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Die Führung Westeuropas | APuZ 19/1954 | bpb.de

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APuZ 19/1954 Kopernikus und die Entwicklung des abendländischen Denkens Die Führung Westeuropas Großbritannien liegt in Europa Augenschein in Asien Eindrücke einer Rundfahrt

Die Führung Westeuropas

Robert Boothby

Die beiden Aufsätze von Robert Boothby und Woodrow Wyatt wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages der englischen Zeitschrift „THE TWENTIETH CENTURY“ (April 1954) entnommen.

Großbritannien steht heute mehr als Frankreich am Kreuzweg. Die Probleme Westeuropas sind ihm mit einem Knall in den Schoß gefallen, ihnen kann nicht länger ausgewichen werden, obwohl die große Mehrheit der Politiker die Augen für eine Dekade von ihnen abgewandt hat. Unter diesen Umständen ist es kaum überraschend, daß das plötzliche Entstehen der gegenwärtigen Krise — denn es ist eine solche — unter den Anhängern der beiden Hauptparteien beträchtliche Unordnung hervorgerufen hat. Die Konservativen befinden sich in einer besseren Verfassung als die Sozialisten, denn sie glauben zumindest, daß die Wiederbewaffnung Westdeutschlands unvermeidlich geworden ist. Es bleibt die Tatsache, daß das Unterhaus vor einer der beiden Alternativen eines Dilemmas steht, was nicht weniger schwierig ist und sogar noch größere Konsequenzen in sich birgt als die Probleme, in die die französische Nationalversammlung gegenwärtig verwickelt ist. Frankreich steht vor der Wahl, ob es die europäische Verteidigungsgemeinschaft in ihrer gegenwärtigen Form annehmen oder ablehnen soll. Großbritannien steht vor der Wahl, ob es die Führung Westeuropas annehmen oder den Deutschen überlassen soll.

Bevor man versucht, sich mit der gegenwärtigen Situation zu befassen, ist eine Rekapitu-

lierung der Ereignisse — und der Fehler — notwendig, die dazu führten. Schon im Jahre 1946 befürwortete eine kleine Gruppe von uns im Unterhaus die Bildung einer regionalen Union Westeuropas unter Einschluß dessen, was heute die Bundesrepublik Deutschland darstellt. Wenn ich einige meiner eigenen Beobachtungen aus dem Frühjahr 1946 zitiere, so geschieht dies lediglich deshalb, weil ich sie gerade zur Hand habe:

„Ich kann auf die Probleme, die jetzt über einer vom Kriege zerrissenen und in Unordnung gebrachten Welt liegen, keine andere Antwort finden, als die Bildung regionaler Gruppen. Nennen Sie sie Vereinigte Staaten, Föderationen, Unionen, Commonwealth, Blocks oder wie Sie wollen, sie sollten etwas weniger als ein einziger souveräner Staat und etwas mehr als ein Bund souveräner Staaten sein. In Westeuropa müssen wir die Führung übernehmen und die Initiative ergreifen. Beginnen Sie mit der Bildung eines Rates . . . und mit vielseitigen Handelsabkommen. Fahren Sie fort mit der Integration und internationalen Verwaltung der Schwerindustrien, nicht nur der Ruhr, sondern auch von Großbritannien, Belgien, Luxemburg, der Saar und Lothringen. Beleben Sie und erweitern Sie das Sterling-Gebiet einschließlich des Dollar-Pools, indem Sie sich auf eine gemeinsame Politik stützen, die die Schaffung von Preisstabilität, Vollbeschäftigung und eine Hebung des Lebensstandards in jedem Mitgliedsstaat zum Ziele hat .... Wir müssen wohl den Tatsachen unserer Situation entgegensehen, aus denen ersichtlich ist, daß die kleineren Nationen Westeuropas, von denen wir eine sind, keine Hoffnung haben können, in der Isolierung zwischen den beiden großen Blocks der Sowjet-Union auf der einen Seite und den Vereinigten Staaten auf der anderen, verstärkt durch ihre Satelliten, zu überleben.

