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Der theologische Standort für eine evangelische Stellungnahme zum Europaproblem | APuZ 23/1954 | bpb.de

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APuZ 23/1954 Die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als unsere Aufgabe Der theologische Standort für eine evangelische Stellungnahme zum Europaproblem

Der theologische Standort für eine evangelische Stellungnahme zum Europaproblem

Hans Asmussen

Besitzverhältnisse einschneiden und die die alte Sanktionierung des Eigentumsbegriffes vielleicht verletzen werden, nötig sind, Mir scheint es äußerst wichtig zu sein, daß wir die achtzehn Millionen Deutsche ungefähr mit diesen Überzeugungen eines Tages zurückbekommen. Wir werden dann sehen müssen, wie weit unsere Welt, die wir inzwischen aufgebaut haben, hier auch den Forderungen entspricht, mit denen sie zu uns kommen werden. Sie wissen, daß manche unter uns — ich gehöre auch zu ihnen — die allzu rasch wieder auftauchende Diskussion um die deutsche Wiederbewaffnung sehr bedauern. Ich weiß, daß in Ihrem Kreise eine ganze Anzahl ist, die mit mir der Meinung sind, es wäre unserem Volk gut gewesen, wenn die Weltgeschichte uns da eine Atempause gelassen hätte. Die Sorgen, die sich mit der raschen Wiederkehr einer Wehrmacht — wenn auch in ganz anderer Gestalt — verbinden, sind trotzdem da und müssen von uns allen geteilt werden. Ich meine damit nicht nur die politischen Sorgen, die in dem Streit um den EVG-Vertrag so viel ausgesprochen wurden, sondern auch die Sorgen hinsichtlich der geistigen Entwicklung und der innerpolitischen Entwicklung unseres Volkes.

Es bestehen in Ihrer Dienststelle, sehr ernste Bestrebungen, dafür zu sorgen, daß die neue Armee oder der deutsche Teil der Europa-Armee, wenn sie zustandekommt, nicht die Bereitschaft des deutschen Menschen, anstatt Selbstverantwortung zu übernehmen, die Verantwortung auf andere abzuschieben, fördert. Sie wollen dazu beitragen, daß auch der Kasernenhof, der Exerzierplatz, eine Gestalt und ein Leben erhalten, daß auf ihnen verantwortungsbewußte Menschen erzogen werden; daß nicht Vermassung, sondern gerade Entmassung mit Hilfe des Wehrdienstes betrieben wird. Sie werden damit einer der Sorgen begegnen, mit denen wir das Herankommen einer ner n Wehrmacht begleiten. Die andere Sorge ist die, daß eine neue Wehrmacht, die unpolitisch im Sinne der Parteipolitik sein muß, nicht Werkzeug der reaktionären, antidemokratischen Kräfte und Interessen und Tendenzen werden d a r f. Sie wird das ganz sicher nicht sein, wenn S i e sich jene Haltung der alten Freikorpsführer n i c h t zu eigen machen. Diese Haltung ist die Haltung von Landsknechten. Der Landsknecht wird Werkzeug. Aber wer in eigener Verantwortung sich auseinandersetzt mit den Fragen, Triebkräften und Bewegungen dieser Zeit, auch mit denen, die es zu bekämpfen und vor deren Bedrohung es unseren Staat zu bewahren gilt, dessen Dienst wird dann in unserer Demokratie auch nicht zu einer Gefahr werden, irgend welche rückwärts-gerichteten Kräfte zu bilden und zu stärken. Eine solche Wehrmacht würde dazu beitragen, in vermehrtem und besserem Maße in sozialer Hinsicht das zu tun, was wir tun müssen, damit eines Tages auch bei uns nicht der Kommunismus eine Quittung fürunsereVersäumnisseist.

Die folgenden Ausführungen wurden mit Genehmigung des Autors und des Herausgebers dem Werke: „Europa in evangelischer Sicht“, Evangelisches Verlagswerk, Stuttgart 1953, S. 102— 123, entnommen.

Das Problematische an Europa ist, daß aus ihm etwas werden will, und daß man doch noch nicht genau sagen kann, was es sein wird. Millionen Menschen in verschiedenen Völkern wünschen etwas, wollen etwas, empfinden etwas und können uns doch nicht genau sagen, was es eigentlich ist. Denn in der Geschichte setzt sich eher das durch, was gelebt wird, als das, was gedacht und geplant wird. Darum sollte man weniger planen, desto mehr aber in der Sorge leben, man möchte die Stunde versäumen. Denn die" reife Frucht des geschichtlich Werdenden gebietet eines Tages von uns das Pflücken. Tut man es nicht, dann verfault sie am Baum oder aber sie fällt zu Boden.

Es ist wahr: Millionen Menschen in verschiedenen Völkern und in verschiedenen Staaten wollen enger zueinander, als sie bisher beieinander lebten. Sie empfinden die staatlichen Grenzen als lebensfremd. Das Leben hat diese Grenzen bereits überholt. Aber nicht nur subjektives Empfinden, auch objektive Gewalten im europäischen Raume streben zueinander. Von diesen Gewalten geht Gefährdung für die Menschen aus, und die gemeinsame Gefahr weist solche Menschen zueinander, die sich noch gestern bis aufs Blut bekämpften. Jedoch sind auch positive Gewalten zu nennen. Wirtschaft und Technik spotten der innereuropäischen Grenzen seit langem und weisen eine größere Einheit auf, als das geltende Staatsrecht sie bieten kann. Es hat fast den Anschein, als hätte Gott einen Geist in die Menschen gegeben, der sie in Bewegung setzt. Für diese Deutung spricht, daß ihre Bewegung dem Bewußtsein vorauseilt.

Europa weist über den eisernen Vorhang hinaus. Europa auf die westliehe Seite des eisernen Vorhanges beschränken, das heißt einem Notbehelf folgen. Obgleich es aber ein Notbehelf ist, darf man sich dem nicht verschließen. Es gehört zum Westen Europas, daß es geographisch nur unvollkommen bezeichnet werden kann und politisch schon gar nicht. Mehr als die Wirtschaft, mehr als die Technik, mehr als die politische Gefährdung ist Europa eine geistige Größe, die diesseits und jenseits des eisernen Vorhanges lebendig ist. Man kann nicht recht sagen, wo ihr Einfluß im Osten sein Ende erreicht. Geographisch rechnete man Europa einmal bis zum Ural. Man sollte auch nicht zu früh aufhören, mit dieser Grenze zu rechnen; denn wenn es auch politischen Mächten gelingt, uns so weit von dem Land zu entfernen, das der Ural begrenzt, so verbindet uns dennoch mit jenem Lande mindestens eine gemeinsame geschichtliche Schuld. Hat es doch die Ideen, die man heute dort zu verwirklichen sucht und die man heute von dort als Missionsgut in alle Länder der Welt zu importieren versucht, aus eben den Ländern bezogen, die sich heute anschicken, bewußte Europäer zu werden. Ohne Europa gäbe es keinen Bolschewismus und umgekehrt gäbe es ohne den Bolschewismus das Europa-problem in seiner merkwürdig bedrängenden Form heute nicht. Europa ist also auch eine Frage der Schuld. Damit tritt zu den geographischen, politischen, wirtschaftlichen und technischen Momenten auch ein theologisches Moment.

