Den folgenden Artikel von Professor Eschenburg entnehmen wir mit Genehmigung des Verlages der Zeitsdirift „DEUTSCHE RUNDSCHAU", Heft 3, Baden-Baden, März 1954: „Die großen europäischen Monarchien haben in unseren Tagen mehr als zu irgendeiner anderen Zeit ein Interesse, den Krieg zu vermeiden. Selbst in Deutschland würden — wenn wir gegen alle Erwartungen besiegt würden — die Chancen einer demokratischen oder sozialen Republik steigen". So schrieb Bismarck 1878 an Kaiser Wilhelm I. Den Ersten Weltkrieg haben Wilhelm II. und sein Kanzler Bethmann-Hollweg nicht verursacht. Daß sie ihn aber nicht vermieden haben, bleibt ihre historische Schuld. Bismarcks genialer Behutsamkeit war es gelungen, die 1870 entstandene deutsche Großmacht in der Mitte Europas, die jahrhundertelang für die angrenzenden Großmächte Kampfplatz und Naturschutzgebiet abwechselnd gewesen war, zu sichern.
Hingegen war Bismarcks Versuch gescheitert, im Innern die Kräfte zu vernichten, die er als eine Gefahr für seinen preußisch-deutschen, aristokratischen und obrigkeitsstaatlichen Reichsaufbau ansah, nämlich katholisches Zentrum, Linksliberalc und Sozialdemokratie. Er nannte diese drei Parteien Reichsfeinde.
Wilhelm II. ersetzte die Bismarcksche außenpolitische Genügsamkeit durch eine die imperialistischen Ansprüche des Reiches gefährlich betonende Außenpolitik und suchte im Innern trotz oder gerade wegen der ebenso umfassenden wie tiefgreifenden sozialen Umschichtung, die sich aus der Wandlung vom vorwiegenden Agrar-zum industriellen Massenttaat ergeben hatte, die aristokratische Obrigkeitsstruktur des deutschen Staates ängstlich zu bewahren. Der Gegensatz zwischen imperialistischer Außen-und konservativer Innenpolitik einerseits, genügsamer Außenpolitik und fortschrittlicher Innenpolitik andererseits trat im dritten Weltkriegsjahr 1917 mit aller Deutlichkeit in Erscheinung. General Ludendorff und die herrschenden Schichten, nämlich Militär, ostelbische Großlandwirtschaft und Schwerindustrie mit einem starken Anhang im Bürgertum, waren für Fortsetzung des Kampfes bis zum Sieg. Die Siegesbeute in Gestalt von Geldentschädigung und Gebietserweiterung sollte sie legitimieren, den Bismarckschen Obrigkeitsstaat, die aristokratische Monarchie, unversehrt zu erhalten. Zentrum, Linksliberale und Sozialdemokratie, eben jene Reichsfeinde, scheuten das die Existenz des Reiches gefährdende Risiko, sie wollten unter gegenseitigem Verzicht der Krieg-führenden auf jegliche territoriale und finanzielle Tributleistung so schnell wie möglich den Krieg beenden und strebten eine demokratische Verfassungsrevision an.
Ein Jahr später, im September 1918, als durch die Niederlage der deutschen Armee in Frankreich und durch den Zusammenbruch der Verbündeten die militärische Widerstandskraft des Reiches erschöpft war, versuchte Ludendorff, innerhalb von 24 Stunden die deutsche auswärtige und innere Politik auf jene von ihm bisher aufs äußerste bekämpfte Richtung der drei demokratischen Parteien umzuschalten. Diese verspätete und überscharfe Drehung der Reichspolitik führte zum Zusammenbruch des Bismarckschen Staates. Am 9. November mußte der Kaiser abdanken. Vergeblich hatte der sozialdemokratische Führer Friedrich Ebert versucht, die Monarchie durch rechtzeitige Abdankung des Kaisers und Einsetzung eines Regentschaftsrates oder Reichsverwesers zu retten. Zwei Tage später mußte Hindenburg der Unterzeichnung eines Waffenstillstandes zustimmen, der einer bedingungslosen Kapitulation sehr ähnlich war.
Die Novemberrevolution von 1918 war eine Hunger-und Erschöpfungsrevolte, aber als solche ein ebenso reizvoller wie günstiger Nährboden für die bolschewistische Infektion.
