Das Widerstandsrecht
Am 16. Juli schrieb Generaloberst Beck an den damaligen Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst v. Bauchitsch: . Die Geschichte wird die höchsten Führer der Wehrmacht mit einer Blutschuld belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln. Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbietet“.
In diesen Worten liegt der Schlüssel zum Widerstandsrecht. Wenn aber das Widerstandsrecht bejaht wird, entfällt die Frage nach dem Hoch-oder Landesverrat überhaupt: dann war, wie der Präsident des Bundes-gerichtes feststellt, das Tun der Widerstandskämpfer schon deswegen rechtmäßig.
In den Bereichen von Religion und Macht begegnen wir dem Konflikt des christlichen Gewissens mit der skrupellosen Staatsgewalt. Die Männer, die auf diesem Kampffeld zu ihrer letzten Entscheidung reif wurden, wußten, daß es im Widerstreit zwischen Gut und Böse keine Neutralität geben darf. Sie handelten mit der Vollmacht ihres Gewissens, in dem sich der Wille Gottes offenbarte. v. Witzleben: In der Mitte aller Betrachtungen über das Schicksal der deutschen Opposition wird immer die Frage nach dem Widerstandsrecht stehen. Vor dem höchsten Gesetzgeber, vor Gott, hatten die Männer des Widerstandes ihr Tun zu verantworten. Die Entscheidungen, die sie trafen, weisen in ihrer ganzen Gewissensschwere den Weg zum religiösen Ursprung jeglichen Rechtes. Wenn wir hier eine klare Erkenntnis gewinnen wollen, werden wir auf den moraltheologischen Grundlagen beider christlichen Kirchen fußen müssen. Deshalb würde ich es dankbar begrüßen, könnten wir von Ihnen, Herr Professor Kinder, die Auffassung der evangelischen Kirche hören.
Kinder: Ich habe mich mit Herrn Kollegen Künneth eingehend ausgesprochen, und wir haben uns in diesen Grundsätzen zur allgemeinen Lage der politischen Ethik in der evangelisch-lutherischen Theologie innerlich zusammengefunden. Gewiß verwundert Sie hierin manches zunächst; denn bis vor kurzem war unsere politische Ethik eben durch das Staatskirchentum der letzten 400 Jahre in eine Lage der Passivität zum Politischen gebracht. Wir haben aber gemerkt, daß das nur eine Epoche gewesen ist, die den eigentlichen Intentionen, die sich aus dem Luthertum ergeben, nicht gerecht wurde. Wir haben Luther und die Reformation neu studiert und nicht mehr durch die Brille dieses etwas sehr staats-frommen, passiven Luthertums betrachtet und versuchen nun, die elementaren Intentionen Luthers aus seiner Zeitgebundenheit heraus grundsätzlich anzuwenden für heute. Dadurch wird vieles wirklich fruchtbar neu bewegt, und wir packen die Dinge der aktiven politischen Verantwortung vom lutherischen Bekenntnis aus neu an. Wir sind hier etwas traditionslos, glauben aber, uns in der Linie der Intention Luthers zu befinden. Sie mögen also nicht den Eindruck haben, die evangelische Theologie sei richtungslos und sich selbst nicht einig. Hier tritt eben nur der Unterschied auf, ob wir noch an die Tradition des Passiven gebunden sind, oder ob wir von Luther her versuchen, wirklich neu, elementar und aktiv politische Verantwortung zu begründen.
Das Widerstandsrecht kann nicht als ein allgemeines Prinzip proklamiert werden, die Revolution also nicht vom Prinzip her freigegeben werden; hier üben wir mit Luther die ganz starke Zurückhaltung. Die Ordnungsfunktion, auch die verkehrte Ordnung, wird noch irgendwie ihren Dienst ausüben, und es gibt kaum eine Revolution, die es besser macht, sondern meistens wirken dann die Geister, die man gar nicht ruft, das Ferment der Anarchie kommt herein. Vom objektiven Prinzip, von der Ordnungsfunktion her, wird man Widerstandsrecht nicht proklamieren können; der verkehrte Staat ist immer noch besser als die Anarchie. Es kann sich also immer nur um den Grenzfall handeln, wo es einfach so nicht mehr weiter geht, wo ultima ratio gegeben ist, und nicht um irgendeinen verderbten Staat. Jeder Staat ist verderbt. Es gibt keinen idealen Staat.
Nicht Hinz und Kunz können die ultima ratio sehen, sondern nur der, welcher in der besonderen Verantwortung steht. Aktiver Widerstand wird also nicht allgemein vom Prinzip her freigegeben. Gegen Hinz und Kunz hat auch die verderbte Staatsordnung immer noch recht. Nur der kann sehen, der hier, ich möchte sagen, in einer persönlichen Berufung steht. Hier steht der Mann gleichsam unmittelbar zu Gott. Und dazu muß er gewisse Bedingungen erfüllen. Er muß Verantwortung tragen. Es kann nicht irgendein Schneidermeister sein, dem es nicht paßt. Er muß positiv in dem Staatsgefüge Verantwortung tragen. Das ist die Lehre vom Beruf und Stand. Er muß das Wagnis der Entscheidung vollziehen und vor allen Dingen vom Positiven her. Es darf nicht nur Beseitigung des Übels sein, sondern ihm muß mit der Einsicht, daß es so nicht mehr geht, die Über-zeugung gegeben sein: Ich kann es besser!, also im Namen einer positiv besseren Realisierung der Ordnungsfunktion. Und weil es so vom Prinzip aus nicht geht, sondern nur in dieser ganz persönlichen Berufung eines, der Verantwortung trägt und dem Vollmacht gegeben ist und der auch die Einsicht hat, darum kann man nicht ein allgemein rechtfertigendes Prinzip daraus machen. Es muß das Wagnis der Entscheidung sein. Denn wie kann ich einem Menschen ansehen, daß er berufen ist, daß er die Vollmacht hat? Er kann nur in actu, indem er die Entscheidung vollzieht, darlegen, daß er die Vollmacht besitzt. Die ethische Rechtfertigung vom Prinzip her wird ungeheuer schwer gemacht durch diese Anschauungsweise, daß er sagt: Das Prinzip rechtfertigt mich, also tue ich es. — Nein, indem ich es tue, wage ich die Entscheidung und zeige, daß ich die Vollmacht habe.
Die Durchführung ist nicht eine rein politisch-militärische Ermessensfrage. Nein, sie enthält, glaube ich, auch ein ethisches Kriterium. Die Durchführung darf nicht turbulent, nicht anarchiebringend sein, und der Zwischenzustand muß auf ein Minimum reduziert werden. Das heißt doch, daß es nicht allein Ermessensfrage ist. Denn auch die Art der Durchführung hat ethischen Charakter; sie muß so sein, daß das Positive groß gemacht wird, und daß das Positive größer ist als das Herabzureißende. Allerdings, ob dann Absetzung, Festsetzung oder Tötung — da wage ich auch — gerade als Theologe — zu sagen: Das ist eine harte Ermessensfrage! Und hier würde ich nicht die individual-ethischen Maßstäbe anwenden, sondern im Rahmen der Gesamtverantwortung entscheiden. Dann ist es auch eine Ermessensfrage, ob nicht eine Tötung gerade der sogar gewiesene Weg ist. Hier sei darauf hingewiesen, daß ich Ermessen von Gewissen unterscheide. Denn Gewissensfragen sind Fragen mit ethischem Kriterium, Ermessensfragen dagegen richten sich nach der Realität, und Politik ist die Kunst des Möglichen.
Pater Pribilla: Das ist mir außerordentlich interessant: Wenn man die traditionelle lutherische Darstellung gewöhnt ist, muß man schon fest-steilen, daß hier eine sehr fortschrittliche Auffassung vertreten wird.
Man bekommt doch sonst immer nur zu hören: „Auf dem Boden des lutherischen Bekenntnisses hat eine Theorie des Widerstandes überhaupt keine Berechtigung, sie ist völlig ausgeschlossen“.
Nun ist diese Frage für uns jetzt neu gestellt. Und ich glaube, wir können in vieler Hinsicht durchaus einig werden. Nehmen Sie z. B. Ihre Äußerung: Ein einzelner kann das nicht entscheiden, das sind Fragen der Sachkenntnis und des Ermessens. — Da haben wir ja — und das ist der einzige Fall, in dem von katholischer Seite eine autoritative Entscheidung vorliegt — die Entscheidung des Konzils von Konstanz, nach der die Tötung eines Tyrannen ex privata auctoritate unerlaubt ist.
Stadtmüller: Um welchen historischen Anlaß handelte es sich da?
Pater Pribilla: Der Anlaß war die Ermordung des Herzogs von. Orleans 1407 in Paris durch Johann den Unerschrockenen von Burgund. Da war ein Streit entstanden. Ein Franziskaner führte damals, glaube ich, die Verteidigung, und dann wurde eine Entscheidung gefällt, die eine Tötung ex privata auctoritate verbietet.
Stadtmüller: Weshalb hat das Konzil sich mit diesem Einzelfall beschäftigt?
Pater Pribilla: Weil deswegen damals eine ungeheuere Aufregung herrschte. Es handelte sich um die Tötung des Regenten in Frankreich! Das war ein aktueller Anlaß!
Wenn so etwas überhaupt diskutabel ist, kommt es nur gleichsam im Auftrage des Volkes und im Interesse des Volkes in Frage. In der früheren Geschichte wird da ja immer wieder betont, daß diese Entscheidung nicht Sache eines einzelnen ist, der die Dinge überhaupt nicht überschauen kann, sondern die Sache der Majores, der Stände, die also irgendwie eine Verantwortung tragen für die Gesamtheit; das betont natürlich besonders auch Calvin. Nun müssen wir bei der Untersuchung dieser Frage auch bedenken, daß diese Äußerungen schon Jahrhunderte zurückliegen. Sie stammen aus einer Zeit, in der z. B. das Volk überhaupt nichts bedeutete. Das Volk wurde geführt, und das Volk interessierte sich auch nicht dafür, sondern da hatten eben nur die Majores, die. führenden Leute, zu unterscheiden. Dagegen leben wir jetzt in einer demokratischen Zeit und müssen die Frage stellen: Ist es nicht möglich, daß diese Stellung, die früher die Majores und die Stände innehatten, eben auf die Gesamtheit des Volkes übergegangen ist? Je nach dem, wie man die Theorie der Volkssouveränität auslegt.
Was uns dagegen besonders im 19. Jahrhundert begegnet, das ist auf der einen Seite, auf der kirchlichen Seite, die Ablehnung der Revolution, weil die Revolution eben vielfach von Anarchisten und Sozialisten unternommen wird, Ablehnung der Revolution, Stützung von Thron und Altar; und auf der anderen Seite die Ablehnung seitens der Juristen, die sagen, daß das Widerstandsrecht unnötig ist, weil eben durch die neuen Verfassungen die Volksrechte so befestigt sind, daß ein Widerstand überhaupt gar nicht in Frage kommt. Aber diese beiden Theorien sind eben durch die Entwicklung widerlegt worden. Wir haben Zustände bekommen, die keiner im 19. Jahrhundert für möglich gehalten hätte, und vor dieser Frage stehen wir jetzt.
Nun möchte ich nur noch sagen: Paulus können wir in Ruhe lassen. Der Römerbrief hat über diese Frage nichts zu sagen, und zwar ist das die übereinstimmende Auslegung der Katholiken und der Protestanten. Man beruft sich z. B. immer darauf: „Das war damals im Römerreich unter Nero". Zahn sagt in seinem Kommentar, daß Nero, als Paulus den Römerbrief schrieb, überhaupt noch nicht entartet, sondern noch ein ziemlich anständiger Regent gewesen sei. Das Römerreich fußte doch auf der Grundlage des Rechtes, wie auch Paulus in manchen Darstellungen das Römerreich als einen durchaus mit Rechtsprinzipien stark durchsetzten Staat schildert.
Ebenso war, daß die Urchristen eine Revolution hätten planen können, schon aus dem Grunde ausgeschlossen, weil sie ja in einer verschwindenden Minderheit waren, bei der jeder Aufstand sinnlos gewesen wäre. Meiner Ansicht nach müssen wir diese Fragen als Theologen zunächst mal beiseite lassen. Dagegen standen die Männer des 20. Juli vor einer Tatsache, über die sie sich völlig einig waren: Der Staat wat pervertiert, alle friedlichen Mittel, Propaganda oder das Parlament, waren ausgeschlossen, und sie sagten: Entweder bringen wir die Kerle um, oder das Volk geht zugrunde. — Vor dieser Situation standen die Leute, und sie konnten sich dafür nicht nur auf ihr persönliches Gewissen berufen, sondern sie hatten auch einen starken Consensus von hervorragenden Sachverständigen und glaubten, auf Grund dieses Consensus handeln zu können: „Wir haben ja nicht eine subjektive Meinung, sondern das Interesse des Volkes zu wahren“. Aber Sie werden selber sagen, daß das, was ich jetzt angeführt habe, und vieles andere nur Erwägungen sind, die wir nicht zwingend beweisen können. Es wird in solch einer Situation der Geschichte immer schwer sein zu sagen, ob jede Revolution schädlich ist. Wer will das beweisen? Zweifellos haben die Amerikaner und die Engländer durch die Revolution ihre gesicherte demokratische Verfassung erhalten. Im Augenblick geht das natürlich durch viel Blut und Unglück vor sich, aber das, was schließlich herauskommt, kann doch wieder eine bessere Gestaltung sein.
Ich gebe ja durchaus zu, daß es praktisch unmöglich ist, eine Revolution durchzuführen, ohne daß viel Unrecht geschieht. Selbst Göring hat gesagt: „Jede Revolution hat ihren Dreck". Etwas anderes ist für den Theologen und für den Moraltheologen, ob er sich das wenigstens begrifflich vorstellen kann. Da stehe ich auf dem Standpunkt, daß, wenn eine Sache ethisch möglich ist; sie absolut auch praktisch möglich sein muß: in concreto wird das vielfach nicht gelingen, aber ich würde nicht das Prinzip aufstellen: „Das ist absolut unmöglich“. v. Witzleben: Nachdem wir nun wissen, wie alle Männer, die in der Opposition standen, mit sich gerungen haben, sind wohl die Voraussetzungen bei allen Persönlichkeiten, die wir plastisch vor unser Auge zu stellen versucht haben, als erfüllt anzusehen. Es hat hier kaum einen gegeben — soweit unser bisheriges, geschichtlich fundiertes Wissen reicht —, der nicht den Forderungen, die Sie an die Opposition knüpfen, genügt hätte. Denn leichtfertig ist nicht einer von diesen Menschen gewesen.
Rückbesinnung auf das Elementar-Menschliche . Krausnick. Ich möchte noch auf eine besondere Erwägung hinweisen, die für die Männer des 20. Juli eine erhebliche Rolle gespielt hat. Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Widerstandsrechts, von denen heute die Rede war, sind für den Historiker zweifellos solche, die das Handeln der Männer des Widerstandes in der Praxis weitgehend bestimmt haben. Es hat sie aber noch ein weiterer Gesichtspunkt geleitet, der bisher nicht berücksichtigt wurde.
Auch in unserem Kreis wird doch die Auffassung vertreten, daß die sachliche Möglichkeit einer Verwirklichung des Widerstandszieles gegeben sein müsse, wenn ein Recht zum Widerstand anerkannt werden solle. Nun hat aber auf dem Höhepunkt der Entwicklung, wie sie sich den Männern des Widerstandes darstelltc, ein ganz besonderer Gesichtspunkt Geltung gewonnen. Erfüllt von dem nämlich, was jene Männer wußten, und sie wußten von den geheimsten Vorgängen unter dem nationalsozialistischen Regime ja weit mehr als etwa die Anhänger und Mitläufer — Konzentrationslager, Euthanasie, Erschießung der Juden in Rußland, und schließlich Judenvernichtung als methodisch-rationelle, automatische Maßnahme mit den bestmöglichen technischen Mitteln —, erfüllt von all diesem Wissen, wurde ein Teil der Widerstandskämpfer von der Überzeugung ergriffen: Wir müssen die letzte Konsequenz ziehen, wir müssen unter allen Umständen, um der Tat an sich willen handeln — Tresckow erinnerte an die zehn Gerechten in Sodom —, wir müssen durch diese Tat als sichtbaren, aktiven Protest beweisen, wie wir zu jenen verbrecherischen Maßnahmen der gegenwärtigen Staatsführung stehen, und zwar selbst dann, wenn unser Handeln nicht mit Sicherheit zu einer Besserung führt.
Stadtmüller: Wenn ich Sie recht verstehe, Herr Dr. Krausnick, würde ich in Ihrem Sinne einschalten: „Damit gewissermaßen die Ehre des deutschen Namens gerettet wird“.
Krausnick: Des Menschen — als Ebenbild Gottes verstanden — überhaupt. Es handelte sich um eine Rückbesinnung auf das Elementar-Menschliche. Hitler sprach von den lächerlichen Fesseln einer sogenannten Humanität. Rosenberg wollte neben der „Nationallehre“ keinen gleichen Wert anerkennen, „weder die christliche Liebe, noch die freimaurerische Humanität, noch die römische Philosophie“, wie er sich ausgedrückt hat. Die höchsten sittlichen Werte wurden einer auf die Spitze getriebenen Staatsräson geopfert. Himmler endlich erklärte unumwunden, man müsse den fremden Völkern „das gute Blut“ entziehen, indem man ihnen nötigenfalls die Kinder raube. Denn man begehe ein Verbrecben gegen das eigene Blut, wenn man einen künftigen Feind, der dann vielleicht unsere eigenen Söhne und Enkel umbringen werde, auf der anderen Seite lasse. Mit dieser Logik konnte man es schließlich auch rechtfertigen, jeden Ausländer zu vergiften, der sich mit einem Deutschen zu Tische setzte. Denn auch er oder seine Kinder konnten eines Tages die Waffe gegen Deutschland erheben. Es war nur natürlich, wenn auf eine derart „konsequente" Haltung viele Männer des Widerstandes mit der letzten Konsequenz eines aktiven Protestes reagierten, dem allein noch das Bewußtsein einer letzten sittlichen Verpflichtung zugrunde lag. v. Witzleben: Meine Herren, was wir bisher besprochen haben, hat mich so sehr berührt, weil wir auch Persönlichkeiten kennen, die auf dem Standpunkt stehen, daß es angesichts der politischen Lage, die uns wohl früher oder später wieder eine neue Armee bringt, nicht für ratsam gehalten wird, zu diesen Fragen überhaupt Stellung zu nehmen. Ich stehe genau auf dem gegenteiligen Standpunkt. Wir alle hier sind der Ansicht, daß es gerade am Vorabend einer deutschen Wiederbewaffnung zwingend notwendig ist, über diese Fragen glasklar zu sprechen.
Stadtmüller: Es wurde gesagt, die ethische Entscheidung für oder gegen den Widerstand könne nur in actu gefällt werden. Nun ist es ja unser Bemühen, hier so etwas wie eine normative Theorie der Widerstandsmöglichkeit, des Widerstandsrechtes, zu erarbeiten. Ist es aber im Sinne einer Formung des Gewissens nicht notwendig, schon im vorhinein dem Menschen gewisse Normen des Verhaltens mit auf den Weg zu geben, wie einen Marschkompaß, damit er, wenn eines Tages die Gefahr auf ihn zukommt, nicht völlig unvorbereitet ist? Die Misere war ja doch die, daß der Großteil der politischen und auch der militärischen Generation dem „Dritten Reich“ deswegen ausgeliefert war, weil man über diese Fragen niemals nachgedacht hatte. Die Menschen hatten unter gottesfürchtigen Königen und Kaisern gelebt, unter denen so etwas nicht vor-kam, und da konnte man sich den Luxus eines bedingungslosen Gehorsams leisten; denn der Gehorsam wurde nicht mißbraucht. Als sich nun die andere Situation ergab, stand man ahnungslos und hilflos da.
Normative Richtungspunkte Künneth: Meine Herren, es kommt mir sehr darauf an, daß eines deutlich wird: Der Ansatzpunkt liegt in dem rechten Verständnis des Amtes, des verantwortlichen Berufes. Pater Pribilla hat mit Recht darauf hingewiesen, daß es hier um theologische Erwägungen geht. Gleichwohl möchte ich hier noch einen Schritt weitergehen und das aufgreifen, was Herr Kollege Kinder ja auch angedeutet hat. Diese theologischen Erwägungen sind nicht privattheologische Äußerungen, sondern es sind notwendige, wie ich meine, legitime Konsequenzen, die sich aus der Lehre der evangelisch-lutherischen Kirche, wie sie etwa in den Bekenntnisschriften niedergelegt ist, ergeben müssen. Es ist nicht so, daß gleichsam damit ein neues Lehrstück entwickelt wird, indem man sagen kann: „Was fällt Euch ein? Ihr behauptet da Dinge, die vielleicht sogar im Widerstreit zu Eurer bisherigen Auffassung stehen!“ Da würde ich sagen: Nein, das wäre ein Irrtum. Es wird hier nur eine Linie ausgezogen, die keimhaft schon in der Lehre enthalten war. Es wird hier nur etwas entfaltet, exemplifiziert, was schon latent dargelegt war, und darum, würde ich sagen, handelt es sich hier um mehr als eine nur persönliche, private Meinung über eine brennende Gegenwartsfrage, sondern um eine Folgerung aus unserer Lehre. Im übrigen kann ich mich ja nur freuen, Kollege Kinder sicher genau so wie ich, über die weitgehende Übereinstimmung in diesen Fragen, die uns hier mit der katholischen Theologie verbindet.
