Öffentlicher Vortrag auf dem XXII.deutschen Historikertag in Bremen am 19. September 1953. Wieder-abgedruckt mit Genehmigung des Autors und des Herausgebers aus der „Historischen Zeitschrift" Bd. 176.
Es gehört zu den wesenhaften Aufgaben politischer Historie, aus der Rückschau auf die Vergangenheit den geschichtlichen Standort der Gegenwart zu bestimmten und dadurch die Aufgabe des praktischen Politikers zu erleichtern; denn nur, wer den Boden einigermaßen kennt, auf dem er sich bewegt, vermag sichere Schritte in die Zukunft zu tun.
Wenn das richtig ist, dann bedarf es keiner langen Erläuterung, weshalb gerade heute das Problem des „Militarismus" in Deutschland der öffentlichen Erörterung durch den Historiker bedarf. Kein Problem europäischer Politik hat die Geister in den letzten Wochen und Monaten leidenschaftlicher erregt als die Frage einer Remilitarisierung Deutschlands — desselben Deutschland, dessen sogen. „Militarismus“ nach allgemeinem Urteil eben erst die Welt ins Unglück gestürzt hat, und zwar (nach der Meinung wohl der meisten außerdeutschen Zeitgenossen) nicht zum ersten Mal. Was ist nun das Wesen dieses „Militarismus"? Wie ist er geschichtlich zu erklären? Handelt es sich um eine spezifisch deutsche Erscheinung und gibt es zuverlässige Mittel, ihn zu beschwören — auch dann, wenn auf totale Abrüstung verzichtet wird? Alles das sind sehr aufregende Fragen.
Wesen des Militarismus Wer sie mit Nutzen diskutieren will, muß zuallererst klar sagen, was er unter „Militarismus" eigentlich versteht. Denn es gibt wohl kein zweites politisches Schlagwort, das so vieldeutig, so unklar und darum so mißverständlich wäre wie dieses. Ein wissenschaftlich denkender Mensch scheut sich beinahe, es überhaupt noch zu gebrauchen. Viele reden von „Militaristen", wenn sie Soldaten und insbesondere Generäle meinen — bloß um ihre bürgerliche oder pazifistische Abneigung gegen das Kriegs-handwerk durch eine herabsetzende Bezeichnung auszudrücken. Aber das ist ein Mißbrauch, und die Frage, ob es überhaupt Soldaten geben sollte oder nicht, ist kein historisches Problem. Geschichtlich bedeutsam ist allerdings der Gegensatz selbst geworden, der in solcher Rede-weise sich ausdrückt: der uralte, nie ganz überwindbare Gegensatz zwischen bürgerlicher und militärischer Denkart und Lebensform — ein Kernproblem der modernen Volksheere, wie wir noch sehen werden. Innerhalb des Fragenkomplexes, den wir hier erörtern wollen, stellt er indessen nur eine Teilerscheinung dar. Wir verstehen hier unter „Militarismus“ nicht das Soldatische schlechthin, sondern ein Doppeltes: 1. Die einseitige Bestimmung politischer Entscheidungen durch militärtechnische Erwägungen statt durch eine allseitige Betrachtung dessen, was der Staatsvernunft entspricht — wobei der Begriff der Staatsvernunft (oder Staatsräson) nicht nur das dem Staat und Volk Nützliche umfaßt, sondern auch die sittliche Vernunft, das Sittengebot. 2. Darüber hinaus ganz allgemein das einseitige Überwiegen militanter, kämpferische Züge in der politischen Grundhaltung eines Staatsmannes — oder auch einer Nation, und zwar so, daß darüber die eigentliche und letzte Aufgabe des Staates zu kurz kommt: eine dauerhafte Rechts-und Friedensordnung unter den Menschen zu stiften, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern, den ewigen Kampf einander widerstrebender Interessen und Geltungsansprüche, im Innern der Gesellschaft und zwischen den Völkern, immer neu zu schlichten, ihn womöglich zu überwinden in der gefestigten Ordnung einer höheren Gemeinschaft.
Legt man diesen Begriff von „Militarismus“ zugrunde, so wird deutlich, daß das Problem des Militarismus ganz eng zusammenhängt mit jener rational gar nicht auflösbaren Antinomie des Politischen, die ich in meinem früheren Schrifttum (insbesondere in meiner „Dämonie der Macht") so oft schon erörtert habe: der Antinomie von zwei einander widerstrebenden Aufgaben des Staates: von kämpferischer Machtballung und friedlicher Rechts-und Dauerordnung — beide gleich notwendig und doch begrifflich ebenso wie praktisch einander entgegengesetzt. Das Problem des Militarismus wäre dann nichts anderes als die Frage, wie beides durch praktische Politik im konkreten Einzelfall in das rechte Gleichgewicht gebracht werden kann, d. h. wie der schöpferische Lebens-trieb, der sich kämpfend durchsetzen will, so gezügelt werden kann, daß er nicht blindlings zerstört, sondern zuletzt einer neuen, besseren Lebensordnung dienstbar wird — wie dafür gesorgt werden kann, daß im Kampfe selbst nicht das Chaos, sondern neues, irgendwie gesünderes Recht entsteht.
