung auf eine erträgliche Zukunft ruht nach seiner Ansicht weder auf der „Kultur“ als solcher (Wissenschaft, Technologie, Organisation) noch auf der „Illusion“ eines universellen Fortschritts, sondern auf der Neu-Orientierung des Menschen zu der Welt des Unsichtbaren hin, die „jenseits" und „über“ dieser sichtbaren Welt liegt. Es ist ein Paradoxon: Wir können das Leben in dieser Welt nur menschlicher machen „wenn wir wissen, daß es nicht unsere primäre, sondern unsere sekundäre Aufgabe ist.... Zu allen Zeiten der christlichen Geschichte haben gerade die Christen und sonstigen Menschengruppen, die nicht an den Fortschritt glaubten, am meisten zum wirklichen Fortschritt der Welt beigetragen"

So versucht also die Mehrzahl der Apokalyptiker einen mittleren Kurs zwischen extremem Pessimismus und extremem Optimismus einzuschlagen. Doch neigt sich die Waage, wie ich schon andeutete, zum Pessimismus hin — wie sollte sonst ihr „Zeit“ -Begriff, ihr Mangel an Vertrauen in die menschliche Natur und die menschlichen Einrichtungen, und bei einigen sogar ihre Todessehnsucht, gedeutet werden? Ihre Geschichtsphilosophie könnte die Philosophie der Zick-Zack-Linie genannt werden, um sie von der Philosophie des gradlinigen Fortschritts zu unterscheiden — die Zick-Zack-Linie, die von dem endlosen dialektischen Prozeß des „Göttlichen“ und „Dämonischen“ in der Geschichte Zeugnis ablegt. Es liegt viel Weisheit in dieser Philosophie. Die radikal existentielle Situation, in’ der die Europäer seit zwei Generationen leben, hat diese Menschen zu geschichtlichen Einsichten befähigt, die vielleicht weder im 18. noch im 19. Jahrhundert möglich gewesen wären; Einsichten, die begreiflicherweise zum ufbau einer ausgewogeneren, weil nüchterneren Kultur nützlich werden könnten. Aber diese Einsichten werden oft durch eine melancholische und weltmüde Stimmung beeinflußt. Wenn der Mensch hoffen kann, das „Salz“ und der „Sauerteig“ der Welt zu sein, so sollte er auch „nüchtern in seinen Erwartungen für und von dieser zeitlichen Welt sein. Er weiß, daß er die ihm durch Tod und Sünde gesetzten Grenzen nicht überschreiten kann" Diese Feststellung könnte aus der Offenbarung des Johannes stammen. Sie wurde aber von einem Theologen des 20. Jahrhunderts gemacht, der, nachdem er Zeuge schrecklicher Ereignisse geworden war, das Herannahen der vier apokalyptischen Reiter fühlt und seine Zukunftshoffnungen auf eine andere Welt setzt.

Chronologische Bibliographie ) *

1916 Leon BLOY, Au Seuil de l’Apocalypse. 1918 Oswald SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes (Deutsch). 1922 Paul ALTHAUS, Die letzten Dinge. 1923 Nikolas BERDJAJEW, Der Sinn der Geschichte (Russisch). Albert SCHWEITZER, Verfall und Wiederaufbau der Kultur (Deutsch). 1930 Karl HEIM, Die neue Welt Gottes (Deutsch). Ortega y GASSET, Der Aufstand der Massen (Spanisch). 1931 Nikolas BERDJAJEW, Die Bestimmung des Menschen (Deutsch). 1932 Karl JASPERS, Die geistige Situation der Zeit (Deutsch). 1933 Nikolas BERDJAJEW, Das Ende unseres Zeitalters (Russisch). 1935 Karl BARTH, Credo (Deutsch). 1936 J. HUIZINGA, Im Schatten von Morgen (Holländisch). Paul TILLICH, Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte (Deutsch). 1938 Das Reich Gottes und die Geschichte (Vorträge, die auf der Oxforder Konferenz Juli 1937 gehalten wurden). 1945 W. H. AUDEN, For the Time being. H. G. WELLS, Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten. 1946 Emmanuel MOUNIER, „Reflektionen über ein apokalyptisches Zeitalter“ (Französisch, erschienen in Reflektionen über unser Zeitalter, Unesco-Vorträge). PALINURUS (Cyril Connolly), Das unruhige Grab. 1947 W. H. AUDEN, Das Zeitalter der Angst. 1948 Emil BRUNNER, Christentum und Kultur. Aldous HUXLEY, Affe und Wesen. W. R. INGE, Das Ende eines Zeitalters. E. LAMPERT, Die Apokalypse der Geschichte. Arnold TOYNBEE, Kultur am Scheideweg. 1949 C. Virgil GHEORGHIU, 25 Uhr (Rumänisch). George ORWELL, 1984. 1950 Nikolas BERDJAJEW, Traum und Wirklichkeit (Russisch). 1951 Graham GREENE, Der Ausgangspunkt. Arthur KOESTLER, Gottes Thron steht leer. 1952 Satan, herausgegeben von BRUNO DE JESUS-MARIE.