Wenn wir nicht zusammen eine gemeinsame politische und wirtschaftliche Richtung einschlagen, werden wir unvermeidlich früher oder später in einem dieser beiden großen politischen Blocks, die uns-umgeben, der eine im Osten und der andere im Westen, aufgehen ... Wir stehen heute vor der Wahl zwischen einer Wiedergeburt der europäischen Zivilisation und einer längeren Nacht, als wir uns jetzt vorstellen können“.

Unsere Bemühungen erhielten einen gewaltigen Auftrieb durch eine Rede, die Mr. Churchill seinerzeit in Zürich hielt. Die Europa-Bewegung war gebildet worden und hielt im Mai 1 948 einen Kongreß in Den Haag, der direkt zur Bildung des Europa-Rates in Straßburg führte. Aber leider hat die Labour-Party nichts davon gehalten. Mit wenigen ehrenwerten Ausnahmen boykottierte sie die Europa-Bewegung und zeigte der Beratenden Versammlung die kalte Schulter, Der Ministerausschuß erhielt keinerlei Ermutigung von Mr. Bevin und lehnte es ab, auf irgendeinem Gebiet die Initiative zu ergreifen. Von Anfang an machte er sich einer „trägen Oberflächlichkeit“ schuldig, wie es Mr. Denis Healy nannte. Trotzdem hatte die Konzeption eines vereinten Europas einen beachtlichen Einfluß auf die Jugend des Kontinents, worüber man sich im Vereinigten Königreich überhaupt nicht im klaren war. Sie glaubte nicht mehr länger an Nationalismus, weil er niemanden vor Eroberung und Besetzung gerettet hatte. Sie war auf der Suche nach einem neuen politischen Glauben und war der Ansicht, sie habe einen gefunden.

Der Europa-Rat wurde nach einem langsamen Start durch die Inangriffnahme des Schumanplans zu neuem Leben erweckt. Darin lag zwar nichts Originelles, aber insoweit, als es sich um einen echten Versuch handelte, das Eis zu brechen, die Bewegung für die Europäische Union wieder zu beleben und das Problem der französisch-deutschen Beziehungen zu lösen, rüttelte er den Geist der westlichen Welt auf. ’Nur die Labour-Regierung stand wieder einmal fern. Am 27. Juni 1950 brachte die konservative Opposition im Unterhaus einen Vorschlag ein, mit dem die Labour-Regierung zur Teilnahme an den Diskussionen aufgefordert wurde. Dies wurde mit einer Mehrheit von 20 Stimmen abgelehnt.

Den Wagen vor das Pferd gespannt Im August des gleichen Jahres ergriff Churchill selbst Maßnahmen vor der Beratenden Versammlung. Er schlug die sofortige Bildung einer europäischen Armee unter einem europäischen Verteidigungsminister vor, der unter wirksamer demokratischer Kontrolle und in voller Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und Kanada handeln sollte. Er sagte:

„Jene, die der höchsten Sache dienen, dürfen nicht das in Erwägung ziehen, was sie erhalten, sondern was sie geben können ... Wir sollten die praktische und konstruktive Anleitung geben, indem wir uns zugunsten der sofortigen Schaffung einer europäischen Armee unter einem gemeinsamen Kommando erklären, in welchem wir alle eine wertvolle und ehrenvolle Relle spielen sollten“.