Ist Europa eine Frage der Vergangenheit oder eine Frage der Zukunft? Das ist nicht einfach zu beantworten. Daß es auch eine Frage der Vergangenheit ist, liegt auf der Hand. Verfolgt man die europäische Geschichte, dann stößt man sehr bald auf einen der größten Gedanken, der die Menschheit jemals bewegt hat, nämlich den des christlichen Imperiums. Dieser Gedanke ist eigentlich mehr ein Glaube. Viele sagen, es sei ein Irrglaube gewesen. Das haben wir hier nicht zu untersuchen. Wohl aber müssen wir uns klar machen, daß in dem Wunsch nach einem einigen Europa ein Rest — vielleicht ein trauriger Rest — des Glaubens lebt, der Christenheit sei aufgetragen, das Ordnungszentrum der Welt zu sein. Von hier aus würde Licht fallen auf die Frage nach dem christlichen Imperium. Wer dies bedenkt, der ist davon geheilt, leichtfertig von den Vätern zu reden, die den Glauben des christlichen Imperiums gehabt und weiter getragen haben. • Damit ist aber zugleich auch die Frage nach der Zukunft gestellt. Was heute an Ordnung und an Unordnung in der bewohnten Welt uns beschäftigt, das hat seinen Ausgang genommen von dem Europa, das durch viele Jahrhunderte der Träger des Glaubens an ein christliches Imperium war. Wir müssen uns klar werden, ob Europa je zum Winkel werden kann und darf. Das heißt aber für mich: Ich muß mir klar werden, ob ich nicht verpflichtet bin, mit meinen schwachen Kräften zu tun, was ich kann, daß Europa nicht zum Winkel wird. Die übergroßen Mächte im Osten und im Westen sind nicht so groß, daß sie mich von dieser Frage dispensieren könnten. Verneine ich die Frage, dann bedeutet das, daß ich resigniere. Diese Gefahr ist besonders bei intellektuellen Menschen übergroß. Das Amt des Professors kann im Grunde immer erst post festum beginnen. Zum Konstrukteur eignet er sich schlecht. Bejahe ich die Frage, dann muß ich wissen, woher ich Recht und Pflicht nehme, einen Einsatz dafür zu wagen, daß Europa nicht zu einem Winkel wird.

Was aber bedeutet evangelische Stellungnahme?

Soll das heißen, daß ein protestantisches „Atom“ irgend eine beliebige Meinung sagt, die es sich irgendwie ausgedacht hat, was wohl Europa bedeuten könnte? Heißt es theologisch reden, wenn ein beliebiger Theologe uns sagt, welchen Raum sein eigenes theologisches System noch für Europa läßt? Wenn das das Typische an einer evangelishen Stellungnahme wäre, dann wäre es besser, wir würden unsere Stimme in dieser Sahe überhaupt niht erheben. Shon die Tatsahe, daß das Wort „Schuld" gefallen ist, bedeutet für jeden wirklih evangelishen Christen eine Bindung, denn was Shuld bedeutet, und wie Shuld getilgt wird, das kann uns selbst der beste Theologe als Privatmann niht verbindlih sagen. Die Bezeugung der Shuld und die Bezeugung ihrer Überwindung ist immer an das Dogma einer Kirhe gebunden, auh wenn man das nicht im ersten Augenblick sieht. Wenn z. B. Karl Barth politische Probleme vor allem an Hand einer theologishen Ethik zu lösen versuht, dann gibt er damit zu erkennen, daß alles Politishe, sobald man es theologish betrahtet, sih in der Frage nah dem Gesetze Gottes wie in einer Linie sammelt. Das entspricht so dem Denken und Glauben der Kirche, aus welher Barth kommt. Wir möhten vielmehr einen anderen Weg beshreiten. Denn die ethishe Frage und damit die Frage nah dem Verhältnis, in welchem das göttlihe Gesetz und die Politik zueinander stehen, kann und darf niemals die zentrale Frage sein, weil man so betrahtet der Versuhung niht entgeht, die Frage nah unserem Tun zu stellen, ehe man die Frage beantwortet hat, was Gott uns gab. Ist Europa auh nur in irgend einem Sinn Angelegenheit unserer Shuld, dann muß die christliehe Antwort sih konzentrieren auf das Zeugnis von der Vergebung. Denn in der Vergebung werden wir sowohl fertig mit der Vergangenheit — mit der Vergangenheit, die den Charakter der " Shuld besonders durch die Gabe deutlih mäht, an der diese Shuld erwahsen ist — wie auh mit der Zukunft, weil der hristlihe Weg in die Zukunft einmal in erster Linie durh die Gabe der Vergebung bezeihnet ist. Darum ist Europa im tiefsten Sinne eher Sahe unseres Glaubens, unseres Bekennens und unseres Bekenntnisses und erst insofern Sahe unseres Handelns, als daß es in erster Linie eine Sahe unseres Handelns wäre.

Damit ist aber auh shon die Grenze der Theologie in der Behandlung des Europaproblems aufgezeihnet. Denn ehe die Theologie zu der Frage der Shuld sprehen kann, ist die Shuld da, und ehe die Theologie zu der Frage der Vergebung redet, ist die Vergebung da. Beides, die Erkenntnis der Shuld und das Faktum der Vergebung, wird entweder im Handeln der Kirhe selber gefunden oder sie sind eine intellektuelle Spiegelfehterei. Wir benötigen also eines Hinsehens auf die Kirhe, auf das, was sie zur europäishen Shuld und zur Vergebung in Sahen Europas durh ihr Wesen und durh ihr Handeln zu sagen hat.

Aber was ist denn überhaupt die evangelishe Kirhe? Sheitert niht unser Unternehmen sofort daran, daß es „die" evangelishe Kirhe überhaupt niht gibt? Reden wir niht darum ins Leere, weil die evangelishe Kirhe — wenn es sie gibt — gar kein Organ hat, durh welhes sie zu reden imstande ist? Untersheidet niht gerade dies die evangelishe Kirhe von der katholishen Kirhe, daß es hier eine Unzahl von Meinungen gibt, in deren Wirrwarr evangelishe Kirhenleitungen irgendwie eine mittlere Linie zu suhen haben, während es dort nur die Stimme des Papstes gibt, der eine eindeutige Antwort bereit hat? In der Tat, so stellen sih die Dinge der Erfahrung dar, und das ist eine shwere Not für jeden, der sih evangelish nennt. Es ist auf der anderen Seite eine shwere Anfehtung für alles, was katholish ist, weil es durh das Dasein und So-Sein der vielen evangelishen Kirhen allzu leiht der irrigen Meinung verfällt, in der katholishen Kirhe sei alles von Anfang an klar, und alle Fragen seien von Anfang an gelöst. Diese Not und Shuld des evan•gelishen Kirhentums sollte man niht zu shnell übergehen.

Aber die katholishe Kirhe und ihre Glieder sind dadurh niht gerehtfertigt, daß sie einer Versuhung erliegen, die von außen an sie herankommt. Sie mögen über das evangelishe Kirhenwesen denken, was sie wollen, die eine Tugend können sie diesem Kirhenwesen niht absprehen: Es wird in ihm auh das europäishe Problem notwendigerweise mit viel größerem Einsatz durhlitten, als das in der katholishen Kirhe möglih ist. Wenn das Ärgernis, das der Bruder mir durh eine ungeistlihe Antwort auf die Frage nah Europa gibt, für ihn eine Sünde ist, so ist es für mih ein Kreuz, unter dem ih entweder zusammenbrehe, oder aber mih bewähre. Tausend Menshen im evangelishen Raume, die angesihts dieses Kreuzes sih für Europa bewähren, müßten von verständigen Katholiken als eine eminente Potenz anerkannt werden, für weihe ein katholisher Gehorsam niht leiht ein Gegengewiht aufbringen könnte.