Anmerkung:

Franklin L. Baumer, Universität Yale, USA, Lehrgebiet: Geschichte.

*) Die Bücher sind nur dann nicht mit deutschen Titeln angegeben, wenn sie nicht übersetzt worden sind. Die in Paranthese gesetzten Worte bedeuten die Sprache, in der das Originalwerk geschrieben wurde. Die Jahreszahl gibt das Erscheinen der ersten Auflage in der Ursprache an. Diese Bibliographie erhebt keinen Anspruch darauf, erschöpfend zu sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl Heim, Die neue Welt Gottes (London, 1930) S. 87: George Orwell, 1 9 8 4 (New York 1949), S. 3: C. Virgil Gheorghiu. 25 Uhr (New York 1950), S. 49.

  2. Leon Bloy: Brief an Jean Boussac, 27. Dezember 1915, zitiert in Lion Bloy von Albert Beguin (New York 1947) S. 231: Albert Schweitzer, Verfall und Wiederaufbau der Kultur (London 1947) S. 1; Karl Jaspers, Die geistige Situation unserer Zeit (New York 1933) S. 63; Palinuru« (Cyril Connolly), Das unruhige Grab (London 1946), S. 75; Arthur Koestler. Gottes Thron steht leer (New York 1951), S. 139; Germain Bazin, „Der Teufel in der Kunst" in Satan, herausgegeben von Bruno de Jesus-Marie (New York, 1952), S. 366.

  3. Traum und Wirklichkeit (London, 1950), S. 294.

  4. Die Bedeutung der Geschichte (London, 1936) S. 204

  5. Das Ende unseres Zeitalters (New York, 1933) S. 50

  6. Gottes Thron steht leer S. 360, 362. In Koestler’s Buch symbolisieren die Wendungen »das jüngste Gericht" und »der Komet“ „der Schatten des Neandertals", den Sieg des russischen Kommunismus über die abendländische liberale Kultur.

  7. London 1948, S. 21

  8. F. L. Baumer Hauptthemen des abendländischen Denkens (New York, 1952) S. 578.

  9. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (London 1857), S. 109

  10. Traum und Wirklichkeit, S. 296— 297

  11. Des Menschen Schicksal in der gegenwärtigen Welt (London, 1935) S. 21— 22.

  12. J. Huizinga Im Schatten von Morgen. Eine Diagnose der geistigenKrankheit unsererZeit (London, 1936) S. 37; Arthur Koestler Gottes Thron steht leer, S. 10.

  13. Die Anthropologen werden eine solche Unterscheidung zwischen „geistig" und „kulturell" wohl kaum zulassen. Ich bediene mich der Unterscheidung in dieser Abhandlung, da die meisten Apokalyptiker sie machen. „Geistig" im Unterschied zu „kulturell“ bedeutet hier die Ideen, die sich der Mensch über das Universum und die menschliche Natur macht, die aber, wie man annimmt, nicht völlig durch die Begriffe seiner Kultur ausgedrückt werden können.

  14. Der engelhafte Doktor (New York 1931) S. 109.

  15. Gut und Böse (London, 1942) S. 18. In diesem Buch beschreibt Joad seine „geistige Odyssee“, die nach seiner Ansicht für die heutige Zeit „nicht untypisch" ist.

