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Die geistige und soziale Entfremdung zwischen Ost und West | APuZ 9/1954 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 9/1954 Der Friede ist unser Ziel. Rede des britischen Ministerpräsidenten Sir Winston Churchill in der Unterhaussitzung vom 25. Februar 1954 Die geistige und soziale Entfremdung zwischen Ost und West

Die geistige und soziale Entfremdung zwischen Ost und West

Gerhard Lütkens

Der nachfolgende Aufsatz wurde in ähnlicher Form im Rahmen einer Vortragsreihe der Volkshochschule Bremen (12. Juni 1953) und vor dem Politischen Club der Universität Bonn (19. Nov. 1953) gehalten. „Die Musik verbindet, die Bräuche trennen. Durch die Verbindung entsteht die Freundschaft der Menschen untereinander, durch die Trennung die Achtung voreinander. Wenn die Musik zu große Bedeutung erlangt, gibt es Nachlässigkeit. Wenn die Bräuche zu sehr herrschen, entsteht Entfremdung." (Aus dem Buch Jo-Ki.)

Ein Fremder ist ein außerhalb der Gruppe Stehender. Wenn wir an die kleinen, übersehbaren Gruppen denken, so geben uns Sage und Mythos mannigfaltige Beispiele dafür, worum es sich handelt. Das Fremdsein knüpft sich an solche Dinge an wie das gewohnte Essen, die Kleidung, die bestimmte Art des Verhaltens und der Sitten. Wie ein Fremder sich verhalten wird, ist ungewiß. Man fühlt sich ihm gegenüber nicht sicher, man ist unsicher. Als Zeus und Merkur einmal auf die Erde kamen — Merkur, der Gott der Reise, auch der Diebe — kamen sie in eine Talsiedlung. Von Haus zu Haus suchten sie Unterkunft, Schutz und Nahrung. Überall wurden sie abgewiesen. Schließlich gelangten sie zum Haus eines alten Paares, zu Philemon und Baucis. Die nahmen sie auf, ließen sie an ihrem bescheidenen Mahl teilhaben, gaben ihnen Obdach. Am nächsten Tag war die ganze Siedlung durch ein Unwetter zerstört, nur das Haus der Alten war verschont geblieben. Sie hatten den Fremden als einen Fremdling, aber als einen Gast, behandelt. Ein Fremder kann ein Gott sein, er kann Unheil bringen, wenn er nicht als Gast behandelt wird, solange er nicht böse Absichten kundtut. Der Fremde ist der Gast, hospes; er kann sich auch als Feind erweisen, hostis, was ursprünglich dasselbe Wort ist. Aber als Fremder, als auch möglicher Feind, ist er nicht ein solcher, dem man als Unversöhnlichem und in dauernder Feindschaft Gegenüberstehendem begegnen soll.

Das Verhältnis des Fremdseins gibt es als soziologischen Tatbestand wie in den Beziehungen zwischen kleinen übersehbaren Gruppen auch zwischen den Menschen als Mitgliedern großer organisierter Gruppen, etwa Staaten und Nationen. Es ist hier komplizierter. Das solche organisierten Gruppen Einigende und sie von anderen Trennende gründet sich nicht nur auf Dinge, die wir selbst erfahren haben oder in unserer gewohnten Umgebung erfahren können. Es gibt darüber hinaus die großen, objektivierten geistigen Gebilde, die dem Einzelnen gegenüberstehen, aber die zu derselben Gruppe Gehörigen zusammenhalten und von anderen Gruppen abtrennen. Es handelt sich dabei um Gebilde wie Sprache, Philosophie, Literatur, religiös gegründete Wertüberzeugungen, Tradition, die über Erziehung und Bildungswesen das Bewußtsein der Einzelnen mit formen. Jede Nation empfindet die anderen als fremd auch deshalb, weil diese Gebilde des objektiven Geistes verschieden sind.

Wenn wir solchen allgemeinen Überlegungen folgen, ergibt sich mit Rücksicht auf unser Thema sogleich eine Frage: In wieweit ist es wohl überhaupt richtig, oder ist es vielleicht ganz unrichtig, daß zwischen „Ost" und „West“ etwa eine größeres Maß von Fremdheit und gar Entfremdung besteht als, sagen wir, zwischen Deutschland und Frankreich, Deutschland und Amerika, Europa und den Vereinigten Staaten? Wir wollen im Folgenden unter „Ost" und „West" die Verschiedenheiten zwischen dem russischen Reich und den abendländisch-westeuropäischen Nationalstaaten verstehen. — Wenn nun von „Entfremdung" gesprochen wird, so scheint mit diesem Wort angedeutet werden zu sollen, daß es sich um eine sich zuspitzende Entwicklung handelt, daß Ost und West sich fremder werden oder geworden sind. Zugegeben, daß uns vieles aus der Wirklichkeit der Sowjetunion nicht bekannt ist; zugegeben auch, daß uns vieles, was wir von dieser Wirklichkeit erkennen können, vor allem in seinem Gefüge von Zusammenhängen, schwerer verständlich ist, als das früher in unserem Verhältnis zu dem zaristischen Rußland der Fall gewesen ist: so ergibt sich doch die Frage, ob man letzten Endes vor fünfzig Jahren in Deutschland mehr und besser über die Verhältnisse und Zustände in diesem großen osteuropäisch-sibirischen Reich unterrichtet war als heute.

In Rußland gewesen und in der Lage, sich aus persönlichem Augenschein ein Urteil zu bilden, waren doch nur sehr wenige Menschen. Kenntnis von Rußland war also auch damals vor dem ersten Weltkrieg angewiesen auf die Nachrichten der Zeitungen und bei gewissen Schichten auf Kenntnis der russischen Literatur oder von Büchern über Rußland. Man wußte also vielleicht, daß Rußland ein kaltes Land mit sehr langen und harten Wintern und mit großen Waldgebieten war. Daß der Boden in Südrußland sehr fruchtbar war. Daß zu Rußland ein sehr großes Stück Asien gehörte.