Dr. Krausnick sagte, es scheine nicht berücksichtigt worden zu sein, daß die Männer des 20. Juli auf jeden Fall handeln wollten, handeln mußten. Sie sagten sich etwa: „Gleichviel wie das auch sein mag, wenn uns auch die Möglichkeit einer Besserung nicht geschenkt wird, müssen wir hier ein Zeichen aufrichten, eine Tat einen notwendigen Protest der — sagen wir einmal — echten deutschen Nation, des echten deutschen Staates gegenüber diesem ganzen Perversionsgeschehen, das uns umgibt“.
Hierzu würde ich folgendes sagen:
Rückschauend werden wir selbstverständlich feststellen müssen, der historische Respekt und die höchste Hochachtung vor diesen Männern, ihrem Wollen und ihrem Handeln ist unantastbar.
Damit würde ich das, was ich sage, historisch gesehen, akzeptieren können. Aber gerade weil es uns nun darauf ankommen muß, gewisse normative Richtlinien herauszuarbeiten, — würde ich sagen: Für die Zukunft könnte ich den Standpunkt, daß ein Widerstand auch dann unter allen Umständen berechtigt ist, wenn keine Möglichkeit der Realisierung gegeben ist, zwar, historisch gesehen, mit Respekt registrieren, aber nicht gutheißen. Für die Zukunft, meine ich, muß festgehalten werden — das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, eine wichtige Sicherung gegen den Mißbrauch: Ihr müßt Euch genau überlegen, ob eine solche Realisierung möglich ist oder nicht.
Gewiß ein echtes Zeichen ist am 20. Juli aufgerichtet worden! Ich halte diese These z. B. für falsch zu sagen: „Dort handelt es sich um ein Beispiel dafür, daß ein Eidbruch unter gewissen Voraussetzungen möglich ist". Es handelt sich hier nicht um einen Eidbruch, im Gegenteil: In der verantwortlichen Stellung handelt es sich umgekehrt um die Erinnerung an das rechte Verständnis des Eides. Darum geht es nämlich. Hier wird einmal deutlich gemacht, was ein Eid sein soll und sein muß.
Also ein echtes Zeichen, das lasse ich gelten. Aber für die Zukunft würde ich meinen, daß der Gesichtspunkt, ob eine Aktion sinnvoll verwirklicht werden kann, sehr wichtig genommen werden muß. Wir dürfen darauf nicht verzichten. Damit habe ich Ihre Frage, meine ich, zum Teil beantwortet. Ich beantworte sie ganz eindeutig so: Selbstverständlich muß es hier in diesen politisch-ethischen Erwägungen um das Aufzeigen normativer Richtlinien gehen, ganz unbedingt; aber um normative Richtlinien, nicht um casuistische Festlegungen. Wir können also niemals ein Rezept geben oder eine Skala aufstellen, in der wir alle möglichen Dinge aufzeichnen, die irgendwie einmal in der Weltgeschichte passieren könnten. Dazu ist die Weltgeschichte viel zu kompliziert und zu weitschichtig, viel zu hintergründig, um das alles erfassen zu können. Wir können nur bestimmte Grenzen aufzeigen. Ich möchte beinahe sagen, daß wir jetzt wie auf einem Schneefeld verschiedene Zeichen aufstecken und sagen: Dorthin, in diese Richtung muß marschiert werden. Es gibt hier noch einen Spielraum von Möglichkeiten, aber dies ist die Richtung. Die normativen Richtungspunkte umgrenzen also ein Gebiet des ethisch Möglichen, möchte ich sagen. Wie Sie mit Recht angeführt haben: Das wäre also der Marschkompaß, den wir hier geben können und geben müssen, wobei dann freilich innerhalb des abgesteckten Gebietes nach wie vor die freie, verantwortliche Entscheidung in actu immer und immer aufs neue erforderlich ist. Wenn heute eine solche Entscheidung getroffen wird, so heißt das nicht, daß Du morgen das gleiche wieder tun kannst. Das muß jeweils immer wieder neu durchdacht, durchrungen werden, weil die Lage neu ist und weil die ethische Möglichkeit auch für die einzelne, verantwortliche Persönlichkeit immer wieder neu als Ausgabe gestellt ist.
Stadtmüller: Also darf ich feststellen, daß wir uns über die Notwendigkeit einer normativen Theorie einig sind.
Krausnick: Als Hilfskonstruktion.
Wann entfällt die Gehorsamspflicht?
Stadtmüller: Mir persönlich ist der Ausdrude „Hilfskonstruktion“ um eine Nuance zu abschätzig. Ich würde sagen: Der abzusteckende Raum für die situativen Entscheidungen des Gewissens. Es wird der Raum abgesteckt, innerhalb dessen die Gewissensentscheidung überhaupt erst erlaubt ist.
Ich habe dann eine zweite Frage, -von der ich glaube, daß sie unsere Problematik im Kern berührt. Sie haben in Ihren Darlegungen das Problem gewissermaßen von der Subjektseite der Handelnden, der zum Handeln Aufgerufenen untersucht, haben einige Voraussetzungen für die Alleinberechtigung des Handelns angeführt, die verantwortliche Position der Handelnden, die Einsicht in die Notstandssituation, dann das Wissen darum, was geschehen muß, um einen sachgemäßen Dienst an der Staatsordnung als einer Gottesordnung vollziehen zu können, dann die sachliche Möglichkeit der Realisierung, ferner die Weise der Durchführung, die eine Ermessensfrage der technischen Zweckmäßigkeit militärischer und politischer Art ist. Nun entsteht meines Erachtens noch eine sehr wesentliche Frage vom Objekt her, gegen das sich diese Notwehrhandlung der Widerstandswilligen richtet. Wann entsteht die ethische, die im engeren Sinn ethische Voraussetzung, die dem Widerstandleistenden überhaupt erst die Bahn frei macht, so daß er sagen kann: Hier muß ich Widerstand leisten. —
Es ist der Ausdruck „pervertierter Staat“ gebraucht worden. Wir wissen in unserem Kreise ungefähr, was wir uns darunter vorzustellen haben. Aber eine solche Formulierung ist so global, daß sie ebenfalls die Gefahr des Mißbrauches enthält. Denn die Presse der Sowjetzone wird ohne Zweifel die Bundesrepublik als pervertierten Staat bezeichnen — ich greife das als krasses Beispiel heraus. Der propagandistisch-agitatorische Mißbrauch solcher runden Formulierungen ist evident, und wir müssen hier eine klare Umschreibung suchen. Wann hat die Entartung des Staates, die Entfernung von seiner gottgewollten Aufgabe der Rechts-setzung, der Friedenswahrung und so fort einen solchen Grad erreicht, daß die Gehorsamspflicht für den einzelnen Staatsbürger, d. h. für den, der an verantwortungsvoller Stelle steht, entfällt? v, Witzleben: Herr Professor, meinen Sie mit dieser Frage jetzt das „Dritte Reich“ oder meinen Sie es allgemein?
Stadtmüller: Das meine ich allgemein. Das „Dritte Reich“ ist für uns ja nur ein Exempel, an dem wir die grundsätzliche Frage erörtern wollen. Wann ist der Widerstand erlaubt, wann die Widerstandspflicht und das Widerstandsrecht freigegeben? Zunächst generell, aber man kann cs ja am Beispiel des „Dritten Reiches" exemplifizieren. Wir sind uns darüber klar, daß man diese Blancovollmacht nicht bereits dann für sich fordern kann, wenn einem irgendwelche Gesetze des Staates nicht mehr passen oder man mit der Politik nicht einverstanden ist, weil man sie für verhängnisvoll hält. Das sind ja alles erst Ermessensfragen. Ich möchte darauf hinaus: Wann ist die ethische Entartung so fortgeschritten, daß der Staat den Anspruch auf die Gehorsamspflicht des Volkes verliert?
Künneth: Es ist schon hier, bei der Beantwortung der Frage, sehr wichtig, sich klar zu machen, daß nur ein begrenzter Kreis von Persönlichkeiten überhaupt in diese Situation kommt zu fragen, wann Widerstand geleistet werden muß. Es ist also ungemein wichtig, festzustellen, daß nur gewisse Spitzenämter oder Persönlichkeiten, die in besonders exponierten Rangstellungen stehen, vor diese Frage überhaupt gestellt werden.
Die große Masse des Volkes grundsätzlich nicht, auch nicht etwa Truppenkommandeure im allgemeinen. Es werden immer nur ganz wenige Persönlichkeiten sein, die überhaupt vor diese Frage gestellt werden. Das heißt also, daß die Beantwortung der Frage „wann“? ein ganz großes Maß der Sachkenntnis und Einsicht in die innere Entwicklung des Staats-lebens voraussetzt. Wenn Sie nun aber diese globale Ausführung etwas konkretisiert haben und wissen möchten, wo Symptome sind, so kann ich nur sagen: Gewiß, Symptome können wir immer wieder eine ganze Reihe feststellen.
Sendtner: Wenn wir die Erkenntnis gewisser Kriterien voraussetzen, die das Recht auf Widerstand verleihen, muß ich allerdings einwenden: Diese Erkenntnis konnte natürlich ebenso der Generalfeldmarschall wie der Gefreite haben. Diese Erkenntnis konnte der Gefreite haben, während es dem Generalfeldmarschall an der nötigen Intelligenz, an dem nötigen sittlichen Bewußtsein mangelte, um das zu erkennen. Die Frage, wer nun handeln durfte, möchte ich aber nicht etwa dahin abgrenzen: vom Generalmajor aufwärts. Denn Oberst Oster war ja auch nur vergleichsweise eine Mittelgröße, der hier das Recht auf Widerstand für sich in Anspruch nehmen konnte, aber er konnte es ja auch nicht allein machen, er brauchte alle möglichen Leute, darunter z. B.den damals kleinen Oberleutnant und Rechtsanwalt Müller. Mochte er an sich keine Machtposition im Staat haben, hier war an ihn die Frage unausweichlich herangetreten. Er und unzählige andere kleine Leute hatten ebenso das Recht, wenn sie die Erkenntnis hatten, das Recht und die Pflicht zum Widerstand.
Haseloff: Nur wenn sie an der entsprechenden Stelle standen. Das sagen Sie ganz richtig. Der Generalfeldmarschall, um es auch wieder überspitzt zu sagen, der fünf Jahre als Oberbefehlshaber an der Front nur die Nase nach dem Osten hatte, dem war es nicht möglich. Aber der Major, der meinetwegen als la der Operationsabteilung in Berlin saß, der hatte unter Umständen die Möglichkeit. So ist es abzugrenzen.
Sendtner: Im übrigen möchte ich, um es noch klarer auszudrücken, als Kriterium, wann das Recht auf Widerstand, immer inclusive Landesverrat, beginnt, nicht etwa bloß die subjektive Überzeugung nehmen, daß dieses Regime ins Unglück führt. Das würde ungefähr bedeuten, daß es bis zum Jahre 1943 kein Recht zum Widerstand gab, als dann aber bei Stalingrad langsam auch den Minderbegabten klar wurde, daß es in die Katastrophe ging, wäre das Recht zum Widerstand angegangen. So möchte ich es nun nicht fassen.
Wir brauchen nur an den Entwurf des Hirtenbriefes zu denken, der das von Hitler in den besetzten Gebieten begangene Unrecht brandmarkte, und an unsere damalige Auffassung, daß gerade die Kirche die Pflicht hat, den Diktator noch in dem Zeitpunkt anzugreifen, in dem er auf dem Höhepunkt der Macht steht, und nicht erst, wenn er im Gleiten ist.
Stadtmüller: Damit wir nicht aneinander vorbeireden, möchte ich meine Fragestellung erläutern. Mir geht es hier darum — einmal zu versuchen, von der Subjektseite abzusehen, von der Frage, wer die Erkenntnis hat. Mir geht es um die Objektseite. Kann man die Frage beantworten: Wann ist der Staat so entartet, daß er die gegenseitige Treuepflicht zwischen Staat und Staatsvolk verwirkt hat? Gibt es hier objektive Kriterien, die in der Art der Machtausübung liegen?
Künneth: Ich würde sagen: Objektive Kriterien in dem Sinne, daß das allgemein einsichtig, objektiv klargemacht werden kann, gibt es nicht. Es gibt nur bestimmte Symptome, etwa, — ich darf als Theologe sagen: Wenn das, was wir die zehn Gebote, den Dekalog, nennen, also das, was wohl für uns alle bindend ist, nicht mehr als grundlegendes Prinzip für die Staatshaltung Anwendung findet. Etwa das fünfte Gebot also, denken wir an die Vernichtung der Juden, Vernichtung sogenannten „unwerten Lebens“, der Alten, der Geisteskranken usw.
Hier sehen wir ganz deutlich in den Hauptsymptomen ein System.
Stadtmüller: Sie sagen: Die zehn Gebote. Ist es nicht so, daß die drei oder vier ersten Gebote ja nicht unmittelbar den Sachverhalt tangieren? Ein Christ, der in einem heidnischen oder atheistischen Staat, welcher die Gebote eins bis drei nicht beachtet, lebt, erhält daraus noch in keiner Weise das Recht zum Widerstand. Sachlich relevant ist also an erster Stelle doch nur das fünfte Gebot und dieses doch in einmaliger Weise!
Künneth: Ja, aber das ist doch schon sehr wesentlich.
Kinder: Nehmen Sie das vierte Gebot: die Zerstörung der Familie, das sechste: der Zerstörung der Ehe! Wenn das dezidiert im Staatssystem liegt!
Stadtmüller: Ich wollte nur sagen, nicht alle zehn Gebote in gleicher Weise.
Künneth: Ich gebe ohne weiteres zu, daß für den Staat, wie er in der modernen Welt nun einmal entstanden ist, selbstverständlich die so-genannte zweite Tafel gültig ist, vom vierten bis zum zehnten Gebot nach unserer Zählung. Was Herr Kollege Kinder sagte, würde ich also durchaus bejahen:. Wenn die Grundlage der Familie, der Ehe vollkommen aufgelöst, wenn das fünfte Gebot in der Allgemeinheit der Staatsordnung nicht mehr ernst genommen wird; oder — wenn das Recht, die Rechtsprechung keine Rechtsprechung mehr ist, sondern einfach zu einer Funktion der Staatspartei wird, wenn das objektive Recht als solches aufhört. Das Recht, das wirklich nach der Gerechtigkeit und nicht nach dem Zweck, dem Nutzen fragt; wenn alles dies so überhand nimmt, daß man sagen kann: Eine Rechtsprechung ist hier systematisch nicht mehr möglich — so würde ich meinen, daß das eine Fülle von Symptomen ist, die dem Verantwortlichen zeigt, hier erblicken wir ein Gefälle, eine Lawine gleichsam, die immer mehr anschwillt und dem Abgrund zu-rollt. Das geht Tag für Tag, Jahr für Jahr immer weiter. Dann wird man sich fragen: Wenn das immer so weitergeht — wohin kommen wir?!
Das sind Beispiele dafür, die wir aber als solche, isoliert betrachtet, ablehnen müssen; denn, sehen Sie, das wäre casuistisch! wir können nun nicht sagen: Wenn zehn solche Fälle eingetreten sind, dann ist der Punkt erreicht. Ich kann nur sagen: Da gibt es eine Fülle von Symptomen großer und kleiner Art, die immer wieder darauf hinweisen, daß der Staat sich in einer ungeheuren inneren Auflösung befindet. Dann wird der Betreffende, sagen wir einmal der militärische Führer, der hier wirklich eine Macht in der Hand hat, oder der Politiker, der noch einen Einfluß besitzt, sich sagen müssen: Was muß ich tun, um dem Einhalt zu gebieten? Vielleicht geht es zunächst noch einmal auf legalem Wege. Vielleicht ist das schon nicht mehr möglich, dann habe ich einen anderen Weg zu beschreiten. Aber das sind alles Erwägungen, die er anstellen muß.
Auf Ihre Frage kann ich also nur antworten: Eine eindeutige Antwort casuistischer Art, wann der Zeitpunkt gekommen ist, halte ich für unmöglich. Möglich ist nur die Beobachtung und Registrierung der Fülle von Symptomen, die dieses Gefälle hin zum Chaos, zur Zerstörung der Staatsordnung anzeigt. Lind auf Grund dieser Symptome wird der ernsthafte Mann wieder in freier Entscheidung nach seinem Ermessen, nach seinen Möglichkeiten seine Maßnahmen treffen müssen.
Kinder: Wann ist nun der Punkt gekommen, wo diese ethische Möglichkeit, von der Objektseite her gesehen, gegeben ist? Kollege Künneth sagte, dafür könnten nur Symptome genannt werden. Ich versuche, etwas weiterzugehen. Dafür können Prinzipien gegeben werden, und da möchte ich zwei nennen: Einmal dann, wenn in der Wirksamkeit des Staates das Negative, das Verderbende überwiegt. Der Staat ist dazu da, das äußere Zusammenleben der Menschen zu ordnen und zu erhalten. Es gibt keinen idealen Staat; jeder Staat wird auch immer das Zusammenleben zerstören. Aber wenn das Zerstörende das Positive überwiegt, — so möchte ich das einmal als Prinzip benannt haben. Lind zweitens: Wenn dieses Zerstörende nicht eine Entgleisung oder einmalige Abweichung ist, sondern wenn es im System liegt, also keine Hoffnung besteht, daß es anders wird. Diese beiden Dinge als Prinzipien fassen das vielleicht zusammen. Natürlich, wann sind diese Prinzipien nun konkret vorhanden? Wann ist es wirklich so, daß das Negative überwiegt und im Wesen des Staates unheilbar ist? Da, glaube ich, umschließt im konkreten Falle schon die Erkenntnis dieser Tatsache ein Stück der Entscheidung. Die Feststellung, daß es soweit ist, gehört schon mit in die Entscheidung zum Widerstand. Man kann da nicht trennen und sagen: Erst feststellen, daß hier die Möglichkeit gegeben ist, und dann zweitens feststellen, ich muß Widerstand leisten. Motiv darf, glaube ich, niemals das ethisch noch so berechtigte Sühnen sein, das Rachenehmen, das Bestrafen. Es dürfen hier, möchte ich sagen, keine Leidenschaften mitspielen, sondern nur die ganz nüchterne Sachlichkeit; denn es geht im Staat und im Politischen nicht um Ideale, sondern um Realitäten. Der Blick auf diese Realitäten darf nicht verloren gehen.
Unterscheidung zwischen Widerstand und Symbol Pater Pribilla: Wir haben festgestellt, daß eine Konvergenz auch der Theologen zustande gekommen ist. Es hat aber der Katastrophe des „Dritten Reiches“ bedurft, bis diese Frage wieder neu behandelt worden ist. Und wir wollen diese Frage neu durchdenken, damit uns nicht das nächste Mal auch wieder klare Begriffe fehlen! Denn sonst gäbe es wieder eine Katastrophe.
Dann scheint mir Herr Dr. Krausnick ein ganz wichtiges Moment hervorgehoben zu haben, das vielleicht beim 20. Juli oft übersehen wird: Die Unterscheidung zwischen Widerstand und Symbol. Der 2 0. J u 1 i ist als Widerstand gescheitert, aber als Symbol hat er gesiegt. Da haben wir das konkrete Beispiel, ich-kann natürlich nur von einem Fall ausgehen, von Johannes dem Täufer, der dem Herodes gegenübertritt und sagt: „Non licet"! Es ist Dir nicht erlaubt! — Er hat damit gar nichts erreicht, er ist umgebracht worden, und Herodes hat sich nicht bekehrt, Aber es gibt in solchen Lagen, auch im Staatsleben, einen Protest durch Untergang, indem durch diesen Untergang ein Symbol errichtet wird. Jetzt z. B. sagen die Amerikaner: Da sind doch Leute in Deutschland gewesen, die diesen Staat nicht bejaht haben; und dieses Symbol ist geblieben. Das hat auch der Staatssekretär v. Weizsäcker in seinem Buch gesagt: Wenn auch diese Bewegung sich nicht durchgesetzt hat, so hat sie doch vor der ganzen Welt das Zeichen des Protestes aufgerichtet, daß nicht das ganze deutsche Volk verkommen war und einfach ein Opfer Hitlers geworden ist. — Und ich meine, das müssen wir auch in unserer Darstellung des 20. Juli hervorheben.