In der darauffolgenden Debatte erklärte Duncan Sandys, wir hätten eine positive Pflicht, das historische Projekt, das wir selbst eingeleitet hatten, zum Erfolg zu bringen. Wenn wir versagen würden, müßten wir eine schreckliche Verantwortung vor den zukünftigen Generationen übernehmen. Henry Hopkinson forderte die Versammlung auf, alle Zweifel und selbstsüchtigen Ziele beiseite zu schieben und sich auf jedes notwendige Opfer zur Sicherung unserer Zukunft als Europäer, als Demokraten und als freie Menschen vorzubereiten. Schließlich sagte Harold Macmillan, nachdem er darauf hingewiesen hatte, daß die Elbe unsere eigene Grenze sei, und nachdem er „unsere deutschen Kameraden" aufgefordert hatte, sich in der Verteidigung uns anzuschließen, daß eine Empfehlung verabschiedet werden sollte, die für alle Völker und Regierungen in allen Teilen der Welt „ein anspornendes Zeichen des Mutes und des Vertrauens sein sollte". Alle drei Persönlichkeiten haben heute hohe Regierungsämter in der Regierung Ihrer Majestät inne.

Ich persönlich stimmte für den Vorschlag mit einiger Besorgnis, weil ich seinerzeit und auch seitdem stets die Ansicht vertrete, daß es ein Fehler war, die Wiederbewaffnung der Deutschen zu versuchen, bevor wir mit ihnen Frieden geschlossen haben. Wenn wir vor drei Jahren verhandelt und mit der Bundesrepublik einen Friedensvertrag unterzeichnet’ hätten, in dem die Frage der deutschen Wiederbewaffnung offen geblieben wäre, dann würden, dessen bin ich sicher, die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland wesentlich besser als heute sein, und eine europäische Verteidigungsstreitmacht würde jetzt unter glücklicheren Umständen sicherlich Wirklichkeit werden. Ich war der Ansicht und glaube noch immer, daß wir den Wagen vor das Pferd spannen. Mr. Acheson bestand jedoch mit der Unterstützung Bevins auf einer beschleunigten deutschen Wiederaufrüstung und auf Grund des gemeinsamen amerikanischen und britischen Drucks entstand der Pleven-Plan.

An diesem Punkt machten die Franzosen einen gewaltigen Fehler, von dessen Folgen sie sich seitdem verzweifelt frei zu machen versuchen.

Indem sie auf der Bildung einer starren „supranationalen" politischen Behörde bestanden, verloren sie langsam die britische Sympathie und Unterstützung. Trotz dieser Tatsache zwang die konservative Opposition die Regierung im Unterhaus, an den Beratungen teilzunehmen, die zum Deutschland-und zum EVG-Vertrag führten. In bezug auf den Schumanplan setzte sie sich jedoch vergeblich ein. Es lohnt sich, das zu wiederholen, was Mr. Eden bei dieser Gelegenheit erklärte (12. Februar 1951):

„Die Europa-Armee würde natürlich einen Teil der atlantischen Streitmacht General Eisenhowers bilden. Französische, belgische und deutsche Einheiten und vielleicht auch andere würden darin vertreten sein. Ich würde hoffen, daß wir soweit kommen.

Ich möchte nicht vorschlagen, daß unsere Verteidigungsbemühungen auf dem Kontinent auf die Europa-Armee verlagert werden sollen, ich bin jedoch der Ansicht, daß die Gelegenheit einzigartig ist und wir es uns selbst niemals vergeben würden, wenn wir sie nicht ausnutzen . ..

Ich weiß, daß die Vertreter Frankreichs, Italiens, Belgiens und der Niederlande gegenwärtig in Paris dieses Projekt beraten ... Wir sollten dort meiner Meinung nach durch unseren Botschafter vertreten sein, jedoch nur als Beobachter. Ich möchte die Regierung bitten, selbst noch zu dieser späten Stunde ihre Entscheidung noch einmal zu überprüfen und einen Delegierten zu dieser Konferenz zu entsenden, der, getragen von dem ehrlichen Wunsche der Bildung einer euro-päischen Streitmacht, konstruktive Vorschläge unterbreitet und versucht, die technischen Schwierigkeiten zu überwinden.