Damit ist schon gesagt, daß es sich hier ganz und gar nicht um ein spezifisch deutsches, sondern um ein durchaus universales Problem handelt, das allerdings erst in der neueren Staatenwelt mit ihrer gesteigerten Dynamik politischer Kräfte und nationaler Machtkämpfe seine volle Dämonie entwickelt. Gleichzeitig aber ist deutlich, daß die Gefahr jener Einseitigkeit des kämpferischen Elementes, die wir „Militarismus“ nennen, immer da am größten sein wird, wo ein Staatswesen sich aus beengten Verhältnissen, aus relativer Ohnmacht zu großmächtlicher Stellung emporarbeiten will und nun auf den Widerstand und das Mißtrauen altbefestigter Großmächte stößt; oder auch da, wo eine Großmacht um die Hegemonie über andere kämpft. Militarismus hängt immer mit außenpolitischem Tatendrang zusammen; in stabilen Verhältnissen, vor allem in der Welt kleinstaatlicher Neutralität, wird man ihn nicht so leicht antreffen. Kriegswesen in vorfriderizianischer Zeit Emporstrebende Mächte waren im 17. Jahrhundert vor allem Schweden, Rußland und Frankreich, im 18. Preußen. Karl XII. von Schweden, Peter der Große und Ludwig XIV. waren wohl die ersten großen Militaristen der neueren Geschichte. Wie ein System heilsamer Staatsräson, gesunder Wohlfahrtspolitik durch ungezügelten kämpferischen Tatendrang ruiniert werden kann, dafür bietet die Geschichte Ludwigs XIV. ein geradezu klassisches Beispiel. In Deutschland beginnt das Problem des Militarismus nicht vor Friedrich dem Großen. Denn selbst sein Vater, der Potsdamer Soldatenkönig, war als Außenpolitiker eher ein furchtsamer Neutralist als eine Kämpfernatur. „Wehr die Ballance in die weldt halten kahn, ist ümer was dabey zu Profittieren''. . . schreibt er in seinem politischen Testament. „Mein lieber Successor bitte ich umb Gottes willen kein ungerechten Krihg anzufangen und nicht ein agressör sein; denn Gott die ungerechten Krige verbohten und Ihr inmahls müsset rechenschaft gehben von jeden Menschen, der dar in ein ungerechten Krig geblieben ist.“ Das war dieselbe Tonart, die man an den klein-staatlichen deutschen Fürstenhöfen von der Reformationszeit bis fast ans Ende des 17. Jahrhunderts überall wieder findet: die Politik des „fein Stillesitzens“ in den großen Welthändeln, friedfertiger Ehrbarkeit und gewissenhafter Rechts-und Wohlfahrtspflege im Innern. Ohne Zweifel war Deutschland zu Beginn der Neuzeit jahrhundertelang infolge seiner inneren Schwäche das friedfertigste Land Europas — im ganzen genommen; denn auch das habsburgische Kaiserhaus blieb seit dem Ende Karls V. bis zur Eroberung Ungarns durch Prinz Eugen und bis zum Spanischen Erbfolgekrieg wesentlich auf die Defensive beschränkt; im Dreißigjährigen Krieg bildete Deutschland als Ganzes weit mehr Schauplatz und Objekt als Subjekt der großen Politik. '
War Friedrich der Große ein Militarist?
Aber diese Tradition wurde jäh durchbrochen, als König Friedrich II. von Preußen 1740 ohne jeden Rechtsgrund, mitten im Frieden Schlesien überfiel und diese rasch eroberte Provinz für seinen Staat gegen die verbündeten Großmächte des ganzen europäischen Kontinents behauptete — durch kriegerische Anstrengungen von einer bis dahin unerhörten Energie und Zähigkeit. Wesentlich durch diese Tat ist er in den Augen der Nachwelt zum Urbild des modernen „Militaristen" geworden, und der Ruf des gefährlichen, den Frieden der Welt bedrohenden „Agressörs" hat sich mit dem von ihm begründeten preußischen „Militärstaat" so eng verbunden, daß die Sieger des Zweiten Weltkrieges den europäischen Frieden durch ein förmliches Todesurteil zu befestigen meinten: durch das (geschichtlich einmalige) Auflösungsdekret des alliierten Kontrollrates vom 25. 2. 1947; Preußens ostelbische Kernprovinzen waren schon vorher dem bolschewistischen Rußland zur Okkupation überlassen.