Jedoh zeigt sih die Wihtigkeit dieser Erwägungen in beängstigender Weise in der gegenwärtigen Kirhengeshihte. Kein Mensh, der einigermaßen vernünftig denkt, kann es für einen Zufall halten, daß das Einheitsstreben Europas zeitlih zusammenfällt mit dem Einheitsstreben zunähst der evangelishen Kirhen. Was eigentlih hinter dieser Gleichzeitigkeit steckt, wage ih niht zu beurteilen. Eine Erklärung für dieses Phänomen wäre der Hinweis auf das unerhörte Leid, welhes Zerspaltenheit und Zersplitterung über die sogenannte Neuzeit gebraht haben. Es sollte mih niht wundern, wenn eines Tages sihtbar in Ersheinung treten würde, daß die großen Dulder um die Einheit der Christenheit zu gleiher Zeit die großen Akteure für die Einheit Europas waren. Ih gestehe gerne, daß ich Dulder dieser Art auh im katholishen Raum in großer Zahl und voll innerer Stärke gefunden habe.

Weite Kreise der Christenheit überhaupt, besonders aber der evangelishen Christenheit glauben — in des Wortes eigentliher Bedeutung — daß das Leben, welhes der Heilige Geist shafft, längst die gegenwärtige Form der hristlichen Kirhen gesprengt hat und sih anschickt, aus ihnen herauszushreiten. Sie haben noh keine neuen Formen: denn Formen dieser Art kann man niht konstruieren. Sie wissen auh, daß ihre theologishe Konzeption noh unzureihend ist. Aber sie wissen viel gewisser, daß das Faktum einer einigen Christenheit bereits im Werden ist, auh wenn man sih im Gehorsam noh unter die Zerspaltenheit der hristlihen Formen beugen muß. Liegen niht auf dem politishen Wege Europas die Dinge ganz ähnlih? Ist niht auh im politishen Raume das Leben längst über die staatlihe Form der europäishen Völker hinausgeshritten? Hat es niht vielleicht shon längst diese Formen verlassen? Und wenn auh die Politiker, die bewußt einem geeinigten Europa entgegeneilen, darunter leiden müssen, daß sie fertige Formen noh niht anbieten können — das ist der große Vorzug, den die Geshäftemaher und den die Parteipolitiker vor den Dienern Europas haben —, so müssen doh selbst die kleinen Geister zugeben und bezeugen es durh ihre ganze Haltung und Handlung, daß Europa das vordringlihste Problem ist.

Damit stimmt ein anderes überein. So wenig die Einheit der hristlihen Kirhen als solhe einer bestimmten Gruppe von Kirhen zuerkannt werden kann, so sehr vielmehr die Einheit der hristlihen Kirhen Europas eine Angelegenheit der Kirhen der ganzen Welt ist, so sehr ist die politishe Einheit Europas eine Angelegenheit der Politik der ganzen Welt. Keinem vernünftigen Politiker des Ostens oder des Westens fällt es bei, Europa als eine Art vergrößertes Korea anzusehen. Als der Grenzstreifen, der zwischen der östlichen und der westlichen Welt befestigt ist, gewinnt er eine Bedeutung, die weit über seine Zahlenkraft, über seine Ausdehnung und über seine Bevölkerungsziffer hinausgeht. Mag es im Augenblick für die großen Mächte der Welt vor allem ein Objekt sein, es gehört nicht viel politischer Scharfblick dazu, um zu sehen, daß dieses Objekt auch dann noch Subjekt bleibt, wenn es kaum mehr in der Lage ist, selber zu handeln, sondern es sich gefallen lassen muß, daß andere scheinbar seine Gechicke lenken.

Diese Beobachtungen gelten merkwürdigerweise wechselseitig. Die Kirchen Europas können ebenso wenig zu einer Einigung kommen ohne die Kirchen der Welt, wie die Kirchen der Welt sich finden können ohne die Kirchen Europas. So kann auch die Politik Europas sich nicht konsolidieren ohne eine Stellungnahme der gesamten Welt. Und obschon Europa ein nur kleiner Teil des Globus ist, kann die Welt politisch keine Ruhe finden, es sei denn, Europa werde politisch konsolidiert. Man sieht schon daraus, daß das Europa-Problem weder kirchlich noch staatlich ein Problem ist, welches Europa allein angeht, und daß in einer merkwürdigen Wechselwirkung alle großen politischen Fragen der Welt irgendwie auf Europa bezogen sind. Wie bedeutungsvoll das ist, sieht man an einer einzigen Beobachtung: Die jüngste englische Politik ist im positiven oder negativen Sinne Europapositik auch dann, wenn sie Entscheidungen in Indien oder im vorderen Orient trifft. Vielleicht wird bereits die kommende Generation von England sagen, daß es nicht nur in seiner Europapolitik ein Feind Europas gewesen ist, sondern noch mehr in seiner Kolonialpolitik. Die doktrinäre Haltung in der Indienfrage, in Südafrika, im vorderen Orient, im Fernen Osten, die dann doch so merkwürdig mit vordergründigen Geschäftsinteressen verwoben ist, geht nicht nur das englische Mutterland an, sondern hat seine unmittelbaren und mittelbaren Folgen für alle Länder Europas.

Hat die evangelische Kirche zum Europaproblem Stellung genommen?

Hat die Kirche denn, hat vor allem die evangelische Kirche in irgend einem Sinne so gehandelt und geredet, daß man sagen könnte, sie hätte zum Europaproblem Stellung genommen? Diese Frage verdient es, auseinandergelegt zu werden. Wenn wir sie entfalten, dann lautet die erste und vordergründigste Frage, ob man aus Wort und Haltung der evangelischen Kirche ein Bekenntnis dazu entnehmen kann, daß um Gottes willen und um der Liebe zum Nächsten willen ein Damm gegen den Osten aufgerichtet werden muß, und daß ein wesentlicher Bestandteil dieses Dammes in einem Zusammenrücken der noch freien Völker Europas besteht?

Wenn diese Frage zu bejahen ist, dann müßten wir im Raume der Christenheit und insbesondere der evangelischen Christenheit in Europa auf eine Einheitsfront der Dankbarkeit gegen Gott stoßen, dafür daß man im Westen noch ungehindert des Glaubens leben darf, dafür; daß bei uns noch in verhältnismäßig großem Maße das Recht regiert. Es müßte dankbar hingenommen werden und bejaht werden, daß man bei uns nicht mehr hungert. Wir müßten einer schmerzlichen Empfindung begegnen darüber, daß diese guten Jahre nicht besser genutzt werden, daß vielmehr das greuliche Laster der Unzufriedenheit, welches nicht geringer einzuschätzen ist als irgend ein anderes Laster, vielfach geradezu gepflegt wird, und daß man dabei weithin der Meinung lebt, die Unzufriedenheit sei ein Zeichen besonderer politischer Reife und Freiheit.

Aus dieser Dankbarkeit müßte der Wille entstehen, das zu bewahren, was uns Gott geschenkt und anvertraut hat. Es müßte auf der ganzen christlichen Front eine einhellige Abwendung sichtbar sein von der unchristlichen Schwärmerei, die es für ein Zeichen besonderer Christlichkeit hält, leichtfertig auf Gottes irdische Geschenke zu verzichten. Wenn das der Fall wäre, dann wäre damit die klare Sicht verbunden, daß wir alles verlieren, was Gott gegeben hat, wenn die Grenze des Ostens sich weiter nah dem Westen verschiebt. Wo dieser Wille nicht entsteht, da kann man mit Grund an der Dankbarkeit zweifeln, und also auch an dem Glauben, daß Gott dies alles uns täglich darreiht und gibt. Wo dieser Wille niht entsteht, da kann man mit gutem Grund auf jene intellektuelle Shwärmerei shließen, die um des theologishen Systems willen die Gaben Gottes gering ahtet und wohl gar im Stillen damit liebäugelt, wie viel besser es doh wäre, wenn die Christenheit bei uns unter ähnlihen Bedingungen leben müßte wie im Osten, da angeblich im Osten die hristlihe Situation ehter ist als im Westen, und da man also angeblih in der Not leihter glaubt, als wenn die vierte Bitte ihre Erfüllung findet. Wo der Wille ist zu erwägen, was Gott uns geschenkt und anvertraut hat, da muß es im Grunde gleichgültig sein, ob Gott uns in der Art seines Gebens demütigt, also etwa so, daß er uns diese Gaben aus überseeisher Hand zukommenläßt. Wer die vierte Bitte mit Einst betet, der nimmt diese Demütigung genau so dankbar hin wie die Gabe selbst.