Man wußte vielleicht, daß Rußland eine Autokratie war, daß es Revolutionäre, Attentate und Zwangsverschickungen gab. Daß Rußland ein christlich-orthodoxes Land war. Daß die Leibeigenschaft der Bauern erst 1863 aufgehoben wurde. Daß die Bauern noch weitgehend in einem Zwangszusammenschluß, dem Mir, lebten. Das Rußland Getreide exportierte und dies selbst in Hungerjahren tun mußte, um seine Ausländsanleihen zu verzinsen. Man wußte, daß es von Frankreich Staatsanleihen bekam, daß es zum Aufbau einer noch kleinen Schwerindustrie und von Eisenbahnen ausländisches Kapital benötigte.

Man wußte vielleicht auch, daß in Rußland im 19. Jahrhundert eine bedeutende Literatur entstanden war, die teilweise ins Deutsche übersetzt wurde. Aus ihr konnte man sich ein gewisses Bild von dem tatsächlichen Leben in Rußland machen. Wenn man sich jedoch an die Schlüsse erinnert, die aus diesen Romanen oft über die „russische Seele“ gezogen wurden, so mag man sich heute fragen, ab diese Rätselraterei wohl richtiger oder falscher gewesen ist als das, was sich unsere Kremlastrologen heute über die sowjetischen Gedanken-und Gefühlswelt zusammenzureimen versuchen.

Aber eine sonderbare Beobachtung machten Menschen, die es unternahmen, in dieses Land des Ostens zu reisen. Sie bedurften zunächst eines Passes, was sonst innerhalb Europas nicht erforderlich war. Und wenn sie die Grenze überschritten, stellten sie fest, daß sie den Zug zu wechseln hatten, weil die Spurweiten der Eisenbahnen nicht die gleichen waren. Damals wußten wir noch nicht, daß in baldiger Zukunft Pässe bei jeder Reise in ein anderes Land erforderlich sein würden. So hätten wir eigentlich schon damals von einem Eisernen Vorhang sprechen können, der Rußland von der Außenwelt abschlösse. — Ich will mich nun zunächst einigen geschichtlichen Betrachtungen zur Frage der Verschiedenheit und Fremdheit zwischen den westeuropäischen Ländern und den russischen Gebieten zuwenden. Geschichte ist eine Art der Betrachtung, in der man sich vom Rücken her zu sehen versucht. Diese Betrachtungen sollen also nicht etwa dazu dienen, nach Art einer in Deutschland weit verbreiteten Historienschreibung rückwärts gewandte Prophetie zu betreiben, die einem weismachen soll, wie es anders hätte viel besser ablaufen können. Indem geschichtliche Betrachtung uns sagen kann, was gewesen ist, kann sie uns helfen, ein wenig besser zu verstehen, was wir sind, weil wir es geworden sind.

Byzantinisches Ostchristentum Erstens: Rußland wurde im 10. Jahrhundert von Byzanz aus christianisiert, also von der Ostkirche her. Bald darauf erfolgte der Bruch zwischen der Ost-und der römischen Westkirche, eine tiefe Scheidung zwischen zwei Richtungen des Christentums. Beide Ereignisse zusammengenommen haben das Gesicht der Christenheit aufs tiefste geformt. Bis zur bolschewistischen Revolution blieb es in Rußland bei dieser byzantinischen Ostkirche. Rußland hat infolgedessen bis 1917 keine Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, zwischen Staat und Kirche gekannt, und jedenfalls keine Gegenstellung der Kirche gegen die Staatsgewalt, wie sie im Westen der Investiturstreit des 11/12. Jahrhunderts zwischen Kaiser und Papst herbeiführte. So ist Rußland, das „Heilige Rußland“, etwa vergleichbar dem, was das „Heilige Römische Reich" darstellte, wie wir es geschichtlich bis zur Stauferzeit im Westen kennen, also bis zum Investiturstreit, bis zur Auflösung des eigentlichen Feudalismus, bis zur Zerstörung der Einheit von Kirche und Reichsgewalt.

So standen dem russischen Staat, oder besser der russischen autokratischen Monarchie, bis in die neueste Zeit die Mittel der Beeinflussung und Beherrschung der Bevölkerung, die ja aus Analphabeten bestand, zur Verfügung, die sich auf die Furcht des Individuums vor überirdischen oder außermenschlichen Mächten gründen. Der Investiturstreit, die Trennung und Entgegensetzung von weltlicher und geistlich-kirchlicher Macht im Abendland, ist ja historisch einer der wesentlichen Ansatzpunkte für die Schaffung eines Raumes von Freiheit für das Individuum gewesen.

In der Ostkirche haben wir weiter die Scheidung zwischen Weißem und Schwarzem Klerus. Der Pope lebte wie die seiner kirchlichen Betreuung Anvertrauen, als Bauer unter Bauern, verheiratet, ungebildet, mit der Wahrnehmung von Ritus und Liturgie betraut, deren Bedeutung er nicht eigentlich verstand. Der Schwarze Klerus unterlag nicht einer geistigen, intellektuellen und moralischen Disziplin wie in der Römischen Kirche seit der Zeit des Investiturstreits, wie vor allem seit Reformation und Gegenreformation, Geistlichkeit und Priester sowohl der protestantischen wie der katholischen Kirche. -