Im Herbst 1951 wurde die Labour-Regierung durch eine konservative Regierung abgelöst, und kurz danach fand in Straßburg eine Debatte zwischen Delegierten des Kongresses der Vereinigten Staaten und der Beratenden Versammlung des Europa-Rates statt. Ich wurde eingeladen, als Vertreter der Konservativen Partei daran teilzunehmen und fand mich bald einem freundschaftlichen aber starken Druck seitens der verehrten Senatoren und Abgeordneten ausgesetzt. Senator Wiley, der gegenwärtige Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, fragte mich, ob ich nicht der Ansicht sei, daß die Zeit für eine Weitsicht fordernde Größe und Führerschaft gekommen sei, damit die Völker selbst die Notwendigkeit für irgendeine Art der Einheit erkennen würden, und Senator McMahon erklärte, daß die Haltung des amerikanischen Volkes beachtlich von dem Fortschritt an zwei besonderen Projekten beeinflußt werde — dem Schumanplan und der Europa-Armee. Darauf antwortete ich mit Überzeugung: „Ich stimme dem bei. Es handelt sich um zwei sofortige Prüfungen unserer Aufrichtigkeit.

Wenn wir diese beiden Projekte in der nahen Zukunft durchbringen, so wird dies der Welt und den Vereinigten Staaten zeigen, daß wir eine Sache meinen und wenn wir es nicht tun, so wird es eine schlechte Sache sein“.

In der folgenden Sitzung der Beratenden Versammlung war der neue Innenminister Sir David Waxwell Fyfe anwesend. Im Namen der Regierung versprach er in einer Rede am 28. November, eine ständige Delegation am Sitz der Hohen Behörde des Schumanplanes einzusetzen, „um mit dieser die Verbindung und Arbeitsbeziehungen aufzunehmen". Die Delegation wurde, wie versprochen, entsandt, jedoch wurden keine Arbeitsbeziehungen ausgenommen. Zum Pleven-Plan sagte der Minister:

„Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß unsere endgültige Bindung mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft die volle und bedingungslose Teilnahme bedeutet, weil dies, wie ich sagte, eine Angelegenheit ist, die unserer Ansicht nach einer zwischenstaatlichen Beratung auf einer anderen Ebene überlassen bleiben muß.

Ich kann Sie jedoch unserer Entschlossenheit versichern, daß wir alle ehrlichen Vorschläge so sorgfältig prüfen werden, wie man es einem vertrauten Kameraden schuldig ist".

Später am Abend fügte er in einer Pressekonferenz hinzu: • „Es ist vollkommen verkehrt zu behaupten, daß ich in irgendeiner Weise von einem Schließen der Tür durch Großbritannien gesprochen habe ... Ich habe klar gemacht, daß es für Großbritannien keine Weigerung gibt“.

Folgenschwere Ereignisse Am gleichen Abend gab Eden in Rom bekannt, daß die britische Regierung beschlossen habe, an der vorgesehenen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft nicht teilzunehmen.

Wenn man sagt, daß diese Ankündigung von der Versammlung mit Gefühlen allergrößter Bestürzung ausgenommen wurde, so macht man sich keiner Übertreibung schuldig. Es war ein schwerer Schlag, und er hatte sofortige Folgen. Einmal verkleinerte er das Prestige und den Status des Europa-Rates in einer Weise, der ihm kaum noch eine Spur von Autorität und Einfluß ließ und von dem er sich seitdem nicht mehr erholt hat. Zum anderen gab er der Forderung nach einer Sechsmächte-Föderation Auftrieb, von der Großbritannien und die Skandinavischen Länder ausgeschlossen sein sollten. Die europäische Bewegung führte eine Propagandakampagne durch, um dieses Ziel zu erreichen, und M.

Spaak legte die Präsidentschaft der Beratenden Versammlung nieder, um diese zu leiten. Dies waren folgenschwere Ereignisse.