Weimar Unerbittlicher Gegner jeglicher russischer Einmischung in die deutsche Revolution war die Sozialdemokratie unter Eberts Führung. Er setzte binnen Monatsfrist unter Verzicht auf noch so verlockende sozialistische Experimente die Wahl einer Nationalversammlung durch. Diese verabschiedete in Weimar, da Berlin von kommunistischen Aufständen bedroht war, innerhalb von sechs Monaten eine neue Verfassung. Aus dem monarchisch-aristokratischen Militär-und Verwaltungsstaat wurde eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie. Diese deutsche Demokratie war improvisiert, sie war nicht vorgedacht, ersehnt und erkämpft. Sie füllte lediglich ein Vakuum aus, das durch den Sturz der Monarchie entstanden war.
Aus dem eben geschilderten Gegensatzpaar des Bismarckschen Reiches zwischen imperialistischer Außen-und konservativer Innenpolitik einerseits, außenpolitischer Genügsamkeit und innerstaatlicher Verfassungsrevision andererseits entstand jetzt ein neues Gegensatzpaar zwischen monarchischer Restauration und Kampf gegen Versailles auf der einen, behutsamer Revisionspolitik und demokratischer Verfassungstreue auf der anderen Seite. Symbol des erbitterten innenpolitischen Zweifrontenkrieges war der unselige Flaggenstreit zwischen Schwarz-weiß-rot und Schwarz-rot-gold. Hinter der Parole des Kampfes gegen Versailles verbarg sich das Streben nah Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und der Restauration der Gesellschaftsordnung vor 1914. Träger dieser gegenrevolutionären Richtung waren vor allem die Schwerindustrie und der ostelbische Großgrundbesitz mit einem starken Anhang in breiten bürgerlichen Schichten. Hier wirkte die Dolchstoßlegende und die Sehnsucht nah dem alten Glanz.
So hatte der neue Staat, bar aller Tradition, bei der instinktiven Abneigung, ja sogar Verahtung einer starken Minderheit, auf Jahre belastet mit den Aufräumungsarbeiten der Nahkriegszeit, dem Neuaufbau im Innern und der Abtragung der außenpolitishen Hypothek, einen shweren
Start.
In Erkenntnis dieser Lage hatte die Nationalversammlung neben dem Reihstag als obersten Gesetzgeber und neben der vom Parlament abhängigen Regierung die Institution eines vom Volk gewählten, mit kaiserlihen Mahtbefugnissen ausgestatteten Reihspräsidentcn geshaffen. Dieser ernannte die Regierung und die Beamten, war Oberbefehlshaber der Wehrmaht, konnte den Reihstag auflösen und an das Volk appellieren. In Notzeiten verfügte er über eine diktatorishe Gewalt. Die die Verfassung gestaltenden Parteien mißtrauten ihrer eigenen Fähigkeit zur Staatsführung in Krisen-und Konfliktszeiten noh allzu sehr, um einen Ersatzkaiser, einen Diktator auf Widerruf, entbehren zu können. Keine Partei verfügte über die absolute Mehrheit, stets mußten mehrere eine Regierung bilden. Das Verhältniswahlreht förderte die Parteizersplitterung, ershwerte die Regierungsbildung und lähmte die Kraft des Regierens. Die meisten Kanzler waren niht mehr als brave Mittler. Die machtvolle Stellung des Staatsoberhauptes behinderte zumindest das Aufkommen starker Kanzlerfiguren. Die Republik hat nur zwei wirklich führende Regierungschefs gehabt, nämlich Stresemann und Brüning. Stresemann war zwar im November 1923 vom Reichstag, nicht von Ebert, abberufen worden, aber indem Ebert ihm das Recht der Reichstagsauflösung verweigerte, hinderte er ihn am Verbleiben im Amt. Brüning wurde im Mai 1932 praktisch von Hindenburg entlassen.
Sozialdemokratie und Zentrum Die Reichsfeinde der Bismarckschen Zeit waren nunmehr die Träger der Weimarer Republik. Die festgefügte, traditionell disziplinierte Sozialdemokratie und das durch Dogma und Hierarchie der katholischen Kirche verbundene Zentrum waren die beiden politischen Säulen der Demokratie. Letzteres war wirklich das Zentrum des parlamentarischen Kräfte-spiels, es konnte sowohl nach rechts wie nach links Regierungen bilden. An allen Reichsregierungen außer denen von Papen und Schleicher, an allen preußischen, bayerischen und badischen Landesregierungen war es beteiligt. Trotzdem hat das Zentrum seine Geschlossenheit, seinen Stimmen-und Mandatsanteil in allen Wahlen erstaunlich gewahrt, während die Sozialdemokratie erhebliche Einbußen erlitt, im wesentlichen zugunsten der Kommunisten.