Wir fragen hier nicht, ob dieses Todesurteil gerecht und ob es politisch zweckmäßig war; denn es erfolgte als Reaktion auf die Politik eines „Agressörs“, deren gemeingefährlichen, ja verbrecherischen Charakter wir in keiner Weise zu bestreiten oder auch nur durch historisch-politische Erörterungen zu verdunkeln wünschen. Wohl aber müssen wir fragen, ob dieser „Militarist" unserer Tage wirklich das Recht hatte, sich als politischen Nachfahren Friedrichs des Großen, als Träger altpreußischer, friderizianischer Überlieferungen hinzustellen. Mit anderen Worten: war schon König Friedrich ein ebensolcher „Militarist“ und haben wir Anlaß, die von ihm geschaffene Tradition altpreußischer Politik als schlechthin gemeingefährlich für den Frieden Europas zu betrachten?
In der Erörterung dieser Frage hat der Schweizer Historiker Leonhard von Muralt kürzlich darauf hingewiesen, daß das Erobern einzelner Provinzen auf Grund bloß fingierter Rechtsansprüche durchaus nicht aus dem Stil der Großmachtpolitik im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus herausfiel und daß Brandenburg-Preußen als die jüngste der neu aufstrebenden Großmächte gewissermaßen genötigt war, sich in den Augen der anderen mit ihrem älteren Rechtsbesitz in formelles Unrecht zu setzen — ohne daß freilich Unrecht schon dadurch zu Recht würde. Man kann dem zustimmen. Aber in unserem Zusammenhang kommt es noch auf etwas Anderes an. Wer die Politik Friedrichs II. „militaristisch" nennt, muß sich darüber klar sein, daß diese Art von Militarismus völlig verschieden ist von allem, was wir unter diesem Namen in unserem Jahrhundert kennen gelernt haben. Die Machtpolitik Friedrichs war reine Kabinettspolitik, seine Kriege waren reine Kabinettskriege. Das bedeutet: sie wurden zwar nicht ohne persönlichen Ehrgeiz unternommen (dieser spielte nach Friedrichs offenem Geständnis bei der schlesischen Offensive von 1740 sogar die ausschlaggebende Rolle), aber sie wurden ohne Leidenschaft, ohne Haß, ohne moralische Empörung durchgeführt als bloße Zweckhandlungen nüchternster Staatsraison, unter kühler Berechnung aller Chancen von Gewinn und Verlust, mit sehr beschränkten Mitteln, und darum auch mit beschränktem Ziel. Der „Militarismus“ des aufgeklärten Monarchen weiß noch gar nichts von jener schonungslosen Opferung alles Lebens für kriegerische Zwecke, die man heute „totalen Krieg“ zu nennen sich gewöhnt hat; ihm schwebt vielmehr als Ideal vor, daß der friedliche Bürger gar nichts davon merken sollte, wenn der König seine Bataillen schlägt. Er verfolgt als Kriegsziel nicht etwa die totale Vernichtung der feindlichen Wehrmacht; die wäre praktisch gar nicht erreichbar, aber in vielen Fällen politisch nicht einmal erwünscht. Er begnügt sich damit, durch kräftige Schläge, oder lieber noch durch kluge strategische Operationen den Gegner so weit matt zu setzen, daß er sich für diplomatische Ausgleichsverhandlungen, bereit findet, die schon sehr bald nach Kriegsausbruch beginnen. Der Krieg bleibt immer ein bloßes Werkzeug in der Hand der Politik, und dieses Werkzeug wurde von König Friedrich nach den bitteren Erfahrungen der schlesischen Kriege nur noch mit solcher Vorsicht gehandhabt, daß die militärische Laufbahn des großen Kriegshelden mit dem „Kartoffelkrieg“ von 1778, einem Feldzug der reinen Manövertechnik, fast ohne blutige Zusammenstöße, endete. Überdies hat es wohl nie einen Kriegshelden gegeben, der sein Schicksal, Kriege führen und Schlachten schlagen zu müssen, so bitter beklagt hat wie dieser König, der aufgeklärte „Philosoph von Sanssouci“. Man mag die Echtheit des Pathos, mit dem er immer wieder versichert, das blutige Kriegshandwerk aus tiefster Seele zu hassen, mit Grund bezweifeln. Aber daran kann niemand zweifeln, daß ihm der Militarismus keine Selbstverständlichkeit, sondern ein sehr ernstes Problem gewesen ist: daß er die Antinomie des Politischen, den ewigen Zwiespalt zwischen den Aufgaben kriegerischer Machtbehauptung und friedlicher Wohlfahrtspolitik, aufs schmerzlichste in sich selbst erlebt, ja daß er ihm die Seele zerrissen hat; diese Antinomie bildet geradezu das zentrale Problem seines Lebens. Welche praktischen Folgen das hatte für die Gestaltung seines Lebenswerkes, insbesondere für den Dualismus seiner Staatsverwaltung, die ebenso den Idealen eines Rechts-und aufgeklärten Kultur-staates dienen sollte wie der Sammlung aller Kräfte für den kriegerischen Einsatz, wo es nottat, das kann ich hier nicht näher verfolgen. (Es bildet das Hauptthema meiner knappen Friedrich-Biographie von 1956, deren 3. Auflage soeben erschienen ist.)