Sofort ergab sich eine schwere Meinungsverschiedenheit zwischen den Anhängern der „kleinen Föderation" und denjenigen, die behaupteten, solange die Rote Armee im Herzen Europas bliebe, könnte es keine reine europäische Lösung irgendwelcher vor uns liegenden wichtigen Probleme geben. Die Argumente wurden in den Debatten der Beratenden Versammlung im Mai und im September vergangenen Jahres von allen Seiten durchgesprochen. Sie endeten in einem Stillstand und in einem mehr oder weniger stillschweigenden Übereinkommen, die Ergebnisse einer Konferenz mit den Russen abzuwarten.

Die Franzosen bekamen kalte Füße, und es setzte eine merkliche Verschlechterung der französisch-deutschen Beziehungen ein.

Im Verlaufe des vergangenen Jahres wurde es in steigendem Maße augenscheinlich, daß Westeuropa nicht für den vordringlichen Zweck, eine Europa-Armee zu schaffen, -vereinigt werden kann. Es kann keine andauernde internationale Zusammenarbeit oder guter Wille entstehen, indem man die Völker zwingt aufzurüsten oder die Wiederaufrüstung anderer gegen ihren Willen zu akzeptieren.

Gegen diesen Hintergrund müssen wir die gegenwärtige europäische Krise betrachten. Sie ist durch die Berliner Konferenz entstanden, die uns alle an den Rand einer Entscheidung gebracht hat. Hier wurde eine Demarkationslinie zwischen dem Osten und dem Westen, zwischen der sowjetischen Einflußsphäre und der westlichen Welt entlang des bestehenden „Eisernen Vorhanges"

für vielleicht eine kommende Generation geschaffen. Niemand sollte mit einer Anerkennung für Mr. Foster Dulles, M. Bidault und Mr. Eden zurückhalten. „Sie beugten sich", wie der letztere sagte, „weit nach hinten über", um ein Abkommen über die Wiedervereinigung Deutschlands und die Befreiung Oesterreichs sicherzustellen. Sie hatten lediglich keinen Erfolg. weil Molotow es von Anfang an klar machte, daß die Russen dort bleiben, wo sie jetzt stehen, und daß sie gegenwärtig an keinen Verhandlungen interessiert sind, die den Abzug der Roten Armee aus irgendeinem Teil mit sich bringen könnten. Molotow schien nur auf eine Sache bedacht zu sein — auf eine Erklärung der Westmächte, daß die Bonner Regierung die zukünftige Regierung eines vereinigten Deutschlands nicht binden könnte. Er erhielt sie. Die hieraus zu ziehende Schlußfolgerung ist klar. Die Russen messen zur Zeit dem tatsächlichen Besitz Ostdeutschlands und der Territorien jenseits der Oder-Neiße-Linie mehr Bedeutung bei als der hypothetischen Gefahr eines westdeutschen Bei-träges zu einer europäischen Streitmacht. Es könnte wohl sein, daß sie irgendeine Art „Handel“ mit Deutschland zu einem späteren Zeitpunkt erwägen, denn sie können immer etwas anbieten, was der Westen niemals anbieten kann — die Wiedervereinigung Deutschlands. Mittlerweile ist es irgendwie ein Wunder, daß die Konferenz mit nur unterschiedlichen Differenzen mehr in einer Entspannung als in einer Zunahme der Spannungen zwischen Ost und West endete. Dafür müssen wir dankbar sein, wir müssen uns jedoch auch auf eine verlängerte Zeitspanne des „kalten Friedens“ vorbereiten.

Niemand kann behaupten, daß wir heute darauf vorbereitet sind. In mehr als einer Beziehung sind die Aussichten für Westeuropa finster. Die vorgesehene „kleine Föderation“ verdorrt. Die EVG wird in ihrer jetzigen Form von Frankreich voraussichtlich nicht ratifiziert werden. Und wir haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts, was wir an ihre Stelle setzen können. Ein Trost ist jedoch vorhanden, die Ablehnung einer schlechten oder unzureichenden Politik klärt den Boden für die Annahme einer guten, und es ist immer noch genug Zeit vorhanden, um das Gesamte zu retten, wenn wir angesichts der bitteren Erfahrungen die Gelegenheiten ergreifen, die sich von selbst darbieten.