Sie hatte eben den Hauptteil der Verteidigung der Demokratie zu tragen und mußte um derenwillen immer wieder auf einen Teil ihrer sozialpolitischen Forderungen verzichten, was von vielen ihrer Anhänger nicht verstanden wurde. Die Demokraten, die in der Nationalversammlung die drittstärkste Partei gewesen waren, schrumpften mangels Resonanz in der Wählerschaft bald zusammen. Weite Kreise des Protestantismus, die im Kaiserreich zu den Konservativen und Nationallibetalen tendiert hatten, hatten mit dem Sturz der Monarchie ihre Orientierung verloren, sie waren politisch heimatlos geworden. Je deutlicher es sich zeigte, daß keine wirklichen Aussichten für die monarchische Restauration bestanden, desto nachhaltiger vollzog sich der Zersetzungsprozeß der protestantischen Parteien.
Ernster Gefahrenherd In dieser breiten Schicht des bürgerlichen, politisch heimatlosen Protestantismus lag ein ernster Gefahrenherd. Zunächst waren Mittelpunkt dieser rechtsorientierten Protestanten die Deutsch-Nationalen, die ehemals Konservativen mit einem gegenrevolutionären Flügel und einem gemäßigten, grundsätzlich verständigungsbereiten Flügel, der aber nur über einen kleinen Anhang verfügte. An die Stelle der Nationalliberalen, die im Kaiserreich eine bürgerliche Bismarckpartei gewesen waren, war unter Stresemanns Führung die Deutsche Volkspartei getreten. Sie bildete zunächst den linken Flügel des schwarz-weiß-roten Blockes und wurde erst 1923, als Stresemann Reichskanzler wurde, dank seiner energischen Führung zur Tuchfühlung mit den republikanischen Parteien gedrängt, schwenkte aber sofort nach seinem Tod wieder nach rechts ab. Rechts von den Deutsch-Nationalen entstand die Deutsch-Völkische Freiheitspartei, die später in der Nationalsozialistischen Partei aufging, links von der Sozialdemokratie die Kommunisten.
Die Sozialdemokraten, aber noch sehr viel mehr die Deutsch-Nationalen mußten darauf achten, daß sie nicht zuviele Wähler an ihre radikalen Flügelparteien verloren, und damit manchmal radikaler auftraten, als ihnen selber erwünscht war. So konnten auf die Dauer nur die Mittel-parteien regieren, die dadurch einer ständigen, starken Abnutzung ausgesetzt waren. Zweimal beteiligten sich die Deutsch-Nationalen an der Reichsregierung, und beide Male mußten sie unter dem Drude ihrer Anhänger wieder ausscheiden. Revisionspolitik, staatliche Konsoldierung und innerer Aufbau in ihrer Gleichzeitigkeit stellten aber auch Anforderungen an die Führenden, von denen nur wenige dem Ausmaß dieser außerordentlichen Aufgabe gewachsen sein konnten.
Dadurch, daß Ebert 1918 zum Reichspräsidenten gewählt wurde und es bis zu seinem Tode 1925 blieb, verlor die Sozialdemokratie in ihm ihren führenden Kopf und vermochte ihn bis 1933 nicht zu ersetzen. Es fehlte gerade dieser Massenpartei die starke Führung. Der Zentrumsabgeordnete Erzberger, ein kundiger und phantasiereicher, höchst energischer Finanzpolitiker, aber mehr ein wendiger, sehr vitaler Volkstribun als ein Staatsmann, wurde 1921 von Rechtsradikalen ermordet. Dasselbe Schicksal erlitt ein Jahr später der Demokrat Walther Rathenau, ein Mann von einer großen außen-und wirtschaftspolitischen Konzeption, aber vielleicht zu weise für das politische Handwerk. Stresemann war der einzige wirklich bedeutende Parteiführer, allerdings einer kleinen Partei, die trotz seiner eigenen wachsenden Bedeutung klein blieb, sowohl ein großer Außenminister als auch ein großer Parlamentarier, mit einem Wort der bedeutendste Parlamentsminister. Er starb 1929, von der Aufgabe ebenso aufgezehrt wie Ebert. In ihm verlor das Parlament seine beherrschende Figur und geriet von da an immer mehr in den Zustand der Funktionsunfähigkeit. An bedeutenden Männern hat es der Weimarer Republik nicht gefehlt; daß sie ihr so frühzeitig durch den Tod entrissen wurden, gehört zu ihrer Tragik. Zwei überlebten sie: Brüning wurde im kritischsten Augenblick entlassen, Schacht ging zu ihrem Gegner über.