  16. Die verlorene Kindheit und andere Essays (London. 1951) S. 16.

  17. Vgl. Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten (London, 1945) S. 12-13.

  18. Sa t a n, S. 366— 67. Vgl. auch die Ausführungen von Heinz Dietrich Wendland, Professor der Theologie an der Universität Kiel, in Das Reich Gottes und die Geschichte (London, 1938) S. 158-159; und Joad, Gut und Böse, S. 18-19.

  19. Vgl. Tillichs Essay „Das Dämonische" in Ein Beitrag zur Sinn-deutung der Geschichte (New York und London, 1936).

  20. Neujahrsbrief (London, 1941), S. 31.

  21. New York, 1948, S. 51.

  22. sagt Commanche, ein französischer Offizier, zu Hydie in Koestler’s Gottes Thron steht leer, S. 318.

  23. Christentum und Kultur, II. (New York, 1949) S. 10.

  24. 25 U h r, S. 51 ff.

  25. Ortega y Gasset, Der Auf stand der Massen (London, 1932), S. 18— 19.

  26. S. 120.

  27. Vgl. Albert Beguin. Lon B 1 o y, S. 206.

  28. Aus meinem Leben und Denken (London, 1933), S. 176.

  29. Affe und Wesen, S. 121— 128, 154— 155.

  30. Die Metapher wird nicht exakt gebraucht, denn in der Legende hat Cadmus auf Geheiß der Göttin Athene gehandelt.

  31. Christentum und Kultur, II, 4— 5.

  32. Vgl. Berdjajew, „Das Ende der Renaissance" in Das Ende unseres Zeitalters.

  33. Die geistige Situation unserer Zeit, S. 21.

  34. GottesThronsteht leer, S. 136. In dem Bild von der Kanalschleuse in Sonnenfinsternis gibt Koestler allerdings eine mehr vom Kulturellen her gesehene Analyse der abendländischen Krise.

  35. Paulus Lenz-Medoc, „Der Tod Gottes“ in Satan, S. 470.

  36. Walter Mehring, Die verlorene Bibliothek, Die Autobiographieeiner Kultur (Indianapolis und New York, 1951), S. 14, 21, 30- 31.

  37. Neue Hoffnung für unsere Welt (New York, 1951), S. 144 Vgl. auch Julian Huxley, „Eine neue Begriffsbestimmung des . Fortschritts'', in Reflektionen über unser Zeitalter, S. 327— 347.

  38. S. 130.

  39. Neue Hoffnung für unsere Welt, S. 3.

  40. Der Untergang des Abendlandes (London, 1934) I. S. 38.

  41. Leon Bloy, Au seuil de l'Apocalypse (Paris, 1916), S. 3 51; Pali-nurus (Cyril Connolly), Das unruhige Grab, S. 23, 33, 92— 93 ff.

  42. „Der Autor glaubt, daß die Welt am Ende ihrer Kräfte ist, ohne die Fähigkeit, sich wieder zu erholen. In der Vergangenheit wollte er glauben, daß der Mensch sich aus allen Verstrickungen lösen könnte und eine neue schöpferische Phase des menschlichen Lebens beginnen könnte. Doch angesichts unserer allgemeinen Unzulänglichkeit hat dieser Optimismus einem stoischen Zynismus Platz gemacht" (Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten, S. 30).

  43. A f f e u n d Wesen, S. 39.

  44. Vgl. z. B. R. J. Campbell, DieneueTheologie, (London, 1907) S. 63 ff.

  45. Die neue Welt Gottes, S. 61— 62, 74.

  46. Der Sinn der Geschichte, S. 197— 198, 204.

  47. Traum und Wirklickeit, S. 298.

  48. Vgl.

  49. „Können wir zu einem Verständnis mit Rußland kommen?“ in New York Times Magazine. 2. Dez, 1951. Vgl. auch sein Essay „Christentum und K* ultur in Kultur am Scheideweg (New York, 1948)

  50. Dekadenz, S. 419.

  51. „Wiederholt sich die Geschichte?" in Kultur am Scheideweg, S. 39.

  52. Das Ende eines Zeitalters (London, 1948), Vorwort und erstes Kapitel.

  53. Die geistige Situation unserer Zeit, S. 185.

  54. Vgl. Julien Delattre's Worte in Gottes Thron steht leer, S. 137.

  55. Christentum und Kultur, II. S. 141.

  56. Daselbst S. 142.

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