Seine geschichtliche Wirkung war ebenso zwiespältig. Zunächst hat ohne Zweifel seine Regierungsweise als aufgeklärter Monarch, seine Freiheit von dynastischen Vorurteilen, seine Reform des Justizwesens, seine Toleranz in Fragen der Religion und seine merkantilistische Wirtschaftspflege stärker nachgewirkt als die von ihm geschaffene Tradition preußischer Machtpolitik. Sein „aufgeklärter Absolutismus“ wurde zum Vorbild der meisten deutschen Fürstenhöfe, selbst in Wien, und hat sich für mehrere Generationen als Normalform deutscher monarchischer Staatsverwaltung durchgesetzt. Machtpolitisch sank dagegen die preußische Monarchie sehr rasch von der Höhe ihrer Anstrengungen herab; das Militärwesen verfiel oder erstarrte doch in veralteten Formen, und humanitäre Tendenzen weichten die Härte der friderizianischen Staatsverwaltung schon in den neunziger Jahren auf. Die preußische Diplomatie fiel seit 1795 zurück in das politische System der älteren Zeit: in die furchtsame Neutralitätspolitik deutscher Klein-und Mittelstaaten. Erst nach der Katastrophe von Jena, in vollem Sinn erst seit 1813 wurde wieder etwas spürbar von dem kämpferischen Ehrgeiz, den König Friedrich seinem Staate eingepflanzt hatte.
Daß es dazu kam, daß die überschwänglichen Hoffnungen der Aufklärungsepoche auf ein kommendes Jahrhundert dauernden Friedens, vernünftigen Interessenausgleichs und friedlicher Völkerordnung grausam enttäuscht wurden, daß ein neuer Militarismus in Europa und so auch in Deutschland erwachte, viel schlimmer als der alte, daran ist ausschließ-lieh das Ereignis der großen französischen Revolution mit allen seinen kriegerischen Auswirkungen schuld. Das entscheidend Neue war die Übertragung politischen Geltungsdranges, großmächtlichen Ehrgeizes, kriegerischen Geistes von den Kabinetten auf die politisierte Nation als Ganzes, auf die neue politische „Volksgemeinschaft“. Das von vielen Kriegen erschöpfte, von Aufklärungsideen erfüllte Frankreich des ancien regime hatte dem Militarismus abgeschworen; das revolutionäre Frankreich wiederholte diese Abschwörung noch am 3. Sept. 1791 in feierlichster Form. Aber sobald es von außen bedroht wurde, dekretierte es die allgemeine Volksbewaffnung, ergab sich bald in die Hände eines siegreichen Generals und führte eine neue, dreiundzwanzigjährige Kriegs-epoche über Europa herauf. Die französische Nation hat sich, wie man weiß, die allgemeine Dienstpflicht von ihren revolutionären Regierungen nur höchst widerwillig aufnötigen lassen und hat sie, auch unter Napoleon, nur recht unvollkommen befolgt. Gleichwohl hat dieses Prinzip, einmal in die Welt gebracht, sich als folgenreicher erwiesen als die meisten anderen Neuerungen der französischen Revolution. Zunächst hat es eine ganz neuartige, ungeheuer gesteigerte Dynamik der Kriegführung ermöglicht: einen fast hemmungslosen Einsatz von Menschenleben für die Erreichung militärischer Zwecke, wie ihn sich die künsten Feldherrn-phantasien früherer Zeiten nicht hätten träumen lassen. So wurde eine Gestalt möglich wie die des Erzmilitaristen Napoleon, der in seinem berühmten Dresdner Gespräch mit Metternich 1813 kurzweg erklären konnte, er schere sich einen Dreck um eine Million Menschenleben. Am fernen Horizont taucht in solchen Worten bereits das Schreckbild des modernen „totalen“ Krieges auf; denn in der Tat ging es jetzt durchaus nicht mehr bloß um Mattsetzen, sondern um totale Vernichtung des militärischen Gegners, ohne Rücksicht auf Menschenleben und wirtschaftliehe Verluste.