Wir sollten gewiß keine Tränen über das bevorstehende Ableben der „kleinen Föderation“ vergießen. Sie würde in der Geschichte oder Geographie keine Wurzeln geschlagen haben und könnte keine radikale oder ständige Lösung für die Verteidigungsoder Wirtschaftsprobleme in der modernen Welt geboten haben. Sie würde einen bereits verstümmelten Kontinent weiterhin geteilt haben. Sie würde auf einem unruhigen und kurzlebigen Gleichgewicht der Kräfte zwischen Frankreich und einem geteilten Deutschland und mehr auf einem Vorhandensein gegenseitigen Argwohns als auf gemeinsamen Interessen basiert haben. Eher früher als später würde sie unter eine deutsche Hegemonie gekommen sein, aber sie würde für die Deutschen keine Rohstoffe noch Absatzmärkte oder Möglichkeiten für Kapitalinvestierungen geboten haben, die für sie jetzt erforderlich sind. Zum besten würde sie eine Rivalität schärfsten internationalen Wettbewerbs und zum schlimmsten eine internationale Situation explosiver Gefahr ergeben haben. Warum wir in Großbritannien das Emporkommen eines kontinentalen Superstaates unter deutscher Herrschaft jemals ins Auge gefaßt haben sollten, bleibt ein Geheimnis für mich: nach allem, was war, haben wir in diesem Jahrhundert zwei Weltkriege geführt, um das zu verhindern.

Rettungsanker NATO Das amerikanische Außenministerium in Washington hat sich zum Fürsprecher der EVG gemacht, und ich fürchte auch das Außenministerium in London. Im Vergleich mit der NATO ist sie von geringerer Bedeutung. Die NATO ist unser Rettungsanker. Ohne sie wird Großbritannien „verteidigungslos“, und es müßte .. angesichts der kranken Nachbarschaft erschüttert sein und zittern“. In der NATO ruht die effektive Stärke der westlichen Demokratie, und sie ist die einzige Möglichkeit, wo sie ruhen kann. Sie stellt tatsächlich die große Allianz dar, die den ersten und zweiten Weltkrieg verhindert haben würde, wenn sie bestanden hätte, und allein einen dritten Weltkrieg verhindern kann. Die von einigen geäußerte Vermutung, daß die Nichtratifizierung der EVG in ihrer jetzigen Form durch Frankreich den Abzug amerikanischer oder britischer Truppen vom europäischen Kontinent nach sich ziehen würde, ist im günstigen Falle ein gefährlicher Bluff und im schlechtesten völlig verrückt. Denn nichts ist sicherer als die Tatsache, daß weder Großbritannien noch die Vereinigten Staaten sich jemals von der Verteidigung Westeuropas ausschließen können.