Sie können das oft in der Geschichte verfolgen, in Zeiten des Nieder-ganges errichten oft die Leute, die umgebracht werden, die elend zugrunde gehen, das moralische Symbol, das sagt: So hätte die Menschheit sein müssen! — Krausnick: Herr Professor Kinder hat etwas sehr Wichtiges ausgesprochen, nämlich das Wort „System". Eben wenn diese Fehler im Staate nicht irgendwie improvisierte, individuelle Zufälle sind, sondern Teile eines Systems, wie das im „Dritten Reich“ der Fall war, «dann liegt ein ganz anderer Tatbestand vor, und damit kann man sich auch gegen Beispiele wie Nero abgrenzen, wo es ja nicht zum System erhoben wurde. Hier ist 'ein völlig anderer Standpunkt geltend, und in diesen Tatbestand haben die Leute vom 20. Juli großenteils wirklich Einsicht gehabt durch ihre enge Berührung mit der Staatsführung.
Künneth: Herr Kollege Kinder hat vollkommen recht. Es geht hier um die Erkenntnis eines negativen Prinzips. Diese Erkenntnis, es handelt sich um ein falsches, negatives System der Zerstörung, gewinne ich auch an den Symptomen. Insofern hängen die Symptome und das Prinzip natürlich aufs engste zusammen. Der Schlüssespunkt, um den mein theologisches Denken sich bewegt, ist der Begriff des Staates als einer Erhaltungsordnung Gottes. Wenn nämlich der. Staat, meiner Einsicht nach, diesem Erhaltungswillen Gottes nicht mehr dient, dann ist eben der Punkt erreicht, wo der innere Widerstand bereits beginnt und wo eine innere Vorentscheidung schon gefallen ist. Sie haben mit Recht darauf hinge-wissen, das seien auch Symptome, Unterbindung jeder Legalität, oder Millionenmord latenter Art vielleicht, damit beginnende und fortschreitende Bedrohung der Existenz des Volkes, Das sind alles wieder Gesichtspunkte, welche die Entscheidung bestimmen.
Die Erkenntnis, daß gehandelt werden muß, ist der Schlußstrich einer Entwicklung, ist das Ergebnis eines inneren Ringens. Um diese Entwicklung, dieses innere Sich-Auseinandersetzen für und wider, das scheint mir gerade ethisch ungemein notwendig zu sein. Es ist also nicht damit gedient, daß ich sagen kann: Das ist alles nicht so entscheidend, entscheidend ist allein die Handlung. — Nein, ich würde sagen, schon die ganze Vorerwägung, die zu der letzten Reife führt, ist das eigentlich ethische Anliegen.
Zur Vermeidung eines Mißverständnisses darf ich noch eines betonen. Es ist selbstverständlich richtig: Symptome einer Entartung des Staates finden wir natürlich in aller Welt. Heute ist es durchaus möglich, in unseren demokratischen Staatssystemen eine Fülle von Entartungserscheinungen aufzuzeigen. Jeder Staat, mag er so gut erscheinen, wie er will, trägt immer das Gefälle zu einer Totalität in sich, also immer zu einer Entartung. Darum ist es natürlich richtig zu sagen, es kommt darauf an, ob diese Symptome nicht nur Zufälligkeiten einer Entartung sind, die lokal, personell verschieden gelagert sein mögen und sich wieder ändern — in dieser Entwicklung befinden wir uns ständig —, sondern Symptome einer grundsätzlichen Perversion der Staatsordnung.
Hölper: Ich möchte in diesem Zusammenhang auch die Frage aufwerfen, ob bei der Entscheidung, wann eine grundsätzliche Perversion der Staatsordnung vorliegt, nicht auch von einem historisch gewachsenen europäischen Staatsbegriff ausgegangen werden kann, einem Begriff, der sich inhaltlich und in seiner Zielsetzung vielleicht kurz den mit allerdings viel mißbrauchten Revolution Schlagworten der französischen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ erfassen läßt. Wenn nun ein Staat alle diese in seiner Verfassung verankerten Grundrechte des Individuums außer Kraft setzt in der Absicht, den Staatsbürger zum Objekt und seelenlosen Werkzeug seiner schrankenlosen Willkür herabzuwürdigen, dann ist doch wohl zu erkennen, daß es sich nicht nur um vorübergehende Entartungserscheinungen handelt sondern bereits um eine grundsätzliche Hinwendung des ganzen Systems zum Unrecht. Ich darf vielleicht auch noch darauf hinweisen, daß zwischen Revolution und Widerstand, Begriffe, die in unsere Diskussion des öfteren als gleichbedeutend nebeneinandergestellt wurden, doch ein wesentlicher Unterschied besteht. Der Revolutionär will den Umsturz einer nicht notwendigerweise pervertierten Staatsordnung herbeiführen, um durch eine totale Umwälzung seine politischen und sozialen Reformpläne verwirklichen zu können. Der Widerstand, wie wir ihn verstehen, erstrebt demgegenüber die Wiederherstellung der alten Rechtsordnung und trägt daher im Gegensatz zur Revolution ein konservatives Grundelement in sich.
Stadtmüller: In meinem privaten Wörterbuch existiert das Wort „Demokratie" nicht; nicht deswegen, weil ich ein Gegner der Demokratie wäre, sondern weil es meines Erachtens ein Kautschukbegriff ist, der von allen Seiten mißbraucht wird. Ich pflege von „Rechtsstaat“ zu sprechen, das ist eindeutiger, und darunter kann man sich etwas Substantielles vorstellen. Ich hätte also nicht nur Bedenken dagegen, die formal-demokratischen Parolen zu Maßstäben für den sittlichen Charakter des Staates zu machen; denn die Gleichheit aller Menschen und die Majorität als Formulierungsprnzip der Gesetzgebung sind mir persönlich durchaus problematisch. Ich würde aber, auch wenn ich vom Rechtsstaat ausgehe, im substantiellen und ethischen Sinne dieses Wortes Bedenken dagegen haben, zu sagen, wenn die Staatsgewalt die Verfassung verletzt, so ist damit schon automatisch das Recht oder die Pflicht zum Widerstand begründet. Denn hier kommt eben der Gesichtspunkt herein, daß ja, wenn ich so sagen darf, eine Güterabwägung stattfinden muß. Ich muß also das verlorengehende Gut der Verfassungsbewahrung abwägen gegen die Gefahr, die duich das Widerstandsrecht entsteht — auch wenn es sich nur um die Gefahr des schlechten Beispiels und der Illegalität handelte. Das ist, glaube ich, erst der Auftakt zu einer Situation, in der das Widerstandsrecht in Funktion tritt, noch nicht der auslösende Moment. Krausnick: Aber ein Symptom ist sicherlich gegeben, wenn an Stelle des Richters die Polizei tritt. Wenn man den Betroffenen beispielsweise nicht mehr die Strafgerichtsbarkeit zugute kommen läßt, sondern sie einfach der Polizei übergibt, um sofort den Kurzschluß herzustellen zwischen Tat und Bestrafung ohne Verurteilung, wie es bei den Juden der Fall war.
Stadtmüller: Das spielt in das hinein, was Herr Professor Kinder nannte: Wenn das Unrecht zum System erhoben wird. Hier sehen wir einen Eckpfeiler des Rechtsstaates fallen, die Unabhängigkeit der Rechtssprechung.
Hölper: Jedenfalls muß der Widerstand gegen einen totalitären Staat möglichst frühzeitig einsetzen, um, entsprechend dem von Ihnen, Herr Professor, aufgestellten Postulat, begründete Aussicht auf Erfolg zu haben. Denn jeder totalitäre Staat ist von Anfang an bestrebt, sich in kürzester Zeit einen mit allen Machtbefugnissen und den modernsten technischen Mitteln ausgestatteten Polizei-und Propagandaapparat aufzubauen mit dem einzigen Ziel, die sogenannten Staatsfeinde zu vernichten. Und je besser diese Maschinerie des Terrors im Laufe der Zeit funktioniert, desto schwieriger wird erfahrungsgemäß der Widerstand. Daraus ergibt sich die auch historisch begründete Notwendigkeit, einen einfachen Maßstab für eine schnelle und frühe Erkenntnis der totalen Perversion eines Staates zu findensund diese Erkenntnis nicht durch ein Zuviel an ethischer Problematik zu erschweren. Und ein solcher einfacher Maßstab scheint mir eben das Außerkraftsetzen aller der verfassungsmäßigen Rechte zu sein, welche die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit zu schützen bestimmt sind. Dieser Maßstab wird auch meiner pragmatischen Forderung nach einem frühzeitigen Einsetzen des Widerstandes gerecht, weil erfahrungsgemäß die Beseitigung der Grundrechte im am Beginn seiner Machtentfaltung Staat rechtswidrigen zu stehen pflegt.
Pater Pribilla: Das angelsächsische Recht hat schon längst erkannt, daß die Anfänge der Diktatur an der Abschaffung der Unabhängigkeit der Richter und an der Unterdrückung jeder Kritik an den Übeln des Staates erkennbar werden.
Krausnick: Hitler hat ja schon den Begriff „Revolution“ verfälscht. „Revolution“ war für ihn nicht Durchgangsphase zu einer höheren Legalität, sondern „Revolution“, wie er sie am 23. März 1933 verstand, war für ihn hinter legaler Fassade ein Übergang zur Illegalität in Permanenz. Man hat das damals natürlich nicht erkannt, sondern sich an den überkommenen Idealbegriff „Revolution" gehalten.
Künneth: Ich glaube, wir müssen unterscheiden zwischen den verschiedenen geschichtlich gewachsenen Staatsformen, also etwa zwischen dem monarchistischen Prinzip oder dem der Volkssouveränität, — Die Revolution hat es immer wieder mit der Frage der Änderung, der Verbesserung der Staatsformen zu tun. Wenn ich recht sehe, geht es aber hier bei unseren Problemen um etwas ganz anderes. Hier geht es gar nicht um die Frage der besseren oder schlechteren Staatsform, die natürlich historisch ganz relativ ist, sondern um die Frage des Staates überhaupt als einer Ordnung Gottes oder einer vollkommenen Perversion des Staates zu sich. Ob das nun ein pervertierter Monarchenstaat ist oder eine pervertierte Demokratie, ist unwesentlich. Ich würde also sagen: Der totale Staat ist nicht eine neue Staatsform, sondern der entartete Staat schlechthin.
Krausnick: Der sogar auf die Veränderung der Substanz der Menschen ausgeht.
Kinder: Und der in jeder Staatsform vorkommen kann.
Künneth: Diese Perversion, dieses Gefälle zur Totalität, kann sowohl in der Demokratie einsetzen, wie auch in irgendeinem monarchischen System. Es geht hier immer um die wesenhafte substantielle Verdunklung und Verzerrung dessen, was ein Staat sein soll. Und Widerstand heißt hier, daß wir uns gegen diese grundsätzliche Verzerrung des Staates an sich wenden.
Stadtmüller: Praktisch wäre das also dann zu erkennen, ob die Machtmittel des Staates zu sittlichen oder zu unsittlichen Zwecken ausgenützt werden.
Hölper: Herr Professor Künneth, gelten die Thesen, die Sie nun über die ehische Berechtigung eines Widerstandes aufgestellt haben, mit allen Konsequenzen, selbst denen eines Landesverrates, auch dann ganz uneingeschränkt, wenn sich das Volk, bzw.der Staat im Kriege befindet? Künneth: Darauf würde ich sagen: In dieser Situation erst recht!
Stadtmüller: Darf ich nach der Begründung des „erst recht“ fragen?
Künneth: Die Verantwortung der genannten Persönlichkeiten, die in dieser Situation eine Entscheidung vollziehen, ist natürlich im Kriege eine unvergleichlich größere. Das innere Ringen um das Recht, um die'ethische Möglichkeit eines Widerstandes in dieser Situation ist selbstverständlich ein viel tieferes, als es vielleicht in anderen Zeiten denkbar wäre. Ebenso ist aber auch die Gefahr, die dem Staat und damit dem Volke droht, unendlich viel größer, und der Größe der Gefahr entspricht die Größe der Verantwortung; darum auch das Gewicht der Entscheidung, die hier verlangt wird.
Kinder: Ich glaube, in unserer modernen Zeit ist ein Krieg keine Episode, die ein Staat überdauert, sondern in einem Kriege kommt das Wesen eines Staates zum Vorschein — im Bösen wie im Guten. In einem Krieg reift die Art eines Staates, die sonst latent vorhanden ist, aktuell aus, und darum dieses „erst recht“. Ein Krieg kann ein Staatswesen auf lange Zeit festigen, und ein Krieg kann es zu Fall bringen. Irgendwie ist also der Krieg stets die Krisensituation für das ganze Wesen eines pervertierten Staates.
Das Naturrecht Stadtmüller: Wir hatten bei unseren bisherigen Bemühungen um die Erhellung dieser grundsätzlichen, mehr normativen Fragen mit einer offenkundigen Differenz der Anschauungen zwischen der evangelischen und der katholischen Theologie zu tun, aber auch innerhalb der evangelischen Theologie. Ich selbst habe auf Grund meiner mehr literarischen Beschäftigung mit der Frage etwa den Eindruck, daß das Naturrecht seit 1850 fortschreitend in den Geruch der Antiquiertheit und der Diffamierung geraten ist. Der Positivismus hat gesiegt. Eberhard Schmidt hat sich einmal den Ausspruch geleistet, daß man sich in einem gesicherten Rechtsstaat den Luxus des Positivismus erlauben könne. Der Positivismus ist Trumpf.
Die Anhänger des Naturrechtes werden immer spärlicher, sie beschränken sich fast auf das Ghetto der katholischen Moraltheologie, wo sie ein etwas fremdes Winkeldasein führen, gesehen im Strom der großen Entwicklung. Wo es Leute gibt, die außerhalb dieses Ghettos das Naturrecht vertreten, hüten diese sich schamhaft davor, den hausbackenen Ausdruck „Naturrecht“ zu gebrauchen, und suchen nach einem anderen Ausdruck, der originell und neuartig ist. So spricht Stammler vom „richtigen Recht“, Joseph Kohler vom „Kulturrecht“ und Reinhardt von „apriorischen Grundsätzen des Rechts“ usw. Es soll um Himmels willen ein neues Zündhütchen darauf, damit die alte Patrone wieder knallt.
Nun kenne ich die politische Ethik der evangelischen Theologie zu wenig. Es ist doch wohl so, wenn ich richtig sehe, daß hier zum mindesten der Ausdruck „Naturrecht“ nicht gebraucht und auch die Vorstellung eines natürlichen Rechtes, das vom Menschen kraft der natürlichen Einsicht erkannt werden kann, das vorstaatlich und übergesetzlich ist, abgelehnt wird.
Daneben stehen allerdings andere Äußerungen, vor allem aus jüngster Zeit. Ich denke an den Reformierten Emil Brunner, der in seinem großen Buch über die Gerechtigkeit den umfassenden Versuch einer reformierten Naturrechtslehre unternimmt. Dann erinnere ich mich dunkel an einen Aufsatz von Helmuth Thielcke in der „Universitas“ vor einigen Jahren, der auch daran anklingt, an Gedankengänge, des Kieler Propstes Hans Asmussen und dann zuletzt an das eindrucksvolle Bekenntnis eines evangelischen Laien zum Gedanken des Naturrechtes, nämlich an Ihre Äußerungen, Herr Präsident Weinkauff. Sie erklärten in Ihrer programmatischen Antrittsrede, als Sie Ihr Präsidentenamt in Karlsruhe übernahmen, das Naturrecht sei notwendig, da in ihm die einzige Garantie gegen jenen Rechtspositivismus liege, der nur allzu gerne auch das Unrecht in das Gewand des Gesetzes kleide. Gerade auf dem entscheidenden Gebiet der schöpferischen Auslegung des. gesetzten Rechtes und der Ausfüllung der immer vorhandenen Lücken sei ohne die unverrückbaren Richtlinien des Naturrechtes keine gedeihliche Arbeit im Richteramte möglich.
Es ist nach der Katastrophe von 1945, als der verbrecherische Charakter des „Dritten Reiches" so evident wurde, ja fast Mode geworden, nach der Rückkehr zum Naturrecht, nach der Wiederkehr des ewigen Naturrechtes zu rufen, ein geistesgeschichtlich etwas extremer Pendel-schlag, der in mir selbst Unbehagen hervorruft. Man ist über das berechtigte Ziel hinausgeschossen, man sah nicht die Gefahr, die in einer schrankenlosen Ausweitung naturrechtlichen Denkens liegt. Dabei sind die Rufer nach der Wiederherstellung naturrechtlicher Argumentation seit 1945 großenteils evangelische Rechtsphilosophen.
Künneth: Die Frage des Naturrechts spielt auch in der Besinnung der heutigen evangelischen Theologie, wie Sie schon sagten, eine erhebliche Rolle. Ohne diese weitschichtige und komplizierte Frage auch nur annähernd gültig erörtern zu wollen, darf ich versuchen. Ihnen drei Gesichtspunkte als eine kleine Antwort zu geben.
1. Die Besinnung auf das Naturrecht hat ein relatives Recht als Reaktion gegen den Positivismus.
2. Die Frage nach dem Naturrecht muß als eine legitime Frage, als eine Frage nach gültigen letzten Prinzipien verstanden werden, die das Handeln auch im Raume der Politik nicht der Willkür preisgibt.
3. Ich würde allerdings — abgesehen von den abweichenden Äußerungen, die Sie erwähnten, sagen, daß wohl die gesamte evangelische Theologie, wenn ich recht sehe, den Begriff „Naturrecht“ nicht akzeptiert, und zwar aus folgendem Grunde:
Die naturrechtlichen Begriffe — etwa: Gerechtigkeit, Freiheit der Persönlichkeit, Billigkeit — sind Formalbegriffe; geschichtlich sind sie ausgesprochen relativ. Wir können wohl immer praktisch sagen, was nicht recht ist; aber wir können positiv außerordentlich schwer sagen, was jeweils recht ist. Das hat nach unserer Auffassung einen theologischen Grund.
Das, was wir Natur und natürliche Erkenntnis nennen, ist nämlich immer eine, durch die Sünde, oder die Tatsache der gefallenen Schöpfung, der gefallenen Welt, der nicht mehr in Ordnung befindlichen Menschheit, gekennzeichnete Sachlage. Das also, was wir Natur nennen, ist für uns zweideutig, relativ, fragwürdig. Wir können immer nur sagen: Hier steckt eine Frage. — Wir können aber aus der Natur nicht ablesen, was nun eigentlich das Prinzip ist.
Und darum ist der Begriff „Naturrecht" mindestens mißverständlich, mindestens zweideutig. Was wir sagen wollen — und damit glauben wir, das Anliegen des Naturrechtes aufzunehmen — scheint uns besser in dem begründet zu sein, was wir eine Theologie der Ordnungen nennen.
Stadtmüller: Also nicht eine Philosophie der Ordnungen! Darauf läuft die Frage hinaus.
Künneth: Richtig, eine Theologie der Ordnungen. Das heißt, wir sehen das Weltganze und das Ordnungsgefüge der Welt von der Offenbarung her, unter der Offenbarungsperspektive, und damit gewinnen wir eine neue Blickrichtung. Wir würden also sagen —: Eine Ordnung an sich können wir natürlich niemals mehr so sehen. Wir haben nicht mehr den paradiesischen Zustand, wir erkennen nicht mehr den ursprünglichen Willen Gottes, sondern können nur dialektisch verschiedene Aussagen zugleich machen.
Ich würde also sagen: In einer Staatsordnung spiegelt sich einmal ein Wille des Schöpfers wider, zugleich aber auch sein Wille zur Abwehr des Chaos, der Sünde, des Bösen.
Stadtmüller: Sie sehen es also heilsgeschichtlich.
Künneth: Ja, das Heilsgeschichtliche, ich könnte auch sagen das Escha-tologische, so nennen wir Theologen es; das heißt das, was auf ein Escha-ton, auf ein Telos, auf ein Ziel, nämlich auf — sagen wir einmal — das Imperium Christi hinzielt.
Der Staat ist eine Ordnung Gottes zur Erhaltung der Welt für das Reich Gottes. In dieser Richtung etwa gehen die Gedanken der evangelischen Theologie. Daraus lassen sich nun, vom Offenbarungsaspekt her gesehen, in der Tat auch normative Prinzipien aufzeigen. Das sind aber dann Prinzipien nicht naturaliter, sondern Prinzipien auf Grund der Revelation.
Stadtmüller; Das ist also kein Naturrecht, sondern ein Offenbarungsrecht. Künneth: Es handelt sich um abgeleitete Prinzipien auf der Basis der Offenbarungserkenntnis.