Auch aus diesem Grunde kannte die Kirche des zaristischen Rußland nicht eine Disziplinierung, eine wirksame Formung des moralischen Verhaltens der Gemeinde, d. h.der Bevölkerung. Damit will ich nicht etwa gesagt haben, daß die Bevölkerung nicht christlich oder nicht moralisch gewesen sei. Worauf es mir hier ankommt, ist zu sagen, daß die Kirche keinen Einfluß nahm auf die konkrete Gestaltung des täglichen Verhaltens der Menschen, keine innerweltliche, auf das praktische Verhalten zielende Ethik entwickelte. Bezeichnend ist dafür vielleicht das berühmte Schisma in der russischen Kirche, der Raskol des 17. Jahrhunderts. Er wandte sich nicht dogmatischen Fragen oder einer Kritik am Kirchen-regiment zu, sondern den Formen des Ritus, den Formen, in denen sich die religiöse Gemeinschaft gemeinsam darstellte. „Heiliges Rußland“

Zweitens: Die Heiligen Schriften des Christentums wurden früh ins damalige Slawisch, das Pravoslawisch, übersetzt. Diese ins Slawische übersetzten Schriften waren für lange Jahrhunderte das Eine Buch. Für die Kirche und das religiöse Leben, auch für das Leben des Weißen Klerus in den Klöstern, stand weder das griechische noch das lateinische Schrifttum der Antike zur Verfügung, noch war es von Nöten. Das Kulturerbe der antiken Mittelmeerwelt gelangte zu den Russen als christlich-byzantinisches Griechentum, nicht als das Griechentum der Antike. Die griechischen oder die lateinischen Texte wurde also weder gelesen noch studiert, wie das bei Klerikern und Mönchen der westlichen Kirche der Fall war. Die griechische rationale Philosophie, die ja zu wesentlichen mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen gekommen war, wurde in Rußland nicht bekannt. Dasselbe gilt von dem rationalen römischen Recht.

Im europäischen Westen bauten christliches Leben und christliche Kirche auf zwei Grundlagen auf: auf der jüdisch-christlichen Ueberlieferung mit ihrer religiös unterbauten Ethik sowie auf der griechisch-antiken mit ihrer rationalen Philosophie. Die frühe mittelalterliche Scholastik (nicht die spätere, in Theologie erstarrte) wendet wissenschaftliche Methoden auf die Theologie an. Sie versuchte, durch Vernunftsschlüsse Gottes Sein zu beweisen und zu zeigen, wie Gottes Weltregierung übereinstimme mit den rational-wissenschaftlich ergründeten Gesetzen der Natur.

An diesen abendländischen Entwicklungen der Scholastik zunächst, dann der Renaissance, in der sich das rationale Wissensstreben mehr auf die Erkenntnis der Welt zu legen beginnt, hat die russische Welt keinen Anteil gehabt. Ebenso wenig an Reformation und Gegenreformation. Ebenso wenig auch an der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, an den Entdeckungen, die von der rationalen Wissenschaft her zum Ausbau der modernen Technik führten. Bei dieser handelt es sich ja nicht darum, mechanische Einrichtungen zur Erleichterung von Arbeitsvorgängen oder zu kriegerischen Zwecken (Rad, Pflug, Pferdeschirren, Steigbügel) zu finden. Das hat es überall und zu allen Zeiten gegeben, und wer russische Menschen hat beobachten können, wird an ihnen diese gleichsam natürliche Findigkeit und Geschicklichkeit des Menschen in hohem Grade haben beobachten können, wohl gerade deshalb, weil der Einbruch der rationalen Technik des europäischen Westens nicht frühzeitig erfolgt ist. Bei der modernen Technik handelt es sich nach Ziel und Methode um etwas ganz Anderes. Sie ist nur auf rationaler wissenschaftlicher Erkenntnis aufzubauen, einer Erkenntnis, die von der Annahme ausgeht, daß alles Geschehen von Gesetzen bestimmt sei, die als Wirkung von erkennbaren Ursachen, also nach einem rationalen Kalkül, zu begreifen seien.

Binnenstaat und Autokratie Drittens: Rußland ist entstanden als ein Binnenstaat, der seine Ausdehnung in der Hauptsache als flächiges Ausbreiten einer Bauerngesellschaft gefunden hat. Bauern suchen neues Land; Unfreie suchen die Freiheit auf dem neuen Land. Es war eine friedliche Kolonisation durch den Waldgürtel Osteuropas und Nordasiens, erst später auch durch die offenen Steppen im Süden. Anders als die Nationen Westeuropas hat Rußland in der Hauptsache keine kirchlich-christliche Rekonquista und keine gewaltsame Kolonisation gekannt.

Bis in sehr späte Zeiten hinein war die russische Gesellschaft auf extensiven Ackerbau gegründet. In diesem Raum konnten Arbeitsplatz und Wohnraum an sich leicht durch Binnenwanderung gewechselt werden. Die Ausmerzung asozialer oder das Zusammenleben störender Elemente erfolgte nicht automatisch. Die Menschen konnten dem Druck der Umwelt auf ein „demokratisches“ Verhalten, das ja Reibungen vermeiden oder wenigstens abschleifen soll und daher immer auf „ziviles“ Verhalten, Schicklichkeit und Selbstbeschränkung des Individuums, abhebt, leicht ausweichen. Und ebenso war es gegenüber dem Druck des Staates und seiner Träger.

