Schwierigkeit der heutigen Situation Stadtmüller: Idi stimme der Auffassung vollkommen zu, daß der religiöse Eid selbstverständlich den unbedingten Gehorsam im Sinne des Kadavergehorsams ausschließt. Idi glaube aber, wir müssen eine praktische, sehr handfeste Schwierigkeit in der heutigen Situation sehen. Das, was wir gesagt haben, gilt für den religiösen Eid. Der Eid ist ursprünglich, schon in vorchristlicher Zeit, eine bedingte Selbstverfluchung des Eid-leistenden, wenn er dies Versprechen bricht. In den meisten Sprachen, rein linguistisch, heißt ja schwören, „sich verfluchen". Die christliche Form lautet: „Idi schwöre bei Gott“, und die Beteuerung dazu: „So wahr mir Gott helfe“; wenn er den Eid bricht, verzichtet er auf die Gnadenhilfe Gottes — etwas Ungeheuerliches für den gläubigen Christen!
Wenn nun ein Mensch im Jahre 1953 einen Eid schwört: erstens ohne die Anrufung Gottes, zweitens ohne die furchtbare Beteuerung „so wahr mir Gott helfe" und drittens ohne den inneren Glauben an Gott — so frage ich mich: Ist dieser Eid nicht eine leere Hülle? Was hat er psychologisch für eine verpflichtende Kraft? Damit versuchen eine Form wir, zu konservieren. Bitte, ich sehe auch den pädagogischen Nutzen der Konservierung solcher Formen ein. Audi das ist noch etwas, vielleicht besser als nichts. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit darauf lenken. Man sollte einmal über diese doch immerhin bestehenden Schwierigkeiten sprechen. v. Witzleben: Herr Professor, der Eid auf Hitler wurde aber auch „bei Gott“ geleistet. Der Eid, mit dem uns Herr v. Blomberg am 2. August 1934 überfiel, war ein religiöser Eid.
Stadtmüller: Ja, weil Hitler als Massenpsychologe natürlich wußte, daß ein solcher Eid mehr wert ist. Ich sprach hier ja nicht über den Eid Hitlers speziell, sondern über die grundsätzliche Frage des Eides. Hitler wußte natürlich, daß ein Eid, der bei Gott geschworen wird — auch wenn er nicht daran glaubte — den Menschen stärker bindet. Darum legte er Wert auf diese Formulierung.
Wie ist das aber nun heute grundsätzlich? Selbstverständlich beschäftigen wir uns vorwiegend mit der Eidsituation des Offiziers unter Hitler, aber darüber hinaus doch mit dem Problem des Eides im allgemeinen. Besteht überall die Freiheit, den Eid mit oder ohne religiöse Formel zu leisten? Ich frage mich, was hat eigentlich für einen Atheisten eine Eid-formel ohne Beteuerung, ohne religiöse Beteuerung, für einen ethischen Verpflichtungsgrund? Ich sehe keinen! v. Witzleben: Sie meinen, Herr Professor Kinder, daß auch Verfehlungen und Eidbruch seitens des Eidnehmers den Eid als solchen nicht auflösen?
Kinder: Wenn der Eid an eine objektive Norm gebunden ist, die Kriegsartikel z. diese B., wenn Sicherheit da ist.
Stadtmüller: Ich glaube, Sie so zu verstehen: Wenn der oberste Kriegs-herr persönlich der größte Schuft ist, so hat der Soldat oder Offizier nicht das Recht zu sagen: „Weil der moralisch eine schlechte Zensur verdient, halte ich meinen Fahneneid nicht“. Die Auflösung des Eides tritt erst dann ein, wenn vom Soldaten mit Berufung auf den Fahneneid Dinge gefordert werden, die unsittlich sind. v. Witzleben: Ich möchte konkret die Frage stellen: Waren die Mitglieder der Opposition Eidbrecher oder nicht?
Kinder: Nein, sie hatten bei Gott geschworen, und der Gottesgehorsam steht über dem Menschengehorsam.
Die vorliegende Veröffentlichung gibt die Antrittsvorlesung des Verfassers an der Universität Tübingen vom 11. Februar 1954, stellenweise gekürzt sowie durch einige Ausführungen und Anmerkungen erweitert, wieder. Sie wurde mit Genehmigung des Verlages W. Kohlhammer, Stuttgart und Köln, Verlagsort Stuttgart, der Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik „DIE ÖFFENTLICHE VERWALTUNG“ Heft 7, April 1954, 7. Jahrgang, entnommen.
Der erste Absatz des Artikels 65 im Bonner Grundgesetz „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung“ ist nur mit unwesentlichen Änderungen aus der Weimarer Verfassung übernommen worden (Art. 56). Eine Bestimmung gleicher oder ähnlicher Art fand sich in keiner der z. Zt.der Beratungen in Weimar schon bestehenden demokratischen Verfassungen des Auslandes. Worte wie „Politik“, „Richtlinien" und auch „bestimmen" sind wegen ihres vieldeutigen Inhalts und ihrer unscharfen Konturen im Sinn der Gesetzessprache untypische Bezeichnungen. Auch der auf diese Bestimmung folgende Satz „innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung" verhilft nicht zur Erklärung des vorhergehenden Satzes, weil die Grenze zwischen allgemeiner Politik und einzelnem ministeriellen Geschäftsbereich schwer zu bestimmen ist. Obgleich dieser Artikel im organisatorischen Teil der Weimarer Verfassung wegen seiner begrifflichen Unzulänglichkeit wie ein Fremdkörper wirkt, hat der Parlamentarische Rat den Wortlaut gleichsam unbesehen übernommen. Was hatten die Verfassungsgesetzgeber von Weimar und Bonn mit dieser Bestimmung im Sinn und wie wurde sie von denen, welchen sie galt und gilt, nämlich Kanzlern Und Ministern, in der politischen Praxis damals wie heute angewandt?
Die Weimarer Konstruktion Das Wort stammt in seinem Sinngehalt von Hugo Preuss, dem eigentlichen Vater der Weimarer Verfassung. In einer Aufsatzreihe
Während die Liberalen das preußische Kollegialsystem auf das Reich zu übertragen vergeblich versucht, aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten, ging Preuss, der immer ein Einzelgänger in seiner Partei geblieben war, den umgekehrten Weg mit seiner Auffassung. Das Kollegialsystem, im absoluten Staat ein Segen, sei im konstitutionellen ein Hemmnis. Nicht mehr ein „unfaßbares" Kollegium, sondern der Staats-kanzler allein sollte in Preußen die politische Verantwortung tragen. Modell für diesen Vorschlag war das englische Premierminister-System in seiner zeitgenössischen Form, das, nach einem Wort Otto Hintzes
AIs Preuss 27 Jahre später, im Sommer 1917, im Moment der einsetzenden Peripetie der deutschen Kriegslage und der damit verbundenen akuten Staatskrise privat den Entwurf einer parlamentarischen Verfassung
Wiederum wandte er sich gegen die Bildung einer kollegialen Reichs-regierung. Dabei bestimmten ihn nicht nur taktische Erwägungen, wie Rücksicht auf den Bundesrat, der sich durch ein abstimmendes Ministergremium zurückgedrängt fühlen würde, sondern vor allem die Sorge, daß „ein noch nicht entwickeltes Parlament aus sich heraus keine Regierung bilden kann“. In der Änderung der Reichsverfassung vom 28. Oktober 1918 war nur eine parlamentarische Abhängigkeit des Reichskanzlers, nicht der Staatssekretäre, die der Kaiser auf dessen Vorschlag ernannte, vorgesehen.