Stadtmüller: Gibt es sittliche Grundnormen, die der Staats-und Rechtsordnung zugrunde liegen, solche grundsätzlicher, elementarer Art, die, wenn sie auch nur formal sind, von der natürlichen Vernunft, ohne Zuhilfenahme der Offenbarung, erkannt werden können?
Künneth: Formal ja, inhaltlich nein.
Stadtmüller: Also d. h. nur ganz allgemeine formale Sätze, wie die drei klassischen, die in den Digesten stehen, neben dem pacta sunt servanda und suum cuique?
Künneth: Formal ja, suum cuique usw.; das ist vollkommen richtig. Aber was das jeweils ist, was es materialiter ist, kann mir das Naturrecht nicht sagen.
Stadtmüller: Das gewinnt also erst Färbung in der Situation.
Künneth: Als Frage, wie ich sie soeben formulierte, ja. Jedem das Seine: Gerechtigkeit, Friede, Ordnung, Billigkeit, Freiheit der Persönlichkeit, Würde des Menschen, — formal ja. Aber was das jeweils heißt, darauf kann das Naturrecht keine Antwort geben. Die Antwort darauf gibt eben die Theologie der offenbarungsbedingten Ordnung. Denn jeder heidnische Staat hat eine, sagen wir, Urerkenntnis, daß irgendwo eine Ordnung, eine Gerechtigkeit sein muß, daß dies oder jenes nicht passieren darf. Das weiß jede Staatsordnung überall in der ganzen Welt; was das aber jeweils ist, weiß sie nicht. Und darum ist der Beitrag der christlichen Kirche auf Grund der Offenbarung für die Frage der politischen Ethik ungemein wichtig. Darum ist auch die Begegnung zwischen Kirche und Politik im eigentlichen Sinne unendlich bedeutungsvoll, eben im Hinblick auf die positive Beantwortung der Prinzipienfrage, an der kein Staat vorbeikommt.
Ich glaube aber, — und die Herren Juristen mögen verzeihen, wenn ich das so sage — daß jedes staatsphilosophische Denken an dem Punkt endet, wo notwendigerweise die Begegnung mit der Theologie stattfinden muß. x
Pater Pribilla: Auch über diese Frage ließe sich natürlich wieder lange diskutieren; denn die katholische Auffassung weicht da in vielen Punkten wesentlich ab. Ich würde nur konkret sagen: Wenn ich mit einem Japaner oder einem Chinesen zusammenkomme, werde ich mich ohne weiteres mit ihm über viele rechtliche Fragen unterhalten können. Nehmen wir einmal an, wir hätten hier unter uns Japaner oder Chinesen. Der Betreffende würde, genau wie wir, beim Abschied keine silbernen Löffel mitnehmen. Das sind konkrete Fragen. In Tausenden von Dingen sind sich die Menschen einig, das haben schon die alten Römer und Griechen gewußt. Das ist ein Gesetz, das Gott in das Herz des Menschen geschrieben hat; und ob das nun aus der Offenbarung kommt oder nicht, so ist es jedenfalls eine Tatsache, daß die Menschen in tausend Fragen, gleichgültig ob sie Juden, Christen, Hottentotten, Gläubige oder Ungläubige sind, richtig entscheiden, ohne Zwischenkunft der Gesetze und Richter, indem sie einfach aus der Natur heraus handeln. Das ist das Recht, das die Natur den Menschen gegeben hat.
Wir wollen ja durchaus nicht entscheiden, woher das Naturrecht geschichtlich, ontologisch oder metaphysisch stammt. Es ist einfach eine Tatsache, daß die Menschen vor einer Rechtsordnung stehen, die sie anerkennen, unabhängig von ihrem Glauben oder der Offenbarung, und sie weichen von dieser Rechtsordnung auch dann nicht ab, wenn sie den Glauben verlieren. Das kennzeichnet ja die Pervertierung, die wir im „Dritten Reich“, z. B. bei der SS, erlebt haben, daß man grundsätzlich verbot, auf das Gewissen zu hören: Himmler hat zu den Leuten gesagt: „Der Einwand des Gewissens scheidet überhaupt aus!“
Natürlich ist diese Frage geschichtlich und theologisch bedeutsam; sie hängt mit der Erbsünde zusammen. Ich glaube, wir werden uns da in concreto schon einigen. Auch die Erkenntnis, daß etwas nicht recht ist, ist schon die Erkenntnis des Naturrechtes. Das Wort als solches ist sehr verfänglich; die Philosophen und Theologen sprechen von der ordo rationis. Das Naturrecht ist durch Rousseau und andere in Verruf gekommen. Wir sagen, das ist eine Bestimmung, die die Vernunft erkennt und als Recht anerkennt, ohne Unterschied der Nationen und Konfessionen.
Künneth: Ich frage mich, ob nicht der Begriff einer naturrechtlichen Urordnung allzu sehr durch Zweideutigkeit belastet ist. Man spricht von dem Menschenverständnis, von der Person, dem Geschöpf Gottes, dem menschlichen Freiheitsrecht, dem Gewissen, der Würde des Menschen, der Gerechtigkeit, — alles Begriffe, über die wir uns vermutlich völlig einig sind. Aber ich frage, ob diese Einmütigkeit der Deutung heute tatsächlich in der ganzen Welt vorhanden ist? Ich glaube das nicht. Es kommt ganz darauf an, was eben unter dieser Urordnung jeweils verstanden wird, was unter dem Menschenbild verstanden werden muß. So wird z. B.der dialektische Materialismus über all diese Begriffe völlig anders urteilen.
Weinkauff: Aber zu Unrecht!
Künneth: Von welchem Standpunkt aus? Da müssen wir schon eine Entscheidung vollzogen haben, und es fragt sich: Um welche Entscheidung geht es hier überhaupt?
Es will mir also scheinen, daß der Begriff der Urordnung als Fundament nicht ganz tragfähig ist, weil das naturrechtliche Denken formal zwar allgemein anerkannt, aber inhaltlich ungemein verschieden gedeutet wird. Vielleicht stimmen wir in dem Punkt überein: Wir können auf die letzten Fragen nur dann Antwort geben, wenn wir eine metaphysische Entscheidung vollzogen haben. Das heißt, wir müssen von vornherein sagen: Jawohl, wir stellen uns auf den Standpunkt der biblisch-christlichen Weltdeutung, und von dieser Deutung aus erkenne ich den Menschen so.
Stadtmüller: Also nicht eine metaphysische, sondern eigentlich eine theologische Entscheidung.
Woher kommt die Staatsgewalt?
Künneth: Wenn Sie so wollen, würde ich sagen: theologisch — biblisch — christlich. Das wäre die Entscheidung, die vollzogen werden muß, und von hier aus erst sind wir in der Lage zu fragen: Was verstehen wir unter Ordnung? Was ist der Mensch? Was ist Gerechtigkeit? — Haben wir die Entscheidung nicht vollzogen, wird sich die Möglichkeit ergeben, ganz verschieden darüber zu denken. Hier hat die Frage nach dem Staatsbegriff einzusetzen. Ich bin der Meinung, daß es durchaus möglich ist, von den Aussagen der Bibel her Staatsprinzipien zu entwickeln. Das heißt: Es geht hier um Setzungen, um Stiftungen, um Ordnungen Gottes zur Erhaltung. Das ist nicht eine poetische Ausschmückung, nicht eine phantasievolle Dichtung, sondern das ist wirklich reale Gewalt; der Staat ist als Ordnung eine überindividuelle Gegebenheit. Der Staat wird nicht von den Menschen gemacht, der Staat entsteht nicht aus einer Willenskundgebung» einer Willenskundgebung des Volkes. Er ist nicht eine Funktion der Masse der Bürger, sondern eine primäre, überindividuelle Ordnungsgegebenheit. Die entscheidende Frage lautet ja: Woher kommt die Staatsgewalt? Die Staatsgewalt kommt, prinzipiell gesprochen, nicht vom Volk. Die Staatsgewalt kommt von Gott. Darum wendet sich hier der biblische Staatsbegriff gegen jede Auffassung der Autonomie des Menschen und des Volkes oder die Autonomie des Staates. Es geht hier um die theo-nome Begründung der Ordnung, nicht um die Autonomie einer individuellen, freien, sittlichen Persönlichkeit. Es geht hier darum — und ich darf betonen, daß die evangelische Theologie in diesem Punkte einer Meinung ist, ich bringe hier nicht eine persönliche Privattheologie zum Ausdruck — gleichsam von oben her die Staatsordnung zu denken, nicht von unten her. Von diesem Grundsatz zu unterscheiden ist die historische Inkraftsetzung, die jeweilige Realisierung der Staatsmacht. Hier gibt es in der Tat schier ungezählte Möglichkeiten. Diese Realisierung kann notwendige sich natürlich auf demokratischem Wege zutragen, kann natürlich auch durch einen Übertragungsakt vollzogen werden. Wenn der biblische Grundsatz zu Recht besteht und in concreto ernst genommen wird, kommt es ganz darauf an, in welcher Weise die Regierung vorgenommen wird. Es kann sehr gut sein, daß ein absoluter Herrscher in höherem Maße den Ordnungswillen Gottes realisiert als eine Regierung, die durch Übertragung vom Volke her gebildet ist.
Es kommt darauf an, ob die jeweilige Regierung — gleichviel, wie sie entstanden sein mag, auf welchem historischen Wege — sich der Verantwortung bewußt ist, das ihr anvertraute Schwertamt ordnungsgemäß, d. h. adäquat dem Erhaltungswillen Gottes zu üben. Das ist das Kriterium, das allein und nichts anderes.
Damit hängt, wenn ich recht sehe, die Frage zusammen. Wer ist Träger des gewaltsamen Widerstandes? Jeder einzelne Staatsbürger oder nur bestimmte Amtsträger?
Es geht im Staat zu allen Zeiten, auch heute und morgen, um eine abgestufte Verantwortlichkeit, um eine Gliederung in der Verantwortung, je nach der Stellung, dem Rang, dem Amt im Staatsgefüge. An dem Punkt wird nämlich noch einmal klar, welche Bedeutung darin liegt, ob ich den Staat als einen Zusammenschluß freier Persönlichkeiten ansehe, oder ob ich davon ausgehe, daß der Staat eine überindividuelle Gottes-ordnung ist. Ist er eine Gottesordnung als Erhaltungsordnung Gottes, kommt es darauf an, an welcher Stelle ich in diesem Ordnungsgefüge stehe. Es gibt nun einmal in einem rechten Staat immer ein Verhältnis von Über-und Unterordnung, auch in einer Demokratie. Es gibt immer ein Verhältnis von Regierenden und Regierten. Nicht jeder Staatsbürger hat dieselbe Einsicht, er hat auch nicht die gleiche Aufsicht zu üben, die gleiche Verantwortung zu tragen. Nicht jeder hat das Amt der Führung oder der Rechtsprechung oder der Gewaltübung. Es scheint mir also wesentlich zu sein, hier eine Differenzierung einzufügen. Ich frage: Wer ist in der Lage, die Verhältnisse in einem entarteten Staate richtig zu deuten? Wer ist in der Lage, die Wahl der Mittel sachgemäß vorzunehmen? Hier spielt der Begriff der Güterabwägung eine mit Recht bedeutsame Rolle. Ja, wer ist auch dazu befähigt, die Güterabwägung wirklich vorzunehmen? Es wird ein klares, sicheres Urteil gefordert. Das heißt, es müßte begründete Hoffnung bestehen, daß die Sache zum Besseren geführt wird. Es wird mit Recht gefordert, daß immer im Auge stehen muß das Schicksal des Volksganzen. Wieder frage ich: Wer ist in der Lage, alle diese weittragenden Perspektiven überhaupt zu überschauen und hier Entscheidungen zu vollziehen? Ich antworte darauf: Niemals der einzelne Staatsbürger, nicht generell alle, nicht das Volk in seiner Gesamtheit.
Meine sehr verehrten Herren, der Begriff „Amt“, „Amtsträger“ darf nicht eng gefaßt werden. Amt ist nicht nur ein rechtlicher Begriff; es bezeichnet prinzipiell die Eingliederung des Menschen an einen bestimmten Posten in einer, wenn ich so sagen darf, staatspolitischen Hierarchie. Amtsträger kann z. B. auch ein Wirtschaftsführer sein. Amtsträger kann auch ein Ingenieur sein, der in der Rüstungsindustrie in einer Schlüsselstellung tätig ist. Diese These scheint mir durch das, was ich über die Militäropposition gehört habe, bestätigt zu sein. Obwohl totales System, obwohl eigentlich Gleichschaltung überall —, dennoch war es möglich. Wer waren denn die Träger? Es waren doch Persönlichkeiten, die eine besondere Rangstellung eingenommen haben. Mögen sie abgesetzt oder im Ruhestand gewesen sein, aber sie waren doch wenigstens in der Vergangenheit an diesen Posten.
Ich könnte mir denken, daß es ungezählte Offiziere gegeben hat, niederen Ranges, denen bei sehr vielen Dingen höchst unwohl war und die trotzdem gehorcht haben, trotzdem nicht desertierten und zum Widerstand aufriefen. Mit vollem Recht; denn es war nicht ihres Amtes, das zu tun.
Ich gehe also einen Schritt weiter und säge: Nicht nur, weil es keinen Erfolg hat, sondern weil hier die amtliche Vollmacht überhaupt nicht vorliegt. Wir kommen sonst zu einer Auflösung jeder Ordnung. Die subjektive Anerkennung des ehrlichen Wollens scheint mir nicht zu genügen. Ich bin über den Fall Oster nicht genau informiert und erlaube mir auch kein Urteil. Aber Sie werden aus meinen bisherigen Ausführungen vielleicht schon gemerkt haben, daß ich hier wohl eine kritischere Haltung einnehmen müßte.
Weinkauff: Oster war General und aktiv im Amt. Er müßte Ihrer von These aus durchaus legitimiert gewesen sein.
Künneth: Das könnte sein. Darum würde ich auch sagen: Es müßte dieser Fall ganz besonders geprüft werden. Das ist etwas anderes als die Desertion eines gewöhnlichen Soldaten, das ist vollkommen richtig. Trotzdem würde ich folgendes hier kritisch zu erwägen geben: Müßte nicht ein Amtsträger in dieser hervorragenden Stellung gerade bei einer Aktion, die so weittragende Folgen hat, eine gewisse Übereinstimmung mit anderen gleichgesinnten Amtsträgern herbeiführen?
Haseloff: Der General Oster war sozusagen der Chef des Generalstabes von Beck. v. Witzleben: Er war der Generalstabschef des Widerstandes überhaupt.
Haseloff: Er stand im OKW an höchster Stelle. v. Witzleben: Er war also nicht etwa eine Figur, sondern er war eine zentrale Figur.
Künneth: Dann bin ich äußerst dankbar für diese Korrektur und darf sagen, daß diese Punkte, die ich fordere, weitgehend vorliegen würden, bis auf einen. Der eine Punkt, den ich als Voraussetzung immer für wichtig halte, ist der: Ist die Realisierung des Unternehmens einigermaßen aussichtsreich? Besteht ein hohes Maß von Wahrscheinlichkeit, daß diese Aktion wirklich zum Erfolg führt? v. Witzleben: Auch dann, wenn erkannt wird, daß den Dingen eine Realität nicht innewohnen kann, ist es doch moralisch gerechtfertigt, ein Fanal aufzurichten. Ich glaube, das haben Sie selbst gesagt.
Künneth: Jawohl, Herr General, ich stimme nach wie vor auch dieser Möglichkeit zu. Wie Sie sagen: Es gibt auch hier die Möglichkeit, das Zeichen eines Widerstandes aufzurichten. Es kommt mir aber bei diesen prinzipiellen Erörterungen darauf an, daß Grundsätze aufgestellt werden, die auch für spätere Zeiten, auch für die Zukunft irgendwelche Gültigkeit haben. Und für Richtlinien, die auch für spätere Zeiten Bedeutung haben, würde ich nach wie vor den Punkt für wichtig halten, daß die Realisierung eine höchstmögliche Wahrscheinlichkeit in sich bergen muß, eine höchstmögliche Wahrscheinlichkeit des Erfolges.
Es handelt sich hier nicht um eine Erfolgsethik, sondern um die Frage: Wird nicht durch die Zerstörung der Ordnung ein Chaos herbeigeführt? Sehen Sie, meine verehrten Herren, ich denke von der Ordnung ungeheuer hoch. Darum halte ich es für ein gefährliches LInternehmen, wenn in einer bestimmten Situation Persönlichkeiten sich entschließen müssen, eine Ordnung zu beseitigen, damit eine bessere Ordnung werde. Wenn ich aber nicht weiß, ob eine bessere Ordnung kommt, würde ich sagen, daß das Bisherige belassen werden muß. Wenn ich eine bereits bestehende Ordnung nicht bessern kann, ist eine schlechte Ordnung immer noch besser als ein Chaos.
Das Widerstandsrecht kann, ich stimme Ihnen da völlig zu, prinzipiell unter bestimmten Voraussetzungen auch juristisch festgelegt werden.
Der Wagnischarakter der Realisierung eines Widerstandes aber bleibt und muß grundsätzlich bleiben. Es geht hier immer um ein ethisches Wagnis. Es geht also um die Erhaltung der Ordnung Gottes oder um: Wiederherstellung.
Wenn ich aber weiß, daß während dieser Gratwanderung die Dämonie auf allen Seiten lauert, bin ich mir bewußt, daß es sich hier wirklich nur um letzte Entscheidungen handeln kann, die allein in der Gestalt eines ethischen Wagnisses vollzogen werden können. Praktisch heißt das also: Wir werden, auch wenn wir die Voraussetzungen noch so genau präzisieren, niemals objektiv paragraphenmäßig ablesen können: „Jetzt muß es gemacht werden“. Ebenso bin ich der Meinung, ich glaube, Sie könnten dem zustimmen, daß auch der Zeitpunkt nicht von vornherein fixierbar ist. Die Geschehnisse sind im Fluß, und da kann es wieder nur der Verantwortliche, von besonderer Intuition und Erkenntnis erfüllte, verantwortliche Träger eines Amtes sein, der es hier wagt, die Entscheidung an einem ganz bestimmten Punkte zu vollziehen.
Revolution und Widerstandsrecht Weinkauff: Notwendig scheint mir vor allem zu sein, den rechtlichen Ort des Widerstandsrechtes abzugrenzen. Revolution ist im Rechtssinne etwas anderes als Ausübung des Widerstandsrechtes. Revolution wendet sich in der Tat gegen eine nicht nur staatliche, sondern in der Regel auch gesellschaftliche, wirtschaftliche Ordnung, um eine dieser gegenüber als besser angesehene Ordnung gewaltsam durchzusetzen. Es ist dies rechtlich etwas völlig anderes als die Ausübung des Widerstandsrechtes. Die Ordnung, gegen die sich die Revolution in der Geschichte in der Regel gewandt hat, kann eine solche gewesen sein, die sich noch im Rahmen der rechtlichen Urordnung gehalten hat. Sie kann trotzdem von dem Revolutionär für ablösungsreif gehalten werden. Das Widerstandsrecht ist dasjenige Recht, das sich gegen ein schweres Unrecht des staatlichen Gewalthabers selbst wendet, gegen ein so schweres Unrecht, daß es in einem erheblichen Maße die rechtliche Urordnung verletzt, ja sie sprengt. Das sind ganz verschiedene Gesichtspunkte.
Es kann in einer geschichtlichen Situation so sein, daß sich das Widerstandsrecht mit dem Recht zur Revolution verschmilzt. Es kann so sein, muß aber durchaus nicht sein. Um der rechtlichen Klarheit willen und um herauszubekommen, was der rechtliche Ort und der rechtliche Sinn des Widerstandsrec> htes ist, muß man die beiden einander entgegensetzen.
Im Rechtssinn habe ich das Recht zur Revolution dann nicht, wenn die Ordnung, gegen die ich revolutionär angehe, sich entweder noch im Bereich — ich muß den Ausdruck gebrauchen, um mich verständlich zu machen — der rechtlichen Urordnung hält, oder wenn die jeweilige Verfassung des Staates, gegen den ich revolutionär angehen will, mir das Recht gibt, meine politischen Ziele legal durchzusetzen, — etwa auf dem Wege der Beeinflussung der Willensbildung der Staatsbürger. Wenn ich dagegen revolutionär verstoße, ist es ganz klar, daß ich unrechtmäßig handele und nicht rechtmäßig. Hingegen kann natürlich das Recht zu einer Revolution, die sich gegen ein Staatsgebilde richtet, welches sich nicht mehr in der rechtlichen Urordnung hält und keine Möglichkeit läßt, die politischen Ziele legal zu verwirklichen, dann mit dem Widerstandsrecht verschmelzen. Aber schon um der sauberen Methode willen muß man, glaube ich, beides nach wie vor auseinanderhalten.