Aber die in diesen weiten Räumen siedelnden Menschen nahmen zur Verteidigung gegen die von außen drohenden Gefahren — die Mongolen, die Polen und andere — einen despotischen Staat als Notwendigkeit hin. Despotie oder Autokratie ist denn auch die ständige Form der politischen Existenz Rußlands bis in unsere Zeit geworden. Bis 1917 herrschte in Rußland die monarchische, die zaristische Autokratie. Der Zar mit seiner Großfamilie wurde gestützt durch die Staatskirche, die Armee, die Bürokratie und die Schicht des landbesitzenden Adels. Eine Gesellschaft von Grundbesitzern kann sich nicht aus sich selbst heraus wandeln. Als Instrument der Änderung gibt es in ihr nur den autokratischen Zwang oder die Revolte von unten. Die Geschichte Rußlands ist voll von Revolten. Aber bis zum völligen Kollaps des staatlichen und gesellschaftlichen Gefüges im Kriege 1914/17 hat keine Erfolg gehabt, weder die vielen der Bauern, noch die gelegentlichen des Adels, noch die Versuche der sozialen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts. Russische Stadt und „Intelligenz"

Viertens: Bis in die neueste Zeit hat Rußland Städte des soziologischen Typs, wie sie die westeuropäischen Länder seit dem 11. /12. Jahrhundert entstehen sahen, nicht gekannt. Im europäischen Abendland lebt in der Stadt ein Bürgertum, das verbandshaft zusammengeschlossen war und sich so auch rechtlich von den Bewohnern des flachen Landes abhob. Diese Bürgerschaften in der Stadt werden frei, politisch frei; wirtschaftlich sind sie einer neuartigen Gewerbetätigkeit hingegeben. Die Städte Rußlands sind Anhäufungen von Menschen um den Hof des Herrschers oder um ein Verwaltungszentrum. In ihnen lebt auch wenigstens während langer Monate im Jahr der grundbesitzende Adel sowie eine Fernhändlerschicht, die mit Luxusgütern und mit den Produkten des Waldes, Pelzwerk, Wachs, handelt. Aber die russischen Städte sind nicht Sitz einer über den Eigen-verbrauch hinausgehenden gewerblichen Produktion, deshalb auch keines Handels mit Erzeugnissen der gewerblichen Arbeit. So hat denn fast bis in die Zeit der bolschewistischen Revolution die Schicht des städtischen Bürgertums der Art, wie wir sie in allen westeuropäischen Ländern kennen, nur eine geringe Rolle gespielt. Im Rußland des 19. Jahrhunderts nahmen den entsprechenden Platz in der sozialen Pyramide eher jene Schichten ein, die dort als „Intelligenz" zusammengefaßt wurden, die Lehrer, die Aerzte, die Agronomen und ähnliche Gruppen.

Das europäische Abendland, in dem sich rationale Wissenschaft, moderne Technik, eine kapitalistische Produktionsordnung, die Freiheit der Arbeit, der Berufswahl, die Freiheit und das Recht der Persönlichkeit, die politische Selbstverwaltung und der Gedanke der politischen und parlamentarischen Demokratie, der Selbstrcgierung also, entwickelten, entstand seit dem 12. Jahrhundert.

Dieses europäische Abendland erwuchs hauptsächlich aus der Verbindung der in den Städten organisierten Bürgerschaften mit der im Investiturstreit gegen das autokratisch-feudale Heilige Reich kämpfenden Kirche. Diese Verbindung setzte religiös-spirituelle und politische Kräfte in Bewegung. Ich sage: auch religiös-spirituelle. Wir haben damals die religiösen Reformbewegungen, die neuen Mönchsorden; zuerst solche, die die Adelsschicht umformten, dann solche, die die breiten Massen berührten und sich gegen die Weltgeistlichen und deren Verwilderung wandten. Wir haben die Pilger-und Kreuzzugsbewegungen, und dies alles sind die Massenbewegungen eines neu entstehenden „Volkes" der westeuropäischen Nationen.

Ich habe mit Absicht auf die dauernde Bewegung dieser damaligen europäischen Massen hingedeutet, die auf den Straßen lagen, die zum Bau der gotischen Kirchen, zu den Wallfahrtsorten pilgerten. Nun lesen Sie einmal die russischen Romane des 19. Jahrhunderts. Die Straßen des Landes sind voll von Menschen vielerlei Art und Beruf. Dort finden Sie die Pilger, die durch das Land ziehen zur Wallfahrt nach Kasan oder Kiew. Es ist das von der Gewaltherrschaft und der Willkür der adeligen Kliquen gequälte Volk, das auf Änderung hofft, aber nicht die Mittel findet, die Dinge zu wenden.

Einbruch westeuropäischer Zivilisation Oder nehmen Sie die so tiefen wie zerquälten Erörterungen der religiösen und ethischen Probleme in eben diesen Romanen oder in den Erörterungen der russischen Intelligenzler der damaligen Zeit: Das religiöse Problem der menschlichen Freiheit aufgerollt im Kriminalroman der Familie Karamasow. Dostojewskis Reiner Tor, welcher der Welt als Idiot erscheint. Tolstoi, der am Ende seines Lebens zum religiösen Anarchisten wurde. Ropschins Roman „Das Fahle Roß“ mit seiner autobiographischen Auseinandersetzung über die Frage, ob das Attentat als Mittel zur gesellschaftlichen Veränderung moralisch gerechtfertigt werden könne.

Diese Erscheinungen ruhen außer auf der noch bestehenden theokratisch-feudalen Ordnung eines „Heiligen Reichs“ auf der Tatsache des damals beginnenden Einbruchs der westeuropäisch-abendländischen Zivilisation in dieses Rußland. Geistesgeschichtlich schlägt sich das nieder in dem Gegensatz zwischen den Slawophilen, die an dem überkommenen Heiligen Reich festhaltcn wollen, und den Westlern, welche abendländische Wissenschaft, Technik und Industrie nach RuShnd hinein bringen wollen.