Auch Max Weber gelangte in seinen zur selben Zeit veröffentlichten Vorschlägen
Eine Regierung läßt sich nicht kollegial organisieren In den vier Verfassungsentwürfen von Hugo Preuss heißt es übereinstimmend: „Der Reichskanzler trägt dem Reichstag gegenüber die Verantwortung für die Richtlinien der Politik, jeder Reichsminister selbständig die Verantwortung für die Leitung des ihm anvertrauten Geschäftszweiges“. An die Stelle des mehr polemischen Wortes „Richtung", das die politische Unabhängigkeit des Kanzlers gegenüber dem Kaiser zum Ausdruck bringen sollte, waren die das Führungsamt unterstreichenden „Richtlinien“ getreten. Von einer kollegialen Beschlußfassung der Regierung ist in diesen Entwürfen nicht die Rede. Ein mehr kollegiales Zusammenarbeiten werde sich, meint Preuss, von selbst ergeben aus dieser Ordnung des Verhältnisses zwischen dem Reichskanzler und den Ressortchefs, ohne daß das Kollegialsystem von der Verfassung formell vorzuschreiben sei, was sich gerade im Interesse einer politischen Verantwortlichkeit nicht empfehle. Eine Regierung lasse sich nicht kollegial organisieren wie ein Kollegialgericht
Die Sonderstellung des Finanzministers Daß diese Bestimmungen sehr unbestimmt gehalten waren, hatte schon Delbrück beanstandet. Preuß wollte der Praxis und der Geschäftsordnung, die das Regierungskollegium beschließen und dem Reichspräsidenten zur Genehmigung vorlegen sollte und die als „Ergänzung zur Verfassung" gedacht war
Eine Sonderstellung wurde dem Finanzminister eingeräumt. Er hatte ein suspensives Vetorecht gegenüber Etatsforderungen der einzelnen Ministerien. Dieses konnte nur durch Mehrheitsbeschluß der Regierung bei gleichzeitiger Zustimmung des Reichskanzlers aufgehoben werden.
Dieselbe Regelung galt in allen Beschlüssen von finanzieller Bedeutung, sofern der Finanzminister Widerspruch erhob
Im engsten Zusammenhang mit dem Bestimmungsrecht über die Richtlinien steht das ausschließliche Vorschlagsrecht des Reichskanzlers bei Ernennung und Entlastung der Minister, das dessen Vorgänger in der Monarchie nach dem Stellvertretungsgesetz von 1878 schon bezüglich der Staatssekretäre gehabt hatten. Der Reichskanzler sollte sich seine Kollegen unter dem Gesichtspunkt, daß sie auch die Gewähr für die Einhaltung der Richtlinien böten, auswählen und unbotmäßige ausschalten können, allerdings vorbehaltlich der Zustimmung des Reichspräsidenten.
Richtlinien nur in Form von Grundsätzen Eine nähere Begriffsbestimmung dessen, was „Richtlinien“, „Politik“ und „bestimmen“ bedeuten sollten, wurde bewußt und auch mit Recht in Verfassung und Geschäftsordnung unterlassen und der politischen Entwicklung anheimgestellt. Nach Meinung der herrschenden Lehre war es Sache des Reichskanzlers allein, nicht aber des Kabinetts, diesem Begriff von der Bestimmung der Richtlinien der Politik Gehalt und Gestalt zu geben. Er hatte die Kompetenz-Kompetenz. Auch über die Ausdrucksform der Richtlinien sagte weder die Verfassung noch die Geschäftsordnung etwas. Die Regierungserklärung beim Amtsantritt, ihre Wiederholungen, Ergänzungen und Abänderungen bei der Haushaltsdebatte oder Erklärungen aus besonderem Anlaß gaben die Richtlinien in Umrissen, aber keineswegs erschöpfend, bekannt. Nicht nur, daß dem Kanzler, der kaum sein Amt übernommen hatte, in diesem Moment hierzu meist Übersicht und Kenntnisse gefehlt haben würden, sondern Regierungstätigkeit ist so mannigfaltig und vom jeweiligen Wandel der Verhältnisse abhängig, daß sie durch ein Regierungsprogramm auch nur in Umrissen nicht erfaßt werden könnte. Auch eignet sich nicht jede Angelegenheit für öffentliche Bekanntgabe; man denke nur an das Gebiet der Außen-, Finanz-oder sogar Personalpolitik. Die Richtlinien beschränken sich nicht nur auf die positive und negative Stellungnahme zu den Forderungen und Anträgen der Parteien, sondern erfassen eine Vielzahl von Gebieten technisch-organisatorischer und, bei dem wachsenden Bereich der Ermessensentscheidungen, materieller Regierungstätigkeit, für die die Parteien, sei es mangels einheitlicher Auffassung, sei es weil sie überhaupt nicht von der parteipolitischen Meinungsbildung unmittelbar erfaßt sind, sich nicht interessieren. Es ergeben sich aus dem Regieren eine Fülle von Fragen und Aufgaben, die die Parteien weder vorgedacht noch vorentschieden haben. Zwar bindet den Kanzler seine Erklärung vor dem Parlament, für die er politisch grundsätzlich verantwortlich ist. Aber diese ist meist so allgemein abgefaßt, daß dem Reichs-kanzler ein breiter Ermessensraum gegeben ist. Bestimmend für die Minister sind die Richtlinien des Reichskanzlers, die er ihnen gibt. Auch von den Richtlinien verlangt ja die Geschäftsordnung nicht eine sofortige erschöpfende Bekanntgabe, sondern in einem nicht geregelten Fall die Herbeiführung einer Entscheidung des Kanzlers. Carlo Schmid hat im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates auf den normativen Charakter der Richtlinien hingewiesen
Große Führungsrechte, geringe Führungsmittel Aber so souverän der Kanzler in der Bestimmung der Richtlinien der Politik war, so fest die Minister verpflichtet waren, sie einzuhalten und zu verwirklichen, jener hatte nur eine Möglichkeit, die Einhaltung dieser Bestimmung zu erzwingen, nämlich die ultima ratio der Entlassung, und auch hierin war er-abhängig von der Zustimmung des Reichspräsidenten und der Reaktion der von der Entlassung betroffenen Regierungsparteien, die ihm die Gefolgschaft kündigen und damit unter Umständen die Regierung stürzen konnten. Der Reichskanzler konnte nicht den Ge-schäftsbereich eines widerstrebenden Ministers einschränken, da die Organisationsgewalt in den Händen des Reichspräsidenten lag. Der Reichskanzler hatte keine Kommandogewalt über die Minister, sondern nur ein Führungsrecht
Aber der verfassungsrechtliche Wert dieser besonderen Befugnisse des Kanzlers läßt sich erst ermessen, wenn man gleichzeitig die Rechte der beiden anderen Organe, die Einfluß auf die Besetzung des Reichskanzleramtes hatten, betrachtet. Der ihn allein ernennende Reichspräsident konnte die Abstimmung der Richtlinien des Kanzlerkandidaten mit seiner Auffassung verlangen, Abänderungen fordern, aber auch verhindern oder dulden -unter Inanspruchnahme seines Entlassungsrechts. Vom Reichs-präsidenten hing es ab, ob er einen Reichskanzler, der keine Mehrheit im Reichstag fand, durch Reichstags-Auflösung zunächst im Amt hielt oder seinen Rücktritt herbeiführte, indem er den Auflösungsvorschlag verweigerte. Der Reichspräsident konnte die Vorschläge des Reichskanzlers auf Ernennung und Entlassung von Ministern nicht nur ablehnen, sondern seine eigenen Kandidaten unter Androhung der Entlassung des Reichskanzlers auch erzwingen. Der Reichspräsident hatte nach der Geschäftsordnung Anspruch auf unmittelbaren Vortrag der Reichsminister ohne Einschaltung des Reichskanzlers. Dadurch, daß das Regierungsmitglied, welches das Wehrministerium leitete, unmittelbar dem Reichspräsidenten als dem Oberbefehlshaber
