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Siegt Atatürk über das Grab hinaus? | APuZ 10/1954 | bpb.de

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APuZ 10/1954 Kommunismus und Islam Deutsche Orientpolitik heute Siegt Atatürk über das Grab hinaus?

Siegt Atatürk über das Grab hinaus?

Alfred Joachim Fischer

Gefahren einer klerikalen Renaissance

Gegenwärtig erlebt die Türkei eine innerpolitische Krise, die man sehr aufmerksam beobachten muß. Sie wird nicht von links provoziert, kann aber einmal, wie viele reaktionäre Strömungen, in diese Richtung münden. Bisher kennen die Türken keine kommunistische Gefahr, was den Neid vieler Völker erregt. Seit ein Schiff mit türkischen Kommunistenführern den Bosporus entlangfuhr und dann ohne seine menschliche Ladung zurückkehrte, ist es nie mehr zu einer erwähnenswerten linksradikalen Bewegung gekommen. Russischerseits fand man sich damit ab und suchte nichtsdestoweniger Mustafa Kemal Atatürks Freundschaft und diplomatische Schützenhilfe. Die Emanzipation dieses „Vaters der Türken" (wörtliche Übersetzung für Atatürk)) beruhte an erster Stelle auf dem laizistischen Prinzip, einer scharfen Trennung zwischen Kirche und Staat. Für den osmanischen Niedergang machte es vornehmlich die religiös-politische Personalunion von der höchsten Spitze bis zum kleinsten Verwaltungsposten verantwortlich. Tatsächlich be-gann sie ja mit dem Sultan, der gleichzeitig Kalif war, — ein zu mohammedanischen Glaubens-kriegen verpflichtender Titel. Islamatisches, auf nomadisierende Wüstenstämme abgestimmtes Recht (Scheria) riumphierte über modernes weltliches. Wehrlos war die Frau vorsintflutlichen Scheidungsgesetzen ausgeliefert: eine Sheidungserklärung ihres Mannes genügte. Außerhalb des Harems trug sie den Schleier.

Aberglaube bis zum Befragen des Horoskops, bevor man eine Schlacht wagte, lähmte sogar die Armee der kampfesmutigsten und einst siegreichsten Soldaten zweier Kontinente. Wissenschaften, ja selbst elementarste Naturereignisse durften nur soweit gelehrt werden, wie sie dem Koran nicht widersprachen.

In die Reihe der „Verbotenen“ fielen sogar Aristoteles und andere klassische Philosophen. Alles, was aus dem Abendland kam, galt als verdächtig. Beispielsweise führte man die erste Druckpresse erst 300 Jahre nach der Erfindung ein, weil Gutenberg eben ein Christ, ein Ungläubiger, war.

Das große Reformwerk

Als nun Atatürk sein großes Reformwerk begann und den Sprung über Jahrhunderte versuchte, schaltete er die Religion aus. Mögen manche es aus opportunistischen Gründen auch anders deuten wollen — seine Renaissance hatte rein weltliche Grundlagen und keine zusätzlichen kirchlichen wie jetzt etwa die General Naguibs in Ägypten.

Von dem damals herrschenden Klerus erwartete der erste türkische Staatspräsident nur reaktionäre Störungsversuche. So wurde er zwar nicht davongejagt, aber seine Macht gebrochen. Immer noch gabt es Muftis. Verglich man aber ihre Position etwa mit der des Jerusalemer Muftis vor seiner Flucht, dann war dieser ein nahezu absoluter Herrscher, die anderen erinnerten an mittlere, abhängige Beamte. Viele Moscheen wurden geschlossen, und in Istanbul die auch historisch so bedeutungsvolle Aja Sofia (einst christliches Gotteshaus) zum byzantinischen Museum erklärt. Der Religionsunterricht verschwand aus dem Stundenplan der Schulen. Vielehe, Schleier und kirchliches Scheidungsrecht wurden abgeschafft. Im Berufsleben erhielt das weibliche Geschlecht vollkommene Gleichberechtigung.