Nicht minder wichtig für unser Thema war ein zweites: die Verwischung bzw. Überbrückung des natürlichen Gegensatzes zwischen bürgerlichem und militärischem Denken durch die (wenigstens zeitweise) Einfügung der gesamten Staatsbürgerschaft in die Armee mit ihrer unerbittlich strengen Disziplin, ihrer absoluten Gehorsamspflicht der unteren Dienststellen gegenüber den oberen, ihrer Wertschätzung allein der kämpferischen Tugenden und Fähigkeiten. Das europäische Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts hat die Aufnötigung dieser neuen Pflicht sehr viel härter empfunden und sich dagegen innerlich und äußerlich viel schärfer zur Wehr gesetzt als wir uns heute vorzustellen pflegen. In Frankreich unter Napoleon durch massenhafte Desertionen, die schließlich zu polizeilichen Menschenjagden größten Ausmaßes führten, nach 1815 erst recht zu einer allgemeinen „Ohne mich!" -Parole. In Deutschland durch mancherlei literarische Proteste und viele Befreiungsgesuche vor allem der gebildeten Schicht,. die sich allerdings erst nach Abschluß des großen Befreiungskampfes offen zu Worte meldete. Aber die traditionelle Vorstellung einer allgemeinen „Volkserhebung“ gegen Napoleon in Preußen 1813 bedarf doch starker Korrekturen. Im wesentlichen sind die Befreiungskriege doch mit der alten, königlich preußischen, noch auf der Konskriptionspflicht beruhenden Armee durchgefochten worden. Das gebildete Bürgertum wagte man nur in der Form von Freiwilligen-Verbänden aufzubieten, deren praktische Leistung lange ebenso stark überschätzt worden ist wie die der provinzial-ständischen Landwehren. Von dieser nüchternen Wirklichkeit her gesehen erscheinen die Vorschläge Gneisenaus, Scharnhorsts und Steins 1808 und 1811, das preußische Landvolk zu einem wilden Partisanenkampf im Stile der spanischen Junten zu mobilisieren, erst vollends als Phantasterei. Von Natur aus ist das deutsche Volk sicherlich ebenso friedlich, wenn nicht noch friedlicher und ordnungsliebender als andere. Der Militarismus ist jedenfalls keine nationale Erbeigenschaft.
Idealistische Verklärung des Krieges im 19. Jahrhundert Wohl aber strömten — und damit kommen wir auf eine dritte Folgewirkung der allgemeinen Dienstpflicht — dem Militärwesen ganz andere geistige Kräfte zu, als ihm früher zur Verfügung gestanden hatten. Seit der Krieg aus einer Kabinetts-zur Volkssache geworden war, empfing er eine ganz neue, früher unbekannte Weihe. Er erschien nicht mehr nur als Landesunglück, sondern als die große Stunde der Bewährung, der Selbstbestätigung der Nation. Der deutsche Idealismus und Historismus, ganz erfüllt von dem großen Erlebnis der Befreiungskriege, hat den Krieg in immer neuen Wendungen als Wettkampf nicht nur physischer, sondern vor allem auch sittlich-geistiger Energien gepriesen. Hatten die christlichen Bußprediger früherer Jahrhunderte sich nicht genug darin tun können, seine sittlich verwüstende Wirkung ihren Hörern warnend vor Augen zu stellen, so schrieb man ihm jetzt geradezu sittliches Leben weckende Kräfte zu. „Der Friede ist die Schneedecke des Winters“, schrieb der junge Clausewitz, „unter welcher die Kräfte der Erhebung schlummern und sich langsam entwickeln; der Krieg ist die Glut des Sommers, die sich schnell entfaltet und zur Reife treibt“. Von seiner berühmten „Bekenntnisschrift“ von 1812 und den patriotischen Reden Fichtes reicht eine lange Kette verwandter Lobpreisungen des Krieges bis zu dem bekannten Worte Moltkes: daß „erst im Kriege sich die edelsten Tugenden der Menschen entfalten, die sonst schlummern und erlöschen würden: Mut und Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens“. Wenn aber der Krieg so veredelnd wirkt, dann erscheint das Heer der allgemeinen Dienstpflicht als die beste Schule der Volkserziehung.
Es wäre falsch, diese idealistische Verklärung des Krieges für eine spezifisch deutsche Form des „Militarismus“ zu halten. Es scheint vielmehr, als ob die Seltenheit und relativ kurze Dauer der Kriege des 19. Jahrhunderts in allen Kulturvölkern Europas ähnliche Illusionen über das wahre Wesen des Krieges geweckt hätten. Seinen deutschen Lob-rednern ließen sich mühelos eine ähnliche Reihe französischer Stimmen von Victor Cousin, Josef de Maistre und Henri de Bonald über Proudhon bis zu Ernest Renan gegenüberstellen; selbst in England gab es ähnliche Äußerungen von Carlyle und Froude bis zu Kingsley und Ruskin — ganz zu schweigen von der Auswirkung darwinistischen Denkens im Bereich der Politik, dem der Lebenskampf nicht nur als biologische Notwendigkeit, sondern mit seiner Auswahl der jeweils Tüchtigsten zugleich als Mittel des Fortschritts menschlicher Kultur erschien. Immerhin wird man wohl sagen dürfen, daß die allgemeine Bildungswelt sich nirgends so tief wie in Deutschland mit einem kämpferischen Verständnis des Politischen erfüllt hat — ein Entwicklungsprozeß, den ich hier nur andeuten kann, der aber in meinem Werk über „Staatskunst und Kriegshandwerk" ausführlich behandelt wird, dessen erster Band demnächst erscheint. Diese deutsche Neigung zum militanten Denken erklärt sich nicht nur aus geistigen Zusammenhängen (wie vor allem aus der bewußten Gegensätzlichkeit des deutschen Historismus und seiner Staatsauffassung zur westeuropäischen Demokratie), sondern zuletzt auch aus realpolitischen Gegebenheiten; aus der Tatsache vor allem, daß die deutsche Nation vor 1870 noch keineswegs politisch saturiert war, sondern sich in ihrem Einigungsstreben von vielen Seiten gehemmt fühlte, nach 1871 aber die Sicherheit ihres neugeschaffenen — und in zwei Kriegen geschaffenen! — Nationalstaates nur durch eine starke Rüstung vor feindlichen Koalitionen gesichert wußte. Schließlich hing aber auch die beständig wachsende Wehrfreudigkeit des deutschen Volkes mit der Tatsache zusammen, daß nur auf deutschem Boden, und bis 1867 nur in Preußen, die allgemeine Wehrpflicht wirklich konsequent durchgeführt war und daß zunächst nur auf dieser konsequenten Durchführung die politische Machtstellung des preußisch-deutschen Staates beruhte. Sie gab tatsächlich dem preußischen Staat eine größere militärische Überlegenheit über alle Nachbarn, als die Welt vor 1866— 1870 wußte, ja als die meisten Deutschen selber sich bewußt waren.