Sauer: Vielleicht kann an einem praktischen Beispiel gezeigt werden, daß wir in der Tat streng logisch unterscheiden müssen zwischen dem Recht zur Revolution und dem Widerstandsrecht.
Denken wir uns einen Staat, der sich innerhalb dieser Urordnung hält, etwa unseren Staat. Denken wir uns nun einen kommunistischen Gegner, der auf revolutionärem Wege diesen Staat beseitigen will. Würden wir diesem etwa ein Widerstandsrecht zubilligen? Doch kaum! Das wäre ein revolutionärer Akt, aber kein Akt des Widerstandsrechtes.
Stadtmüller: Darf ich an das Beispiel 1918 erinnern, das den Sachverhalt am klarsten macht. Hier ist es sicher, daß kein Widerstandsrecht vorlag, sondern daß es einfach um eine Revolution ging, um eine Änderung des Machtgefüges.
Künneth: Ich bin sehr dankbar für das, was Sie zur Klärung der Begriffe „Revolution“ und „Widerstand“ gesagt haben. Selbstverständlich ist nicht jede Revolution gleichbedeutend mit einem Widerstands-recht. Da bin ich völlig Ihrer Meinung. Aber muß man nicht doch sagen, das jeder Vollzug eines Widerstandes eine Revolution ist?
Weinkauff: So kann man terminologisch sagen. Rechtlich ist das eben etwas anderes.
Stadtmüller: Die Erörterung über die Sonderstellung der Revolution zum Unterschied von dem, was wir bisher hier Widerstandsrecht nennen, hat gezeigt, daß man die beiden Dinge trennen soll. Ich glaube aber, in der Diskussion über das Widerstandsrecht kommen wir nur weiter, wenn wir uns zunächst klarmachen, daß es eine vielgestufte Fülle der Notwendigkeiten und Handlungen gibt. Wir bedürfen der praktischen Beispiele.
Aus meiner Erfahrung in Griechenland kann ich folgendes erzählen: Ein verrückter deutscher Divisionskommandeur befiehlt, zwei Städte, zehn Dörfer zu zerstören und die zehnfache Anzahl von getöteten deutschen Soldaten, also 700, umzubringen. Da keine Männer da sind, nimmt man im wesentlichen Frauen und Kinder. Ein kleiner Hauptmann erhält den Befehl und er führt ihn aus. Ich frage mich, wenn wir die Dinge einmal ethisch-normativ betrachten: Hatte der Mann nicht die sittliche Pflicht, nein zu sagen?
Ein zweiter Fall, bei dem es nicht um einen Sachverhalt ging, der so unmittelbar militärischen Charakter trug, sondern mehr um eine moralische Ermessensfrage: Es setzten sich ein Obergefreiter und ein Leutnant zusammen und machten dem festgesetzten Professor Graf Staufenberg, dem Bruder des Attentäters, der in unserem Stab des 68. Armeekorps war, er war Oberleutnant bei einem höheren Artilleriekommandeur, den Vorschlag, zu den Partisanen zu entwischen, ehe er dem SD ausgeliefert würde. Graf Staufenberg hat das damals abgelehnt.
Ich glaube, hier ist auch der Fall gegeben, wo Leute in untergeordneter Stellung nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht haben, einen Befehl nicht auszuführen und Befehle zu durchkreuzen, zu vereiteln. Es ist klar, daß das keine eigentlich aktiven Widerstandshandlungen sind, und diese Unterscheidung scheint mir fundamental zu sein, sonst reden wir nämlich aneinander vorbei. Was Professor Künneth meint und worin ich ein gewichtiges Anliegen sehe, ist folgendes: Er sagt: Wir können nicht Hinz und Kunz eine Blankovollmacht geben, mit Berufung auf das Widerstandsrecht eine Lawine von Aktionen einzuleiten, durch welche die bestehende Staatsordnung, auch wenn sie nur zu 50vH. moralisch in Ordnung ist, umgestürzt wird, ohne daß wir wenigstens eine Wahrscheinlichkeit haben, daß nicht das Chaos ausbricht. Diese Erwägung berücksichtigt aber eigentlich nur den Fall der großen Widerstandsaktion, wie ich es nennen will, also den Versuch, die Staatsspitze auszuwechseln, um das Staatssystem moralisch wieder in Ordnung zu bringen.
Bei uns gab es vor dem Abmarsch aus Südgriechenland nach Norden, einem Unternehmen, das militärisch aussichtslos war und überhaupt nur mit wohlwollender Duldung der Engländer durchgeführt werden konnte, in unserem Stab eine kleine Gruppe, —'der Höchste an Rang war ein Hauptmann —, die versucht hat, den kommandierenden General zu dem Entschluß zu bewegen, diesen Befehl nicht auszuführen, sondern sich in Attika einzuigeln. Das war einige Monate vor dem Zusammenbruch. Ich muß sagen, daß mir das noch durchaus erlaubt, ja geboten zu sein schien. Ich möchte mich vor allem dagegen aussprechen, daß man die Widerstandshandlungen gewissermaßen zu einem Reservatrecht macht, das an eine bestimmte Anzahl von Sternen auf den Schulterstücken gebunden ist.
Es ist klar, daß wir mit jeder solchen Erörterung das Risiko des Gewissens eingehen. Aber das eignet nun jeder ähnlichen Entscheidung, und den — Wagnischarakter, der dem innewohnt, müssen wir halt in Kauf nehmen. Oder wir müssen uns auf den Standpunkt der Leibeigen-moral des unbedingten Gehorsams stellen, und das wollen wir ja nicht.
Die rechtliche Urordnung Weinkauff: Es war die Rede davon, daß es so etwas wie eine rechtliche Urordnung gibt, die jeder menschlichen Rechtsetzung vorgegeben und für sie undurchbrechbar ist. Sie können das Widerstandsrecht gar nicht begründen. Sie können es vor allem in seinen Grenzen und in seinem eigentlichen Grund nicht erkennen, wenn Sie nicht eine solche rechtliche Urordnung anerkennen. Es ist zwar nicht so leicht, sie zu finden. Es ist aber nicht richtig, daß man sich nur im Formalen darüber einigen könnte. Es gibt Dinge materieller Art, über die man sich durchaus einigen kann, und der Einwand, daß das nicht von aller Welt anerkannt wird, wiegt leicht. Es gibt viel Irrtum, es gibt viel bösen Willen; das bedeutet nicht, daß die Wahrheit auf diesem Gebiet unerkennbar oder für uns völlig ins Relative gerückt wäre. .
Was wir hier als rechtliche Urordnung, nicht in ihrem allgemeinen Bereich, sondern gesehen in bezug auf das Widerstandsrecht und — noch konkreter — gesehen in bezug auf das Widerstandsrecht der Militäropposition gegen Hitler, ermittelt haben, ist einfach dreierlei. Diese rechtliche Urordnung verlangt in erster Linie, daß der Mensch und der Staatsbürger in seiner Personenwürde vom Gewalthaber des Staates anerkannt und in ihr nicht verletzt wird. Das hat nichts mit Liberalismus oder mit einem liberalistischen Staat zu tun. Das ist ein vollkommener Urtatbestand, daß der Mensch, weil er sittlich frei ist, zu sittlicher Selbstbestimmung aufgerufen ist, daß er deswegen im Verhältnis zu seinesgleichen notwendig frei ist. Der Tatbestand ist für das Recht völlig elementar. Davon geht das Recht als von seinem innersten Grund aus, daß jeder Rechts-genosse Person ist. Und wenn der staatliche Gewalthaber das in der unerhörten Weise unaufhörlich verletzt, wie das damals geschehen ist, so gibt das objektiv das Recht zum Widerstand. Eine zweite Gedanken-folge ist eben die: Die Urördnung kennzeichnet sich auch dadurch, daß gewisse Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens, wie Sie ganz richtig sagen, von Gott gestiftet, von Gott gewollt sind: Etwa die Familie, die Kirche, das Volkstum. Über diese Ordnungen muß man sich verständigen. Sie können nur im Lichte der Offenbarung erkannt werden, das ist ganz sicher, obwohl auch der sich außerhalb ihrer Haltende sich ihnen bis zu einem gewissen Grad annähern kann. Die sittliche Autonomie, die sittliche Selbstbestimmung, um nicht mißverstanden zu werden, kann auch außerhalb der Offenbarung bis zu einem gewissen Grad ersichtlich gemacht werden, ebenso die übrigen Ordnungen. Richtig erkannt können sie allerdings nur im Lichte der Offenbarung werden. Wer gegen diese Ordnungen so verstößt, daß er das tut, was hier getan worden ist, daß also der jüdische Volksteil wegen seiner Rasse, wegen seines Volkstums ausgelöscht worden ist oder daß fremdes Volkstum in dieser Weise ruchlos angegriffen, vernichtet worden ist, der verstößt gegen die objektive Urördnung. Wenn der Gewalthaber so etwas tut, dann ist materiell und objektiv das Recht zum Widerstand gegeben. — Und ebenso ist es ein Kennzeichen der Urordnung, daß im Staat das Recht und nicht das Unrecht und nicht die Rechtsunsicherheit und nicht die Willkür und nicht die Gewalt und nicht die Drohung und der Schrecken herrschen soll. Das sind ganz klare und objektive Dinge, über die sich jedermann klar werden kann, über die auch alle, die ihre Vernunft und ihren guten Willen haben, durchaus einig werden können. Auf diese Weise allein kann man erkennen, warum, wann und wie Widerstand geleistet werden darf. Das darf nicht relativiert werden. Wenn wir anfangen, das zu relativeren, sind wir am Ende.
Krausnick: Es scheint mir, Herr Professor Künneth ist von dem Eindruck ausgegangen, als sei im Hitler-Staat immer noch ein Rest von Ordnung verkörpert worden, den man berücksichtigen müsse. Ich glaube, als Historiker feststellen zu können, daß, wenn dieser Rest vorhanden war, er von der Staatsleitung jedenfalls nicht beabsichtigt, sondern nur aus taktischen Gründen noch berücksichtigt und aufrechterhalten wurde, solange das jeweils dem vom Gruppeninteresse diktierten scheinbaren Staatsnutzen zugute kam. Es ist doch so, daß der Hitler-Staat die Ordnung, wie wir sie verstehen, die Urordnung, gar nicht mehr gewollt hat, sondern erklärte: „Recht ist, was dem Volke nützt"! Bei Lichte besehen hieß das aber: „Recht ist das, was ich als Diktator jeweils für Recht erkläre"! Es ist also gar kein Festhalten mehr an einer Urordnung da, sondern auf Grund unverantwortlicher, selbstgemachter Ideologien eine jeweils veränderbare und jeweils aufhebbare Scheinordnung, die tatsächlich, wie mir scheint, die Entscheidung, historisch gesehen, weitgehend in das persönliche Gewissen des einzelnen verlagern mußte. Maßgebend ist für uns also, für den einzelnen, auch für die Geschwister Scholl, wie weit die Urordnung, die jedem in seinem dunklen Drange vorschwebt, verletzt wurde, und kaum, meiner Ansicht nach, die Frage, wie weit ich Amtsträger bin, wobei ich zugebe, daß diese Amtsträgertheorie natürlich sehr dehnbar ist.
Pater Pribilla: Die Urordnung erkennen wir in einer vollkommenen . Weise natürlich besser und sicherer durch die christliche Offenbarung; aber zur Erkenntnis ist nicht schon die Offenbarung notwendig.
Nehmen wir z. B. das ius civile., das die römischen Juristen geschaffen haben. Man hat es die ratio scripta genannt. Hier wurde doch ein Recht aufgebaut, das bis auf den heutigen Tag bewundert wird und zum großen Teil noch gültig ist. Es wurde nur nicht aus irgendeiner biblischen Erkenntnis geschaffen, sondern aus natura rerum. So gibt es eben unter den Menschen Ordnungen, die jeder vernünftige Mensch anerkennt. Wenn heute ein Japaner oder Chinese zu uns kommt, stimmt dieser in vielen rechtlichen Dingen, ob er nun ein Zimmer misten oder einen Kaufvertrag abschließen will, völlig mit uns überein.
So haben auch die Familie und der Staat von Natur aus eine bestimmte Ordnung, und diese Naturordnung wird nicht von uns geschaffen, sondern von uns erkannt. Diese Urordnung ist so stark, daß selbst die Bolschewisten sie im Grunde anerkennen. Es wird sich jeder Bolschewist gegen die Behauptung wehren, er sei ein Lügner oder Mörder, er unterdrücke die Gerechtigkeit. Jemand hat gesagt: „Die Heuchelei ist eine Huldigung an die Tugend". Auch die Menschen, die die Naturordnung nicht positiv anerkennen und üben, erkennen sie doch als vorhanden an, weil jeder Mensch instinktiv fühlt, daß das Abweichen von dieser Urordnung oder ihr Ableugnen die menschliche Gemeinschaft überhaupt zerstört.
Der Begriff der Urordnung ist schon deswegen sehr wichtig, weil wir ja jetzt in einem religiösen, metaphysischen Kampf auf Leben und Tod stehen, und weil wir uns mit biblischen Begründungen z. B. gegen die Bolschewisten nicht wehren können. Wohl aber können wir uns wehren, wenn wir uns auf die Menschenrechte, auf die Urordnung berufen; denn die ist eine Ordnung, die eben von allen anerkannt wird, wie auch die römischen Juristen schon wußten, daß dies ein Recht ist, das die Natur eben unter allen Menschen begründet hat. Ursprünglich geht diese Ordnung natürlich auf Gott zurück, aber es ist nicht immer gesagt, daß derjenige, der einen Grundsatz anerkennt, ohne weiteres nun die Quelle dieses Grundsatzes erkennen müßte, genau wie der Mensch die Ordnung in der Natur sehen und bewundern kann, ohne daß er sich nun dessen bewußt ist, woher diese Ordnung kommt.
Dann möchte ich noch unterstreichen, daß wir natürlich scharf unterscheiden müssen zwischen passivem Widerstand und aktivem Widerstand. Hinsichtlich des passiven Widerstandes sind wir uns alle einig: Wenn ein objektiv ungerechter Befehl ergangen ist, hat der Einzelne das Recht, die Ausführung dieses Befehls zu verweigern. Das ist aber nicht das Widerstandsrecht, von dem wir heute reden. «
Sauer: Wir wollen nicht über den Umfang dieser Urordnung streiten, da können Zweifel auftauchen. Was uns hier interessiert, ist die Frage:
Ist das Widerstandsrecht ein von jedem Menschen, auch außerhalb des Christentums, erkennbarer Teil dieser Urordnung?
Ich glaube, ein sicheres Indiz dafür, daß das eine allgemein menschliche Möglichkeit ist, ist das positive Recht; denn es gibt keine Rechtsordnung, auch die bolschewistische nicht, die etwa das Notwehrrecht nicht kennen würde, ja, nicht nur das Notwehrrecht des einzelnen Angegriffenen, sondern auch das Nothilferecht eines Dritten, der dem Angegriffenen zu Hilfe kommen darf. Das war ja auch die Situation für die Widerstandskämpfer, wenn wir die Nothilfe für das ganze Volk betrachten. Die rechtswidrigen Angriffe seitens Hitlers und seiner Spießgenossen waren ja ganz elementar, wie Herr Präsident Weinkauff ausgeführt hat, und die Gefahr, in die die Angegriffenen gerieten, war ja ständig gegenwärtig. Deshalb war das Widerstandsrecht nicht nur naturrechtlich für jeden erkennbar, sondern auch positiv rechtlich gegeben.
Künneth: Ich habe ja angedeutet, daß diese Fragen des Naturrechts, der Urordnung äußerst kompliziert sind und daß hier in der Tat einfach verschiedene Aspekte vorliegen. Es ist ja kein Geheimnis, Pater Pribilla weiß es ebenso gut wie ich, daß gerade in der Frage des Naturrechts einfach eine Verschiedenheit besteht zwischen der Perspektive der evangelischen und der römisch-katholischen Theologie. Das ist einfach eine Tatsache, und jetzt darüber zu streiten, ist zwar interessant, führt aber nicht weiter.
Ich möchte nur eines zu bedenken geben, meine verehrten Herren. Werden die Menschenrechte vom Bolschewismus, von der Philosophie des dialektischen Materialismus her, genau so gesehen wie von uns? In gar keiner Weise! Formal haben Sie recht, aber inhaltlich nicht. Alle die Punkte, die Herr Präsident angeführt hat, werden vom Bolschewismus völlig anders gedeutet: Personenwürde, Ordnung des Zusammenlebens, Rechtssicherheit.
Weinkauff: Der Bolschewismus hat aber Unrecht darin.
Künneth: Woher wissen wir das?
Pater Pribilla: Der 17. Juni hat gezeigt, daß das Volk in der Ostzone gegen dieses Prinzip einen Aufstand gemacht hat und zwar mit kleinen Waffen gegen Panzer! Auch diese Menschen fühlten das Unrecht. Lind die Bolschewisten haben sich zurückgehalten, weil sie fühlten: Dieses Volk steht mit Recht auf! Aber es ist wohl zu unterscheiden: Es gibt auch Gewissenstäuschungen. Man kann das Recht drehen wollen. Ob er aber innerlich an die Berechtigung seines Rechtes glaubt, ist die Frage, und das ist nach meiner Ansicht bei dem Bolschewismus zu negieren, wie es bei allen Tyrannen zu negieren ist. Jeder Tyrann hat Angst, und viele Verbrechen der Tyrannen gehen aus Angst hervor, nicht aus irgendeinem Gefühl, im Recht zu sein.
Künneth: Prüfen Sie, verehrte Herren, nur selber einmal nach, was Philosophen des Bolschewismus über die führende Menschenrechte sagen. Sie werden erkennen, daß man sehr viel darunter verstehen kann.
Ich bin, Herr Präsident, glaube ich, mit Ihnen im wesentlichen einig. Vielleicht liegt nur eine terminologische Unterscheidung vor. Wenn wir sagen, daß die Urordnung, von der Sie reden, in der inhaltlichen Bestimmung letztlich ein Ergebnis der Offenbarungserkenntnis im Sinne des Christentums ist, sind wir uns einig; denn auch die Kreationserscheinung der Ostzone ist doch aus dem westierischen Denken heraus entstanden. Ich würde also darin zustimmen, daß eben diese Entscheidung, die wir vorhin als theologisch-biblische Entscheidung gefaßt haben, die Voraussetzung ist. Von dieser Entscheidung aus komme ich zu dem Ergebnis: Personenwürde, Ordnung des menschlichen Zusammenlebens und Rechtssicherheit als die Konkretisierung dieser auf Grund der Offenbarung ruhenden Erkenntnis dessen, was sein soll.
Weinkauff: Was die evangelische Theologie in diesem Augenblick die „Erhaltungsordnung“ oder die „Notordnung“ in diesem Äon nennt, gerade diese Ordnung ist das, was mit der alten Terminologie die natur-rechtliche Ordnung genannt wurde.
Künneth: Dann sind wir uns einig.
Stadtmüller: Der Kern des Problems ist natürlich, ob die Urordnung erst theologisch oder schon vortheologisch, philosophisch wenigstens teilweise, erkannt werden kann. Professor Künneth macht hier den Einwand, daß unter dieser Urordnung praktisch jeder etwas anderes versteht und daß man sie nicht einsichtig machen kann. Ich möchte nur zu bedenken geben, daß dieser Einwand umgekehrt mindestens genau so gemacht werden kann gegenüber der theologischen Argumentation. Ich glaube, daß ich es einem weiteren Kreis von Menschen eher noch auf der philosophischen Ebene klarmachen kann, z. B. einem chinesischen Kon-fuzianer, als auf der spezifisch theologisch-christlichen. Die historische Erfahrung scheint mir doch auszusagen, daß über gewisse elementare Dinge einfach Einverständnis besteht, Consensus omnium, ob es sich nun um Christen handelt oder nicht.