Der Feind im Rücken Die praktische Anwendung der beiden Artikel über Ministervorschlagsrecht und Richtlinienbestimmungsrecht des Reichskanzlers ist andere Wege gegangen, als sich der Verfassungsgesetzgeber vorgestellt hatte. Die Regierungsbildung erfolgte nicht durch Auswahl der Minister seitens des Kanzlers, sondern durch Präsentation seitens der Regierungsparteien. Sie einigten sich über die Verteilung der einzelnen Ministerien und bestimmten die Minister häufig durch Fraktionswahl. Dabei fühlten sich die meisten Minister gar nicht so sehr als Fraktionsgesandte, sondern unterlagen meist schnell dem „Gesetz der Stelle". Aber sie wurden scharf von ihren Parteien überwacht und gegebenenfalls mit Rückbeorderung aus der Regierung bedroht oder zum Rücktritt gezwungen, ebenso wie ihnen der Eintritt untersagt wurde. Derselben Parteiaufsicht unterlag der Kanzler. Heuss hat 1929 einmal gesagt, daß der Feind im Rücken des Kanzlers die eigene Fraktion sei
Die Regierungsfraktionen vereinbarten unter sich die Richtlinien der Politik, schlossen hierüber ausführliche und häufig wie Staaten miteinander ins Detail gehende, jederzeit kündbare Koalitionsverträge ab, die wiederum die Grundlage für die vielfach in vorsichtiger und schamhafter Dosierung und Abtönung formulierte Regierungserklärung waren. Abänderungen und Ergänzungen der Koalitionsrichtlinien bedurften der Zustimmung der Koalitionspartner. Der Kanzler stand dann nicht mehr über den Richtlinien, sondern wurde unter sie gestellt. Er wurde zum Vollzieher und Hüter der Koalitionsrichtlinien im Innenverhältnis der Regierung, und bemühte sich, als Resultante im Kräfteparallelogramm der Koalition zu wirken.
Es gab damals nicht einander im Regieren ablösende Parteigruppen, sondern es gab je nach der Problemstellung, nach Verfassungsform, Außenpolitik, Kultur-, Finanz-und Wirtschaftspolitik verschiedene, einander überschneidende Gruppierungsarten. Jede Kabinettsbildung mußte von der Mitte ausgehen, zu den Sozialdemokraten oder zu den Deutsch-nationalen hinüber, gleichgültig, ob eine von diesen Parteien an der Regierung beteiligt war oder sie nur duldete. Sowohl die beiden großen Flügelparteien als auch die Mitte konnten nur für eine gewisse Zeit eine solche Bindung ertragen — die Flügelparteien im Hinblick auf die radikalen Nachbarparteien, die Mitte mit Rücksicht auf die Flügelparteien, aber auch wegen der Problemstellung. Diese Parteisituation erschwerte jede Regierungsbildung und -führung. Es gab keine Hegemonialpartcien. Aber diese Führungsschwäche ist nicht nur aus dem Vielparteiensystem zu erklären. Sie war zugleich ein echtes personalpolitisches Problem. Die Parteien waren im Grunde vielmehr an einer schlichtenden, ausgleichenden, als an einer lenkenden Kanzlerfigur interessiert. Sie mißtrauten nicht nur dem Führer der anderen Partei, sondern auch den eigenen Führungskräften. Vor allem die großen Parteien ließen diese in ihren festgefügten und disziplinierten Organisationen nicht aufkommen.
Das Zentrum hat auf eine Hegemonialstellung nicht allein mit Rücksicht auf seine permanente Mittlerposition, die es nicht verlieren wollte, verzichtet, sondern es fehlten ihm die Persönlichkeiten. Brüning war die einzige, und dieser wurde im entscheidenden Moment nicht von seiner Partei präsentiert, sondern unmittelbar vom Reichspräsidenten.
Der heimliche Kanzler Auch die Sozialdemokratie hatte außer Ebert in den 13 Jahren keine bedeutende staatsmännische Persönlichkeit im Reich präsentieren können. Otto Braun, der preußische Ministerpräsident, kam nicht zum Zuge, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob er nicht wollte oder nicht durfte. Ebert hätte 1919 Kanzler werden können, aber er wollte das Reichspräsidentenamt. Der Reichspräsident „wird unendlich viel machen können", hatte er vor seiner Wahl zu Scheidemann
Diese anhaltende parlamentarische Labilität der Regierung drängte geradezu zur Anlehnung an den Reichspräsidenten. Ebert hatte auf die Reichspolitik einen starken Einfluß gehabt. Keine große Entscheidung wurde ohne ihn oder gar gegen ihn getroffen. Bei den wichtigsten Kabinettssitzungen hatte er den Vorsitz geführt. Durch sein Eingreifen hatte er die Kanzler-und Regierungspolitik abgewandelt oder den Kanzler in seiner Haltung gegenüber dem Kabinett gestärkt. Bei der Kanzler-auswahl mag in ihm die Gehilfenvorstellung des Konstitutionalismus, wenn auch vielleicht unbewußt, oder das eigene Führungsbewußtsein mitgewirkt haben. In der Kanzlerreihe seiner Zeit findet sich außer Stresemann weder unter den Ernannten noch unter den Beauftragten, deren Regierungsverhandlungen zu keinem Ergebnis geführt haben, auch nur einer, der ihm an Format gewachsen gewesen wäre. An die Kanzlerkandidatur Otto Brauns hatte Ebert anscheinend nie gedacht. Stresemann wurde erst in der höchsten Not im August 1923 ernannt, wobei die Initiative mehr bei ihm als bei Ebert lag. Stresemann kam mit einer von ihm selbst vorbereiteten Koalition und mit einem eigenen Regierungsprogramm. Er führte in der Regierungsbildung wie in der Regierung. Als die Sozialdemokratie Stresemann gegen den Willen Eberts im November 1923 stürzte, weniger aus echten Richtungs-als aus reinen Alibimotiven, scheint Ebert nicht bereit gewesen zu sein, Stresemann das Recht zur Auflösung des Parlaments zu geben. Die Vermutung liegt nahe, daß Ebert diesem an sich schon starken Mann nach der erfolgreichen Überwindung der akuten, existenzgefährdenden Krise des Reiches nicht durch Neuwahl die Chance zu einem weiteren Aufstieg geben wollte. Insofern scheiterte Stresemanns Kanzlerschaft an Eberts Macht. Aber in den fünf folgenden Jahren blieb Stresemann Außenminister und bestimmte die Richtlinien der auswärtigen Politik. Er überließ die inner-politischen den Parteivereinbarungen. Aber seinen auswärtigen, die dominierten, mußten sich die wechselnden Kanzler und Koalitionen, auf deren Ernennung und Bildung er einen starken Einfluß hatte, unterwerfen. Stresemann war der einzige Politiker der Weimarer Zeit, der, wenn auch unter dem einseitigen Aspekt der Außenpolitik, den komplizierten Mechanismus von Reichspräsident, Reichsregierung und Reichstag virtuos beherrschte. Er war von 1924 bis zu seinem Tod 1929 in allen Regierungen der heimliche Kanzler.