Dämonie des Volkskrieges Es war ein voreiliger Trugschluß, wenn die wehrfreudige Grundhaltung der Deutschen des 19. Jahrhunderts — gerade auch des deutschen nationalen Liberalismus! — als eine Neigung zu kriegerischer Aktivität gedeutet wurde. Aber freilich sind wir uns rückblickend heute bewußt, daß schon die idealistische Verklärung des Krieges eine Gefahr bedeutete: sie verhüllte die grausige Wirklichkeit durch Illusionen, und Illusionen sind schließlich immer gefährlich. Verstärkt wurde diese Gefahr durch eine weitere Konsequenz des modernen Volkskriegs, deren unheimliche Wirkung wir ebenfalls erst heute ganz durchschauen. Wer eine moderne Nation für den Krieg begeistern, sie aus ihrer bürgerlich-friedfertigen Haltung herausreißen will, der bedarf dazu einer rücksichtslosen Auspeitschung politischer Leidenschaften: nicht nur ganz allgemein des politischen Geltungsdranges der Nation, sondern zugleich eines urtümlichen Hasses gegen die Fremden. Welche Dämonien dabei in Bewegung geraten, das haben wir in der Kriegspropaganda zweier Weltkriege schauerlich erlebt. Wer aber Wind sät, wird Sturm ernten. Wo die Leidenschaft rast, ist von nüchterner Staatsraison bald keine Rede mehr. Die Problematik des Militarismus gewinnt hier ein ganz neues Gesicht. Wenn ihre Lösung (wie wir es zu Anfang definierten), darin besteht, daß schon im Kämpfen selbst an eine künftige friedliche Dauerordnung vorausgedacht und der Kampf-und Zerstörungswille entsprechend gezügelt wird, so ist klar, daß in der Glut eines modernen Volkskrieges alle ruhige Besinnung, aller gute Wille zur Mäßigung der Kampfziele hoffnungslos zerschmilzt. Die Herstellung einer gesunden, vernünftigen, für beide Seiten gerechten Friedensordnung nach dem Kampf wird nahezu unmöglich; in Reaktion und Gegenreaktion droht sich der Völkerhaß zu verewigen. Mehr noch: es entsteht die sehr ernste Gefahr, daß sich der Krieg von der politischen Leitung überhaupt emanzipiert: daß er „totaler“ Krieg, d. h. sozusagen Selbstzweck wird. Erst wo das geschieht, ist das äußerste Extrem von „Militarismus" erreicht.