Wenn man die Frage so stellt, dann muß man sagen, daß weder bei den evangelishen Kirhen Europas noh bei den evangelishen Kirchen der Welt ein einheitliher Wille in dieser Rihtung sihtbar wird. Vielmehr zerfallen die evangelishen Kirchen immer deutliher in zwei Gruppen. Während die einen immer klarer einen Zusammenschluß um Gottes willen fordern, durh den ein Damm gegen den Osten aufgerihtet wird, halten die anderen einen solhen Zusammenschluß geradezu für gefährlih und verwerflih. Diese Sheidelinie geht quer durh die Kirhen, jedoh so, daß im allgemeinen der reformierte Geist mehr dahin neigt, den europäischen Zusammenshluß abzulehnen, während der luthcrishe Einfluß mehr Verständnis für die Vereinigung Europas aufbringt. Das gilt genau so für die Kirhen Europas selbst wie auch für etwa Nordamerika.

Das hat seinen tiefen Grund. Es ist nun einmal dem reformierten Geist ein starker Teil Chiliasmus eigen. Aus diesem Grunde liegt es reformierten Geistern, sih allen politishen Bestrebungen zuzuneigen, die endlich einmal auf dieser Welt neue Verhältnisse heraufführen möchten. Selbst ein so kluger Kopf wie Karl Barth hat zweifellos mindestens vorübergehend im Bolshewismus einen Shritt zur Verwirklihung des Chiliasmus gesehen.

Innerhalb Deutshlands ist es vor allem der verständliche Wunsch nah einem einheitlihen Deutshland, der sih einer kirhlihen Willensbildung in den Weg stellt. Das ist deshalb besonders verständlih, weil es für jeden Deutshen shwer erträglih ist, Bindungen mit anderen Völkern einzugehen, wenn man niht zuerst die Brüder des eigenen Volkes in engster Verbundenheit bei sih hat. Weil nun die östlihe Propaganda zweifellos sehr viel geschickter ist als ihre westlihe Konkurrenz, merkt der Deutshe, der trotz aller seiner Tiefsinnigkeit immer noh seine Einfalt niht verloren hat, gar niht, daß er in seiner Bestrebung, Deutshland zu einen, sih vom Westen entfernt und sih dem Osten mehr nähert als ihm heilsam ist. Man sagt, man könne auf die Einheit Deutshlands zugunsten der Einheit Europas niht verzichten. Man vergißt aber im selben Augenblick, daß die Einheit Deutshlands um so länger ein unerfüllter Wunsh bleibt, je länger Europa sih in Kleinstaaterei verzettelt. Man vergißt, daß ein Westdeutshland, das in der Luft hängt, für Ostdeutschland gar nihts bedeutet und für die Länder jenseits Ostdeutschlands nihts weiter sein kann, als ein willkommenes Ziel der Expansion. Das ist desto eher der Fall, weil Amerika und England in Jalta und Teheran um eines politishen Tageszieles willen Europa bereits aufgegeben haben, um sih späterhin zu bemühen, es mit Milliarden von Dollar neu zu bauen.

Ein tieferer Einwand gegen den Zusammenshluß Europas muß schon in der Meinung gesehen werden, die Kirhe in Deutshland habe die Aufgabe, zwishen West und Ost eine Art dritte Front darzustellen. In rein doktrinärer Weise wertet man in dieser weitverbreiteten Meinung Ost und West gleich. Eine solhe Gleihwertung läßt sih dogmatish durh die Sündhaftigkeit aller Menshen ziemlih leiht begründen. Nun meint man, daß die Kirhen als dritte Front darauf verzihten müßten, sih für Europa einzusetzen. Man ist kurzsihtig genug, um niht zu sehen, daß man durh diesen Verziht der Stellungnahme bereits Partei nimmt und wiegt sih in dem Gedanken, einer hristlihen Überparteilichkeit zu dienen, indem man nur ihren Anschein erweckt, aber der einen Partei objektiv desto deutliher dient, je mehr man sih der anderen Partei angeblih aus Überparteilihkeit versagt. Wenn man sih nun vorstellt, daß diese politische Kurzsihtigkeit sih mit einem mehr oder weniger säkularen oder biblizistishen Chiliasmus vereint, wenn man sih weiter vorstellt, daß auf der politishen Ebene der bequeme Weg sehr leiht und schnell seine Freunde findet, dann kann man ermessen, wie viele Christen in Westdeutshland diesen Weg heute beshreiten. Will man die inneren Hemmungen, die in der evangelischen deutschen Christenheit gegen eine Vereinigung Europas sich geltend machen, wirklich verstehen, dann muß man ins Auge fassen, wie stark diese Hemmungen verknüpft sind mit der Vergangenheit des deutschen Protestantismus. Die Ideologie, daß Preußen berufen sei, als evangelische Vormacht das eigentliche Gegengewicht gegen Rom zu bilden, hat im Unterbewußtsein der evangelischen Kreise Deutschlands tiefe Wurzeln geschlagen. Nun ist aber Preußen als politische Macht tot. Es lebt jedoch die frühere preußische Kirche als Kirche der Altpreußischen Union. Ist es wirklich Zufall, daß jene gegen Europa gerichtete Strömung in der evangelischen Christenheit Deutschlands ihre stärkste Stütze in denjenigen Kreisen hat, welche die Altpreußische Union unter allen Umständen erhalten, wenn notwendig wieder aufrichten und nach Möglichkeit stärken wollen?

Das heilige römische Reich deutscher Nation hatte eine Ausrichtung von Norden nach Süden. Preußen hatte von seinen Anfängen an eine Ost-Westrichtung. Das ursprüngliche Preußen war mindestens der Bevölkerung nach mehr slawisch als germanisch. Die Annektion Schlesiens hat die grundsätzliche Ost-Westrichtung niemals wirklich überwinden können, auch wenn Schlesien bis in den zweiten Weltkrieg hinein noch starke Verbindungen in alte Habsburgische Lande hatte. Es war Preußen niemals geeignet, ein Gebilde zu sein, welches wesentlich europäisch ausgerichtet war. Man müßte den Einflüssen, die unbewußt aus der alten Zeit zu uns herüberkommen, noch sorgfältig nachdenken, um die feinen Fäden zu entdecken, welche den alten preußischen Gedanken mit jener Theorie des Brückenschlagens zwischen Ost und West, welcher heute die evangelische Christenheit Deutschlands so verwirrt, richtig werten und einschätzen zu können.

Unsere erste Frage kann also nur sehr bedingt bejaht werden. Die Kirchen evangelischen Bekenntnisses, besonders in Westdeutschland sind durchaus nicht eindeutig gewillt, das übernommene Gut Europas als Aufgabe für die Zukunft auf sich zu nehmen.

Haben die evangelischen Kirchen ein historisches Erbe?

Unsere zweite Frage lautet: Haben die evangelischen Kirchen ein historisches Erbe, welches Europa heißt, und wissen sie um dieses Erbe?