Jeder Staatsbürger ist für seinen Staat verantwortlich Weinkauff: Sicher ist der Staat von Gott gestiftet, er ist eine göttliche, von Gott gesetzte Ordnung. Das heißt nicht, daß der konkrete geschichtliche Staat in seiner praktischen Existenz sich immer unmittelbar auf Gottes Willen berufen könnte. Die von Gott gestiftete Ordnung des Staates wird doch durch Menschen realisiert und verwirklicht. Menschen bilden und verwalten den Staat. Deswegen kann diese an sich segensvolle Ordnung sofort entgleiten in das Nichtsein-sollende, ja in das bis zum äußersten Nicht-sein-sollende, gerade weil sich hier die Macht und die Machtzusammenballung so besonders unheilvoll auszuwirken vermag. Das steht durchaus nicht im Gegensatz zu der These, daß im Rechtssinne der Staat rechtlich gedacht werden muß als der Zusammentritt der sittlich freien, der sich selbst bestimmenden, aber sittlich gebundenen und deswegen unter sich freien Staatsbürger zum Staat. Niemand behauptet, daß der Staat historisch so entstanden ist, obwohl man unbewußt die Ursprünge des Staates immer darauf zurückführt, daß die Staatsbürger zusammentreten und sagen: „Wir sind eine Einheit". Das ist nichts Liberalistisches, sondern einfach wieder der Urtatbestand der sittlichen Selbstbestimmung und deswegen des Freiseins. Weil der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, weil er zur Erlösung bestimmt ist, deswegen ist er im Verhältnis zu seinesgleichen frei, deswegen darf ein Mensch den anderen nicht in diesem seinem innersten Kern verletzten. Deswegen haben aber auch alle das Recht, den Staat zu bilden und darüber zu wachen, daß in ihm das Recht herrscht. Die Verantwortung kommt ihnen zu, sie kann ihnen gar nicht abgenommen werden. Kein Diktator kann sie ihnen abnehmen, sie selbst können sie sich auch nicht abnehmen. Sie sind dafür verantwortlich, daß im Staat keine Verbrechen vorkommen, daß das Recht geachtet und das Volk richtig geführt wird, daß es nicht frevelhaft ins Unglück gestürzt wird. Niemand kann die Staatsbürgerschaft davon entbinden.
Das ist der eigentliche Grund, warum jeder Staatsangehörige das Widerstandsrecht hat, weil jeder sich sittlich selbst bestimmen kann und deswegen frei und verantwortlich ist für alles, was in seinem Staat geschieht. ist er ja auch in den modernen Staaten zur politischen
Mitwirkung bei der staatlichen Willensbildung durchaus befugt, deswegen hat jeder grundsätzlich das Widerstandsrecht.
Das hängt in gar keiner Weise an einer Amtsträgerschaft. Das sind sekundäre Fragen, die später zu erörtern sind. Grundsätzlich hat jeder das Recht zum Widerstand, weil jeder verantwortlich ist dafür, daß im Staat das Recht gewahrt wird.
Ich sehe nicht ein, warum die theologische Betrachtung, nach der der Staat eine Schöpfung Gottes, eine göttliche Stiftung ist, und die Betrachtung auf einer tieferen Ebene, nämlich auf der Rehtsebene, daß eben jeder Staatsbürger für seinen Staat verantwortlich ist und deswegen auch, wenn der Staat grobes Unrecht begeht, Widerstand leisten nicht nur darf, sondern muß, im Gegensatz zueinander stehen. Ich vermag das nicht einzusehen!
Künneth: Ich stimme Ihnen in zwei Punkten völlig zu, Herr Präsident. 1. Es gibt eine historische Mannigfaltigkeit der praktischen Realisierung des Staates. Hier sind wir uns einig. 2. Ich stimme Ihnen auch darin zu, daß in dem Augenblick, in dem ein historisches Staatsgebilde existent wird, die Gefahr der Perversion, der Entartung gegeben ist.
Die entscheidende Frage, ich weiß nicht, ob wir uns da finden, scheint mir die zu sein: Worin gründet die Autorität des Staates? Wenn ein Bundeskanzler gewählt ist, wird er sich, wenn er gewissenhaft ist, die Frage vorlegen: „Woher habe ich die Macht?“ Er kann rein formal juristisch-historisch denken und dann sagen: „Ich habe die Macht durch die Mehrheit“. Das ist nicht falsch, das ist aber eine vordergründige, eine sekundäre, tertiäre Antwort. Ich möchte beinahe sagen, daß ich jeden Bundeskanzler aufs tiefste bedauern würde, wenn er keine andere Antwort zu geben wüßte. Wenn er Christ ist, muß er zugleich sagen: „Die mir gegebene Macht habe ich von Gott, und wenn ich sie mir hundertmal durch die sehr fragwürdigen Medien der Wahl, der Parteien, der Regierung und der politischen Verhältnisse gewonnen habe. Ich habe sie von Gott“!
Und darum würde ich die These vertreten: Jede Staatsvollmacht ist gekennzeichnet durch die frühere, sehr belastete, aber trotzdem richtige These „von Gottes Gnaden". Darin gründet jede Staatsvollmacht, auch für eine demokratische Regierung. In dem Augenblick, in dem ein Minister ernannt worden ist, ist er eben nicht bloß Parteifunktionär, ist er eben nicht bloß der Funktionär einer Mehrheit, sondern ist er mehr. Er ist, wenn ich das so schematisch sagen darf, von unten gehoben, historisch, und nun empfängt er von oben her die Vollmacht der Regierung. Er ist der Repräsentant einer überindividuellen Ordnungsmacht geworden.
Weinkauff: Das ist alles völlig richtig. Wenn der Staat in Ordnung ist, empfängt der, der an der Spitze des Staates steht, seine rechtliche Legitimation zunächst dadurch, daß ihn die Staatsbürger an diese Stelle gestellt haben. Die innere Legitimation empfängt die Einrichtung, die Regierung natürlich daher, daß Gott sie gesetzt hat. Das verkettet sich mit einander. Wenn aber, wie das in unserem Falle war, die Regierung satanisch wird, nun, dann hat sie doch die Legitimation von oben nicht mehr! Ja, wer ist denn dann verantwortlich dafür, daß die richtige Regierung hinkommt, der dann die Legitimation von oben her wieder mit Fug und Recht zusteht? Wer anders als das Volk, die Staatsbürger selbst?
Künneth: An diesem Punkte, glaube ich, trennen sich die Wege. Ich würde also in der Tat sagen — dies ist nicht meine These, sondern das ist im großen und ganzen das sich aus der biblischen Konzeption ergebende Staatsprinzip —, so möchte ich es wenigstens mal zu deuten versuchen: Wenn das richtig ist, besitzt der einzelne Staatsbürger nicht die Vollmacht der Regierung, auch wenn diese Regierung ihre Vollmacht mißbraucht.
Weinkauff: Er ist Kreationsorgan. Die Staatslehre und das Staatsrecht haben den technischen Ausdruck: „Er ist Kreationsorgan“. Jeder Staatsbürger kreiert, schafft die Regierung. Im Recht ist das völlig anerkannt. Künneth: Das mag juristisch durchaus so sein. Praktisch hat das aber keine allzu große Bedeutung in einem totalen System, wenn der Einzelne sagt: „Ich müßte eigentlich die Regierung bilden, aber ich kann es ja gar nicht; denn ich bin dazu gar nicht in der Lage. Ich habe keine Macht, keinen Einblick und keine Realisierungsmöglichkeiten''.
Ich würde sagen, daß das auch ganz richtig ist; denn denken Sie jetzt einmal an die klassische Stelle in Römer 13: „Die Obrigkeit besitzt das Schwertamt''. Nicht der einzelne Staatsbürger besitzt das Schwertamt, sondern die Regierung besitzt es, die Ordnung besitzt das Schwertamt; die Staatsmacht ist damit verbunden.
Und die andere Frage ist nur die, — das ist hier unser Problem: Was mache ich, wenn die Obrigkeit diese Gottesordnung perversiert hat? was mache ich, wenn diese Vollmacht mißbraucht worden ist? Damit stehen wir wieder mitten in der Frage des Widerstandsrechtes. Hier kommt aber alles darauf an, einmal wieder ganz klar herauszustellen, daß es hier um eine Ordnunng Gottes geht, die mehr ist als die Summe sämtlicher Staatsbürger. Das ist eine objektive Wirklichkeit, eine Institution, möchte ich einmal sagen, die einfach da ist, ohne die wir nicht leben können.
Und darum ist ja, ich sage es noch einmal, das Wagnis so ungeheuer groß, auch bei einer pervertierten Staatsordnung, wenn Einzelne sagen: „Wir müssen diese Ordnung verbessern". Das ist ja das Wagnis, weil es hier um eine Existenzgrundlage überhaupt geht.
Weinkauff: Aber, Herr Professor, wie wollen Sie denn von Ihrem Standpunkt aus das Widerstandsrecht überhaupt begründen, wenn nicht die Staatsbürgerschaft die Verantwortung dafür hat, daß in ihrer Gemeinschaft das Recht herrscht und auch die Verantwortung dafür, gegen den Inhaber der Staatsgewalt, der das Recht grob bricht, vorzugehen? Wie wollen Sie es denn begründen?
Künneth: Darf ich es einmal ganz primitiv so sagen: Von diesem Staat als Ordnung Gottes in diesem Sinne weiß das Staatsvolk durch die Verkündung der christlichen Kirchen. Dadurch weiß der Einzelne, um was es letztlich beim Staate geht. Das ist die große Aufgabe der christlichen Kirchen gegenüber dem Staatsvolke zu sagen, was ist eigentlich Staat in dem letzten Sinne?
Jetzt wird der Staat pervertiert. Jetzt wissen die Einzelnen mehr oder weniger deutlich: Der Staat ist entartet. — Die große Masse ist aber gar nicht in der Lage, hier irgendetwas zu tun.
Weinkauff: Oh doch, wußte denn die große Masse unter dem Nationalsozialismus nicht, daß der Staat pervertiert war? Jeder Mann, der nicht von dem Fanatismus angesteckt war, nicht nur der Amtsträger, jeder Einzelne auf der Straße wußte das!
Sauer: Herr Professor, Sie müßten ja konsequenterweise dem x-beliebigen Staatsbürger sogar das Recht der Kritik, der Beurteilung dieses ungerechten Systems verweigern. Konsequenterweise würden Sie doch sagen: Nicht jeder Beliebige darf Widerstand leisten. Ich frage Sie nun: Darf denn auch nicht jeder Beliebige sich ein Urteil darüber bilden, ob der Staat recht handelt oder nicht?
Künneth: Nur wenn er die nötigen Kenntnisse hat.
Sauer: Die setze ich ja voraus. Das ist ja keine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit, sondern eine psychologische Voraussetzung. Keiner, der nicht Einsicht hat, wird überhaupt etwas unternehmen. Das ist ein psychologischer Tatbestand. Erst die gegebene Einsicht wird ihn zum Handeln veranlassen. Aber die Einsicht ist doch nicht gebunden an ein Amt, die kann doch auch ein x-beliebiger kleiner Mann, wenn er nur das Zeug in sich hat, besitzen! Da gibt es ja das schöne Beispiel von einem, der im zivilen Beruf auf höchstem geistigen Posten steht, aber im militärischen Sektor vielleicht ein Unteroffizier ist.
Haseloff: Das Beispiel Durch die Einberufung zum Heer verliert ja der Herr Bundesrichter, oder was der Betreffende nun sein mag, nicht seine Verantwortung als Staatsbürger und Denker.
Weinkauff: Es ist nicht ganz leicht, das scharf auseinanderzuhalten; wir sprechen jetzt nicht unmittelbar über die Frage, wer alles konkret-praktisch das Widerstandsrecht besitzt, sondern wir sprechen über die Frage: Ob grundsätzlich aus dem LImstand, daß alle Staatsbürger sittlich und rechtlich für ihren Staat verantwortlich sind, folgt, daß sie alle, wenn er pervertiert und nicht anders als durch aktiven, gewaltsamen Widerstand gerettet werden kann, dieses Recht haben, und zwar aus dem Gesichtspunkt heraus: Sie sind, weil sie dem Staatsverband als sittlich frei und deswegen für den Staat verantwortlich angehören, im äußersten Fall auch verpflichtet, diese ihre Verantwortung durch das Widerstandsrecht wahrzunehmen.
Künneth: Nur wenn sie eine Vollmacht der Realisierung haben, und die hat nicht jeder.
Weinkauff: Das sind andere Fragen. Die Frage, wie das nun praktisch ausgeübt werden kann, ist anschließend zu erörtern. Zunächst ist die Grundsatzfrage gestellt, ob sie nicht alle dazu berufen sind.
Künneth: Sic meinen also: Jeder Mensch als Mensch?
Weinkauff: Als Person, die für ihren Staat mit verantwortlich ist.
Künneth: Das ist aber eine rein theoretische Frage. r Weinkauff: Ja, zunächst ist sie theoretisch. Wir sind ja nicht verschiedener Meinung darüber, daß in der Art, wie das Widerstandsrecht ausgeübt wird, Kautelen vorhanden sein müssen. Zunächst ist aber zu fragen, ob nicht jeder grundsätzlich gerufen ist.
Pater Pribilla: Von besonderer Bedeutung dürfte wohl die auch heute noch umstrittene Frage sein: Ist ein Staat wie der Hitler-Staat eine von Gott gewollte Ordnung? In der Beziehung neigen sowohl die katholischen als auch die evangelischen Theologen dazu, daß die bisherigen Interpretationen von Römer 13, jede Gewalt sei von Gott, nicht haltbar sind. Thomas von Aquin sagt direkt: „Eine Gewalt, die gegen die Gesetze Gottes verstößt, ist nicht von Gott". Das wird nun schon seit Jahrhunderten diskutiert, und auch der Bischof Berlichgraf hat auf dem letzten lutherischen Weltkonvent gesagt, daß nach seiner Auffassung — und seiner Meinung nach sei das auch die Ansicht Luthers — nur eine rechtmäßige Gewalt von Gott sei, nicht aber jede Gewalt.
. Sauer: Herr Professor Künneth, müßten Sie nicht eigentlich als Theologe folgerichtig zur Bejahung mindestens der Kontrollbefugnis aller Einsichtsfähigen im Staat und Einsichtswilligen kommen? Der Staat hat die Aufgabe von Gott her, für das allgemeine Wohl zu sorgen. Jeder einzelne Mensch hat von Gott her die Aufgabe, an der Verwirklichung dieses Gemeinwohls auch zu seinem Teil mitzuwirken. Wenn nun der Einzelne erkennt, daß der Staat das nicht nur nicht tut, sondern aus dieser Ordnung sogar ausbricht, müssen Sie anerkennen, daß der Einsichtsfähige und Einsichtswillige, und hoffentlich sind das im Staat sehr viele, mindestens das Recht der Beurteilung hat, der Kontrolle.
Ein zweites: Ich glaube, wir müssen uns vor einer Pauschalbeurteilung, auch des nationalsozialistischen Staates, hüten. Es besteht Römer 1 3 zu Recht für jeden Staat; denn es gibt keinen Staat, der nicht wenigstens in seinem Mindestmaß noch eine Ordnungsfunktion ausübt. Das hat auch der nationalsozialistische Staat getan. Er hat meinetwegen für die Ernährung des Volkes, für seine Sicherheit gesorgt, Verkehrspolitik getrieben usw. Insoweit war auch dieser Staat von Gott, und insoweit dürfen wir nicht das Pauschalurteil „Unrechtsstaat" fällen; das trifft nur insoweit zu, als er eben aus der Ordnung ausbrach und Unrecht setzte. Dieses Pauschalurteil ist immer von Übel.
Krausnick: Es handelt sich nicht um eine Pauschalverurteilung. Es handelt sich um die Einsicht, daß durch das Bekenntnis des NS-Staates zur Subjektivität die gesamte Ordnung von vornherein aus den Angeln gehoben wurde. Weil die potentielle Möglichkeit einer Gefährdung des Staates unter Umständen eintreten könnte, hat man im Dritten Reich Menschen schon im vorhinein und vorbeugend liquidiert. Ich verweigere nur deshalb den Ausdruck „Unrechtsstaat", weil Unrecht niemals konstitutiv für die Staatsbildung werden kann. Es war aber kein Rechtsstaat. Es war ein Arechtsstaat. Man verkennt Hitler und den ganzen Nationalsozialismus, wenn man das nicht einsieht.
Ich will ein praktisches Beispiel nehmen: Ein Blockleiter bekommt den Auftrag von oben, über die politische Einstellung eines Volksgenossen, wie es hieß, zu berichten. Er kann das nicht selber und wendet sich daher an eihes seiner Blockmitglieder, mit der Aufforderung, ihm zu sagen, wie der andere denkt. Der Betreffende wird im Sinne der LIrordnung von seinem Gewissen her den inneren Befehl in sich fühlen, der Sache nicht nadizukommen, sondern sich zumindest mit allen Mitteln dieser Zumutung zu entziehen. Damit ist sein Standpunkt klar umschrieben. Ja, nun ist er ja wirklich kein Amtsträger. Er wird aber in sich fühlen, daß hier ein Grundgesetz allen menschlichen Lebens verletzt wird!
Stadtmüller: Ich glaube, es ist bei Licht besehen so, daß die Dinge sich nicht kontradiktorisch ausschließen. Es ist, ich gebe Herrn Dr. Krausnick recht, bei einem Staat, der in seiner ethischen bzw. unethischen Tendenz den Gedanken des Rechts verneint, am deutlichsten sichtbar im Sektor des Strafrechts, wo diese Probleme ja zu allen Zeiten mit besonderer Wucht und exemplarisch auftreten. Es ist aber ebenso sicher, und nur davon hat ja eigentlich der Herr Bundesrichter Sauer gesprochen, daß weite Bereiche der zivilen Ordnung auch durch einen solchen Staat noch konserviert und garantiert werden. Effektiv in der Alltagspraxis ist es natürlich ein Gut für ein großes Volk, wenn z. B. die Ernährung sichergestellt ist.
Weinkauff: Die rechtliche Konsequenz Ihrer Auffassung wäre, daß während des nationalsozialistisch bestimmten Staates keine Rechtsordnung vorhanden gewesen wäre, soweit sie nicht die Urordnung war. Alle Gesetze würden der Sanktion entbehren, das Bürgerliche Gesetzbuch wäre nicht in Kraft, keine einzige rechtliche Ordnung wäre in Kraft. Rechtlich würde ein vollkommenes Chaos eintreten! So kann es nicht sein! Der Staat hat Ordnungsfunktionen gehabt und zwar in ganz weitgehendem Maße, auch der nationalsozialistische.
Krausnick: Sie waren aber jederzeit aufhebbar, wenn der Staat es im Sinne des Staatsinteresses für opportun hielt.
Sauer: Ich glaube, wir werden einig. Nicht deshalb wurde der nationalsozialistische Staat pauschal ein Unrechtsstaat, weil auch die guten Werke im Sinne der Nationalsozialisten einem schlechten Zweck dienen sollten, aber tatsächlich haben sie in diesem zivilen Sektor noch Gutes gewirkt, wenn auch bewußt zu einem shiechten Zweck. Dieses subjektive Unrecht stempelt aber dieses in der Tat objektiv gute Werk nicht zu einem Unrecht, und insoweit es objektiv gut geblieben ist, ist dieser Staat auch von Gott und also nicht ein Unrechtsstaat. Die falsche Intention der Nationalsozialisten stempelte ihren Staat doch nicht in toto zu einem Unrechtsstaat.
Krausnick: In der Praxis nicht.
Hölper: Herr Professor Künneth, ich glaube, manche Schwierigkeit läßt sich daraus erklären, daß Sie nah meiner Auffassung von einem theologishen Grundgedanken des Gottesstaates ausgehen, dann aber auf ein reines Rehtsdenken juristisher Art umshalten und dann zuletzt auh bei der Frage, wer das Widerstandsreht hat, rein praktishe Gesihtspunkte in Erwägung ziehen.
Nah meiner Auffassung müßte, wenn Sie davon ausgehen, daß die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist, und auh wenn sie pervertiert eingesetzt bleibt, rehtlih doh von Ihrem Standpunkt aus gesagt werden, daß diese schlechte Obrigkeit dem Willen Gottes entspricht. Denn letztlich geshieht ja nihts gegen den Willen Gottes. Infolgedessen kann man meines Erahtens, theologish gesehen, eine derartige Regierung, die shon satanishen Charakter hat, doh nur als eine Versuhung Gottes ansehen. Und dann erhebt sih die theologishe, niht die juristishe Frage: Was ist der Wille Gottes eigentlih gegenüber dieser Obrigkeit? Soll ih sie leidend ertragen, soll ih diese Obrigkeit, die die zehn Gebote Gottes offensichtlih verletzt und in den Shmutz zieht, willig hinnehmen, oder soll ih sie bekämpfen?
Dann kommt aber die weitere Frage: Es ist für uns Menshen ja schließ-lieh unmöglich, den Willen Gottes zu deuten. Infolgedessen kann ich niht unbedingt sagen: Wir müssen das leidend ertragen oder wir müssen uns gegen dieses Unreht, gegen diese Unrehtsregierung zur Wehr setzen. — Wenn ih aber 'das Letztere bejahe, nämlih die sittlihe Verpflihtung, niht nur zu leiden, sondern mih zur Wehr zu setzen, um dem wahren Willen Gottes wieder zum Reht zu verhelfen, kann ih dieses Reht niht auf einen bestimmten Kreis von Menshen beschrän-ken. Denn vor Gott sind alle Menshen gleih. Infolgedessen müßte ih dann zu der Auffassung gelangen, daß ih aus meiner sittlich-religiösen Verpflihtung heraus jedem das Reht einräume, gegen das Böse anzu-gehen.