Im Zeitalter der Kabinettspolitik hatte nie ein Zweifel an dem rein agonalen Charakter des Krieges bestanden: er war ein einfaches Messen der Kräfte gewesen, ohne alle Beimischung moralischer Wallungen, d. h. ohne Haß und gegenseitige Entrüstung (die allenfalls in offiziellen Kricgsproklamationcn fingiert wurde). Dem gegenüber neigt der moderne Volkskrieg dazu, den Charakter eines Kreuzzuges anzunehmen: man spricht gar nicht mehr von konkreten Machtzielen, die man zu erreichen wünscht, sondern man ficht (wirklich oder angeblich) zur Austilgung irgendwelchen Unrechtes, zur Sühne der Gerechtigkeit, wohl gar zur Bestrafung von irgendwelchen Verbrechen an der Menschheit. Solche Kreuzzugsstimmungen traten in Deutschland zuerst in den Befreiungskriegen gegen Napoleon hervor. Patrioten wie Gneisenau, Stein, Arndt erklärten ihren großen Gegner für ein Ungeheuer, für einen „Feind der Menschheit", der im Namen Gottes ausgetilgt werden müsse; Gneisenau und Blücher verlangten seine Auslieferung und Hinrichtung, als sie 1815 zum zweiten Male in Paris einzogen. Gneisenau betrachtete sich damals selbst als „Werkzeug der Vorsehung", berufen zur Ausübung „ewiger Gerechtigkeit“. Stolz, finster und schön wie ein Racheengel — so wird sein Auftreten in Paris geschildert. Ebenso wie der Freiherr vom Stein war er davon überzeugt, daß die Franzosen, diese „widerwärtige Nation“, wie sie im Kreise Steins genannt wurde, für ihren doppelten Verrat am europäischen Frieden gründlich gezüchtigt werden müsse. „Es ist ein Kreuzzug ist ein heiliger Krieg“, hatte man schon zu Kriegsbeginn gesungen; E. M. Arndt hatte den „Gott, der Eisen wachsen ließ", als einen alttestamentlichen Gott der Rache heraufbeschworen, und unter der Devise „Mit Gott für König und Vaterland" waren die preußischen Landwehrmänner zu Felde gezogen.
Wie man weiß, sind indessen alle diese patriotischen Leidenschaften für den Ausgang des Krieges, für die Pariser Friedensschlüsse von 1814 und 1815 und für die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongreß, vollständig bedeutungslos geblieben. Über alle Leidenschaften der Patrioten setzte sich die nüchterne Staatsraison und Gleichgewichtspolitik der restaurierten Kabinette kühl hinweg, ausschließlich von Prinzipien des rationalen Kräfteausgleichs, des europäischen Gleichgewichtes und der fürstlichen Legitimität bestimmt. Während des Krieges hatte diese nüchterne Staatsraison die Energie der kriegerischen Handlungen mehrfach schwer gelähmt — weil ihr das Verständnis für das Wesen eines so radikalen Militaristen wie Bonaparte vollständig fehlte; es war dasselbe Unverständnis gewesen, wie es die europäischen Kabinette 1933— 38 gegenüber Hitler bewiesen haben. Bei der Begründung einer Neuordnung Europas indessen hat sich diese Staatsvernunft weit besser bewährt. Trotz aller seiner Mängel ist das Werk des Wiener Kongresses die stabilste Friedensordnung gewesen, die unser Kontinent jemals erfahren hat. Übrigens gab es auch in der preußischen Armee von 1813— 15 ein nüchternes Soldatentum, das von irgendwelchen „Aufträgen der Vorsehung“, Strafgerichten und moralischer Entrüstung durchaus nichts wissen wollte. Ein so bedeutender Generalstabsoffizier wie General von Müffling, Gneisenau's Oberquartiermeister, später Chef des preußischen Generalstabes, hat das moralische Pathos seines Feldherrn völlig abgelehnt und sich als Gouverneur von Paris der strengsten Sachlichkeit und Ritterlichkeit befleißigt. Ähnlich dachte Clausewitz, dessen leidenschaftlichen Patriotismus wir doch kennen. Er fand „die Stellung mit dem Fuß auf dem Nacken eines Anderen" höchst widerwärtig, vermißte in Gneisenaus und Blüchers Benehmen 1815 jene Noblesse, „die Siegern gerade am schönsten steht“, wie er schrieb, und fand, die stolze Siegergeste preußischer Generäle mache einen „etwas gauchen, ja lächerlichen" Eindruck. Aus seinen Worten spricht jene echte Ritterlichkeit, die zu den besten Standestraditionen des preußischen Offizieradels gehörte. Es gab aber auch den schlichten Typ des grundsätzlich unpolitischen Berufssoldaten, der die politische und sittliche Verantwortung für den Krieg seinem König überläßt, gewissermaßen die Augen schließt und nichts als seine soldatische Pflicht tut, wie es ihm geheißen ist. Das Offizierkorps der preußischen Linientruppen war damals noch ganz von solchem Berufssoldatentum beherrscht, und man kennt die mancherlei Reibungen, die sich aus seinem Widerspruch gegen die „Patrioten“ des Hauptquartiers (z. B. im Verhältnis Yorcks zu Gneisenau) ergaben. Beides nun, ritterlich-adelige Standestradition und nüchterne Dienstauffassung des Berufskriegers, wirkte der Dämonie des Volks-krieges entgegen.