Fünf Jahre lang, von 1919— 1924, rang das Reich um seine äußere und innere Existenz. An Versuchen, die Demokratie zu stürzen, hat es von der radikalen Rechten und der extremen Linken her nicht gemangelt. Die von Moskau gelenkten Kommunisten trachteten durch Aufstände eine Situation herbeizuführen, die Deutschland bolschewisierungsreif machte. Rechtsradikale versuchten 1920 durch den sogenannten Kapp-Putsch die Demokratie zu stürzen. Der Regierung gelang es immer wieder, mit Hilfe von Reichswehr und Polizei und beim Kapp-Putsch durch die Unterstützung der Gewerkschaften, dieser Aufstände Herr zu werden. Aber das Reich befand sich bis zum November 1923 in einer latenten Bürgerkriegssituation.
Passiver Widerstand Deutschland hatte den Friedensvertrag unterzeichnet in der Hoffnung, daß er nicht in der vollen Härte durchgeführt werde, Frankreich hingegen, dessen Forderungen nach der Friedenskonferenz dank Wilsons und Lloyd Georges Eingreifen bei weitem nicht erfüllt wurden, in der Erwartung, daß sich in der politischen Praxis Gelegenheit zu einer Verschärfung und Ausdehnung der Friedensvertragsbestimmungen ergeben werde. Das Ziel der deutschen Außenpolitik war, durch zögernde Erfüllung eine schnelle und weitgehende Revision zu erreichen; das der französischen, durch unnachgiebiges Bestehen auf Erfüllung das Reich zum Konkurs und damit zur Aufteilung zu treiben. Diese Auseinandersetzungen führten im Januar 1923 zur Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen. Frankreich wollte auf diese Weise die Abtrennung des ganzen Westens von Deutschland erreichen und forcierte mit aller Kraft die separatistischen Strömungen im Rheinland und in der Pfalz.
Gegen diese französische Invasion protestierte die Bevölkerung des Ruhrgebietes neun Monate lang durch passiven Widerstand — eine der grandiosesten waffenlosen Massendemonstrationen der Geschichte. Frankreich sperrte daraufhin die Ruhr, das wirtschaftliche Herz Deutschlands, vom Reich ab, während dieses den durch den passiven Widerstand entstandenen Lohnausfall tragen mußte. Die Folge war eine von Tag zu Tag steigende Entwertung der Mark, die zu einer ständig wachsenden wirtschaftlichen Not mit Streiks und Aufständen führte. In der kritischsten Situation, im August 1923, übernahm Stresemann die Regierung. Er brach den passiven Widerstand ab, ohne daß Frankreich die Besetzung des Ruhrgebietes zunächst aufgab, und verhinderte mit äußerster Kraftanstrengung die Abtrennung der westlichen Reichsgebiete, die unter wachsendem französischem Drude infolge der furchtbaren Notlage auch von seriösen deutschen Kreisen betrieben wurde. Deutschland stand vor dem Bürgerkrieg. Der Dollar stieg in die Millionen Mark. Im Osten drohten rechtsradikale, in Sachsen und Thüringen kommunistische Aufstände, in Bayern schien eine monarchisch-partikularistische Umwälzung bevor-zustehen. In weiten Kreisen der Rechten wurde die Errichtung einer Diktatur geplant. Dieser Höhepunkt der Krise schien ein besonders günstiger Moment für die Restauration. Die äußerste Spannung wurde am 9. November von Hitler mit einem Putschversuch ausgelöst, der sofort niedergeschlagen wurde. Ebert und Stresemann waren mit Hilfe des Generals v. Seeckt, des Chefs der Heeresleitung, Herr der Lage geblieben. Der Bürgerkrieg war beendet, der Höhepunkt der inneren Krise überwunden. Wenige Tage später stabilisierte der Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht die Mark, deren Dollarwert inzwischen auf 4, 2 Billionen Inflationsmark abgesunken war. Man sprach vom Wunder der Rentenmark. Nunmehr griff Amerika vermittelnd in den deutsch-französischen Konflikt ein. Im September 1924 kam es zu einer vertraglichen Verständigung zwischen Deutschland und den Alliierten über die Reparationen. Frankreich räumte binnen Jahresfrist das Ruhrgebiet und verzichtete auf alle separatistischen Bestrebungen.
Nach dem Zusammenbruch des Hitlerputsches wurde ein neuer Bürgerkriegsversuch nicht mehr unternommen. Die Staatsmacht war zu stark, als daß es sich noch lohnte. Die deutsche Wirtschaft hatte seit der Markt-stabilisierung wieder eine Grundlage. Von dieser Basis aus erlebte sie mit Hilfe großer amerikanischer Kredite einen erstaunlich schnellen und starken Aufstieg. Eine ordnungsgemäße Finanzgebarung war wieder möglich.