Zwei Versuche Atatürks, etwa nach britischem Muster eine Opposition zu schaffen, scheiterten nicht zuletzt daran, daß strikt mohammedanische Kreise sie zu einem Sammelbecken für die Wiedereinführung der alten kirchlichen Vormacht mißbrauchen wollten. Ihnen war, wenn es auch nur wenige auszusprechen wagten, der Anschluß an westliche Kultur und Zivilisation ein Greuel. Mit Mißbehagen beobachteten sie, wie junge Menschen nicht einmal mehr das vom Lateinischen ersetzte arabische Alphabet zu entziffern vermochten und wie sie ganz selbstverständlich den Sonntag statt des traditionellen Freitag als Wochenfeiertag hinnahmen. Daß man während des Fastenmonats Ramazan öffentlich ungestraft essen, trinken und rauchen durfte, empörte solche Elemente.

Nach Atatürks Tod hatten sich die laizistischen Tendenzen kaum verändert. Zwischen ihm und seinem Nachfolger, dem langjährigen engsten Mitarbeiter Ismet Inönü, war es zu persönlichen Differenzen gekommen. Politisch aber gingen sie denselben Weg. Mustafa Kemal hatte die ihm angetragene Kalifenwürde abgelehnt. Der zweite Staatspräsident beobachtete sogar Einigungsbestrebungen der Araber mißtrauisch, nicht zuletzt, weil er von ihnen reaktionäre Rückwirkungen auf kirchlichem Gebiet erwartete. Daher war für Inönü auch die Arabische Liga ein negatives Element.

Ohne etwa je besonders judenfreundlich gewesen zu sein, begrüßte er Israels staatliche Wiedergeburt als willkommene Gegengewichts-erscheinung. Schon unter Inönü wurde die Kirchensprache wieder ganz arabisch. Man verzichtete also auf den türkischen Gebetruf und eine teilweise türkisch gewordene Liturgie. Kurz bevor seine Partei ihre 27jährige Macht abtreten mußte, kam noch ein Gesetz heraus, das den Religionsunterricht in Elementarschulen fast obligatorisch machte. Beidemale handelte es sich um keine innere Umwandlung. Vielmehr waren taktische Gründe entscheidend. Stimmungen sollten aufgefangen werden, statt die nach Kriegsende legalisierte Opposition davon profitieren zu lassen.

machte. Beidemale handelte es sich um keine innere Umwandlung. Vielmehr waren taktische

Gründe entscheidend. Stimmungen sollten aufgefangen werden, statt die nach Kriegsende legalisierte Opposition davon profitieren zu lassen.

Schon im Endstadium der Inönüschen Macht tauchten terroristische klerikale Gefahren auf.

1949 wurde deswegen ein Gesetz erlassen, das religiöse Unruhestifter auf gleiche Stufe mit illegalen Kommunisten stellte und auch ebenso hart bestrafte.

Die Demokratische Partei

Mit dem Machtantritt der vorher oppositionellen Demokratischen Partei witterten alle Anti-Laizisten Morgenluft. In ihrer Wahlpropaganda hatte sie die Wiederherstellung großer religiöser Freiheiten versprochen. Da einige wirtschaftliche Zusagen schwerer einzuhalten waren, begann man mit der Kirche. Zunächst wurde dafür gesorgt, daß der Religionsunterricht wieder bis zur entlegensten Volksschule seinen Einzug hielt. Ja, er befindet sich weltlichem Wissen gegenüber sogar im Vorteil. Manches Dorf besitzt noch keinen Lehrer, aber sicherlich einen Iman (Dorfgeistlichen), der Koranunterricht erteilen kann.

Theoretisch wird jedes Kind von der Religionsstunde befreit, dessen Eltern diesen Wunsch schriftlich äußern. Praktisch liegt eine solche Willenskundgebung der Mentalität des Türken nicht, und sie würde auf dem Dorf wahrscheinlich zur gesellschaftlichen Ächtung führen.

Landschullehrerseminare — eine Mischung aus praktischen und pädagogischen Fächern, neuerdings mit starkem Übergewicht der letzteren — spielen it der türkischen Volksbildung eine große Rolle. Auch dort gehört die Religion jetzt zum Lehrplan. Vor allem aber eröffnete man wieder die von Atatürk geschlossenen geistlichen Seminare. (Gegenwärtig gibt es etwa siebenundzwanzig.)