Kann denn die Kirche überhaupt ein Erbe haben und kann dieses Erbe im eigentlichen geistlichen Sinn für eine Kirche relevant sein? Lebt nicht eine lebendige Kirche allein von dem hier und dort sich vollziehenden Ereignis, in welchem das Wort Gottes wie ein Blitz in das Geschehen, das wir Geschichte nennen, einschlägt? Ist nicht alles, was wir kirchlich als Erbe bezeichnen könnten, im Grunde schon der erstorbenen Lava gleich, welche die Kraft verloren hat, die dem Strom der glühenden Fluten eigen ist? Diese Fragen reichen bis in die Tiefen des kirchlichen Lebens und bis in die Tiefen der Theologie. Die Kirche wird nie ein richtiges Verhältnis zu Europa gewinnen, wenn sie nicht um ihr Erbe weiß, ohne dabei zu vergessen, wie viel an dem Ereignis des blitzartig geschehenden Worte Gottes liegt.

Es gibt keinen Glauben an Christus, der diesen nicht als den Sohn Abrahams und Davids sieht. Denn Jesus Christus ist auch als Mensch nicht ein Irgendwer, sondern er hat seinen geschichtlichen Ort, welcher nicht vertauscht werden kann. Er kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel und kam doch zu gleicher Zeit als der Erbe einer Tradition, die von Abraham her sich im Schrifttum des alten Testaments verfolgen läßt. Wenn man freilich diese ganze Tradition als unwesentlich abtut, wozu der moderne Protestantismus aus Gründen der Textkritik und der Religionsgeschichte geneigt ist, dann hat es nur einen Scheinwert, wenn man in ihm den Sohn Gottes sieht. Denn er darf ja nicht dahin mißverstanden werden, als wäre er ein Gott, der unter den Menschen wandelt. Er ist vielmehr ein Gott, der ein wirklicher Mensch geworden ist, und zwar ein Mensch, den man bezeichnen kann. Diese Zusammenhänge sieht man sehr deutlich im 9. Kapitel des Römerbriefes, wo der Apostel von der Erbschaft des Volkes Israel spricht. Hier spricht er auch denen, welche nicht glauben, als Erbe den Gottesdienst zu, die Testamente, die Verheißungen und die Väter aller Generationen, und fügt ausdrücklich hinzu, daß aus diesem Erbe Jesus Christus entsprossen sei. Ich halte es für außerordentlich bezeichnend, daß jene Theologie, die den Hintergrund jener Gleichgültigkeit gegenüber Europa in der evangelischen Kirche bildet, gerade auch an diesem Orte der theologischen Besinnung sich als sehr fragwürdig erweist. Gerne spricht sie davon, daß das Wort Fleisch geworden sei, aber sie versteht das nicht so sehr in dem Sinne, daß das ewige Wort Gottes sich in einem bestimmten Menschen mit der menschlichen Natur vereinigt habe. Sie meint vielmehr dabei kaum mehr als das, daß ewige Wahrheiten in menschlicher Sprache ausgesprochen werden. Aus diesem Grunde muß man ihr gegenüber den Verdacht hegen, daß sie den Sohn Gottes nach dem Fleisch gar nicht erkennt, und bekommt einen Begriff davon, weshalb sie glaubt, von seiner Geschichte weithin absehen zu können.

Bedeutet also die Verleugnung eines bestimmten geschichtlichen Erbes der Kirche im Grunde die Leugnung der Wahrheit, daß Jesus Christus im Fleische erschienen ist, dann liegt ein ganz hohes Gewicht darauf, ob eine Kirche um ihr geschichtliches Erbe weiß. Sie kann nur als die Kirche von gestern die Kirche von heute sein und hat nur so die Verheißung, daß sie in Ewigkeit dieselbe ist. Wir haben es demnach mit einem fundamental christlichen Problem zu tun, wenn wir die Frage nach dem kirchlichen Erbe stellen. Wie wir uns demnach zu Europa einstellen, hängt nicht so sehr von unserer geschichtlichen Konzeption oder aber von unserer politischen Einstellung ab, sondern davon, wie wir uns als Kirche glauben.

Haben die Kirchen ein geschichtliches Erbe, dann bedeutet das auch, daß sie mit Verantwortungen aus der Geschichte belastet sind. Denn jede neue Generation tritt in Aufgaben ein, die sie zu Ende führen muß, obgleich sie diese Aufgaben selber nicht gestellt und ihre Lösung nicht selber begonnen hat. Darum ist immer für die Söhne das, was die Väter taten und redeten, einer Rechnung gleich, die sie bezahlen müssen. Es ist ein Irrtum, wenn man annimmt, daß jede Generation wieder beim Neuen Testament beginnen kann, als sei inzwischen nichts geschehen. Nur wenigen wird es vergönnt, wirklich neue Fragen zu stellen. Die meisten Generationen befinden sich in einem Abwicklungsgeschäft. Wer die letzten beiden Jahrzehnte kirchlich bewußt miterlebt hat, wird unter dem Eindrude stehen, wie verwunderlich es ist, daß eine Theologengeneration, die nur noch so sehr mit Vorbehalt die Antworten ihrer reformatorischen Väter für richtig hält, sich dennoch von den Fragestellungen nicht lösen kann, die damals entstanden sind. Wenn man aber dem näher nachdenkt, dann sieht man, daß unsere Verantwortung konkret beinahe in grauer Vorzeit ihren Anfang nahm. Von woher eine Provinzialkirche vor tausend und mehr Jahren missioniert worden ist, wer ihre Missionare waren, welchen Rhythmus damals das Leben der Kirche bekommen hat, das alles macht sich für den Kundigen heute noch geltend. Man nehme nur einen verhältnismäßig so kleinen Nebenwinkel wie die skandinavischen Länder! Wie ausgeprägt verschieden sind die Verantwortungen der dänischen, der norwegischen, der schwedischen, der finnischen Kirche! Nur Doktrinäre und Schwärmer können diese Unterschiede vergessen. Gewiß handelt es sich in allen Fällen um dasselbe Evangelium, aber ebenso gewiß ist die Möglichkeit sich zu ärgern und darum die Möglichkeit zu glauben für jeden immer eine besondere konkrete Möglichkeit.

Nun aber ist das kirchliche Erbe niemals rein kirchlich bestimmt. Gewiß kann und muß man die kirchliche Erbschaft auch für sich betrachten. Wir werden das auch noch tun; aber zunächst tritt uns die Erbschaft entgegen in einer Verflochtenheit mit einem politischen Erbe. Niemand kann die Reformation abstrahieren von den politischen Ereignissen des sechzehnten Jahrhunderts. Daß es dennoch so häufig geschieht, ist einer der wesentlichen Gründe für die immer wieder auftretende Verfälschung der Reformation. Wir leiden noch heute als Kirchen unter Philipp von Hessen und Friedrich von Sachsen und unter den Magistraten der freien Städte. Die Haltung der evangelischen Christenheit in den Befreiungskriegen ist von dem damaligen politischen Geschehen nicht abzutrennen. Sie gab in ihrer Verflochtenheit mit der Politik den evangelischen Kirchen ein ganz bestimmtes Gepräge, das vor allem die preußischen Kirchen noch heute an sich tragen, um es irrigerweise für das eigentlich Reformatorische an ihnen zu halten. Der Übertritt der Hohenzollern zur reformierten Kirche belastet uns noch heute. So können wir die Dinge von alten Tagen her bis heute verfolgen. Wir werden überall beobachten, daß die Geschichte Deutschlands und die Geschichte Europas nicht ohne die Kirchen ist, daß aber umgekehrt auch die Geschichte der Kirchen nicht ohne die Geschichte Europas ist. Wir sollten heute dafür besonderes Verständnis haben, nachdem am Ende des letzten Krieges die Schuldfrage aufgerollt worden ist. Darin hat Karl Barth ganz recht, daß er die Linie von 1945 bis zu Armin dem Cherusker zurückverfolgte, sein Fehler lag nur darin, daß alle diejenigen, denen er ein Schuldbekenntnis zumutete, seine politischen und theologischen Gegner waren. Im übrigen aber stehen tatsächlich Staat und Kirche in Europa in einer gemeinsamen Verflochtenheit der Verantwortung, und diese Verflochtenheit ist es, die erst eigentlich das ausmacht, was wir Europa heißen.