Wiederkehr normalen Lebens Die Wiederkehr normalen Lebens und die Hebung des Lebensstandards führten auch zu einer politischen Konsolidierung der Demokratie. Diese innerstaatliche Verfestigung ermöglichte der Reichsregierung, deren Außenminister in wechselnden Koalitionen Stresemann mit seinem konstruktiven Programm geblieben war, eine stärkere Haltung gegenüber den Alliierten. Frankreich gab seine Pläne der Aufteilung des Reiches unter Ausweitung des Versailler Diktates auf. Stresemann erreichte eine Reihe von Milderungen des Vertrages.
In Locarno schloß Deutschland 1925 mit Frankreich einen Garantievertrag über die gemeinsamen Grenzen, in Berlin 1926 einen Neutralitätsvertrag mit Sowjetrußland ab und trat im gleichen Jahr in den Völkerbund ein. Durch diese Vertragskombination wurde das Reich geradezu zum Mittler zwischen Ost und West.
Im Februar 1925 starb Friedrich Ebert. Er war mit seiner lauteren und sicheren Überlegenheit während der Krisenjahre der ruhende Pol in dem aufgeregten, teils stürmischen Kräftespiel der jungen Demokratie gewesen. Treffend sagt Theodor Heuss von ihm: „Als Könige versagten, hat dieser Sohn des breiten Volkes sich königlich bewährt“. Wiederum traten die schwarz-weiß-rote und schwarz-rot-goldene Front zum Kampf an. Hindenburg wurde gewählt. Seine Wahl war ein sichtbarer Ausdruck der demokratischen Schwäche, wenn sie auch zunächst dank seiner Loyalität im Sinne einer Stabilisierung der Demokratie wirkte.
Deutschland erschien wieder als ein wohlgeordneter Staat und galt der Welt trotz seiner Rüstungsbeschränkung als Großmacht. Aber der schnelle Aufschwung täuschte, die Schwäche der Rekonvaleszenz mit ihren Gefahren leichter Anfälligkeit und schwerer Rückfälle war geblieben. Die Stabilisierung der Mark war mit einer vollständigen Enteignung des breiten Mittelstandes bezahlt. Die gesellschaftliche Umschichtung, die durch das Hinüberwechseln weiter Kreise von der Selbständigkeit in die Abhängigkeit entstanden war, mußte zugleich einen Herd politischer Unzufriedenheit schaffen.
Gemessen an der Zeit vor 1924 waren die außenpolitischen Erfolge Stresemanns groß. Aber sie wurden in der Bevölkerung nicht gewürdigt, weil der Vertrag von Versailles mit den hohen Reparationsforderungen, der Rüstungsbeschränkung und der Trennung des Reichsgebietes im Osten durch den polnischen Korridor schwer auf dem Volk lastete. Es fehlte an politischer Geduld, die ohnehin dem Deutschen nicht liegt und in Sonderheit dem Rekonvaleszenten häufig überhaupt fehlt. Zwar wurde Hitler nur von einem kleinen Teil des Volkes beachtet. Aber um so systematischer und energischer wirkte mit der noch in keiner Weise abgenutzten Parole des Kampfes gegen Versailles auf die Meinungsbildung der gegen-revolutionäre Führer der Deutsch-Nationalen, Alfred Hugenberg, ein Mann der Schwerindustrie. Er verfügte mit deren Geld über den größten Pressekonzern und das bedeutendste Filmunternehmen im autoritären, antirepublikanischen Geist. Schwerindustrie und ostelbische Großlandwirtschaft hatten es verstanden, sich auch in der Demokratie eine zwar nicht wie im Kaiserreich beherrschende, so doch weit über ihren ökonomischen Bereich hinausgehende einflußreiche politische Stellung zu verschaffen, wozu ihnen mittelbar die Alliierten durch den Versailler Vertrag verholten hatten. Die Rüstungsbeschränkung des Friedensdiktates gab der Schwerindustrie im Hinblick auf eine deutsche Wiederaufrüstung Anspruch auf besonderen Schutz, und die Landwirtschaft leitete diesen Anspruch aus ihrer Grenzlandposition in den durch Polen verstümmelten Ostgebieten her. Sie waren beide die größten Gegner der Republik und ihre stärksten Nutznießer zugleich. Über sie hielt die Reichswehr ihre schützende Hand aus Rüstungsüberlegungen und dank traditioneller Beziehungen des Offizierskorps zu ihren Kreisen. Die Reichswehr aber war bei aller militärischen Leistungsfähigkeit eine der Demokratie wesensfremde, nach monarchischen Prinzipien aufgebaute, weitgehend demokratischer Kontrolle sich entziehende, autonome Macht im Staat mit einem starken politischen Einfluß, vor allem, seitdem Hindenburg Präsident war. Die rigorose Beschränkung durch den Versailler Vertrag gab ihr den Anspruch auf Illegalität und damit auf ein unkontrolliertes Eigenleben.