In Konja mit seinen berühmten seldschukischen Moscheen meldeten sich gleich 300 Bewerber. Grundsätzlich konnte nur ein kleiner Teil der Interessenten akzeptiert werden. In den Seminaren wird der Koran auf arabisch gelesen, das nur noch wenige beherrschen oder mindestens zu entziffern vermögen.

Auch dadurch versteiften sich bestimmte Tendenzen gegen das moderne lateinische ABC, das Atatürk und seine Mitarbeiter einst im ganzen Lande auf Straßen und öffentlichen Plätzen lehrten. Schon 1950 schloß man der vorher ganz weltlichen Ankaraner Universität eine theologische Fakultät an.

Etwa bis zu diesem Punkt war die Regierung bereit, Zugeständnisse zu machen. Allzubald sah sie sich aber von einer Lawine neuer Wünsche und Forderungen bedroht. Schon ihr außen-'politischer Kurs erschwerte ein Festhalten an bestimmten laizistischen Prinzipien. Für das Kabinett Menders — zu Außenminister Professor Fuad Köprülüs Fächern gehörten arabische Lite-ratur und Sprachen — sind die Araber kein negatives Element mehr wie zur Zeit Inönüs. Man suchte eine stärkere Annäherung und mußte sich daher hüten, den Anschein islamfeindlicher Handlungen zu erwecken. Etwas stirnrunzelnd äußerten sich einige fortschrittliche Zeitungskommentatoren über „Missionare“ aus Pakistan. Ernstere Schritte unterblieben aber, da es sich Ankara mit dieser größten mohammedanischen Macht nicht verderben wollte. Schließlich waren es ja die Mohammedaner Indiens, die einmal Großbritanniens starre Haltung gegenüber Atatürks junger Republik brachen.

Kompromißlos radikal: die Ticanis

Im Inneren sah sich die regierende Partei neuen politischen Gruppen gegenüber, die ihr durch betont religiöse Programme das Wasser abzugraben suchten. Kompromißlos radikal gebärdeten sich die Ticanis, eine Sekte nordafrikanischen Ursprungs. Sie wollten die kamalistische Revolution — Abschaffung des Fez, des Harems und der arabischen Schrift, um einige wenige Gebiete herauszugreifen — hundertprozentig wieder rückgängig mähen. Mit dieser reaktionären ideologishen Zielsetzung niht zufrieden, setzten bald direkte Störungsversuhe ein.

Der Islam duldet eine Darstellung Gottes genau so wenig wie die seines Abbildes, des Menshen. Heute befindet sih aber selbst im kleinsten Ort ein Denkmal oder mindestens eine Büste Atatürks. Mit Äxten und anderen Demolierungswerkzeugen ausgerüstet, versuhten die Ticanis, teilweise mit Erfolg, ihre Zerstörung.

Bei der ungeheueren Popularität, die Atatürk als Begründer und Symbol des modernen Türkentums in allen fortshrittlihen Kreisen genießt, schien nun das shärfste Eingreifen unumgänglih.

Bisher sind naheinander niht weniger als 79 Ticanis verurteilt worden. Das beweist ihr illegales Fortbestehen. (Genau genommen sind sie eine Fortsetzung der von Atatürk verbotenen Moslemischen Brudershaften, Derwishorden usw., deren Unwesen so viele Araber und Perser zum Opfer fielen.)

Vor den Gerihtsshranken geben die Ticanis ihre fanatishe Demagogie niht auf. Immer wieder rufen sic den Rihtern zu: „Ihr seid alle Ungläubige und Gottlose. Das Geriht ist ein Ort Allahs. Was haben Frauen hier zu suchen?"

Solhe Exzesse erfolgen niht etwa nur bei Anwesenheit einer Staatsanwältin, Rihterin oder Shöffin. Vielmehr genügt eine einfahe Gerichtsstenographin, um sie zu provozieren. Derartigen Einflüssen ist es wahrsheinlih zuzushreiben, wenn Shieier und unschönere Gesihtstüher wieder öfters auftauhen.