Europa ohne christliche Kirche nicht Europa Von dieser Verantwortung kann nun allerdings nur darum die Rede sein, weil sie gleichzeitig auf einer gemeinsamen Begabung mit Segen beruht. Zu diesem Segen muß sich die Kirche bekennen und sie muß die Staaten an diesen Segen erinnern, weil aus ihm erst weithin die besondere Verantwortung der Staaten folgt. Muß ich erst all den Segen andeuten, den Europa als Gemeinschaft von Völkern und Staaten den christlichen Kirchen verdankt? Die Dinge liegen doch offenbar zu klar am Tage, als daß man darüber erst viele Worte machen müßte. Man kann nicht scharf genug aussprechen, daß bis in die neueste Zeit Europa ohne die christlichen Kirchen nicht Europa wäre. Aber man darf auch umgekehrt nicht verschweigen, daß die Kirchen den europäischen Völkern, in denen sie lebten, Unendliches verdanken. Der konkrete Segen Gottes an sie erging so, daß er die Kirchen in bestimmten Völkern errichten ließ und in diesen Völkern den Segen darreichte. Die christlichen Kirchen in Europa sind ohne das Griechische, Lateinische und Deutsche nichtvorstellbar. Mit diesen Sprachen aber verbindet sich eine beachtliche Begabung durch Charaktereigenschaften und Kräfte und Möglichkeiten, wie denn ja jede Sprache mit solchen Eigenschaften, Kräften und Möglichkeiten verbunden ist. Sollte jemand diese Feststellung als „natürliche" Theologie brandmarken wollen, dann würde ich ihm die Gegenfrage nicht ersparen können, ob nicht das Absehen von diesen Verbindungen unnatürliche Theologie ist und ob wirklich unnatürliche Theologie Gott wohlgefälliger ist als natürliche.

Nun ist es anfechtungsreich, daß Schuld und Segen in ihrer gegenseitigen Beziehung zwischen den Kirchen und den Völken nicht eindeutig ist. Jede Segnung in der Geschichte muß als solche geglaubt werden, schon deshalb, weil die Menschen alles tun, um den Segen mit ihren eigenen schmutzigen Händen unrein zu machen. Die Heidenmission, die in ihrer modernen Epoche von Europa ausging, ist als historische Erscheinung nicht abtrennbar von der Kolonisierung, die Europa vielfach so getrieben hat, daß Europäer sich dessen schämen müssen. Bibel und Kattun sind in der Missionsgeschichte des 19. Jahrhunderts ebenso nahe beieinander, wie im 12. und 13. Jahrhundert im europäischen Osten die Taufe und der russische Zobelpelz. Anfechtungsreich werden diese Beziehungen dadurch, weil es nicht möglich ist, die unlauteren Begleiterscheinungen der Mission in Politik und Wirtschaft sauber zu trennen. Missionsgeschichte und Kirchengeschichte sind nicht nur erbaulich, sie bereiten auch Anfechtung. Darum kann auch der Segen immer so verstanden werden, daß er nur als eine angenehme Folgeerscheinung menschlicher Eigenschaften erscheint. Geschichtswissenschaft im strengen Sinne kann niemals feststellen, was eigentlich Segen ist. Sie kann aber auch niemals feststellen, was vor Gott eigentlich Schuld ist. Beides ist Sache der Verkündigung.

Jedoch würden wir einen Irrweg beschreiten, wenn wir diese Erscheinungen dialektisch verstehen wollten. Wir verdanken der dialektischen Theologie viel. Es wird aber Zeit, daß wir ihre Grenzen sehen. Eine ihrer Grenzen ist diese, daß sie uns den Blick verschleiert hat für das Große, was Gott unter den Menschen tut, und es uns gleichsam verbietet, auf bestimmte Erscheinungen zu deuten und von ihnen zu bekennen, sie seien eine Segenstat Gottes. Mit der Schuld hält sie es nicht viel anders. Denn dialektisch von Schuld reden, das heißt letzten Endes, der Schuld den Stachel nehmen. Weil für dialektische Theologie Gericht und Gnade nur zwei Seiten derselben Sache sind, darum hört das Gericht auf, wirkliches Gericht zu sein, und die Gnade verliert ihren Trost.

Unsere zweite Frage ist also dahin zu beantworten: Die Kirche in Europa hat ein gemeinsames Erbe, das sie verpflichtet. Aber infolge der herrschenden Theologie ist das Bekenntnis zu diesem Erbe nur sehr zögernd.

Der Weg durch die Geschichte ist kein zufälliger Weg Unsere dritte Frage lautet: Kann man von einem bestimmten kirchlichen Erbe reden, welches die Kirchen Europas verpflichtet?

Es wird niemand bestreiten, daß in der Geschichte der europäischen Kirchen ein Erbe gefunden wird, welches diese Kirchen verpflichtet. Wohl aber ist es unerläßlich, auf eine Reihe von Eigenschaften dieses Erbes aufmerksam zu machen, weil erst so deutlich wird, welches die besondere Einstellung der Kirchen zu Europa sein muß. Wir können unsere Frage so formulieren: Ist es für die christlichen Kirchen entscheidend, daß ihre Geschichte sich wesentlich gerade im europäischen Raume abspiclte? Gewiß wird kein Vernünftiger die Frage so verstehen, ob auch in einem anderen Raume christliche Kirchengeschichte so möglich gewesen wäre. Sollte diese Frage dennoch gestellt werden, so wäre darauf zu verweisen, daß Gott gerade diesen Weg seiner Kirche durch die Geschichte erwählt hat; und damit wäre wohl alles gesagt, was auf diese Frage geantwortet werden könnte.

Wenn aber diese Antwort wirklich anerkannt wird, daß der Weg der Kirche im europäischen Raum für sie wesentlich war, dann wird damit zugegeben, daß der Weg durch die Geschichte kein zufälliger Weg ist. Denn dann beruhte dieser Weg auf Gottes Erwählung, und dann betrifft die Erwählung auch den Boden, auf welchem dieser Weg beschritten wurde. Wir haben zwar in der Geschichte der christlichen Kirche auch von solchen Ereignissen zu reden, in welchem Gott seine Hand zurückzog, so daß Länder, die ehemals blühend christlich waren, jetzt als Wüsteneien daliegen. Daß Gott Ähnliches auch mit Europa vorhaben kann, liegt auf der Hand. Aber damit ist nicht gesagt, daß wir die Freiheit haben, der bisher noch wirksamen Erwählung Gottes bestimmter Länder gleichgültig gegenüber zu stehen. Gott hat nun einmal mindestens die westeuropäischen Länder noch gewählt, daß in ihnen das Evangelium eine Heimat haben soll. Wir sind vor die Entscheidung gestellt, ob wir das anerkennen wollen. Wir haben meistens diese Entscheidung schon vollzogen, wenn es auch nicht im Sinne der herrschenden Theologie ist, das offen auszusprechen. Wir reden von einer evangelischen Kirche in Deutschland und halten den Zusatz „in Deutschland" durchaus nicht für unwesentlich. Mindestens in demselben Sinne ist für die christlichen Kirchen wesentlich, daß sie durch mehr als 1500 Jahre vor allem im europäischen Westen litten und lehrten und Gaben austeilten. Es ist ein historisches Faktum, daß seit anderthalb Jahrtausenden in außereuropäischen Kirchen solche Fragen nicht aufgetaucht sind, die für das Leben der Kirche entscheidend sind. Wir müssen endlich von dem Irrweg lassen, daß wir die Ökumene wohl in der Weite der Gegenwart zu sehen uns bemühen, aber nicht in ihrer langen Geschichte, geschweige denn in ihrer Höhe. Die Kirche ist nicht im leeren Raum, sondern ist als der Leib Jesu Christi ein wirklicher irdischer Leib, und darum auch von Räumen und Zeiten nicht zu trennen. Wir wissen wohl unendlich viel Kirchengeschichte, kaum einer kann überhaupt noch übersehen, was gewußt werden kann. Unser Fehler ist aber, daß unsere Väter uns nicht mehr Anlaß geistlicher Bindung und gottesdienstlichen Dankens sind. Ein unverbindlicher Historismus hat über die gottesdienstliche Wirksamkeit gesiegt.