Sie war nicht ein Instrument der Gegenrevolutionäre schlechthin, aber sie war nicht entschieden antigegenrevolutionär. So hatten sich diese drei Faktoren — Schwerindustrie, Großlandwirtschaft und Militär — auch in der Demokratie einen großen Teil ihrer Vormachtstellung, die sie in der Monarchie gehabt hatten, zu erhalten verstanden.
Weltwirtschaftskrise Als im Herbst 1929, mit einem Börsenkrach in New York einsetzend, die große Weltwirtschaftskrise hereinbrach, traf sie das von ausländischen Krediten und vom Export abhängige Deutschland am ehesten und am stärksten. Sofort zeigte sich die durch die Konsolidierungsjahre verschleierte Schwäche. Schon im Winter stieg die Arbeitslosenziffer auf zwei Millionen. Die sozialen Spannungen vermehrten sich, und sehr schnell wurde deutlich, wie wenig die deutsche Demokratie Wurzel gefaßt hatte.
Am 3. Oktober 1929 starb Stresemann. Er war nicht nur der Deutsche des höchsten Ansehens im Ausland, sondern hatte auch in der Innenpolitik das stärkste Gewicht. Er war der eigentliche Konstrukteur aller Regierungskoalitionen gewesen. Als gleich nach seinem Tode im Reichstag die große Auseinandersetzung um die Verteilung der durch die Arbeitslosigkeit entstandenen Lasten begann, fehlte seine Autorität. Die Regierungskoalition unter Führung des Sozialdemokraten Hermann Müller, an der auch Stresemanns Partei beteiligt war, zerbrach. Hindenburg ernannte auf Vorschlag von General Schleicher, der praktisch damals der Staatssekretär im Reichswehrministerium war, den Zentrumsabgeordneten Heinrich Brüning, der bisher der Geschäftsführer des deutschen Gewerkschaftsbundes und einer der angesehensten Finanzexperten im Reichstag gewesen war, zum Reichskanzler.
Brüning war ein konservativer Katholik mit einer ausgeprägten sozialen Haltung, aber von großer Unabhängigkeit und mit einem starken sittlichen Verantwortungsbewußtsein. Als im Sommer 1930 der Reichstag Brünings Sanierungsprogramm nicht annahm, löste dieser ihn auf. In den Wahlen erhielten die Nationalsozialisten 107 — sie waren nunmehr die zweitstärkste Partei — die Kommunisten 77 Mandate. Da eine parlamentarische Mehrheit für die Regierung sich nicht mehr fand, regierte Brüning mit Hilfe von Notverordnungen. Er war der vom Reichs-präsidenten eingesetzte, vom Parlament geduldete Diktator. Trotz aller Gegensätze tolerierte ihn auch die Sozialdemokratie, eben wegen seiner Gewissenhaftigkeit in der Einhaltung der Verfassung. Seine schärfsten Gegner waren Hugenberg und Hitler. Brüning wollte die Krise meistern und gleichzeitig die Demokratie bewahren, Hugenberg und Hitler wollten mit der Krise die Demokratie beseitigen.