Mit Ende des 19. Jahrhunderts beginnt sich mit Hilfe ausländischer Kapitalinvestitionen in Rußland eine moderne Industrie zu entwickeln. So hatte das weite Land es 1913 zu einer Stahlproduktion von 4 Millionen t im Jahr gebracht. Damit will ich nur zeigen, daß es industriell gerade angeritzt war. Und nun nehmen Sie einmal die Figur des Deutschen, wie sie in den russischen Romanen immer wieder auftaucht. In Gontscharows Roman ist der Gegenspieler zu Oblomow, dem dauernd versagenden Opfer geradezu übermenschlicher Faulheit, ein Deutscher. Oder denken Sie an den Offizier Berg in Tolstois „Krieg und Frieden“, der durch sein Strebertum oben ankommt. Der Deutsche ist eine Figur, die nicht bösartig, aber auch nicht sympathisch gezeichnet wird. Er ist immer auf Arbeit, auf das Erreichen von irgend etwas, hingerichtet. Dies ist im Grunde das Bild, das sich bildet, wenn unsere weiße Zivilisation zusammentrifft mit denen der farbigen Völker oder von Kolonialen. Den Weißen erscheint der andere als faul, als ein Tagedieb. Dem Kolonialen erscheint der Europäer als ein von Arbeitswut halb Irrer: gegenseitig ist man sich fremd.

Die Machtübernahme durch die Bolschewisten 1917 übernahm eine kleine Gruppe von geschulten Revolutionären unter Leitung Lenins die politische Macht in Rußland. Zu diesem umwälzenden Ereignis mag man sich vielleicht nützlicher Weise an ein Wort erinnern, das der konservativ-katholische Joseph de Maistre 1829 in seinen , Soirees de St. Petersburg'niederschrieb: „Rußland ist wie eine gefrorene Leiche, die furchtbar stinken wird, wenn sie auftaut".

Was nun diese Machtübernahme des Jahres 1917 anbelangt, so wäre sie wohl genauer etwa so zu beschreiben: 1. Das russische Staatsgefüge war unter dem Druck des Krieges zusammengestürzt, dessen Anforderungen seine politische und wirtschaftliche Struktur nicht gewachsen war. Es war ein Vakuum entstanden. 2. Ein Aufstand der Bauern nahm das Land der Grundbesitzer in Besitz, das jene immer als ihr rechtmäßiges Eigentum angesehen hatten. Damit brach das soziale Gefüge in sich zusammen, das den Staat der Autokratie getragen hatte. Es hat sich im Letzten damals nicht um eine sozialistische Revolution gehandelt. In dem Chaos hat eine Gruppe von Berufsrevolutionären die Macht an sich reißen können und, getragen von der Sehnsucht der Massen nach Frieden, Land und Brot, sich daran gemacht, eine neue Gesellschaft aufzubauen.

Das geschichtlich Wichtigste an diesen Vorgängen ist wohl auch nicht so sehr, daß die Macht durch eine aus den sozialistischen Traditionen der westeuropäischen Länder herstammende und an den Gedanken von Karl Marx geschulte Gruppe übernommen wurde. Mit dieser Revolution bricht vielmehr das europäische Abendland unwiderstehlich nach Ruß-land ein. Insbesondere bricht ein die Naturwissenschaft, die industrielle Produktion, die moderne Technik. Von ihnen waren bis dahin in Ruß-land nur kleine Schichten berührt. Jetzt wird diese Form der „Europäisierung“ in Rußland autochton, sie ergreift die breiten Massen, die bis dahin noch naturhaft und magisch-religiös gebunden waren. Es war, wie man sich vorstellen kann, ein tiefer Schock für das Bewußtsein der Menschen. Vermutlich viel tiefer gehend als die marxistischen westlichen Doktrinen, die gleichsam das Vehikel für den Einbruch waren, oder auch als die Gottlosenpropaganda, die lange Zeit mit größter Intensität betrieben wurde.

Solcher Schock muß beim „Volk“ eine Art kollektiver Schizophrenie verursacht haben, ein Leben auf zwei Bewußtseinsebenen, der neuzeitlichen, rationalistischen und der überkommenen, rituell und magisch gebundenen Gläubigkeit.

Drei wesentliche Wandlungen: Industrialisierung, Unterricht, technische „Intelligenz“

Ich will nun auf einige Resultate dieses Umwandlungsprozesses eingehen, die für die neue Struktur der russischen Wirklichkeit bedeutsam sind und wohl von dauerndem Bestand sein dürften.

1. Die Sowjetunion durchläuft einen Prozeß schneller Industrialisierung und Urbanisierung. 1939 lebten 56 Millionen Menschen in Städten, doppelt so viele wie 1926; man zählte 80 Städte mit über 100 000 Einwohnern, 11 mit über einer halben Million. Oft handelt es sich um ganz neue Städtegründungen in den neuen Industriegebieten.

1940 waren in der Industrie etwa 301/2 Millionen Menschen beschäftigt, davon etwa 3/4 als Arbeiter. Die Kohlenproduktion erreichte 1952 etwa 300 Millionen t. Die Stahlproduktion stieg zwischen 1913 und 1938 von 4 auf 21 Millionen t und wird für 1952 mit 35 Millionen angegeben. Die Maschinenproduktion war 1941 schon fünfzig mal so groß wie 1913. 2. Es hat sich eine völlige Änderung in Erziehung und Unterricht vollzogen. Während im Zaristischen Rußland die Zahl der Volksschulen 1950 mit 42 000 Lehrern und 635 000 Schülern betrug, war die Zahl nur dieser Schulen im Jahre 1939 in der Sowjetunion auf 15 800 mit 377 000 Lehrern und 10 93 5 000 Schülern angewachsen. Für 1950 wird die Zahl der Volks-und Höheren Schulen zusammen mit 220 000 angegeben, die Zahl der Schüler in solchen sowie technischen und anderen Schulen auf über 37 Millionen mit etwa 1, 6 Millionen Lehrkräften. Universitäten und vergleichbare sonstige Hochschulen gab es zu Ende der zaristischen Zeit 92; für 1951 werden 887 solche Institute angegeben. Die Zahl ihrer Studierenden war auf nicht weniger als 1 3 50 000 angestiegen. Und noch eine letzte Zahl: Während 1917 in öffentlichen Büchereien auf je 10 000 Menschen 640 Bücher zur Verfügung standen, belief sich die entsprechende Zahl vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges auf 8 600 Bände.