Zunehmende Relativierung des Kanzlergewichts Hindenburg hat in einer Reihe von Kundgebungen unmittelbar in die Richtlinien der Politik des Kanzlers eingegriffen, diese sogar, z. B. in der Osthilfe und Agrarpolitik, selbst bestimmt und der Regierung von sich aus besondere Aufgaben gestellt. Andererseits entsandte er in die Regierung Brüning seine besonderen Vertrauensleute, was Ebert gelegentlich auch getan hatte. Die Bezeichnung der Regierung Brüning als Präsidial-kabinett zeigt nur, wie das Verfahren der Regierungsbildung sich von der Verfassungsnorm entfernt hatte. Der Reichspräsident hatte ohne Befragung der Parteien einen Parlamentarier, von dem er annahm, daß er eine ihn stützende Mehrheit finden würde, als Kanzler präsentiert und dieser sein Regierungsprogramm und seine Minister. Beides akzeptierten zunächst die Parteien. Tatsächlich entsprach Brünings Verfahren am ehesten dem, was dem Verfassungsgesetzgeber vorgeschwebt hatte. Daß Brüning nach den Wahlen im Herbst 1930 mehr nach konstitutionellen als nach parlamentarischen Methoden regierte und das Parlament auf die Funktionen des kaiserlichen Reichstages beschränkte, nämlich auf die Stellungnahme zu den Regierungsgesetzen, ergab sich nicht aus der Entstehung dieses Kabinetts, sondern war eine Folge des unerwartet großen Wahl-siegs der Nationalsozialisten. Diese Situation drängte Brüning in die Gehilfenposition des Konstitutionalismus. Aber er war nicht bereit, sie anzunehmen. Das führte zum Bruch zwischen Präsident und Kanzler.
Daß Hindenburg Brüning, der, zwar nicht formal, wohl aber de facto das Vertrauen der Parlamentsmehrheit genoß, eine grundlegende Änderung der Richtlinien der Politik aufzuzwingen versuchte und ihn damit zum Rücktritt zwang, war ein Verbrechen am Geist der Verfassung. Hindenburgs Auffassung von der Verfassung entsprach der Vorstellung, die ein Unteroffizier von der Felddienstordnung hatte. Denn Hindenburg wußte aus dem Munde von Brünings Nachfolger, daß jener infolge der Weigerung des Zentrums über keine Mehrheit im Parlament verfügen würde. Auch der andere starke Reichskanzler scheiterte also an der Macht des Reichspräsidenten, wenn auch in unvergleichlich viel größerem Ausmaß und mit unvergleichlich entscheidenderen Folgen als Stresemann.
So war die Position des Reichskanzlers in der Verfassungswirklichkeit noch sehr viel eingeengter, als sie nach dem Verfassungstext erschien. Dem Parlament wurde die Abberufung so leicht gemacht, daß aus dem Absetzungsrecht ein Ernennungsrecht der Minister und ein Mitbestimmungsrecht an den Richtlinien der Politik wurde. Dem Staatsoberhaupt wurde durch seine Machtbefugnisse ein Eingriffs-und Vetorecht gegen die Richtlinien der Politik eingeräumt. Die Weimarer Nationalversammlung wünschte den Parlamentarismus einzuführen, getraute sich aber nicht, den Konstitutionalismus ganz aufzugeben. Sie setzte neben den Dualismus von Staatsoberhaupt und Regierungschef den von Kanzler und Parlament und engte dadurch unabsichtlich die Macht des Kanzlers trotz seiner in der Verfassung festgelegten Prärogativen ein. Das Kräftespiel der Verfassungswirklichkeit verstärkte noch die Relativierung des Kanzlergewichts.
Stresemann und Brüning waren unter den Kanzlern der Weimarer Republik wohl die einzigen, die . die Richtlinien weitgehend selbst bestimmt und von ihrem Ministervorschlagsrecht einigen Gebrauch gemacht hatten. Sie übernahmen nicht einfach ein Programm ihrer Partei oder eine Kombination ihrer Koalitionsfraktion, sondern sie verstanden es, für ihre eigene Konzeption ihre Parteien als Gefolgschaften zu gewinnen und zu erhalten.
Die Autorität beider Politiker war stark genug, um durch die Fraktionsund Parteiorganisation hindurch und über sie hinaus in die Wählerschaft zu dringen. Beide Männer wurden zur stärksten Werbekraft ihrer Parteien. Sie fragten nicht zimperlich bei jeder Maßnahme, ob und inwieweit diese ihrer Partei taktisch nützen oder schaden könnte, sondern zwangen durch sie ihre Partei zur Stellungnahme und Gefolgschaft. Sie kamen dem englischen Premierministermodell am nächsten, soweit davon überhaupt bei den völlig anders gearteten deutschen Parteiverhältnissen die Rede sein konnte. Sie bestimmten die Richtlinien in den wichtigsten Angelegenheiten, aber Sie mußten sich dieses Recht erkaufen, indem sie in Fragen minderen Ranges, die in ihrer Summe auch Gewicht hatten, Konzessionen machten. Der parlamentarische Kanzler, vor allem im Vielparteiensystem, war diesem mehr oder minder breit angelegten Trinkgeldersystem vielleicht dem Grad nach mehr, aber im Prinzip ebenso verhaftet wie sein konstitutioneller Vorgänger. Was die einen den Parteien geben mußten, mußten die anderen dem Monarchen, einer Hofclique, Kamarilla oder Koterie gewähren. Es gibt keine Politik ohne Trinkgelder. Es kommt nur auf den Grad ihrer Beschränkung an. Weder Brüning noch Stresemann waren bereit, Institutionen, personalpolitisch oder organisatorisch, den Machtauseinandersetzungen preiszugeben, und blieben bei aller Wendigkeit im Grundsätzlichen fest. Sie wahrten die innere und äußere Würde des Amtes.