Mit der Reformation werden die Dinge schwierig. Bis dahin gab es trotz mancherlei Spannungen im heutigen Europa nur eine Kirche. Die Reformation bezeichnet die Spaltung dieser Kirche. Aber nicht nur das! Es beginnt zu gleicher Zeit auch das Zeitalter der Kolonisierung und Missionierung. Damit aber weitet sich der Kirchenaspekt über Europa hinaus, und zwar für alle Konfessionen. Es ergibt sich damit die doppelte Frage, ob nun auch noch die lutherische Kirche Recht und Pflicht hat, sich gebunden zu wissen an die früheren christlichen Jahrhunderte, und ob die Christenheit jenseits der Meere noch eine Bindung an Europa hat. Denn das ist sicher: Die Zersplitterung der Kirche ist nicht nur ein kirchen-historisches, sondern ein weltpolitisches Ereignis, Europa leidet nicht minder an dem Zerfall der Einheit der Kirche als die Kirchen selber.

Zunächst muß eindeutig gesagt werden, daß die evangelischen Kirchen sich selber aufgeben würden, wenn sie ihre Bindung an die vorreformatorische Kirche gering achten wollten. Sie machen sich damit selber zur Sekte und verleugnen praktisch den Glauben an die heilige katholische Kirche. Weiter ist zu sagen, daß die Entstehung der evangelischen Kirche derartig eng mit der Geschichte einzelner europäischer Machtgruppen verbunden ist, daß von Reformation als einem einseitig kirchlichen Verhältnis überhaupt nicht die Rede sein kann. Wir müssen uns grundsätzlich abgewöhnen, die Reformation so zu betrachten, als ob sie nicht mitten in der Geistesgeschichte und Staatengeschichte des 16. Jahrhunderts geschehen wäre. Man kann es zwar verstehen, daß sowohl Katholiken wie Evangelische davon nicht gerne hören. Denn es bedeutet eine Last und eine Verantwortung, wenn die Spaltung der Kirche in der ganzen Schwere der Verworrenheit mit politischen Ereignissen gesehen wird. Rechnet man das reformatorische Zeitalter bis nach Cromwell, wofür vieles spricht, dann steht auch England ganz und gar in dieser Verworrenheit und ist nur aus ihr zu begreifen. Wenn man in unseren Tagen häufig die These hört, das Gesicht Europas sei nur aus seinen nationalen und sozialen Bedingtheiten zu begreifen, so ist das einfach eine historische Unrichtigkeit. Es gehört geradezu zu den Wesensmerkmalen dieses Europas und seiner Kirchen, daß eine ständige Wechselwirkung zwischen dem nationalen und sozialen Gedanken einerseits und den kirchlichen Richtungen andererseits bestanden hat und daß wiederum diese Verflochtenheit nur begreiflich ist, wenn man in die vorreformatorische Zeit zurückgeht. Die Reformation und die Gegenreformation lösen Europa nicht auf, sondern konsolidieren es erst, denn erst dies so konsolidierte Europa konnte zu der Weltmacht werden, die es tatsächlich geworden ist.

Damit sind wir aber schon bei der nachreformatorischen Geschichte. Wenn man als eines der Wesensmerkmale des heutigen Europas seine Säkularisierung ansieht — und wer wollte das nicht tun —, dann müßte man, um diese Säkularisierung zu begreifen, die christlichen Kirchen und ihre Irrwege ins Auge fassen, und zwar besonders die christlichen Kirchen in Europa. Es gibt keine europäische Philosophie, die man ohne Theologie begreifen könnte. Das gilt vom Marxismus, das gilt aber auch von den Ideen der französischen Revolution und von der Philosophie Kants. Seitdem Jesus Christus wirklich in das Fleisch gekommen ist, muß sich alles Fleisch mit ihm auscinandersetzen, und alle Worte, die ernsthaft auf der Erde gesprochen werden, müssen zu seinem Wort ja oder nein sagen. Es ist ein Nonsens, den kommunistischen Atheismus wirklich atheistisch begreifen zu wollen. Nur wer ihn antichristlich nimmt, hat Aussicht, ihn ganz zu verstehen. So ist denn die Verworrenheit des heutigen Euopas nicht nur ein Zeichen sinkenden kirchlichen Einflusses — man kann im Zweifel sein, ob dieser Einfluß wirklich sinkt —, sondern auch ein Zeichen einer Wechselwirkung der Unchristlichkeit und der Christlichkeit, ein Mahnmal der Verfälschung des Christlichen, eine Erinnerung des dauernden Mißverständnisses alles Christlichen, wobei es dann freilich ein Wunder bleibt, daß es angesichts dieser Situation noch Christliches gibt. Ja, es bleibt ein Wunder, daß das Anti-Christliche und die christliche Verfälschung nur vom Christentum aus erklärt werden können.

Nun ist es von entscheidender Bedeutung, daß man die überseeischen Kirchen ausnahmslos in diesem Zusammenhang sehen muß. Freilich gibt es außereuropäische Kirchen, die nicht wesentlich von diesem Zusammenhang berührt sind. Dazu wäre etwa die Koptische und die Abessinische Kirche zu rechnen. Man braucht aber das nur auszusprechen, um zu sehen wie die Dinge liegen. Alle amerikanischen und australischen Kirchen und alle Missionskirchen können sich selber nur von Europa her ganz begreifen Sie haben gewiß recht, wenn sie in unseren Tagen versuchen, das ihnen Eigentümliche ans Licht zu ziehen. Kein Mensch wird es ihnen verwehren, diese Eigentümlichkeit zu pflegen, wie sie ihnen aus ihrer nicht europäischen Geschichte zuwächst. Man möchte aber heute manchmal warnend den Finger erheben, um darauf aufmerksam zu machen, daß die Freudigkeit der Emanzipation nicht ohne Bedenken ist. Es ist mir nicht unbekannt, daß viele Freikirchen die Meinung vertreten, sie hätten ein unmittelbares Verhältnis zur LIrgemeinde. Das ist aber ein Irrtum. Man kann die Quäker zum Beispiel nicht begreifen, wenn man sie nicht im Rahmen der gesamten Christenheit begreift.

Lind hierin sehe ich nun den eigentlichen und tiefsten Grund für die überwältigende Hilfsbereitschaft, welche die nichteuropäischen Kirchen nach dem Kriege an den Tag legten. Wenn der Apostel Paulus vom Ehemann sagt, daß der, der sein Weib liebe, sein eigen Fleisch liebt, so könnte man das abgewandelt von den Kirchen in Übersee sagen. Ihre Liebe zu ihren Heimatkirchen ist durch Humanität nicht zu erklären, sondern nur aus den tiefen und unzerreißbaren Banden, welche das Kind mit der Mutter verbinden. Auch ein Kind, welches jede Verbindung mit seiner Mutter löst, bleibt mit seiner Mutter verbunden, wenn auch gegen seinen Willen. So ist die Hilfsbereitschaft überseeischer Kirchen nach 1945 sehr viel tiefer verankert als im Bewußten.