Neben den Ticanis — und mögliherweise mit ihnen zusammen — wirkte auh die inzwishen gleichfalls als illegal erklärte „MohammedanischDemokratishe Partei“, aus deren Reihen die Abshaffung des Radio-Apparates als Teufelswerk verlangt wurde. Teilweise ging man sogar noh weiter und wollte sogar von Eisenbahn und Telephon nihts mehr wissen. Seit Atatürks Machtantritt liefen energishe Bemühungen darauf hinaus, ein modernes Gesundheitswesen zu schaffen und die hygienishen Verhältnisse zu verbessern.

Plötzlich aber lehnten die Extremisten selbst Ärzte ab. Wie das früher außerhalb der großen Zentren (Istanbul, Izmir usw.) üblich war, sollten an ihre Stelle wieder Wunderkuren mit Koran-sprüchen und Amuletten treten. Alles Entgegenkommen der Regierung — sie bewilligte sogar Pässe und Devisen für 8000 Mekkapilger, während Atatürk vom Besuch der heiligen Kaaba nichts wissen wo! lte — resultierte nur in neuen Ansprüchen. Radikale Propagandablätter wuchsen aus dem Boden, darunter „Büyük Dogu“ (Der Große Osten), die mit ausländischem Kapital finanzierte Zeitung von strikt antijüdischem, antibritischem, proislamitischem und proarabischem Charakter. Viele Titelblätter solcher Presseerzeugnisse trugen Schriftzeihen des Korans, weil ihre Herausgeber das arabische Alphabet zurückwünschten. In scharfem Ton geshriebene Bücher forderten u. a. eine Fez-Renaissance.

Seine Abschaffung hatte zu den ersten Reformen gehört, um damit schon rein äußerlich eine bisherige Isolierung von der westlichen Welt zu beenden.

Wenngleich es zu gelegentlichen Denkmalsdemolierungen und anderen Zwischenfällen dieser Art auch in den Großstädten kam, wurden sie von der reaktionären Propaganda doch nur oberflächlich berührt. Sie entwickelten kaum mehr als ein intensiveres religiöses Leben. So baute man in Ankara die ersten beiden Moscheen seit dem ersten Weltkrieg. Zwei alte Damen hatten den Boden gestiftet. Auch in den Städten gaben die Vereinigungen für Koranstudium aus Sammlungen Geld zur Begründung neuer Seminare. Sonst aber hält sich selbst der Chef des Departments für Religiöse Angelegenheiten und der Muftis Eyup Sabri Hayriioglu (Sitz: Ankara) weise zurück. Er wird vom Ministerpräsidenten ernannt, vom Staatsoberhaupt bestätigt und darf als einziger mohammedanischer Geistlicher auch außerhalb der Moschee die Priesterfobe mit dem weißen Turban auf rotem Grund tragen. Nach seinen Erklärungen dem Verfasser gegenüber soll an den Grundmauern des Atatürkschen Reformwerkes nicht gerüttelt werden, schon weil die Volksmehrheit hinter ihr stünde. der Moschee die Priesterfobe mit dem weißen Turban auf rotem Grund tragen. Nach Ein solches Aussterben des Fanatismus, der vor dreißig Jahren zum Laizismus geführt hatte, ist aber eben keine allgemeine Erscheinung. Allzu-viele Hodschas und Imams mit ihren typischen halskrauseartigen Bärten wollten nicht nur größere Freiheiten für die Religion, sondern eiferten gegen die Trennung von Kirche und Politik, da sie den Lehren des Islams widerspräche. Dieser Grundsatz ist wiederum eine Errungenschaft, an der beide prinzipiellen Parteien, die regierenden Demokraten und Inönüs oppositionelle Republikanische Volkspartei, strikt festhalten. Schon für die Wirtschaft wäre jede rücklaufende Entwicklung katastrophal. Fünfmal tägliche Arbeitsunterbrechungen durch vorgeschriebene Gebetsübungen könnte sich keine moderne Industrie leisten.

Käme es gar wieder zum alten Wochenfeiertag — er beginnt bereits Donnerstag bei Sonnenuntergang — dann wäre die Türkei beinahe ein Viertel der Woche vom Welthandel abgeschnitten.