Die Länder kannten die Einrichtung des Staatsoberhauptes nicht und waren daher nicht den Wirkungen des doppelten Dualismus ausgesetzt. Aber auch die politische Situation war einfacher, weil es hier nicht um die großen Grundsatzentscheidungen des Reiches ging, so daß die Politik auf den Bereich der administrativen Gesetzgebung und Organisation, der allerdings in Preußen sehr umfangreich war, beschränkt blieb. Otto Braun, von 1920 bis 1932 mit ganz geringen Unterbrechungen preußischer Ministerpräsident, war sich seiner Rechte in der Bestimmung der Richtlinien und der Ernennung der Minister durchaus bewußt. Er
Reformvorschläge An Reformvorschlägen hat es nicht gefehlt, aber sie gingen meist an den Problemen vorbei. Nach einem Antrag der Deutschen Volkspartei von 1928 sollte das Abberufungsrecht durch die schematische Einführung einer */s-Mehrheit erschwert werden. Nur einmal im Jahr, nämlich bei der Schlußabstimmung der 3. Lesung über den ordentlichen Haushalt, sollte die einfache Mehrheit genügen. Die Deutschnationalen drängten schlechthin nach Aufhebung des parlamentarischen Abberufungsrechts des Reichstages und nach Monopolisierung der Regierungsbildung durch den Reichspräsidenten entsprechend dem konstitutionellen Vorbild. Carl Schmitt
Alexander Rüstow hatte in zwei Vorträgen an der Hochschule für Politik 1929 den Vorschlag entwickelt
Die Bonner Verfassungskonstruktion Der Parlamentarische Rat konstruierte im Grundgesetz die Kanzlerfigur neu. Nach dem Vorbild der deutschen Länderverfassungen lag nunmehr Ernennung und Abberufung des Kanzlers allein beim Parlament. Die Vorschrift der absoluten Mehrheit und die der Ersetzung statt der Absetzung diente der Erschwerung, nicht der Verhinderung der Abberufung. Die Weimarer Konstruktion des Kanzlers als Vollzugsgehilfe von Staatsoberhaupt und Volksvertretung wurde damit beseitigt. In der Auswahl der Minister und deren Abberufung hat der gewählte Bundeskanzler freie Hand, aber er ist abhängig von der Zustimmung des Bundespräsidenten. Allein, ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten, darf er aus dem Kreis der Minister seinen Stellvertreter bestellen, der dadurch die Position eines politischen Vertrauensmannes, eines politischen alter ego des Bundeskanzlers erhalten kann. Der mit sehr viel größeren Machtbefugnissen ausgestattete Regierungschef soll zu deren wirksamer Wahrnehmung sich durch diese Einrichtung entlasten können und er hat daher allein das Recht, Art und Umfang der Stellvertretung zu bestimmen. Er kann seinem Stellvertreter also auch Aufsichtsbefugnisse über die Ministerien übertragen.
Er allein ist der Volksvertretung, die Minister sind nur ihm verantwortlich. Nur er, nicht die Regierung, kann die Vertrauensfrage stellen und bei Ablehnung das Parlament, allerdings mit Zustimmung des Bundespräsidenten, auflösen. Dadurch verfügt der Bundeskanzler, ähnlich wie der englische Premierminister, über ein wesentliches Druckmittel zur Restabilisierung einer zerbröckelnden Koalition oder zur Umbildung der Regierung. In einer Zeit der Wahlmüdigkeit und der Wahlgelderknappheit könnte eine Koalitionspartei sich einen Abfall sehr überlegen, eine Oppositionspartei die Möglichkeit einer Schwenkung ernstlich erwägen.
Die Geschäftsordnung der Bundesregierung Die neue Geschäftsordnung der Bundesregierung vom 11. Mai 1951 geht von den Bestimmungen der alten aus, aber weist eine erhebliche Verstärkung der Führungsposition des Bundeskanzlers gegenüber der seines Weimarer Vorgängers auf, auch wenn diese nur durch die Auswechselung eines Wortes zum Ausdruck kommt. Nach der alten Geschäftsordnung waren die Richtlinien von den Ministern innezuhalten, nunmehr sind sie für diese verbindlich. Der Reichskanzler hatte auf die Einheitlichkeit der Politik hinzuwirken; der Bundeskanzler hat hingegen „das Recht und die Pflicht, auf die Durchführung der Richtlinien zu achten", und daneben auch auf die Einheitlichkeit der Geschäftsführung der Bundesregierung hinzuwirken. Nach der alten Geschäftsordnung hatte „der zuständige Reichsminister bei Auftreten von wesentlichen Gründen" für eine Änderung der Richtlinien „unter gutachtlicher Äußerung“ eine Entscheidung des Reichskanzlers zu erbitten; hält aber ein Bundesminister, selbst wo es sich nur um „Erweiterung" handelt, eine Änderung der Richtlinien für erforderlich, so hat er nicht mehr unter gutachtlicher Äußerung, sondern nur noch unter „Angabe von Gründen“ die Entscheidung des Bundeskanzlers zu erbitten. Die alte Bestimmung, wonach die Zustimmung des Reichskanzlers eingeholt werden muß für Maßnahmen auf Gebieten, für die nicht Richtlinien erlassen sind, ist weggefallen. Statt dessen wurde eine neue ausgenommen, daß Äußerungen eines Bundesministers — auch als Abgeordneter — in der Öffentlichkeit „mit den Richtlinien in Einklang stehen“ müssen.
Der Reichskanzler war „aus dem Geschäftsbereich der einzelnen Reichsminister dauernd über alle Maßnahmen, die für die Bestimmung der Richtlinien der Politik und die Leitung der Geschäfte der Reichsregierung von Bedeutung sind, auf dem Laufenden zu halten“; der Bundeskanzler ist „über Maßnahmen und Vorhaben zu unterrichten". Der Reichspräsident hatte Anspruch auf Unterrichtung über die Politik des Reichskanzlers und über die Geschäftsführung der einzelnen Reichsminister durch schriftliche Berichte und nach Bedarf durch persönlichen Vortrag, ohne daß in der alten Geschäftsordnung gesagt war, durch wen diese Information zu erfolgen habe
Nach der alten Geschäftsordnung wurden Vorlagen der Reichsregierung bei den Gesetzgebungskörperschaften vom zuständigen Reichsminister eingebracht, nach der neuen vom Bundeskanzler. Zur Befreiung von der Pflicht der Vertraulichkeit bezüglich Mitteilungen über die Kabinettssitzungen war nach der Weimarer Geschäftsordnung eine Ermächtigung, über die im Zweifelsfall wohl die Reichsregierung verfügte, erforderlich; nunmehr liegt die Ermächtigung allein in den Händen des Bundeskanzlers. Die Reichsminister hatten gegenüber dem Reichskanzler bei mehr als 24stündiger Abwesenheit nur eine Anzeigepflicht, nunmehr ist bei Abwesenheit von mehr als drei Tagen und bei Auslandsreisen „das Einvernehmen mit dem Bunndeskanzler her-
z u s t e ll e n". Die alte Geschäftsordnung ist unter dem sehr konzilianten, stets auf Vermittlung bedachten, führungsschwachen Reichskanzler Marx verabschiedet worden. Wie der Referentenentwurf der neuen Geschäftsordnung ausgesehen haben mag, weiß man nicht, aber unverkenn-bar zeigt die endgültige Fassung die Handschrift des gegenwärtigen Bundeskanzlers.
Durch die neue Geschäftsordnung wurde aber auch dem Bundeskanzler eine wichtige Befugnis des Reichspräsidenten, nämlich das oberste Behördenorganisationsrecht, übertragen. Der Kanzler kann bei der Regierungsbildung und Umbildung, aber auch innerhalb einer bestehenden Regierung, die Zahl der Ministerien allein vermehren oder vermindern, die Kompetenzen der einzelnen Minister, aber auch seine eigenen, erweitern oder einschränken. Zwar kann die Regierung bei Kompetenz-konflikten der Ministerien untereinander diese Entscheidung gleichsam in zweiter Instanz abändern oder aufheben. Aber der Kanzler hat das Recht des Vorgriffs. Diese Organisationsmacht gibt ihm die Möglichkeit, die Einhaltung und Verwirklichung auch mit anderen Mitteln zu erzwingen als nur mit der ultimo ratio der Entlassung. Kein Minister erträgt gern und leicht eine Einschränkung seiner Ressortmacht.