Die Zahl der Arbeitslosen war im Winter 1931 auf 6— 7 Millionen gestiegen. Wo der Hunger anfängt, hört der Verstand auf. In diese Radikalisierungsbereitschaft der Massen stieß Hitler, der in der Massenführung allen deutschen Politikern turmhoch überlegen war, mit ungehemmter demagogischer Wucht herein und erweiterte und vertiefte sie. Treffend sagt der Tübinger Psychiater Ernst Kretschmer: „Die Psychopathen sind immer da, aber in den kühlen Zeiten begutachten wir sie, in den heißen beherrschen sie uns“! Hitler wurde der Prophet der durch die Inflation Enterbten und der durch die Arbeitslosigkeit Entrechteten — soweit diese nicht in festgefügten Organisationen der Sozialdemokratie und den Kommunisten angehörten — der durch die Republik Enttäuschten und der nach Abenteuer sich Sehnenden. Unbeirrt von Hugenbergs Presse-kampagne, die nunmehr Brüning ebenso scharf bekämpfte wie ehemals Stresemann, und von der Hitlerschen Massenverführung, ging Brüning zielsicher, mit einer für einen deutschen Politiker seltenen Geduld seinen Weg, aus der Erfahrung vor 1923 wissend, daß mit sinkender Krise auch der Radikalismus schrumpft. Im März 1932 lief die Wahlzeit Hindenburgs ab. Eine Wahl Hitlers, des Kandidaten des schwarz-weiß-roten Blockes, die zur Entlassung des Kanzlers und zur Auflösung des Reichstages geführt haben würde, wurde nur dadurch verhindert, daß die schwarz-rot-goldene Front Hindenburg wählte. „ 100 Meter vor dem Ziel“
Dieser hatte die formale Gerechtigkeitsvorstellung eines Feldwebels. 1925 war er von rechts gewählt und hatte sich daher nach links geneigt. 19 55 hatte links für ihn gestimmt, und er fühlte sich damit nach rechts gedrängt. Die Wahl hatte Hindenburgs Macht noch mehr gestärkt, denn sein Rüdetritt hätte die Machtergreifung durch Hitler zur Folge gehabt. Von ihm allein hing also die Existenz der deutschen Demokratie ab. Die Rechten setzten sich nach ihrer Niederlage bei den Präsidentenwahlen noch einmal mit letzter Energie dafür ein, Brüning zu stürzen. Würde es diesem gelingen, die Krise zu meistern — und die zu erwartenden Erfolge in der Reparations-und Rüstungsfrage würden einen wesentlichen Beitrag darstellen — dann würde er der große Mann der Zukunft sein und damit wäre die Demokratie gesichert. Diesem Ansturm erlag Hindenburg, dessen gesellschaftliche Umgebung infolge seiner Herkunft stark von Gegenrevolutionären, vor allem aus der Großlandwirtschaft, durchsetzt war. Eine der treibenden Kräfte ist Schleicher gewesen. Ihm ging nicht nur die Brüningsche Außenpolitik zu langsam, er spielte wahrscheinlich auch mit dem Gedanken der Restauration, deren Chance nach Über-windung der Krise erledigt gewesen wäre.
So verlangte Hindenburg am 31. Mai 1932 von Brüning Verhandlungen mit Hitler und Hugenberg über die Regierungsneubildung sowie Neuwahlen des Reichstages. Beides lehnte Brüning ab, denn beides hätte zum Sturz der Demokratie geführt. Diese Weigerung bedeutete seine Entlassung. Er war der letzte parlamentarisch-demokratische Kanzler gewesen. Mit seinem Rücktritt beginnt das Ende der Weimarer Republik.
Brüning hatte mit harter Hand die innerstaatlichen Sanierungsmaßnahmen soweit vorgetrieben, daß sie sich bei Krisenrückgang sofort auswirken würden. Er verabscheute Scheinerfolge und hatte die Geduld, auf konkrete Ergebnisse zu warten. Sie waren nun zu erwarten. Brüning stand, wie er 14 Tage vor seiner Entlassung im Parlament gesagt hatte, „ 100 Meter vor dem Ziel". Gerade deswegen mußte er gehen.
Sein Nachfolger wurde Franz von Papen, ein der breiteren Öffentlichkeit bisher unbekannter katholischer Gegenrevolutionär. Diesem gelang es dank Brünings Vorbereitung, auf der Lausanner Konferenz im Juni 1932 die endgültige und völlige Einstellung der Reparationsleistungen gegen eine einmalige deutsche Leistung von drei Milliarden zu erreichen. Mit Hilfe eines Staatsstreiches setzte Papen die seit zwölf Jahren fast unverändert bestehende demokratische Regierung Preußen ab und unterstellte dieses letzte große republikanische Bollwerk Deutschlands und damit dessen starke Polizeikräfte der Reichsregierung, wodurch er gleichzeitig eine nationalsozialistische Machtergreifung in Preußen verhindern wollte. Papen war weder Demokrat noch Faschist. Sein Ziel war die Restauration nach dem Muster der konstitutionellen Monarchie, eben ein starkes Über-gewicht des Staatsoberhauptes über das Parlament, vor allem dessen Ausschließung von der Regierungsbildung. Die Restaurationsparteien — Deutsch-Nationale, Volkspartei und einige Splitterparteien — reichten als Basis für eine Regierungsbildung aber bei weitem nicht aus. Als nach der ersten Reichstagsauflösung die Nationalsozialisten im Juli 1932 ihre Mandatszahl von 107 auf 230 erhöhten, versuchte Papen vergeblich, Hitler zu einer Regierungsumbildung unter seiner eigenen Führung, gleichsam als Vorspann der Restauration, zu gewinnen. Dieser Fehlschlag führte zur zweiten Reichstagsauflösung. Die darauf folgenden Wahlen im November 1932 brachten Papen auch keine Mehrheit, wenn auch die Nationalsozialisten zwei Millionen Stimmen, das sind 34 Mandate, verloren. Dem Plan Papens, nunmehr im Wege des Staatsnotstandes Nationalsozialisten und Kommunisten mit Hilfe der Reichswehr und Polizei zu unterdrücken, stimmt zwar Hindenburg zu, aber widersprach der Reichswehrminister von Schleicher. Dieser wollte sich wohl nicht für die Restaurationspolitik des unpopulären Kanzlers einsetzen und sich in einen Bürgerkrieg nach zwei Seiten stürzen, denn die Gelegenheit, in diesem Staatsnotstand gleichzeitig gegen Sozialdemokratie und Gewerkschaften vorzugehen, war nur allzu verlockend. Praktisch stürzte Schleicher Papen und wurde selbst Kanzler.