Wie ich die Lage sehe, gibt es nur eine Lösung für das Problem der westeuropäischen Verteidigung, und diese besteht in einer Vereinigung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit der NATO unter Bedingungen, die innerhalb des’ Rahmens der größeren Organisation den Franzosen und Deutschen schließlich gleichen Status zuerkennen. Aber die Franzosen werden dem niemals zustimmen, bis nicht britische Streitkräfte zu einem integralen Teil der EVG geworden sind. Wir unsererseits können niemals zulassen, daß unsere Streitkräfte einer „supranationalen“ politischen Behörde unterstellt werden. Die Schlußfolgerung ist klar. Früher oder später wird der EVG-Vertrag in einer loseren und beweglicheren Form erneut entworfen werden müssen, die möglicherweise der seinerzeit von Winston Churchill in Straßburg vorgeschlagenen Art entsprechen könnte — eine Organisation unter einem Verteidigungsminister mit einem den Mitgliedsregierungen und dem Nordatlantikrat verantwortlichen Ministerrat, einem gemeinsamen Kommando und Generalstab und gemeinsamen Rüstungsausschuß. Eine derartige Organisation, der Großbritannien angehört, würde die Einheit in Frankreich weitgehend wiederherstellen und das Vertrauen der Vereinigten Staaten zu Europa wieder beleben. Die Aussicht, die schwierigen Verhandlungen der vergangenen drei Jahre noch einmal von vorn anzufangen, erfüllt natürlich die westeuropäischen Außenministerien und das State Department mit Schrecken. Wir können jedoch zumindest die gegenwärtige Lähmung beenden, indem wir bis zu einer endgültigen Lösung vorläufige Garantien geben. Wie lauten die Alternativen? Sie bestehen in der Ablehnung des EVG-Vertrages durch die Französische Nationalversammlung oder einer Flintenhochzeit zwischen Deutschland und Frankreich. Würde eine dieser beiden Alternativen die Sicherheit des Westens erhöhen? Sie würden es sicher nicht. Die Wahrheit des Problems liegt darin, daß eine echte Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland von unendlich größerer Bedeutung als irgendein vorgefaßtes militärisches Schema ist. Sie ist das notwendige Vorspiel für die Schaffung jeder echten Partnerschaft in der gemeinsamen Verteidigung der westlichen Kultur, und sie ist sowohl der Zeit als der Mühe wert, sie zu erreichen.

Seit dem Beginn der EVG-Verhandlungen hat eine Reihe zusammenhängender Explosionen politischer Verbitterungen das französische und deutsche Parlament ständig weiter auseinander getrieben. Hierfür hat die Regierung der Vereinigten Staaten für ihr Beharren auf der Wiederaufrüstung Deutschlands vor dem Abschluß einer politischen Regelung eine schwere Verantwortung zu tragen. Aber auch wir in Großbritannien sind keinesfalls frei von Schuld. Was fordern wir jetzt von Frankreich? Wir fordern von ihm, einen beachtlichen Teil seiner Streitkräfte einer Europa-Armee zu unterstellen und in eine Art politische Union einzutreten, wobei beide Gremien unvermeidbar von Deutschland beherrscht werden müssen und in die einzutreten wir uns selbst weigern. Ich staune manchmal selbst über unser eigenes Verhalten angesichts der Tatsache, daß unsere eigenen Interessen an der Verteidigung Westeuropas im Zeitalter des Radar und der fernlenkbaren Geschosse nicht im geringsten kleiner sind als die von Frankreich, der Bundesrepublik oder der Niederlande. Linser Schicksal ist unlösbar mit dem ihren verbunden und die Überseeverpflichtungen Frankreichs sind in bezug auf seine Stärke genau so groß wie die unseren. Frankreich kämpft tatsächlich heute den einzigen „heißen“ Krieg gegen den Kommunismus und muß hierbei viel Blut geben.

Lebenswichtige Rolle Großbritanniens Es ist eine neue Annäherung erforderlich, die mehr eine politische und militärische als eine „schmerzende" Neubewertung notwendig macht. Sie sollte meiner Ansicht nach auf zwei Grundsätzen beruhen. Erstens muß in der Frage der Verteidigung die NATO allem voranstehen. Keine andere Organisation ist in der Lage, West-curopa mit Erfolg zu verteidigen’oder das deutsche Militärpotential ohne Gefahr aufuneheinem men. Zweitens: unsere Politik sollte auf anderen Gebieten versuchen, die Einheit der freien Welt eher auszudehnen als zu verringern, indem neue politische Bindungen zwischen Westeuropa und dem Commonwealth und engere Wirtschaftsverbindungen zwischen der Europäischen Zahlungsunion und dem Sterling-Block hergestellt werden. Der Straßburg-Plan, der die Kapital-und Industriehilfsquellen Westeuropas einschließlich

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