Erst durch die Bonner Verfassungskonstruktion in Verbindung mit den Geschäftsordnungsbestimmungen hat die Kanzlerprärogative, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, und der aus diesem Recht hergeleitete Anspruch auf Aufsicht und Lenkung der Ministerien eine wesentlich größere Wirkungskraft erfahren als im Weimarer System. Rechte von Bundespräsident und Parlament überschatten nicht mehr des Kanzlers Befugnisse oder stellen sie gar in Frage. Erst durch das Bonner System wird der Bundeskanzler zum Lenker der Regierung und damit zum Führer der Staatspolitik, aber nicht zum Diktator, auch nicht auf Frist. In einer Reihe wichtiger Entscheidungen, wie z. B. Gesetzesinitiative, Bundesaufsicht, Bundeszwang, Gesetzgebungsund Staatsnotstand, ist er auf die Zustimmung der Mehrheit seiner Regierung und auf die eines oder mehrerer anderer Bundesorgane angewiesen. Er kann nicht einmal eine Gesetzesvorlage der Regierung von sich aus mit der Vertrauensfrage (gegen den Willen des Kabinetts) verbinden. Nach der neuen Geschäftsordnung sind alle Angelegenheiten von allgemeinpolitischer Bedeutung der Bundesregierung zur Beratung und Beschluß fassung vorzulegen. Die alte Geschäftsordnung kannte nur eine Sollvorschrift und diese beschränkte sich auf die Beratung.
Wenn der Bundeskanzler bei Bestimmung der Richtlinien „frei vom Zwang", wie ungeschützt durch den Schild eines Kollegialbeschlusses"
Befugnis des Bundespräsidenten Beschränkt sich die Befugnis des Bundespräsidenten unter normalen Verfassungsverhältnissen auf das Vorschlagsrecht des Kanzlerkandidaten für den ersten Wahlgang, so kann er in Krisensituationen zu dem ent-scheidenden Weichensteller werden: durch sein alleiniges Auflösungs-recht bei der Wahl eines Minderheitenkanzlers im dritten Wahlgang, bet seiner Entscheidung über den Antrag des Kanzlers auf Parlamentsauflösung im Fall der Ablehnung des Vertrauensvotums und über den Antrag von Bundesregierung und Bundesrat zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes. Das sind für den Bundespräsidenten die einzigen Gelegenheiten zum Eingreifen in die Richtlinien der Politik. Aber auch diese sind nur sehr beschränkt, weil ihm das Mittel der Entlassung und Neuernennung des Kanzlers fehlt. Im Moment, wo der Bundespräsident die Weiche gestellt hat, hört seine außerordentliche Macht auf, zu wirken.
Insoweit ist der Bundespräsident eine verfassungsmäßige deus ex machina-Gestalt entsprechend dem Vorbild von Weimar, jedoch im Gegensatz zu diesem mit sehr beschränkten Befugnissen. Der Sinn dieser außerordentlichen Vollmachten des Bundespräsidenten in bestimmten Verhältnissen ist nicht, ihm die Führung der Politik zu übertragen, sondern, daß er die verfassungsmäßigen Institutionen vor Mißbrauch bewahrt.
Daß er die Möglichkeit des Eingriffs in die Richtlinien der Politik hat, ist eine unvermeidliche Nebenwirkung dieser Funktion. Auch die Einholung eines Gutachtens beim Bundesverfassungsgericht und dessen Anrufung der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes kann politische Wirkungen auf die Regierungspolitik haben. Das ändert aber nichts daran, daß der Bundespräsident dieses Recht ausschließlich als Hüter der Verfassung und ihrer Institutionen hat.
Ist der Kanzler der Führer der Politik und damit dem Machtkampf der Parteien ausgesetzt, so ist es Sache des Bundespräsidenten, im Rahmen seiner Befugnisse zu verhüten, daß Verfassung und Institutionen in den Machtkampf hineingezogen werden. Die hier vorgenommene Gewaltenteilung soll den Kanzler ebenso vor fremder Einwirkung auf seine Politik wie vor dem Ansturm der Parteien schützen, die nur allzu leicht geneigt sind, Institutionen zum Objekt des Machtkampfes ohne Rücksicht auf die Gefahr der Denaturierung zu machen. Das ist auch der Sinn des Mitentscheidungsrechts des Bundespräsidenten in der Personalpolitik, nämlich die auctoritas des Staates zu wahren. Auch sein Mitentscheidungsrecht bei der Ministerernennung ist nicht politischer Natur — sonst müßte er sich ja öffentlich politisch unter Umständen mit dem Kanzler auseinandersetzen —, sondern es dient diesen institutioneilen Funktionen im Sinne der Wahrung der auctoritas. Sein Präsentationsrecht des Kanzlers im ersten Wahlgang bedeutet nicht, daß er einen Mann seines politischen Vertrauens bestimmt, daß er über diesen Vorschlag auf dessen politische Richtlinien einwirkt, sondern soll dazu verhelfen, daß die Kandidaten-aufstellung dem Fraktionsstreit und -prestige zunächst entzogen und auch die persönliche Eignung zur Übernahme eines so reich mit Machtbefugnissen ausgestatteten Amtes trotz oder gerade wegen des Kampfes der Parteien bedacht werden kann.
Diese Gewaltenteilung zwischen Staatsführung und Wahrung der staatlichen auctoritas ist aber, weil dem Bundeskanzler das oberste Behördenorganisationsrecht übertragen worden ist, nicht folgerichtig durchgeführt.
Die Organisationsgewalt in den Händen des Bundeskanzlers muß zu einem Instrument seiner Politik werden, in den Händen des Bundespräsidenten behält sie ihren Eigenwert.
Gewiß haben die Befugnisse des Bundeskanzlers eine erhebliche Erweiterung erfahren. Entscheidend aber war die Minderung der Rechte von Volksvertretung und Staatsoberhaupt und damit die Aufhebung der Schranken, die zumindest potentiell in der Weimarer Verfassung bestanden und sehr vital in der Praxis der Weimarer Zeit wirkten.
Doppelführung von Staat und Partei Daß bisher nur ein Bundeskanzler die Bestimmungen über die Richtlinien angewandt hat, daß das System durch verschiedene Kanzler und Koalitionen bisher nicht erprobt ist, daß die Bundesrepublik vor ernsten Krisen bewahrt geblieben ist, daß über die Handhabung nicht mehr als einige Presseandeutungen vorliegen, macht die Beurteilung noch schwieriger als zur Weimarer Zeit. Auch über die Änderung des Bonner Systems der Parteien mit ihrer verfassungswandelnden Kraft gegenüber der Weimarer Zeit läßt sich in einem so kurzen Zeitraum nicht viel sagen. Jedenfalls haben sich die sich überschneidenden Gegensätze der Weimarer Parteigruppierungen gemindert und gemildert. Vor allem ist die Herrschaftsform kein Streitproblem mehr. Permanente Oppositionsparteien mit der starken Einwirkungskraft auf ihre unmittelbaren Nachbarparteien und damit auf die Mitte existieren nicht mehr. Das augenblickliche Parteiensystem ist unter dem Gesichtspunkt der Regierungsbildung unkomplizierter geworden; es eignet sich mehr als das der Weimarer Zeit zur Regierungsbildung.