Reaktionäre Einflußgebiete

Beahtenswert ist auh ein außenpolitisher Hintergrund. Am stärksten dringen reaktionäre und terroristishe Einflüsse natürlih dorthin, wo die Zivilisation keinen — oder kaum mehr — Einlaß findet. Damit sind vor allem jene Gebiete Ostanatoliens gemein, die abseits von Eisenbahn und Verkehrsstraßen liegen. Unweit der Sowjetunion grenzen sie entweder direkt an das russishe Imperium (Kars usw.) oder an Persien.

Jede Störung und Unruhe in dieser Ära bringt selbstverständlih besondere Gefahrenmomente mit sih. Hier lebt auh eine starke und in sih abgeshlossene kurdishe Bevölkerung. Von der Ankaraner Regierung Bergtürken genannt und als Nationalität niht anerkannt, fühlt sie sih aber durhaus als solhe. Fäden laufen zu den Kurden Persiens und des Irak.

Vermutlih durh diesen Kanal wurden erste Beziehungen zwishen extremistishen persischen Gruppen und der Mohammedanish-Demokratishen Partei hergestellt. Da die Reaktion und die kommunistische Tudeh in Persien einander man-he Bälle zuspielen und oft sogar gemeinsam demonstrieren, lag ein von vielen Zeitungen ausgesprohener Verdaht nahe. Man darf annehmen, daß der Bolshewismus, dem die Vordertür vershlossen bleibt, den Eingang nah der Türkei unter anderen Titeln durh Hintertore suht.

Mit tiefer Sorge betrahten auh die Minderheiten — Griehen, Armenier und Juden — alle aggressiven Strömungen. Im Kriege hatten sie durh wirtshaftlihe Benahteiligung, ungereht angezogene Steuerschraube, Zwangsarbeit in Anatolien usw. viel gelitten. Heute steht ihre völlige Gleihberehtigung auf dem Spiel, die die demokratishe Regierung einführte.

Angehörige der Mohammedanish-Demokratishen Partei gingen dann zum offenen Angriff über. Getreu den Moralauffassungen des Islams soll die Frau ein völlig abgeshlossenes Leben führen. Shon öffentliher Tanz ist sündhaft, und bis zum heutigen Tage gehört der Flirt, selbst in Großstädten, zu den unbekannten Gesellschaftsspielen.

Daher war die Idee der Istanbuler Zeitung „Vatan“, eine weiblihe Schönheitskonkurrenz zu veranstalten, deren Siegerin als „Miss Turkey“ nah Kalifornien geschickt werden sollte, geradezu revolutionär. Chefredakteur des Blattes ist Ahmad Emin Yalman. Während eines Aufenthaltes in der kleinen ostanatolischen Stadt Malatija wurde ein Attentat auf ihn verübt, und er erlitt durch mehrere Revolverkugeln schwere Verletzungen. Yalman, ein Journalist englischen Stils, hatte schon immer eine scharfe Feder, die er gegen alle antiliberalen Strömungen, linke wie rechtsreaktionäre, zückte. Leidenschaftlich trat er für kompromißlose Trennung von Staat und Kirche ein, selbst wenn die Bevölkerung fast ausschließlich der gleichen Religion angehört — wie in seinem Lande. Daher dürfte die Schönheitskonkurrenz für manche Gegner nur ein willkommener Vorwand gewesen sein, um unter populärer moralischer Tarnung einen tödlichen Schlag gegen diesen unerschrockenen Kämpfer zu versuchen. Gerade dieses Attentat öffnete viele, vorher noch verständnisvoll zugedrückte Augen. Ohne Glacehandschuhe, aber auch ohne die neuen religiösen Rechte anzutasten, wurde gegen reaktionäre und terroristische Tendenzen oder Überspitzung drakonisch vorgegangen. Die Ankaraner Regierung scheute sich nicht einmal vor dem Verbot Millets, der einzigen ernstzunehmenden politischen Konkurrenz neben Inönüs Republikanern. Millet, die Nationalpartei, war wirtschaftlich ultraliberal und wurde, immer schon betont religiös, zum Auffangelager für bestimmte Dunkelmänner, die keine andere Plattform mehr fanden. Eines ihrer Ziele hieß „Religionsunterricht auch in den Gymnasien", ein anderes weittragenderes „Aufhebung der staatlichen Kontrolle über EFKAV". EFKAV sind die religiösen Hinterlassenschaften, zu denen nicht etwa nur Moscheen und Museen, vielmehr auch Häuser, Theater, Kinos, Hotels, geschäftliche Unternehmungen der verschiedensten Art und Riesenländereien gehören. Gegenwärtig werden sie von einer besonderen, dem Ministerpräsidenten direkt unterstellten Generaldirektion verwaltet.