Mit all diesen statistischen Angaben will ich nicht mehr gesagt haben, als daß sich offenbar ein rapider Wandel im Bildungs-und Wissensstand der Bevölkerung ganz allgemein vollzogen hat. Wissen wird den breiten Massen nicht mehr wie früher ausschließlich durch die unmittelbaren Eindrücke der Sinne, Gesicht oder Gehör, vermittelt, sondern mehr durch die Schrift, das Lesen, das vermittelnde Denken. Kenntnisse haben sich weit verbreitet, das Analphabetentum muß weitgehend verschwunden sein und sich wohl im Rahmen dessen bewegen, was wir auch in westeuropäischen Ländern beobachten können. 3. Es ist zur Herausbildung einer breiten Intelligenzschicht gekommen, insbesondere einer technischen Intelligenz. Die russischen Statistiken beziffern ihre Zahl vor dem Kriege auf 91/2 Millionen Menschen: so 250 000 Ingenieure, Chemiker und Professoren; 900 000 Lehrkräfte aller Art; 800 000 Volkswirtschaftler und Statistiker. Diese Schicht hat kaum die intellektuelle Verfeinerung, deren sich solche Schichten im Westen teilweise mit Recht rühmen können. Es scheint auch, daß sie sich für Angelegenheiten der außerrussischen Welt wenig interessiert, sei cs aus Mangel an Interesse, sei es aus Zwang.

Ihr Interesse ist hauptsächlich gerichtet auf technische Probleme, Verwaltungsausgaben in Staat und Wirtschaft, Erschließungsprojekte. Sie haben den Charakter von Pionieren in Neuland und mit neuen Aufgaben, lernbegierig, ungeschliffen, aber aufnahmewillig und geschieht. In dieser Schicht muß man wohl, neben der Parteiorganisation und ihren Organen die Hauptstütze der staatlichen Macht in der Sowjetunion, zumal der jetzigen Regierung Malenkows, suchen.

Die Herausbildung dieser sozialen Schicht war notwendige Begleitung, aber auch Voraussetzung für den Umbau Rußlands in ein industrialisiertes Land. Ich möchte hier erinnern an Lenins Formel: Kommunismus ist Sowjetmacht (als eine politische Organisation des Landes auf Grundlage von Räten, nicht einer Bürokratie und eines gewählten Parlaments) plus Elektrifizierung des ganzen Landes, also seine technische und industrielle Erschließung. Der erste der beiden von Lenin formulierten Progiammpunkte ist im weiteren Verlauf über Bord geworfen worden, aber die Industrialisierung des Landes ist mit größter Härte und Zielbewußtheit durchgeführt worden.

In der Tat lag diese Leninsche Formel weit ab von den Vorstellungen, die man sich damals im Westen von der Natur einer sozialistischen Gesellschaft machte. Seine Formel muß verstanden werden aus den historisch gegebenen Verhältnissen des damaligen Rußland. Wenn man sie überlegt, wird man sie vielleicht, wie folgt, auslegen können.

Soziologische Form der Sowjetunion Der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, wie die alten Bolschewisten sie zunächst wohl anstrebten, mußte vorgenommen werden gleichzeitig mit dem Aufbau einer modernen Industrie in einem primitiven agrarischen Land. Der Prozeß hat mit Notwendigkeit den Charakter der ersten Stadien der Industrialisierung, wie wir sie in der industriellen Revolution in England beobachten können, angenommen — ja von dem, was die klassischen Nationalökonomen, etwa A. Smith, aber auch K. Marx, als die „ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnen. Bei Marx heißt es dazu: „Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel, und damit kam die Sünde über das Menschengeschlecht. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erklärt wird. In einer längst verflossenen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige Elite und auf der anderen faule Lumpen. Von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse ... In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, kurz Gewalt, die große Rolle“.

Neben dieser Schicht der „Intelligenz“ entstand in den Jahrzehnten nach der Revolution von 1917 eine breite industrielle Arbeiterschicht, etwa 31 Millionen in der Industrie Beschäftigte zu Beginn des Krieges, darunter in sehr großer Zahl auch Frauen. Diese industriellen Arbeitskräfte waren anfangs zum Teil rekrutiert durch die reichlich gewaltsame Einführung der Kolchoswirtschaften an Stelle der bäuerlichen Einzel-wirtschaften. 1939 betrug die Zahl der landwirtschaftlichen Bevölkerung etwa 114 Millionen insgesamt; sie war nicht nur relativ zur Gesamtbevölkerung gesunken, sondern auch absolut zurückgegangen.

Wenn wir diese soziologischen Entwicklungen betrachten, so müssen wir wohl zunächst einmal sagen, daß die Wandlungen in der Richtung liegen, daß die Verhältnisse in der Sowjetunion sich angleichen an die, welche wir westlich oder westeuropäisch nennen. Das Land hat rationale Wissenschaft, neuzeitliche Industrie, moderne Technik übernommen. Wir haben es nicht mehr mit einer Bevölkerung von Analphabeten zu tun, sondern mit Menschen, die je nach ihrer sozialen Lage die Schrift, das Buch, die Zeitung, die Wissenschaft handhaben können. Damit ist auch gesagt, daß wir in großen Bereichen des Lebens uns die Zustände und Verhältnisse als dem Westen ähnlicher vorstellen müssen, als sie vor etwa 30 Jahren im Verhältnis Rußland und Westeuropa waren.

Diese Feststellung mag Ihnen unerwartet, ja herausfordernd erscheinen. Aber ich darf sagen: Fremde politische und soziale Zustände müssen wir nicht einfach nach den uns geläufigen Maßstäben messen. Andere Verhältnisse verlieren viel von ihrer Fremdheit und Rätselhaftigkeit, wenn man zunächst einmal versucht, festzustellen, auch aus der Geschichte zu verstehen, welche Tatsachen soziologisch vorgegeben sind.