Einen anderen Boden gibt es niht in einer Urordnung der Dinge, und wenn eben die Urordnung der Dinge durh die Obrigkeit verletzt wird, wenn der Staat in so großem Masse Unreht setzt, ist mein Handeln niht mehr rehtswidrig, sondern rechtmäßig! Hier geshieht Unreht, und wenn ih mih gegen dieses Unreht zur Wehr setze, so ist das eben Reht. Ih handele niht rehtswidrig im Sinne des Strafgesetzbuhes, sondern ih handele rehtmäßig. Um es praktish auszudrücken, wäre das dann ungefähr so, als wollte ih sagen: Ih gebe das Naturreht nur einer ganz eng begrenzten Anzahl von Personen. Das ist ja auh ausgeshlossen. Ih kann dieses Reht niht beshränken. Dieses mir zustehende Reht kann nun aber neuerdings verletzt werden und zwar dann, wenn ih es bei der Not-wehr verletze. Wenn heute ein Bub in meinem Garten Zwetschgen stiehlt, und ih shieße ihn tot, dann habe ih das mir an und für sih zustehende Reht, mein Eigentum zu shützen, übershritten und somit einen neuen Rehtsbruh begangen.
Ih möhte damit nur folgendes zum Ausdruck bringen: Wenn ih sage, daß ih das Reht habe, gegen einen Staat, der Unreht setzt, zu handeln, und daß diese Handlung rehtmäßig ist, muß dieses Reht jedem zustehen. Wenn nun der Einzelne dieses ihm zustehende Reht verletzt — hier kommt die Frage der Güterabwägung herein —, wäre zu entsheiden, wie weit, um einen juristishen Begriff zu gebrauhen, hier lediglih eine Übershreitung des Rehtes, ein sogenannter Notwehrexzeß, vorliegt, oder ob er selber einen Rehtsbruh begangen hat. Damit komme ih im Endergebnis, auh von der rehtlihen Seite, zu dem Shluß, daß ih niht von vornherein sagen kann: Das Widerstandsreht ist nur auf einen bestimmten Kreis von Personen beshränkt.
Künneth: Was heißt nun aber „Perversion des Staates"? Denken wir an den Hitler-Staat oder an das System im Osten. Einerseits ist die Ordnung Gottes immer noh transparent, vielleicht sehr bruchstückhaft, aber effektiv ist sie eben doh noh irgendwie da. Andererseits ist sie in tausend Fällen pervertiert. Wir sprehen darum, wie Sie ja wissen, Herr Pater, niht nur von Römer 13, sondern auh von Apokalypse 13, wo ja auh gerade von der satanishen Mahtgebärdung die Rede ist. Dieses beides zusammen mäht die Angelegenheit ja so ungeheuer kompliziert. Was folgt nun daraus? Daraus folgt, daß wir selbstverständlih, ih habe das nie bestritten, die Aufgabe haben, eine entartete Ordnung wieder zur rihtigen Ordnung zurückzuführen. In der Aufgabe sind wir uns einig. Wer aber dazu berufen ist, das hängt von der Eingliederung in das Staats-gefüge ab. Und nun wird, glaube ih, manhes Mißverständnis behoben, wenn ih sage: Selbstverständlih ist jeder Mensh als Mensh, speziell jeder Christ, latent berehtigt, um die Ordnung Sorge zu tragen. Selbstverständlih! Hier geht es aber um die Frage der Konkretisierung dieses jedem Menshen gegebenen Rehtes, und die Konkretisierung hängt eben wieder von der Skala der Möglihkeiten zur Einordnung in den großen Staatsbereih ab.
Weinkauff: Dann sind wir ganz einig.
Künneth: Niht jeder Soldat ist aber dazu berufen, obwohl er als Mensh latent zweifellos auh das Reht hätte. Gemäß seiner Stellung, seiner Einordnung in das Staatsgefüge aber ist er dazu niht berufen.
Weinkauff: Hierin stimmen wir wieder niht überein.
Künneth: Nein, das weiß ih. — Oder der berühmte Stammtischpoli-tiker ist latent als Mensh, als Christ, wenn er das ist, grundsätzlich mit berufen, für Ordnung Sorge zu tragen. Effektiv aber, in concreto, niemals. Nah meiner Meinung deshalb niht, weil er in seiner Stellung, in seiner Ordnung, in seiner Eingliederung im Staatsganzen dazu niht die Voll-mäht haben kann. Das Reht der Notwehr — das haben Sie, Herr Präsident, glaube ih, selber deutlih gemäht — steht zwar in einer gewissen Analogie, einer Parallele, ist aber doh etwas anderes.
Ich bin also niht der Meinung, daß ein pervertierter Staat sih auf Gott berufen kann. Allerdings bin ih aber auh der Meinung, daß in einem pervertierten Staat immer noh Ordnungsreste durhsheinen und effektiv Gültigkeit besitzen. Unter geschichtlicher Verantwortung Weinkauff: Sie leugnen ja nun eigentlich nicht mehr, daß grundsätz-lich jeder Staatsangehörige, Mensch und Christ, wie Sie sagen, potentiell zum Widerstand berechtigt ist. Daraus würde man folgern, daß man den Kreis der Widerstandsberechtigten grundsätzlich nicht auf Amtsträger einschränken könnte. Jeder muß dazu berechtigt sein. Das Amtsträger-vorredit hat eine historische Bedeutung. Die ganze Lehre kommt vom Ständestaat. Im Ständestaat war die ganze Staatsgewalt vertragsartig zwischen Fürsten und Ständen aufgeteilt. Das Volk selber wurde durch die Stände vertreten, es hatte keine unmittelbare Wirkungsmöglichkeit. Perversionen, wie wir sie unter Hitler erlebt haben, gab es in diesen Staaten nicht, und das Widerstandsrecht war damals, verglichen mit dem, was jetzt geschieht, harmlos. Da ist die Lehre vertreten worden, nur die Stände hätten das Widerstandsrecht auszuüben, weil sie nach dem positiven Staatsrecht damals zusammen mit den Fürsten Träger der Staatsmacht waren. Diese Lehre versagt völlig vor einem Tatbestand, wie er unter dem Nationalsozialismus gegeben war. Es existierten ja keine Stände, es gab keine Amtsträger, die das Widerstandsrecht unter ihm legitim hätten ausüben können. Die Amtsträger, wenn Sie das aus dem Ständestaat in den nationalsozialistischen übertragen wollen, wären gewesen: die Partei, die SS, der SD, der Reichstag, das Akklamationsorgan, die hochbezahlten Sänger. Beamte, Offiziere waren nicht Amtsträger des nationalsozialistischen Staates in dem Sinn, daß sie die politische Gewalt in irgendeiner Form innegehabt hätten. Die politische Gewalt ist zunächst diejenige, die das Widerstandsrecht hat. Ja, hier war ja tabula rasa! Auch die Beamten und Offiziere waren innerlich völlig zersetzt. Sie standen unter dem Terror, unter der Furcht. Es konnte ja keiner dem anderen über den Weg trauen. Es gab nichts, was man als Amtsträger ansprechen konnte. Das Wort „Amtsträger" muß einen juristischen Sinn haben, nämlich den Sinn irgendeiner rechtlichen Befugnis in der Ämterhierarchie, wenn es ein Rechtsbegriff sein soll.
In diesem Staat ist also die Theorie des Amtsträgers überhaupt nicht durchzuführen, weil es keine Amtsträger gab.
Ja, res ad triarios venit! Wenn es so ist, geht die Sache an die zurück, die im Rechtssinne die Amtsträger erst kreieren. Das ist das Volk, die Gesamtheit der Staatsbürger. Deswegen kommt das Widerstandsrecht grundsätzlich jedem zu. Das bedeutet nun in gar keiner Weise, daß jeder es ausüben kann, wie er mag. Hier stimme ich mit Herrn Oberstaatsanwalt Hölper völlig überein in dem, was er über die Analogie des Notwehrrechtes sagte. Das trifft es durchaus. Auch Notwehr kommt jedem zu, der in der Notwehrsituation ist. Trotzdem darf er nicht auf jede Weise Notwehr üben. Jeder hat das Widerstandsrecht, trotzdem darf er nicht auf jede Weise Widerstand üben. Wenn man die Dinge überdenkt, versteht es sich ja von selbst, daß Widerstand nur geleistet werden kann, wenn der Betreffende es überblickt, und dann, daß Widerstand nur geleistet werden darf, wenn eine gewisse Aussicht besteht, daß sich die Sache dadurch zum Besseren wendet.
Warum? Die Sachlage ist nicht so, daß sie hier einfach durch die Beziehung „hie Recht — hie Unrecht" erschöpft wäre. „Du, Gewalthaber, hast Unrecht, ich, Widerstandsmann, habe Recht!“, sondern der gewaltsame aktive Widerstand, der nach der Staatsmacht greift, der die Regierung depossediert, um sich selbst an ihre Stelle zu setzen, der ist zugleich ein Griff in den Ablauf der Geschichte, ein Griff in das Rad der Geschichte. Deswegen steht er nicht nur unter der streng rechtlichen Verantwortung „hie Recht — hie Unrecht", sondern unter der geschichtlichen Verantwortung! Deswegen die These: Der Widerstandsakt muß die Möglickeit in sich tragen, die Sache zum b e s s e r e n z u w e n d e n .
Wenn Sie das durchdenken, dann werden ja alle Ihre Anliegen sofort praktisch erledigt. Dann schränkt sich ja der Kreis der Widerstandsberechtigten, der theoretisch unbegrenzt ist, sofort auf diejenigen ein, die 1. die Dinge überblicken und die 2. die geschichtliche Verantwortung tragen können. Nicht weil sie Amtsträger sind, nicht weil sie irgendwie faßbar herausgegliedert werden könnten aus allen Übrigen, sondern weil das die Art und Weise ist, in der allein Widerstand geleistet werden darf. Deswegen sind Einzeldesertionen oder einzelne Verstöße gegen die militärische Disziplin nicht möglich. Der Widerstandsakt hat das Schicksal des Ganzen zu wenden, er ist von geschichtlicher Verantwortung beladen. Deswegen darf nicht der Einzelne einfach abhauen, das ist ja kein Widerstandsakt. Deswegen kann praktisch Widerstand hier auch nur von einer Gruppe geleistet werden; denn der Einzelne kann es ja gar nicht. Es gibt Ausnahmefälle. Wenn etwa ein Einzelner 1944 oder Anfang 1945 ein Attentat auf Hitler auf seine eigene Kappe genommen hätte, kein Amtsträger, ein Einzelner, der es sich überlegt hätte und die Verhältnisse sah, würde ich ohne weiteres so weit gehen zu sagen, daß das ein legitimer Widerstandsakt gewesen wäre. Wenn man die Art und Weise der Ausübung des Widerstandsrechtes betrachtet, lösen sich alle diese Probleme, die Sie auf dem etwas mechanischen Wege der Auslese der Amtsträger lösen wollen, auf einem Weg der Betrachtung des Einzelfalles. Dann sind eigentlich die Schwierigkeiten gar nicht ungeheuer.
Sauer: Ist es wohl notwendig oder auch richtig, aus dieser Forderung nach einer’ Voraussetzung für die Berechtigung des Widerstandes, daß nämlich die Aussicht auf einen Erfolg besteht, zu schließen, daß der von vornherein aussichtslose Widerstand rechtswidrig wird? Die Konsequenz wäre: Je mächtiger die Tyrannei ist, je aussichtsloser also ein Widerstand von vornherein ist, desto weniger ist er erlaubt. Ebenso gesehen, ergäbe sich für das einzelne Notwehrrecht folgendes: Derjenige, der einem bewaffneten Gegner waffenlos gegenübersteht, ist nicht mehr berechtigt, sich zu wehren, weil das ja aussichtslos ist, er würde doch niedergeschossen. Die Konsequenz zu sagen, ein von vornherein aussichtsloser Akt des Widerstandes zum Nutzen des ganzen Volkes ist deshalb rechtswidrig, weil von vornherein keine Aussicht auf Erfolg besteht, wäre ebenso wenig richtig.
Ich komme aber doch aus einer anderen Forderung zu dem Ergebnis, es muß eine Voraussetzung an die Erlaubtheit geknüpft werden und zwar aus folgendem: Die Beseitigung des nationalsozialistischen Regimes wäre, wenn sie gelungen wäre, ja nicht das einzige gewesen, was dann zu schaffen gewesen wäre, sondern es hätte ja noch ein zweiter Akt folgen müssen, nämlich das Vakuum, das, wenn auch nur ganz kurz, entstanden wäre, mußte ausgefüllt werden durch eine bessere Ordnung; denn sonst wäre ja das Chaos entstanden, und die Lage des Volkes verschlimmert worden. Es sollte dem Volke aber geholfen werden. Hier läuft sicher die Grenze des Notwehrrechts oder des Nothilferechts für den Dritten oder für das Volk: daß die Lage dessen, dem man helfen will, durch den Nothilfeakt nicht verschlimmert werden darf. Sie wäre aber verschlimmert worden, wenn nicht von vornherein die Aussicht bestanden hätte, das Vakuum sofort oder möglichst bald auszufüllen. Hatten unsere Widerstandskämpfer die Möglichkeit? Hatten sie auch die Aussicht auf Erfolg? Nicht nur auf den Erfolg, Hitler zu beseitigen, also dieses Negativum zu vollziehen, sondern dann auch die positive Ordnung zu setzen? Wir müssen sagen: Ja.
Deshalb komme ich auch zu dem Ergebnis: Ich kann nicht jedem das Recht des Widerstandes gegen den Tyrannen zubilligen, sondern nur dem, der die Möglichkeit hat und Aussicht, nach Beseitigung dieses Regimes ein besseres an seine Stelle zu setzen. Aber ich komme nicht zu dem Ergebnis, daß eine Tat, die von vornherein aussichtslos ist, rechtswidrig wäre, denn eine aussichtslose, eine mißlungene Tat schafft ja nichts Schlimmeres. Sie kann ja nur den Zustand, der besteht, bestehen lassen. Die Notwehrtat des Einzelnen oder die Nothilfetat zu Gunsten eines Dritten — nicht anders ist ja meines Erachtens die Tat der Widerstandskämpfer rechtlich zu klassifizieren, auch positiv-rechtlich aus § 53, dem Notwehrparagraphen, — war erlaubt, selbst wenn sie von vornherein aussichtslos gewesen wäre. Aussichtslos war sie übrigens nicht.
Noch ein Punkt, nämlich die Desertion des einzelnen Soldaten. Meine Herren, wir wollen doch konsequent sein: Hätte der Einzelne, der aus Gewissensgründen und nach Erkenntnis des ganzen Unrechts dieses rechtswidrigen Angriffskrieges sich herausgelöst hat, dadurch, daß er einfach die Waffen niederlegte, desertierte, etwa einen aktiven Widerstandsakt vollzogen? Doch wohl nicht. v. Witzleben: Desertion ist kein Widerstand. Ich stehe persönlich als Soldat auf dem Standpunkt: Wenn einer Widerstand leistet, dann muß er mit allen Konsequenzen nach innen Widerstand leisten, aber nicht dadurch, daß er überläuft. Wo ist da die Grenze zwischen Widerstand und Feigheit? Weinkauff: Wenn man sagt: Der Widerstandsakt muß einen Erfolg haben, so kommt es darauf an, was für einen Erfolg. Wer es unternimmt, durch Widerstandsleistung die Regierung zu depossedieren und sich an ihre Stelle zu setzen, der muß in der Tat eine gewisse Möglichkeit haben, das zu erreichen und dadurch die Dinge zum Besseren zu wenden. Wer es, wie die Geschwister Scholl, um das Gewissen der Studenten zu wecken, unternimmt, das Gefühl auszulösen: So kann es nicht weitergehen!, dessen Erfolg im Sinne dieser Lehre ist ja schon erreicht, wenn ihm das gelungen ist. Die Geschwister Scholl haben ja nicht angestrebt, Hitler von heute auf morgen aus der Macht zu setzen. Darüber sind wir uns ja auch alle einig, daß in äußersten Fällen, wie beim 20. Juli, der Erfolg, den eine solche Bewegung erstreben kann, unter Umständen im Rechts-sinne schon dann ausreichend vorhanden ist, wenn nur ein Fanal auf-gerichtet wurde. Hier war es doch so. Die Sache konnte gelingen in ihrem eigentlichen Sinne, sie konnte auch nicht gelingen. Es war schwierig zu entscheiden, ob es gelingen würde. Was auf jeden Fall gelingen konnte und auch gelungen ist, war die Aufrichtung dieses Zeichens, daß sich im deutschen Volke noch Widerstandskräfte geregt haben. Das ist ein großer Erfolg für das Volk, für Deutschland. Das genügt völlig. Man kann das alles nicht über einen Kamm scheren, es kommt auf den Einzelfall an. Soviel zum Erfolg.
Nun zur Einzeldesertion. Ich habe mich mit Absicht darauf beschränkt zu fragen: Ist die Einzeldesertion als Widerstandsakt gerechtfertigt? Da läßt sie sich nicht rechtfertigen. Ob einer aus Gewissensgründen in einer solchen Lage die Waffen niederlegen darf, ist eine völlig andere Frage; es wird ja versucht, sie im Grundgesetz zu lösen, in dem bekannten Artikel. Die Frage ist schwierig, wir können sie hier auch nicht diskutieren. Für uns kommt es auch gar nicht darauf an. Ein gerechtfertigter Widerstandsakt ist Desertion auf jeden Fall nicht.
Künneth: Selbstverständlich hat jeder christliche Bürger, jeder christliche Soldat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dann Nein zu sagen, den Gehorsam zu verweigern, wenn er zu Handlungen unmoralischer Art veranlaßt wird. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
Ich verstehe unter „Widerstandsrecht“ etwas anderes. Ich begreife darunter das Bemühen, durch gewaltsamen Widerstand eine Änderung der Staatsführung herbeizuzwingen. Das verstehe ich darunter. Daß der einzelne erkennt: Hier soll eine Exekution stattfinden, die unrecht ist, also mache ich nicht mit!, das ist eine Selbstverständlichkeit und war eine primitive christliche Forderung zu allen Zeiten. Aber das meine ich nicht mit „Widerstandsrecht“. Selbstverständlich wird hier jeder nach seinem Gewissen handeln müssen, wenn er zu unmoralischen Handlungen veranlaßt wird. Das ist aber nicht die Frage, um die es mir hier zu gehen scheint. Ich muß bei der These bleiben, daß die aktuelle Realisierung des Widerstandsaktes eine beschränkte Möglichkeit ist.
Sie, Herr Präsident, stoßen sich an dem Begriff „Amtsträger“. Es kommt mir jetzt hier ganz darauf an, was wir unter „Amt" verstehen. Ich würde sagen: Sehen Sie sich die Persönlichkeiten der militärischen Opposition an. Das sind nach meinem Urteil Amtsträger gewesen. Das waren Generale, das waren höchste Juristen, das waren Persönlichkeiten, die in Schlüsselstellungen waren, die wirklich mehr als der primitive Mensch, als Hinz und Kunz wußten, verstanden, deuten konnten, die wirklich am Hebel der geschichtlichen Verantwortung saßen und hier auch ein besonderes Maß geschichtlicher Erkenntnis haben konnten. Das war nicht die große Masse, das waren einzelne. Darunter verstehe ich „Amtsträger“. Eine Persönlichkeit kann Amtsträger sein, auch wenn sie kein juristisch fixierbares Amt innehat. „Amt“ heißt nämlich in meinem Verständnis: Eine sachlich begründete Vollmacht. Die besitzt aber nicht der einzelne Heeresangehörige.
Weinkauff: Er kann sie durchaus besitzen.
Künneth: Wenn er vom Posten des Gefreiten oder Unteroffiziers durch irgendwelche Konstellationen zu einer Schlüsselstellung gekommen ist, sagen wir einmal als Wirtschaftsführer, als hoher Jurist, kann er diese Vollmacht haben. Vorher nicht.
Weinkauff: Und dieser Unterschied bleibt bestehen?
Künneth: Der bleibt, und das wollen wir, glaube ich, auch nicht vertuschen. Ich darf es noch einmal klarmachen an den Worten, für die ich Ihnen sehr dankbar bin, Herr Präsident: Geschichtliche Verantwortung! Diese geschichtliche Verantwortung, und das behaupte ich mit aller Betonung, hat nicht im gleichen Maße jeder.
Weinkauff: Darf ich einen kleinen Einwand machen: Stellen Sie sich einen einfachen Mann vor, der aber in sich das Charisma des politischen Führers trägt, das sich noch nicht entwickelt hat, sich aber entwickeln kann und vielleicht wird. Dieser Mann tritt einer solchen Widerstandsbewegung bei. Warum sollte er das denn nicht tun?