Eine neue Erscheinung in der deutschen parlamentarischen Entwicklung war, daß der Bundeskanzler gleichzeitig echter Koalitionsführer, und zwar nicht nur während seiner ersten Amtszeit, sondern auch in den Wahlen, war. Nicht nur seine Partei, sondern auch die anderen führten den Wahlkampf mit der Parole seines Namens, was weder Stresemann noch Brüning gelungen war. Diese Doppelführung von Staat und Partei, die ja abgewandelt auf die deutsche Vielparteiensituation dem englischen System ähnelt, ist in einer Koalitionsregierung wohl nur möglich, wenn der Regierungschef seine eigene Partei weitgehend in den Dienst seiner Regierungsführung zu stellen in der Lage ist. Nur wenn er selbst frei von Parteisubalternität ist und auf die Subalternität der anderen Parteien Rücksicht nimmt, vermag er diese mit zu führen. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß an den Sitzungen der Bundesregierung, ob häufig oder ständig, ist unbekannt, Vorsitzende und Vertreter der Regierungsfraktionen teilgenommen haben, während andererseits die in der Weimarer Zeit übliche Einrichtung des interfraktionellen Ausschusses der Regierungsparteien nicht mehr besteht. Die Geschäftsordnung rechnet nur mit der Zulassung von Beamten zu Kabinettssitzungen, nicht aber von Personen außerhalb der Ministerien. Die Teilnahme von Fraktionsvertretern an den Kabinettssitzungen kann entweder bedeuten, daß diese die zu ihrer Partei gehörenden Minister kontrollieren, oder aber, daß sie durch die Beratung in die Lage versetzt werden sollen, ihre Minister vor der Fraktion in der Vertretung der Regierungspolitik zu unterstützen. Sicherlich ist die letztere Wirkung beabsichtigt. Inzwischen scheint diese Einrichtung durch die Ernennung von Ministern für besondere Aufgaben — Ministern mit Stimme, aber ohne Amt — legalisiert worden zu sein, was an der Wirkung nichts ändert. Die Regierung wird dadurch zum Führungsausschuß der Koalition und zu einer Art Vorparlament.
Die Einrichtung einer Ober-oder zumindest Nebenregierung durch die Hohen Alliierten Kommissare, die nach dem Besatzungsstatut zu weitgehenden Entscheidungen in der Bundesrepublik befugt waren, gab dem Bundeskanzler einen konkreten und zweifellos berechtigten Anlaß, sein Bestimmungsrecht praktisch sowohl gegenüber dem Regierungskollegium wie auch gegenüber den einzelnen Ressortministern anzuwenden und diese dadurch an seine Führung zu gewöhnen. Der Bundeskanzler beanspruchte nicht nur die Federführung, sondern auch die Ausschließlichkeit im Verkehr mit den Hohen Kommissaren. Von seiner Entscheidung hing es jeweils ab, ob und welche anderen Minister am Verkehr beteiligt waren, denn hier lag ja ein typisches Bedürfnis für die Einheitlichkeit der Politik vor. Die Maßnahme war deswegen so wirksam, weil in diesem Fall alle Ressorts betroffen wurden.
Vorrang der Außenpolitik 1951 übernahm der Bundeskanzler selbst das Auswärtige Amt, wie es in der Weimarer Zeit schon Stresemann und Brüning getan hatten. Deren starke Position hatte gerade darauf beruht, daß sie die auswärtige Politik zu einer Zeit leiteten, als die innerpolitische staatliche Entwicklung von bestimmten außenpolitischen Erfolgen abhing.
Dieser Vorrang der Außenpolitik um einer ganz bestimmten, von innerstaatlichen Entwicklungen dirigierten Richtung willen und die Unterordnung innerpolitischer Planung und Auseinandersetzung unter die auswärtige Politik ist charakteristisch für die deutsche Geschichte von Bismarck über Stresemann und Brüning bis zum heutigen Tag. Diese Vorrangstellung hat auch vielfach zur Folge gehabt, daß die Opposition die Außenpolitik scharf und zäh bekämpft hat, eben wegen ihrer befürchteten Rückwirkungen auf die Innenpolitik. Auch der gegenwärtige Kanzler gibt der auswärtigen Politik diesen Vorrang und ordnet alle innerpolitischen Absichten den außenpolitischen Zielen weitgehend unter. Mit der von ihm herausgestellten außenpolitischen Zielsetzung bändigte er die z. T. knappe Koalitionsmehrheit und erweiterte sie. Er ist stark als Außenminister, weil er gleichzeitig als Kanzler die Richtlinien bestimmt, und er ist stark als Kanzler, weil in seinen Richtlinien die Außenpolitik dominiert. Die Doppelstellung von Außenminister und Kanzler ist nicht eine Adenauersche Erfindung, sondern setzt gleichsam eine deutsche Tradition fort. Während es bei Meinungsverschiedenheiten zwischen einem Kanzler und einem Außenminister nahe liegt, daß dieser oder jener sie im Kabinett austrägt, führt der Regierungschef, der gleichzeitig Außenminister ist, Zwiegespräche mit sich selber, und in den „einsamen Entschlüssen“ liegt ein Stück wesentlicher Macht. Die innerpolitischen Richtlinien gewinnen durch ihre Orientierung an der Außenpoltik, die schwierig zu erfassen und zu kontrollieren ist, gegenüber den Regierungsparteien, an Gewicht und Wirkungskraft.
Eine Nebenwirkung dieser Ämterverbindung kann sein, daß der Kanzler und Außenminister in den deutschen Missionen im Auslande über ein sehr begehrtes Reservoir hoher Amtsstellen verfügen kann, das zur Belohnung oder zur Ausschaltung aus dem innerpolitischen Kräftespiel gegenüber den einzelnen Parlamentariern und Parteien, gegenüber einer Landesregierung oder anderen Institutionen und Gruppen eingesetzt werden kann. Bei dem besonderen Interesse, das die öffentliche Meinung und damit die Bevölkerung der auswärtigen Politik überhaupt entgegenbringt, hat der Außenminister vielleicht mit Ausnahme des Regierungschefs bei einer ergiebigen auswärtigen Politik mehr Wirkungsmöglichkeiten auf die Wähler, die außerhalb des Bereiches der eigenen Partei-organisation stehen, als irgend ein anderer Minister.