Eben diese finanzielle Basis erlaubte es dem Mufti von Jerusalem und vielen anderen religiösen Führern, eine Geldmacht zu sein und über unzählige Existenzen zu verfügen, sie zu beherrschen.

Einheitsfront gegen die Reaktion

Auch Hikmet Bayur — Mitbegründer von Millet und schon seit 1940, damals noch im Rahmen der Einheitspartei, ein Oppositioneller, somit der erste überhaupt — hatte sich diese Zielsetzung zu eigen gemacht. Wahrscheinlich sah er nach den verschiedenen Exzessen doch ein, weldien Zwecken ihre Realisierung dienen würde. So trennte sich Bayur von seinem politischen Kinde und erleichterte dadurch das sofort folgende Verbot. Er genießt außerordentliches Prestige, diente doch die Familie der Türkei seit mehreren Generationen an höchster Staatsspitze, bis zum Großvezier hinauf. Nicht zuletzt besitzt Bayur einen wohlverdienten Ruf als bedeutendster türkischer Historiker.

Jedoch durfte die Demokratische Partei auch den Balken im eigenen Auge nicht übersehen. Fehmi Ustaoglu, ihr Samsuner Abgeordneter, hatte in der Zeitung seines Wahlbezirkes „Büyük Cihad" unumwunden erklärt, Atatürk sei bisher bei weitem überschätzt worden und die Türkei verdankte den anatolischen Sieg einigen Ulemas (Geistlichen) sowie den von ihnen abhängigen militärischen Führern.

Nachdem sich auch die Demokratische Partei, die heute regiert, in ihrer ganzen Ideologie auf Atatürk und den Kamalismus beruft — am Geburts-und Todestage Mustafa Kemals ziehen jedesmal Trauerprozessionen zum Mausoleum — bedeutete diese Stellungnahme eine Provokation ersten Ranges. Immerhin dauerte es noch ein paar Monate, bis Fehmi Ustaoglu im Disziplinarverfahren ausgeschlossen wurde.

Demokraten und Republikanische Volkspartei waren trotz geringen weltanschaulichen Differenzen spinnefeind. Nach orientalischer Art äußerte sich das weniger in prinzipiellen Auseinandersetzungen als in persönlichen und allerpersönlichsten Polemiken. Kazim Gülek, der Generalsekretär der Oppositionspartei, hatte das Wort von einer „demokratischen Sanktionierung der klerikalen Renaissance" geprägt. Junge Intellektuelle, Studenten usw., die bei den letzten Wahlen Inönü verließen, waren zurückgekehrt, weil ihnen der neue Kurs unkamalistisch oder nicht fortschrittlich erschien.

Solche Vorteile aus einer politischen Konjunktur verführte die Opposition aber nicht dazu, über wirkliche Gefahren hinwegzusehen. Im Augenblick erschien ihr eine Einheitsfront gegen die Reaktion und für den Kamalismus wichtiger als jeder taktische Vorteil. Da die Regierung zur gleichen Schlußfolgerung gekommen war, hörten gegenseitige polemische Angriffe und Verleumdungen auf. Noch nie war das Verhältnis zwischen den beiden Parteien ein so korrektes, wenn nicht harmonisches. Daher scheint es nicht einmal ausgeschlossen, daß nach den nächsten Wahlen, wenn nicht eine neuerliche Verschmelzung, so doch eine starke Koalition zustandekommen wird. Sollte diese Voraussage zutreffen, dann wäre das gleichbedeutend mit einem Siege Atatürks über das Grab hinaus

Fussnoten

Fußnoten

  1. Seit dieser Artikel geschrieben wurde, sind einige Ereignisse bemerkenswert:

Weitere Inhalte

Alfred Joachim Fischer, ein reisender Ausländskorrespondent, hat die Türkei mehrfach vor und nach dem Kriege besucht und stets mit besonderem Interesse die Beziehungen zwischen Staat und Islam studiert.