Historische Schuld Sein Versuch, die Nationalsozialisten zu spalten, mißlang, und ebenso scheiterte er an der Sozialdemokratie mit seinem Plan, in Anlehnung an die Gewerkschaften unter Ausschaltung der Parteien eine soziale und autoritäre Regierung, eine Art provisorische Diktatur, zu bilden. Nunmehr erbat Schleicher vom Reichspräsidenten die gleiche Vollmacht für einen Staatsnotstand, die er selber Papen abgelehnt hatte. Hindenburg verweigerte sie ihm eben mit dem Hinweis auf Schleichers eigene Argumente vor zwei Monaten.
Darauf trat Schleicher zurück. Der gesamte gegenrevolutionäre Block, die Restaurationsparteien unter Hugenberg wie die Nationalsozialisten waren Schleichers Gegner, die demokratischen Parteien mißtrauten dem allzu wendigen, nach vielen Richtungen schillernden General ebenso wie Hindenburg. Dieser wurde von Papen, der den Sturz durch Schleichers Hand nicht verwunden hatte, unablässig bearbeitet, nunmehr ein Kabinett Hitler, der durch konservative Kräfte wie Hugenberg und durch Fachmänner eingeengt werden sollte, zu bilden. Hindenburg wehrte sich bis zuletzt gegen eine Kanzlerschaft Hitlers, auch unter den diesen eingrenzenden Bedingungen Papens. Eine merkwürdige Rochade hatte sich zwischen Papen und Schleicher vollzogen. Jener betrieb die Bildung einer Regierung unter Hitler, die er bisher verworfen hatte, dieser förderte den Ausnahmezustand, den er vor kurzem noch verweigert hatte. Der greise Reichspräsident übersah diese verwickelte Situation in ihrer ganzen Entscheidungsschwere nicht mehr. Er vertraute lediglich dem ihm persönlich sympathischen Papen. Mit der Betrauung Hitlers als Reichskanzler glaubte er wieder eine verfassungsmäßige Parlamentsregierung geschaffen zu haben, und seine Berater redeten ihm dies ein. Die Verfassungsformen wurden strikt eingehalten, aber mit ihrer Anwendung ihr Todfeind betraut. Die nicht nationalsozialistischen Gegenrevolutionäre kalkulierten anders. Hitler werde sich in der Führung der praktischen Politik schnell abnutzen, dann würden sie die Demokratie von Hitler befreien — durch die Restauration. Daß Ebert und die deutsche Sozialdemokratie 1918 den Versuchen des Bolschewismus nicht erlagen, sondern sein Eindringen in Deutschland unter Preisgabe der eigenen Parteidoktrinen verhinderten, bleibt ihr historischer Verdienst. Daß die Gegenrevolutionäre die sie verführende und dann vernichtende Gewalt des ihnen vitalitätsmäßig weit überlegenen Nationalsozialismus, die andere sahen, nicht erkannt haben, bleibt ihre historische Schuld. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Earl Alexander of Tunis: „Rede im Oberhaus vom 16. 3. 1954 'Bernhard Brodie: „Atomwaffen: Strategie oder Taktik?"
Prof. Dr. Freiherr von der Heydte: „Freiheit und Sicherheit in der modernen Demokratie"
Kurt Georg Kiesinger: „Haben wir noch den Bürger? Die Problematik des Parteienstaates"
Adelbert Weinstein: „Die Verteidigung ist unteilbar" * * * „Atombilanz 1953— Wirkung, Transport und Abwehr atomarer Waffen"
Englisches Weißbuch:
„Statement of Defense"
Eine Zusammenstellung der aktuellen politischen Literatur: „Im Brennpunkt Zeitgeschichte"