Künneth: Sie sagen mit Recht, Herr Präsident: „Er tritt einer Widerstandsbewegung bei". Das setzt voraus, daß schon ein Kreis von höchsten Persönlichkeiten da ist, die diese Qualität, die ich fordere, besitzen.
Weinkauff: Er kann diese Bewegung organisieren, er kann sie aus dem Nichts heraus schaffen!
Künneth: Sicher, aber in diesem Maße, in dem er diese Bewegung organisiert, wächst er gleichsam in diese Ordnung hinein, und damit ist er nicht mehr Hinz und Kunz, sondern wirklich die geniale, charismatisch begabte, sagen wir einmal, Führerpersönlichkeit, die dann wieder eine besondere Rolle in der Einordnung, darauf kommt es mir an, im Staats-ganzen repräsentiert.
Haseloff: Durch seine Handlung wird er der Amtsträger.
Künneth: Ja, so meine ich es. Es kommt darauf an, ob wir in der Lage sind, einem anderen, der im Geheimen zu uns kommt, durch alle möglichen Erlebnisse und Erfahrungen belastet, zu raten. Was würden wir ihm raten? Ich denke jetzt z. B. an die Vorgänge in der Ostzone. Darf ich heute einem bedrängten Arbeiter oder Lehrer ohne weiteres raten: „Treibe Sabotage, so gut Du kannst“!?
Weinkauff: Ich würde sagen: Ja.
Künneth: Ich würde es verneinen. Ich urteile jetzt auf Grund eines allerdings begrenzten Wissens, aber ich hatte ungezählte Gespräche über diese Fragen in der Ostzone, und ich habe auch dort diese Gedanken vorgetragen, nämlich auf Grund der Erkenntnis, daß dadurch keine Nothilfe vollzogen wird, sondern praktisch die Notlage nach menschlichem Ermessen ins Unermeßliche gesteigert würde. Eine ganz andere Frage ist es, ob nicht trotzdem gewisse Ereignisse zu einem Fanal werden können. Das liegt dann nicht mehr in meinem Verfügungsbereich. Aber nach menschlichem Ermessen muß ich sagen: Hier wird ein Blutbad ausgelöst. Die Folge ist ein noch viel größerer Notzustand. Sehen Sie, das ist der Grund, und darum würde ich auch hier sagen, daß es mir entscheidend auf die Einschränkung des aktiven Widerstandsrechts als Realisierung dieser Möglichkeit ankommt, auf die Einschränkung auf Persönlichkeiten, die eben diese, wie ich sage, sachlich begründete Vollmacht repräsentieren. v. Witzleben: Treffen denn auf die Menschen in der Ostzone nicht die gleichen Voraussetzungen zu, die wir seinerzeit im „Dritten Reich" hatten, um Widerstand zu leisten?
Künneth: Das verneine ich nicht. Ich sage ja gerade, daß die Lage an und für sich genau die gleiche ist, und ich habe eine Reihe von führenden Persönlichkeiten aus der Ostzone gesprochen, die gerade die von mir geforderte Beschränkung, sagen wir der Widerstandspflicht, als eine Erlösung empfunden haben, weil sie damit überhaupt existieren können. Wenn ich heute den unglücklichen Menschen in der Ostzone sage: „Ihr müßt sofort hier irgendwie Widerstand leisten"!, verzweifeln diese Menschen. v. Witzleben: Im Grunde genommen müssen wir doch jedem Menschen in der Ostzone das Recht geben, genau so Widerstand zu leisten, wie wir es getan haben.
Künneth: Die Lage ist genau die gleiche.
Weinkauff: Ich möchte nur an das Beispiel vom 17. Juni erinnern. Was diese einfachen Leute, die ja nach Ihrer Theorie in gar keinem Sinn Amtsträger waren, sondern Bauarbeiter von der Stalinallee, getan haben, ist nach positivem Recht Aufruhr, Landfriedensbruch, gemeinsame Brand-Stiftung, gemeinsame Sachbeschädigung, und wenn sie auf einen Vopo losgegangen sind, war das Widerstand gegen die Staatsgewalt. Darauf steht drüben nach positivem Recht bis zu fünfzehn Jahren Zuchthaus, unter Umständen auch die Todesstrafe. Die Frage des Widerstandsrechtes ist doch ungemein praktisch. Von Ihrer These aus müßten diese Leute doch alle ins Zuchthaus gehen. Aber es ist doch zweifellos in höchstem Maße unrechtmäßig, die Leute ins Zuchthaus zu schicken! Wenn man ihnen aber das Widerstandsrecht nicht zubilligt, weil sie in diesem Sinne nicht Amtsträger waren, müssen sie doch zu Recht ins Zuchthaus geschickt werden?
Künneth: Herr Präsident, eine Frage: Hätten Sie, wenn Sie vorher gefragt worden wären, diesen Leuten den Rat geben können, das zu tun? Ich hätte diesen Rat nicht geben können!
Weinkauff: Das ist eine andere Frage. Hier hätte der Widerstand, an sich nicht viel Aussicht auf ein praktisches Ergebnis in dem Sinn, daß das Regime dadurch sich hätte ändern oder fallen können. Trotzdem ist auch hier ein Fanal aufgerichtet worden, und die Wirkungen im Western aber auch im Osten, sind enorm. Der ganze Akt ist ein gerechtfertigter Widerstandsakt.
Pater Pribilla: Ich kenne zufällig das Privaturteil eines amerikanischen Obersten, der sagte: „Der Aufstand vom 17. Juni hat den Nimbus des Bolschewismus in der ganzen Welt erschüttert“! Ob das wahr ist, läßt sich schwer sagen, aber es ist durchaus möglich.
Was aber die geschichtliche Stunde und Berufung betrifft, so möchte ich folgendes sagen: Es wird sich, glaube ich, wenn die Frage des großen Widerstandes unausweichlich wird, immer darum handeln, ob sich der Mann findet, der den Blick hat und die Entschlußkraft, im entscheidenden Augenblick loszuschlagen. Ich habe z. B. von Oberpräsident v. Lüninck erfahren, daß Generaloberst Beck später in privatem Kreise wiederholt erklärte: „Der psychologische Moment zum Losschlagen wäre der Augenblick der Fritsch-Krise gewesen". Er war damals noch im Besitze der Macht, und Hitler hatte unrechtmäßigerweise die ganze Organisation des Heeres umgeworfen. Er habe das damals theoretisch wohl erkannt, aber in dem Augenblick nicht den praktischen Entschluß gefunden.
Nothilfe zu Gunsten eines Dritten Mir Sauer: scheint eine sehr wichtige Frage noch nicht mit der nötigen Gründlichkeit diskutiert worden zu sein, nämlich der Fall Oster. Daß die Akte der Widerstandskämpfer, soweit sie nach innen gerichtet waren, rechtmäßig gewesen sind, ist wohl die Überzeugung aller; denn wir können sagen, daß sie nicht nur Aussicht auf Erfolg, auf Beseitigung Hitlers hatten, sondern auch Aussicht darauf, ein Besseres an die Stelle des Schlechten zu setzen. Die Frage ist aber: Wie ist die Tat Osters, also die Hilfe für den angegriffenen Staat, für die westlichen Staaten zu beurteilen? Man kann meines Erachtens diese Tat nur dann für rechtmäßig erklären, wenn man anerkennt, daß es nicht nur ein Notwehrrecht des Einzelnen gegen einen Angreifer, sondern ein Notwehrrecht zu Gunsten eines Dritten, ja auch zu Gunsten eines dritten, zu Unrecht angegriffenen Volkes gibt.
Also die Nothilfe, auch positiv-rechtlich nach § 53 StGB, sagt: auch zu Gunsten eines Dritten. Warum nicht auch zu Gunsten eines völkerrechtswidrig angegriffenen dritten Volkes? Auch hier nur eine Grenze: Es darf die Lage dessen, dem ich zu Hilfe kommen will, nicht verschlechtert werden; sonst wäre es ja keine Nothilfe mehr. Dadurch, daß Oster den Angriffstermin mitgeteilt hat, ist ja die Lage der Staaten, die angegriffen wurden, sichtlich nicht verschlechtert worden. Nun kommt aber der gewichtige Einwand: Ja, aber viele Tausend deutsche Soldaten mußten dafür vielleicht mit ihrem Leben zahlen. Kann der Einwand etwa zum Urteil „rechtswidrig“ führen? Ich glaube nicht. Denn selbst wenn die Tat des einzelnen Soldaten, von seinem Standpunkt aus gesehen, rechtmäßig gewesen ist —, ich bin davon überzeugt —, ist aber doch anzuerkennen, daß er, wenn auch ungewollt, im Dienste eines rechtswidrigen Angreifers stand. Deshalb konnten auch Verluste auf Seiten der unschuldig in diese Zwangslage Getriebenen nicht etwa die Tat Osters rechtswidrig machen.
Auch hier ist, glaube ich, einziges Kriterium nur das: Ist durch die Tat Osters die Lage dessen, dem er helfen wollte, verschlimmert worden?
Wenn das der Fall gewesen wäre, wäre die Tat rechtswidrig gewesen.
Haseloff: Diese Lage ist nicht nur nicht verschlimmert worden, sondern es ist in seinen Überlegungen auch die Lage seines eigenen Staates dadurch verbessert worden, daß er der Auffassung war, durch die vielleicht 5000 Mann Verluste, die dieser Verrat kostete, Millionen andere Verluste zu ersparen, die später mit Sicherheit eintreten würden. v. Witzleben: Osters Tat war rechtsmäßig. Ein wesentliches Moment dabei war, daß Oster in Verbindung mit Beck und Müller deutlich sichtbar machen wollte. „Wir, die Opposition, distanzieren uns von dem begangenen Unrecht gegen Belgien und Holland“. Ich erinnere an 1914 und daran, welche unerhört furchtbaren Folgen der Angriff auf Belgien für uns hatte. Wenn heute aber seitens der Gegner der Opposition behauptet wird, es seien Hunderttausende von Soldaten dabei ums Leben gekommen, oder Zehntausende, so bringen wir den Nachweis, daß nach den Verlustlisten, die im Generalstab des Heeres geführt wurden, es geradezu erstaunlich gering war, was bei dem Angriff, gerade gegen die Frontteile, die vorher gewarnt worden waren, an Verlusten entstand.
Krausnick: Nach Osters Überzeugung mußte sich der Krieg durch die Westoffensive derartig ausweiten, daß es gar keinen Zweck mehr haben würde, Hitler nachher zu stürzen; wenn dieser Schritt über den Rubicon vollzogen wäre, würden die Dinge ins Unabwendbare abgleiten. v. Witzleben: Gewiß dachte Oster auch: Wenn dieser Angriff nach Westen im Mai 1940 abgeschmiert wird, gibt der chec, den Hitler dann erleidet, der Opposition den Anstoß zum Handeln.
Krausnick: Was aus Zellers Buch über Osters Persönlichkeit bekannt geworden ist, seine Auffassung von christlicher Erziehung, auch im Soldatenstand, zeugt von höchstem Verantwortungsbewußtsein.
Weinkauff: Durfte Oster an sein Recht glauben? Wenn das bejaht werden kann, liegt natürlich bei ihm kein Landesverrat vor, dann wäre er wegen Schuldlosigkeit freizusprechen. Kein Mensch kann bestreiten, daß hier ein ungemeiner Einsatz der Person geleistet wurde und daß die Motive in jeder Beziehung ehrenwert und ehrenhaft waren.
Sendtner: Oster hat die beiden Angaben, a) an Holland, b) an Norwegen, ja nicht gemacht, weil er davon so gewaltige Rückwirkungen erwartete, daß in absehbarer Zeit mit dem Sturz des Regimes zu rechnen wäre. Er hat sie gemacht, um die Militäropposition, die mit dem Aus-lande über einen besseren Frieden für ein besseres Deutschland verhandelte, kreditfähig zu erhalten, um sichtbar von Hitlers Neutralitätsbruch abzurücken.
Pater Pribilla: Um auch objektiv die Handlung von General Oster zu prüfen, müssen wir fragen: Wie lag die Sache vor den Gedanken des Generals Oster? Was konnte er vernünftigerweise voraussehen, was konnte er hoffen, was hätte er einsehen müssen? Wir hingegen sind, auch bei anderen Fällen ist das so, jetzt immer in der Gefahr der Täuschung, indem wir das, was wir durch den Verlauf wissen, hineinprojizieren in die Menschen, die damals gehandelt haben; dadurch tun wir diesen Leuten praktisch unrecht. Denn der Mensch urteilt nicht nach der objektiven Realität, die uns allen verschlossen ist, er kann nur nach der Realität, wie sie im Geiste des Handelnden lebendig war, urteilen.
Krausnick: Eigentlich hat die spätere Entwicklung Oster Recht gegeben; denn über den Frankreich-Feldzug weg, mit dem plötzlichen Nicht-Wissen, wie man weiterkommt, ist ja dann der Gedanke entstanden: So, jetzt schaffen wir uns erst den Kontinent vom Hals und gehen dann gegen Ruß-land. Seitdem gerieten die Dinge ins Bodenlose.
Art der Widerstandsleistung Weinkauff: Eine Frage ist wohl noch offen, und zwar — vor allem im Hinblick auf die Tötungen — die Frage nach der Art der Widerstands-leistung. Diese Handlungen konnten ja nur noch durchgeführt werden, indem auch Unschuldige, Unbeteiligte geopfert wurden, Ordonnanzen, Flugzeugführer, am politischen Geschehen unbeteiligte Offiziere. Rechtfertigt das Widerstandsrecht auch das? Man wird sagen können: So weit sich die Tat gegen die Schuldigen richtete, wie Hitler, Himmler usw., ist sie auch in einer solchen Lage noch gerechtfertigt. Das ist der soge-nannte übergesetzliche Notstand, eine Notstandslage, bei der das übergeordnete rechtliche Gut, nämlich die Beseitigung der Frevler und die Herbeiführung eines besseren Zustandes, überwiegt gegenüber dem notwendigen Opfer dieser unschuldigen Leben. Kann der Gesichtspunkt aber auch noch gelten, soweit sich die Tat gegen die Unschuldigen selbst richtet? Oder steht man hier vor einer Grenze des menschlichen Rechtes? Ist die Tat gerechtfertigt, soweit sie gegen die Schuldigen ging, aber nicht mehr vom menschlichen Recht her zu rechtfertigen, soweit sie gegen die Unschuldigen ging? Es bleibt natürlich der Ausweg der Gnade, sowohl der menschlichen wie der göttlichen Gnade, und man ist fast versucht zu sagen, daß hier ein Fall vorliegt, den das menschliche Recht nicht mehr bewältigen kann, den nur noch die Gnade zu bewältigen vermag.
Sauer: Muß nicht der Jurist den Versuch wagen, auch das zu entscheiden, nämlich zu Gunsten des Urteils „rechtmäßig“? Denn die Notwehr, die Nothilfe, das Widerstandsrecht hat nur eine Grenze zu wahren: Sie darf nicht mehr tun, als erforderlich ist. Wenn der Tyrann aber nicht anders zu beseitigen ist als so, daß auch Unschuldige, die er vielleicht vor sich hinstellt, getötet werden, ist diese Tat deswegen doch nicht zu einer rechtswidrigen geworden. Denn nicht der Widerstandskämpfer, sondern der Tyrann brachte diese Unschuldigen in die Lage, daß sie geopfert werden mußten um eines Zieles willen, das anders nicht erreichbar war.
Weinkauff: Was würden Sie meinen, Herr Oberstaatsanwalt?
Hölper: Ich stimme mit Ihnen überein, Herr Präsident. Hier ist eine Grenze, an der meines Erachtens das menschliche Recht versagt. Ich glaube, Herr Bundesrichter, wir sind schon zu sehr davon abgekommen, den Wert des einzelnen Lebens zu schätzen. Wir rechnen zu viel mit Zahlen.
Sendtner: Ein praktisches Beispiel. Ein Angreifer treibt ein unschuldiges Opfer vor sich her, um sich hinter ihm zu schützen. Würde der Angegriffene, der, um an den eigentlichen Angreifer heranzukommen, nicht anders kann, als diesen Unschuldigen zu beseitigen, rechtswidrig handeln?
Hölper: Das ist schwer vorstellbar.
Haseloff: Wir haben Beispiele dafür in der Kriegsgeschichte.
Sendtner: Herr General, ich meine, wir dürfen uns doch nicht verlieren! Der Satan war doch nicht zu beseitigen, ohne daß da auch noch einige andere mit ins Gras beißen mußten! Im übrigen waren wir immerhin in einen Krieg verwickelt, in dem es um Millionen von Opfern ging. Wenn zugleich mit Hitler damals, von mir aus, 50 Unschuldige in der Wolfsschanze ihr Leben verloren hätten, wären Millionen gerettet worden, weil der Krieg aus gewesen wäre mit genau dem gleichen Ergebnis wie im Mai 1945, wenn nicht mit einem besseren. Denken Sie allein an Würzburg und Dresden!
Weinkauff: Niemand bestreitet, daß die Tat gegen Hitler gerechtfertigt war. Bleibt sie trotzdem Tötung Unschuldiger? Die Tat konnte gewagt werden, aber unter Umständen auf die Gefahr hin, daß man selbst dabei ein strafbares Unrecht beging.
Sauer: Ist eine einheitlich zu beurteilende Tat in der rechtlichen Beurteilung aufzuspalten, indem ich sage: Zum Teil rechtmäßig, zum Teil rechtswidrig —? Ich glaube, das ist unmöglich.
Weinkauff: Ja, das ist die juristische Schwierigkeit.
Sauer: Wenn die Tat rechtmäßig war, als das einzige Mittel, um zum Ziel zu gelangen, muß sie auch insofern rechtmäßig sein, als sie unschuldige Opfer forderte. , Weinkauff: Juristisch vertretbar ist das ohne weiteres.
Künncth: Ich habe sehr stark das Gefühl, daß wir hier gewaltsam den Begriff „rechtmäßig" ausdehnen. Die Herren Juristen müssen ja wissen, inwieweit das noch möglich und zulässig ist. Ich bin der Meinung, man wird der Sache viel eher gerecht, wenn man ganz ehrlich sagt: Hier stehen wir an einem Punkt, wo es einfach um ein ethisches Wagnis geht, das ohne Verschulden überhaupt nicht realisiert werden kann. Das scheint mir eine viel größere Ehrlichkeit zu sein und auch der Aktion keinen Abbrtch zu tun.
Pater Pribilla: Wenn das Widerstandsrecht gerecht und in richtiger Weise ausgeübt wird, muß es auch irgendwie praktisch ohne Sünde vollstreckbar sein; denn es ist nach meiner Ansicht unmöglich, daß Gott von einem Menschen etwas verlangt, wodurch sich dieser auf jeden Fall schuldig macht, mag er sich so oder so entscheiden.
Etwas ganz anderes ist die Frage, ob nicht, wenn eine solche Situation eintritt, praktisch allerhand Verstöße geschehen. Wenn man behauptet, es sei schwierig, eine solche Sache ohne Sünde durchzuführen, so gebe ich das ohne weiteres zu. Wenn man aber begrifflich sagt, es sei überhaupt unmöglich, muß ich das ablehnen.
Nehmen wir einmal das Beispiel von Judith und Holofernes. Sie hat ihn umgebracht. Nun gut, das ist immer ein zweischneidiges Schwert. Aber wenn Gott ihr das befiehlt, muß auch irgendeine Möglichkeit bestehen, daß es ohne Schuld geschehen kann; denn Gott kann nach meiner Ansicht einen Menschen nicht bestrafen, wenn dieser alles getan hat, was in seinen Kräften steht, um das Recht zu wahren.
Wenn natürlich einige Spitzbuben die Revolution benutzen, um alle möglichen Leute umzubringen, so ist das nicht die Schuld des Revolutionärs. Er ist nur für das verantwortlich, was er nach bestem Wissen und Gewissen tut. Wenn er das aber, tut, ist er gerechtfertigt. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:
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Bruno Brehm: „Vor vierzig Jahren" Zur Erinnerung an Serajevo — aus österreichischer Sicht i Theodor Eschenburg: „Die Richtlinien der Politik im Verfassungsrecht und in der Verfassungswirklichkeit" Helmut Gollwitzer: „Die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als unsere Aufgabe"
Freiherr von der Heydte: „Freiheit und Sicherheit in der modernen Demokratie"
Artur W. Just: „Situation der Volksrepublik China"
Kurt Georg Kiesinger: „Haben wir noch den Bürger? Die Problematik des Parteienstaates"
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Deutsche Gespräche „Die Vollmacht des Gewissens" über den Widerstand: Der Eid (Europäische Publikation Nr. 7)
Eine Zusammenstellungder aktuellen politischen Literatur: „Im Brennpunkt Zeitgeschichte"