Eine echte Auseinandersetzung über die Richtlinien der Politik wurde genau ein Jahr nach der Regierungsbildung zwischen dem Bundeskanzler und dem damaligen Innenminister Heinemann ausgetragen. Heinemann widersetzte sich in der Kabinettssitzung den Tendenzen des Bundeskanzlers, eine Remilitarisierung der Bundesrepublik einzuleiten, und warf diesem vor, weil er das Sicherheitsmemorandum an die Außenministerkonferenz nicht vorher der Regierung vorgelegt habe, daß er deren Informationsanspruch im allgemeinen und seinen besonderen als Sicherheitsminister verletzt habe. Adenauer warf Heinemann vor, daß dieser den Aufbau einer Bundespolizei im Sinn seiner Richtlinien nicht vorbereitet habe. Heinemann wollte die Formation einer künftigen Bundes-polizei auf rein polizeiliche Funktionen beschränken: Adenauer hingegen dachte an eine mehr militärische Kerntruppe und hatte sich mit dem Gedanken getragen,, diese Polizei sich selbst zu unterstellen. Der Bundeskanzler hat einen Anspruch auf Durchführung und Verwirklichung der Richtlinien der Politik, auch wenn der Fachminister entgegengesetzter Auffassung ist. Dieser muß folgen oder gehen. Gerade in diesem Fall zeigt sich die dem Bundeskanzler zur Verfügung stehende Alternative, nämlich die Verwirklichung durch Kompetenz-Verlagerung oder Entlassung zu erzwingen.
Andererseits hat jedes Regierungsmitglied das Recht, die Richtlinien des Bundeskanzlers im Kabinett zur Diskussion zu stellen; aber das letzte Wort hat der Bundeskanzler. Jede Regierung und damit jedes Regierungs-mitglied hat einen Anspruch auf Information über die Richtlinien der Politik des Bundeskanzlers und die von ihm vorgenommene praktische Durchführung. Die Bestimmung der Richtlinien der Politik befreit den Kanzler in den meisten Fällen bei abweichender Auffassung von der Unterwerfung unter den Mehrheitsbeschluß der Regierung, nicht aber davon, alle Angelegenheiten von politischer Bedeutung der Regierung zur Beratung und Beschlußfassung zu unterbreiten. Es gibt aber bestimmte Fragen, vor allem in der auswärtigen Politik, u. U. aber auch in anderen Ressorts, die sich gerade auf der Regierungsebene nicht ohne weiteres diesen Verpflichtungen unterordnen lassen. Auch Stresemann hatte seine Locarno-Politik ohne Wissen des Kabinetts eingeleitet, und ebenso erfuhr die Reichsregierung der deutsch-österreichischen Zollunion 1931 von erst nach deren Abschluß.. Gerade die Anbahnung von außenpolitischen Beziehungen ist ein so heikles Problem, daß es vor allem im ersten Stadium des tastenden Versuchs vor Indiskretionen und Mißverständnissen gehütet werden muß, wobei die Gefahr des vorsätzlichen Bruchs der Geheimhaltungspflicht sehr viel geringer ist als die des fahrlässigen oder gar unbewußten.
„Einsame Entschlüsse“ sind nicht nur aus der Eigenheit bestimmter Politiker zu erklären, sondern sie sind auch für gewisse heikle politische Angelegenheiten konforme Verfahren. Aber nur die Anwendung in wirklich begründeten Fällen, d. h. die Praxis der Seltenheit, der Ausnahme, vermag sie zu rechtfertigen.
Auch die Übertragung gewisser Zuständigkeiten in der Behandlung der Saarfrage vom Ministerium für gesamtdeutsche Fragen auf das Auswärtige Amt wirft ein Licht auf die Anwendung der Richtlinien der Politik mit den Mitteln der Organisationsgewalt. Zunächst gab die Presse die gesamte Kompetenzübertragung bekannt, dann wurde diese Kompetenzübertragung anscheinend auf Grund einer Kabinettsberatung, vielleicht sogar eines -beschlusses, auf die Federführung beschränkt.
Erfahrungen der zweiten Regierungsbildung Die Kehrseite der großen Machtbefugnisse des vom Parlament gewählten Kanzlers ist, daß diese nur allzu leicht zum Gegenstand von Wahl-kapitulationen werden können. Bei der zweiten Regierungsbildung Adenauers versuchten die Demokraten eine Verzichterklärung bezüglich der Änderung des Wahlrechts, der BHE eine Kompetenzerweiterung des Flüchtlingsministeriums, nicht aus institutioneilen, sondern aus politischen Bedürfnissen, zu erreichen, rangen Parteien und Ressorts um das Stellvertreteramt. Die Zahl der Ministerämter mußte aus parteiarithmetischen Erwägungen heraus um fünf vermehrt werden. Diesen Forderungen steht der in erster Linie um die Regierungsbildung mit den Parteien ringende Bundeskanzler ungeschützt gegenüber. Der Mächtige hat auf diese Weise viel zu bieten, aber die ihm anvertraute Ordnung auch manches zu verlieren. Die Machtkonzentration des Kanzlers verleiht diesem Stärke in der Regierungsführung, aber schwächt ihn entsprechend bei der Regierungsbildung. Bei dieser zweiten Regierungsbildung sind aber auch die konkreten Möglichkeiten und Schranken des in der Verfassung festgelegten Vorschlagsrechts des Kanzlers in Erscheinung getreten: Die Parteien einigen sich auf die Verteilung der Ministerien und haben ein Präsentationsrecht für die auf sie entfallenden. Der Kanzler kann die Vorschläge nur annehmen oder ablehnen, jedoch nicht von sich aus abändern
Da über die Besetzung des Justizministeriums die streitenden Parteien sich nicht verständigen konnten, mußte der Bundeskanzler sogar den Bundespräsidenten als Schlichter anrufen. Diese Schranken bestanden also selbst für einen Bundeskanzler, der gleichsam in indirekter Bundestagswahl mit absoluter Mehrheit wiedergewählt worden war. Andererseits muß man bedenken, daß der Bundeskanzler die Regierung auf der Basis einer Zweidrittelmehrheit bilden wollte und gezwungen war, die Grenznutzenansprüche der für diese Mehrheitsbildung unerläßlichen Parteien zu befriedigen.
Die Verfassung — Anregung und Schranke zugleich Der französische Sozialist Leon Blum spricht im zweiten Kapitel seiner 1936 erschienenen Schrift „La Reforme Gouvernementale" über die Stellung des Ministerpräsidenten, wie er sie sich vorstellt: „. . . et je sais que tout travail collectif comporte des regles fixes et exige une direction unique. Cette direction, c'est le president du Conseil qui doit 1‘assumer; ... Habituions—nous ä voir en lui ce qu’il devrait etre: un monarque — un monarque ä qui d’avance les lignes de son action furent tracees, un monarque temporaire et constamment revocable ...“ (S. 27 f.).
Die wachsende Führungsstellung des parlamentarischen Regierungschefs liegt im Trend der Entwicklung der demokratischen Regierungsorganisation, auch in den Staaten, die dieses Bestimmungsrecht nicht kennen.
Der Parlamentarische Rat — Hauptausschuß und Plenum, CDU wie SPD — hat, wie die Protokolle zeigen, diese Führungsstellung des Kanzlers gewollt. Wenn nach einem Wort Smends
Der Parlamentarische Rat brauchte allerdings bei seiner Beratung nicht die Einordnung der Wehrmacht in seine Regierungskonstruktion zu bedenken. Ob die Verteidigungskräfte dem Bundespräsidenten nach dem Vorbild der Weimarer Regelung unterstellt werden oder einem Ressort-ministerium, wie es die übrigen Bundesbehörden sind — wobei der symbolische Oberbefehl hier außer Betracht bleiben kann —, in jedem Fall kann dadurch die bisherige Regierungskonstruktion eine Wesensänderung erfahren. Das Problem der Richtlinien, kaum verfassungsrechtlich gelöst, tritt erneut auf.