Diese Erkenntnis gibt auch der ökumenischen Arbeit ihre besondere Note. Wie in der katholischen Kirche nicht alle Bistümer auf einer Ebene nebeneinander stehen, weil der römische Bischof als der Höchste erachtet wird, so könnte und dürfte in einer Ökumene, die nicht römisch-katholisch ist, nicht der Irrtum aufkommen, als ob alle zum ökumenischen Rat gehörenden Kirchen damit „gleich“ wären. Natürlich sind sie in mehr als einer Hinsicht „gleich“. Man gebe ihnen auch getrost die gleichen Rechte! Daß aber die europäischen Kirchen mit einem solchen Maß von Schuld belastet sind, und in solchen Strömen des Segens haben leben dürfen, wie sonst keine Kirche, das kann man nicht ausgleichen. In dieser Hinsicht müßte auch in der ökumenischen Entwicklung die Wahl Gottes respektiert werden.

Basis der Gemeinsamkeit Unsere vierte Frage lautet: Sind die evangelischen Kirchen an Europa auch insofern gebunden, als dieses Europa katholisch ist?

Ich würde alle „Protestanten" um ihrer selbst willen bitten, weder vorschnell nein zu sagen, noch auch sich einem seelischen Schüttelfrost hinzugeben. Wer das eine oder das andere täte, der würde sich damit in eine Lage bringen, die ihm selber und seinen Intentionen nur zuwider sein könnte. Denn jede denkbare evangelische Kirche verliert in demselben Augenblick ihre beste Position, wo sie darauf verzichtet, eine „katholische“ Kirche zu sein. Angriffe und Abwehr der katholischen und evangelischen Kirchen im Verhältnis zueinander begründet mindestens für die Gegenwart die Existenz beider. Aber sowohl Angriff wie auch Abwehr müssen notwendigerweise erfolgen auf der Basis einer Gemeinsamkeit. Jede evangelische Kirche, welche diese Basis der Gemeinsamkeit verleugnet, gibt sich damit selber preis.

Diese Situation aber ist es, die nachhaltig und dauernd übersehen wird. Der Normalprotestant — und wenn ich recht sehe, auch der Normal-katholik — sehen die Dinge vielmehr so, als ob grundsätzlich im beiderseitigen Verhältnis nichts mehr zu ändern wäre und glauben, dieses beiderseitige Verhältnis sei einfach und eindeutig durch ein gegenseitiges Nein bestimmt. Man übersieht dabei, daß es ein Nein mancherlei Färbung gibt, und daß es zu den Besonderheiten der Kirchengeschichte überhaupt gehört, daß in ihr Ja und Nein ihren eindeutigen Charakter verlieren, so daß er immer wieder neu gewonnen werden muß. Zu glauben, das Nein der Kirchen zueinander sei eine Art Schlußpunkt unter ein Protokoll, zu dem nichts mehr hinzuzusetzen sei, das bedeutet, auf wesentliche Grundlagen der eigenen Existenz zu verzichten.

Wir beantworten also die Frage dahin, daß jede evangelische Kirche, hauptsächlich in Europa selbst, Europa auch insofern bejahen muß, als es römisch-katholisch ist. Wir können es uns nicht leisten, den Schmerz der Trennung irgendwie zu verharmlosen. Im Durchkosten und Durchleiden dieser Trennung besteht weithin überhaupt die europäische Geschichte. Wer diese Trennung nicht durchleiden will, wer also im Verhältnis zum römischen Katholizismus resigniert, der gibt Europa preis.

Jedoch muß dazu noch ein anderes gesagt werden: Das Durchleiden der Spaltung ist nicht eine rein negative Angelegenheit. Sie steht unter dem Gebet Jesu Christi, daß „sie alle eins seien“ (ut omnes unum sint). Das ist das Gericht an den Resignierenden beider Konfessionen, daß sie glauben, Gott werde das Gebet seines Sohnes nicht erhören. Umgekehrt aber ist das die Verheißung, unter der diejenigen stehen, die man als „Herz Europas“ bezeichnen könnte: Der Glaube an die Erhörung des hohepriesterlichen Gebetes mitten in einer Spaltung, die wir selber nicht beheben können, ist ein unerhörter Impuls für die kommende europäische Geschichte. Durchdenkt man die Geschichte der letzten vierhundert Jahre, dann muß man sagen, daß diejenigen am meisten schuldig geworden sind, die sich der Resignation in dieser Sache ergeben haben, sie seien Protestanten oder Katholiken gewesen. Denn in einem Christenleben muß beides vereinigt sein: Die Last einer Trennung, die ich nicht aufheben kann, und der Glaube an die Einheit, die noch viel gewisser ist als meine Schuld. Das gilt für den Einzelnen, gilt aber auch für die Kirche. Wirtschaftlich und politisch gesehen kann Europa ein Winkel der Welt werden. Gerade aber in dieser Frage kann niemand anders an die Stelle der europäischen Kirchen und Völker treten. Hier liegt ihr tiefstes Leid. Aber hier liegt auch ihre große Verheißung.

Es wird berichtet, daß die Geusen den Schlachtruf hatten: „Lieber den Türken als den Papst“. Ich weiß nicht, ob die Nachfolger der Geusen diesen Wunsch noch haben. Er kann heute sehr schnell in Erfüllung gehen.

Schöps hat mir vor Jahren eine rabbinische Legende erzählt. Demnach soll Gott, als er sich auf den Sinai niederließ, eine Hand breit von Sinai entfernt geblieben sein. Diese Legende ist für das Europaproblem in kirchlicher Sicht von erleuchtender Bedeutung. Es gibt christliche Theologen genug, welche das Wesen der Kirche in der Geschichte auch so verstehen, daß die wahre Kirche immer eine Hand breit vom Erdboden entfernt bleibt. Wer aber bekennt, daß Jesus Christus wahrer Gott und ein bestimmter Mensch in bestimmter Verbundenheit zur Geschichte und zum Boden ist, so litt, starb, auferstand und in der so bestimmten Menschheit gen Himmel fuhr zur Rechten Gottes, der kann sich auch in Sachen der europäischen Fragen den Rabbinern nicht anschließen.

Ob alle die Erfolg haben, welche sich für Europa einsetzen, kann man nicht voraussehen. Uns aber ist es geboten, es zu tun. Sollten wir dabei untergehen, dann halten wir das für besser, als der vagen Hoffnung zu leben, man dürfe immerhin noch vegetieren, wenn man mit der Wider-christlichkeit paktiert. Ich bin aber der Zuversicht, daß der christliche Einsatz für Eurapo keine sinnlose Sache ist.

Anmerkung Gollwitzer, Helmut, Prof. D. Dr., Dekan der evang. theol. Fakultät der Univ. Bonn. Vor dem Kriege Pfarrer in Berlin-Dahlem, während des Krieges an der Front. Nach dem Kriege fünf Jahre Kriegsgefangenschaft in verschiedenen Lagern Sowjetrußlands. Verfasser des viel beachteten Tagebuches aus der Kriegsgefangenschaft: .... UND FUHREN WOHIN DU NICHT WILLST“. Asmussen, Hans Christian, D. h. c. Probst. Geb. 21. Aug. 1898 in Flensburg. Universität Kiel und Tübingen (Theol.) Bis 1934 Pastor in Albersdorf, Flensburg (Diakonissenanst.), Dithmarschen und Altona, danach in der Leitung der Bekenn. Kirche tätig. 1936— 1941 Pfarrer in Berlin-Lichterfelde und Leiter der Kirchlichen Hochschule Berlin, später in Reisedst.der Kirche beschäftigt, ab März 1944 Mitglied der Württ. Kirchenleitung, mehrfach in Haft, 1945 bis 1948 Präs, der Kanzlei der Ev. Kirche in Deutschland. Seit Sept. 1949 Probst in Kiel, 1949— 1938 D. D.der Univ. St. Andrews (Schottl.), 1948 D. theol. h. c.der Univ. Kiel.

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