Ich will daher, teilweise wiederholend, sagen: Die Russen haben ohne Widerstand einen großen Teil der Erdoberfläche besiedelt. Es bedarf keines „Asiatismus“, um diese Vorgänge zu erklären. Sie haben in den ersten zwanzig Jahren nach der Revolutiongeinen Vielvölkerstaat geschaffen, der, wie der letzte Krieg gezeigt ha eine sehr große Kohäsion unter schwierigsten Umständen sbewiesens hat. Offenbar hat man im Großen und Ganzen gesehen einen genügehden Grad von Loyalität der Bürger zu diesem Staat sichern können. Es bedarf also offenbar zur Erklärung zunächst nicht der Bemühung der Geheimpolizei.

Die Russen haben eine industrielle Revolution gewaltigen Ausmaßes durchgeführt. Wir können das nach seinen eigenen Gesetzen als einen Ablauf rational begreifen, ohne zunächst den Terror als Erklärung heranzuziehen. Sie haben das Analphabetentum weitgehend beseitigt, und es bedarf deshalb zunächst nicht des Hinweises auf die Zerstörung von Kirche und Kultur.

Die Russen sind in ihrer ganzen Geschichte durch Autokratien regiert werden, seien es fremde, seien es eigene. Wir können rational verstehen, daß die Änderungen, die sich im Gefolge der bolschewistischen Revolution in der Struktur des Landes vollzogen haben, unter den gegebenen Umständen nun wieder mit den Mitteln autokratischer, ja tyrannischer Herrschaft durchgeführt worden sind. Zum Verständnis bedarf es nicht des Bezugs auf den Eisernen Vorhang oder den vermeintlichen Cäsarenwahnsinn Stalins.

Damit ist natürlich nicht etwa gesagt, daß es, was ja auch niemand behaupten könnte, keine machtvolle Geheimpolizei in der Sowjetunion gäbe. Auch ist damit nicht gesagt, daß gegen Mißliebige aller Art nicht etwa Gewaltmethoden angewandt würden; nicht in Abrede gestellt, daß Garantien der Rechte des Individuums, der Freiheitsrechte und der Menschenrechte, in der sowjetischen Gesellschaft weitgehend fehlen. Sie sollten nur in richtiger Proportion gesehen werden zu anderen, für das Verständnis der heutigen russischen Welt wesentlichen Tatsachen, von denen ich einige genannt habe. Wenn wir das nämlich nicht tun, begeben wir uns in eine Situation, in der wir nicht mehr mit Fremdheit, sondern mit Feindschaft zu tun haben. Feindschaft ist etwas ganz anderes als Fremdheit. Der Fremde kann zum Feind, er kann auch zum Freund werden. Er ist zunächst ein Gast, vielleicht ein unheimlicher Gast. Der Feind ist für immer der Feind, der inimicus, wie die Römer sagten, der Nicht-Freund, der persönliche Feind, den man vernichten muß. In der Politik ist solche Haltung der Feindschaft keine gute Sache.

Psychologisches Klima in West und Ost Ich will mit einigen allgemeinen Betrachtungen schließen. Ich habe versucht anzudeuten, daß es möglich wäre, in den russischen Vorgängen der letzten 100 Jahre etwa eine geschichtliche Analogie zu sehen zu den westeuropäischen Erschütterungen des 11. /12. Jahrhunderts. Wenn wir uns dje westeuropäische, die abendländische Entwicklung bis zur Aufklärung und zur französischen Revolution ansehen, so werden wir als Grund-klima des Lebens einen freilich periodisch unterbrochenen kulturellen Optimismus feststellen können. Man glaubt an die Erziehung des Menschengeschlechts, an die Zukunft, an die Besserung aller menschlichen Verhältnisse, an den sozialen Aufstieg des Einzelnen und so fort. Seither, also seit Beginn des 19. Jahrhunderts breitet sich in den abendländischen Ländern Westeuropas ein ausgesprochener Kulturpessimismus aus und ergreift zunehmend alle sozialen Schichten. Es beginnt in den geistigen Menschen: denken Sie an Hegel, der die Eule der Minerva am Abend ihren Flug beginnen ließ, — es endet heute mit einer Weltangst, die so oder so sich überall findet, eine tiefe Unsicherheit über die Existenz und Zukunft, die die Menschen bewußt oder unbewußt in Bann hält.

Was den Bereich der westlichen Welt angeht, so liegen die Dinge nicht so in den VereinigtenStaaten, wie die Konvention des happy end andeuten mag. Es ist aber vor allem nicht so in der Sowjetunion, trotz Geheimpolizei und trotz der vielfach erzwungenen Konformität. Diese kulturoptimistische Grundhaltung ist in der Sowjetunion nicht nur ein Ergebnis der gelungenen Revolution, nicht nur ein Ergebnis der für die Intelligenz im Aufbau liegenden Chancen und Aufgaben. Sie hat ihre Basis, so müssen wir vermuten, auch in den breiten städtischen Schichten der Bevölkerung, deren Lebensstandard zwar im westlichen Vergleich sehr bescheiden ist, sich aber in den letzten 25 Jahren, während ihrer eigenen Lebenszeit, gehoben hat. Ich werde dafür nur hinweisen auf einen Maßstab, der objektiv ist, nicht Sache des subjektiven Ermessens, auf die Tatsache nämlich, daß die Lebenserwartung der Menschen sich in der Sowjetunion von 42 auf 52 Jahre erhöht hat und daß die Sterblichkeitsziffer Ende der 30er Jahre bei 17 pro Mille lag gegenüber vor dem ersten Weltkrieg 29 pro Mille. —

Nach den Napoleonischen Kriegen finden wir überall in den westlichen Ländern Europas Ahnungen auftauchen, daß die Zukunft in der Welt zwei neuen Staatsgebilden gehören werde, den Vereinigten Staaten und Ruß-land. Ich darf Ihnen vielleicht wenigstens ein Beispiel dafür geben, einige der Schlußsätze aus Tocquevilles großem Werk über die Demokratie in Amerika: „Es gibt heute zwei Nationen auf der Erde, die von verschiedenen Ausgangspunkten her sich auf das gleiche Ziel hinzubewegen scheinen: die Russen und die Anglo-Amerikaner ... Ihr Ausgangspunkt ist verschieden, ihre Wege sind verschieden; nichtsdestoweniger scheint eine jede von ihnen durch einen geheimen Plan der Vorsehung berufen zu sein, eines Tages die Geschicke einer Hälfte der Welt in ihren Händen zu halten."

Heute nun erleben wir, daß derartige Voraussagen sich bewahrheiten, und wie die einzelnen westeuropäischen Nationalstaaten, die einst zusammen die Welt beherrschten, als schwache Gebilde neben den Kolossen in Ost und West stehen. Es ist klar, daß sich an diese völlig neue Lage psychologische Wirkungen anknüpfen müssen, Wirkungen in der kollektiven Psychologie der Betroffenen, auf der einen Seite Furcht, auf der anderen Ueberlegenheitsgefühle. Diese Umstände müssen bei der Überlegung auch berücksichtigt werden, wie denn eigentlich die Entfremdung, über die ich vor Ihnen zu sprechen hatte, zu verstehen sei. Im Verhältnis zum Osten schafft gerade diese neue historische Situation bei uns ein mystisches Grauen, das in der Politik noch niemals ein guter Ratgeber gewesen ist. —

Ein Wort zum Unterschied von Kommunismus und Sozialismus Lassen sie mich abschließend noch ein Wort sagen über die Scheidung zwischen östlichem Kommunismus, insbesondere dem Stalinismus, und westlichem Sozialismus. Natürlich kann ich diese Frage jetzt nicht ausführlich erörtern. Der Ansatzpunkt jedoch, von dem aus man am besten zu einem Verständnis kommen könnte, ist vielleicht der, daß man sich klar macht, welche Rolle der Gewalt, also der physischen Form der Macht, geschichtsphilosophisch zugebilligt wird.

Der westliche Sozialismus, insoweit er sich von Marx herleitet, sieht die Gewalt, wie Marx wohl selbst formuliert hat, als „die Hebamme der neuen Gesellschaft". Die neue Gesellschaft ist also schon vorgebildet durch die Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte, auch der Bewußtseinshaltungen der Menschen, in der vorsozialistischen Gesellschaft. So tritt zuletzt mit einer nur leichten Hilfe von außen die sozialistische Gesellschaft hervor wie die Athene aus dem Haupte des Zeus: eine Geburt ohne physische Anstrengung.

Für Stalin, und auch schon in gewisser Weise für die alten Bolschewisten, schafft die Gewalt die neue Gesellschaft. Es bedarf ihrer langwährenden, tiefgreifenden, ja schöpferischen Anwendung und ihrer Gerichtetheit auf das Ziel über eine lange Zeit. Von der gewaltsamen Verwandlung der bäuerlichen Wirtschaft des Dorfes in die Kolchosen, der zwangsweisen Beschaffung von industriellen Arbeitskräften in jener selben Zeit bis zu der grauenhaften Ausrottung der politischen Gegner in den 30er Jahren, bis zu der auf immer weitere Akkumulation für Investitionszwecke gerichteten Wirtschaftspolitik können wir dies Element der physischen Gewalt am Werke sehen. Es vermag im Bewußtsein der russischen Menschen an die historischen Traditionen anzuknüpfen, an die herkömmliche Form der durch Meuchelmord gemilderten Autokratie.

Aber es hängt darüber hinaus mit zwei weiteren Dingen zusammen: Mit der Tatsache, daß 1917 die Revolution nicht nach Westen fortschritt, wie alle Boschewisten erwartet hatten. Der „Sozialismus in einem Lande“ wurde so unter Stalin wirklich das Ergebnis der Isolierung der russischen bolschewistischen Ordnung in einer kapitalistischen Welt einerseits und der Verschmelzung dieser isolierten Revolution mit der russischen Tradition.

Mit der Tatsache, daß dieses soziale Experiment, als ein Experiment zum Bau einer Gesellschaft, die als sozialistisch verstanden wurde, wenn nur das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft wäre fund in der Sowjetunion ist ja das Eigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und auf dieser Grundlage ruht ihr Gesellschaftsaufbau), daß also dieser Gesellschaftsaufbau in einem Lande, das nicht entwickelt war, in seiner ganzen Struktur im Sinne der westeuropäischen Geschichte doch vor-mittelalterlich, sicher aber nicht neuzeitlich war.

Fussnoten

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Anmerkung: Dr. Gerhard Lütkens, Vortragender Legationsrat a. D., Hannover, geb. 5. 1. 1893 in Pinneberg/Sdileswig-Holstein. Studium der Rechts-und Staatswissenschaften, Nationalökonomie, Soziologie (Heidelberg, München) 1920 bis 1937, Beamter beim Auswärtigen Amt, 1922 bis 1937 Ausland, 1937 bis 1947 England, Vorlesungen internationale Politik (Uni London), Leiter der Forschungsstelle International. Genossenschaftsbund. 1919 SPD. 14. 8. 1949 MdB, Delegierter Europarat, Deutscher Rat . Europäische Bewegung" (Exekutiv-Komitee). 6. 9. 1953 MdB (Nordrhein-Westfalen, Landesliste SPD).