Das Heer der Restaurationsepoche: Die königliche Garde Für die weitere Entwicklung war entscheidend, daß König Friedrich Wilhelm III.selbst dem Typ des nüchternen Berufssoldaten angehörte, ebenso wie sein Sohn, der spätere König Wilhelm I. Die leidenschaftlich patriotischen Ergüsse der Reformer um Stein und Scharnhorst hatte er immer nur seufzend ertragen, ihre Vorschläge teils als bloße „Poesie" halb spöttisch, halb ärgerlich abgewiesen, teils nur mit halbem Herzen angenommen. Ganz unerträglich fand er die Einmischung hoher Militärs in politische Fragen. Als Blücher 1815 in offenem Protest gegen die Diplomatie Hardenbergs seinen Abschied forderte und es wagte, im Namen der Armee einen anderen politischen Kurs zu fordern, empfand er das als revolutionären Akt — nach Begriffen des friderizianischem Staatswesens durchaus mit Recht. Tatsächlich gehörte es zum System der Restauration nach 1815, der Armee den als „jakobinisch“ verschrienen Geist des Blücher’schen Hauptquartieres wieder auszutreiben, das Volksheer zu einer streng disziplinierten Leibgarde der Monarchie zu machen. Die Erfahrungen der Julirevolution von 1830 und vollends dann die der Märzrevolution von 1848 haben diese restaurative Tendenz noch wesentlich verstärkt.
Eine einfache Wiederherstellung der alten friderizianischen Söldner-armee, wie sie manche Reaktionäre am Berliner Hof gewünscht hätten, war freilich doch nicht mehr möglich; der Verzicht auf die allgemeine Dienstpflicht mit ihren schier unerschöpflichen Reserven wohlausgebildeter Wehrmänner hätte den Verlust des stärksten Machtmittels der Monarchie bedeutet. Aber es gab Möglichkeiten genug, das Heer der allgemeinen Wehrpflicht so zu gestalten, daß es einer Berufsarmee von königlichen Leibgarden möglichst ähnlich sah. Wie das im einzelnen versucht wurde, haben wir hier nicht zu verfolgen, auch nicht die fortdauernde Gegenströmung, die aus der liberalen Bewegung kam und sich immerfort auf den „Geist der Freiheitskriege" berief — eine geschichtliche Erinnerung, die doch zur Hälfte Legende war. Es war die Schwäche des Liberalismus, daß er kein praktisch durchführbares Militärprogramm besaß; denn der Geist bürgerlicher Freiheit und individueller Persönlichkeitsbildung, aus dem er lebte, verträgt sich nun einmal schlecht mit dem Prinzip eiserner Disziplin, bedingungs-und debattelosen Gehorsams, ohne die keine moderne Armee bestehen kann. Es war eine Illusion zu glauben, es könne ein leistungsfähiges „Volksheer“ geben, in dem die Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft sich fortsetzten und etwa die Offiziere durch Wahl aus der Mannschaft hervorgingen. In einer Armee, die etwas leisten soll, wird nun einmal nicht debattiert, sondern befohlen und gehorcht. Alle Experimente einer liberalen Heeresverfassung, die während der Revolution von 1848 angestellt wurden, sind jämmerlich gescheitert. Auf der anderen Seite kann man es wohl auch eine Illusion nennen, wenn die preußischen Monarchen glaubten, man könne die zum Heer einberufene Mannschaft der allgemeinen Wehrpflicht durch solda-tische Erziehung im Laufe von 2 oder 3 Jahren ihrer bürgerlichen Existenz völlig entfremden, sie zum politisch blinden Werkzeug des königlichen Willens machen. Eine solche Rechnung ging nur so lange glatt auf, als die Masse der Eingezogenen noch aus Bauernjungen bestand, deren häusliche Umgebung von der liberalen Zeitströmung kaum erfaßt, zumeist überhaupt noch nicht politisiert war. Immerhin: der altererbte Royalismus des Landvolkes, sein natürlicher Respekt vor jeder öffentlichen Autorität und vor allem die eiserne Kriegszucht des Heeres garantierten einen guten Erfolg der monarchisch-restaurativen Tendenz — einen weit besseren jedenfalls, als er den Bemühungen der Gegenseite um Liberalisierung des Heeres beschieden war. Die Boyen’sche Wehrverfassung von 1815 war ein ähnliches Kompromiß von autoritären und freiheitlich-populären Tendenzen gewesen wie die monarchisch-konstitutionelle Staatsverfassung des 19. Jahrhunderts: sie hatte neben die Linientruppe mit ihrem Offizierkorps von Berufssoldaten die Landwehrmiliz mit halbbürgerlichen Landwehroffizieren gesetzt. Aber auf die Dauer hat sich doch auch hier das monarchisch-autoritäre Prinzip als das weit stärkere erwiesen. Im großen Heeres-und Verfassungskonflikt der sechziger Jahre haben die Altliberalen die Landwehr von 1815 kaum noch ernsthaft zu verteidigen gewagt; und nicht einmal in der — an sich so unbedeutenden — Frage der zwei-oder dreijährigen Dienstzeit, um die der Verfassungskonflikt ausbrach. haben sie ihren Willen durchgesetzt.
Der preußische Heereskonflikt von 1860/66 und das Militärkabinett Damit aber erhält das Problem des Militarismus, das uns hier beschäftigt, abermals ein neues Gesicht. Hinter dem großen Heeres-und Verfassungskonflikt von 1 860— 66 standen zuletzt zwei Männer, die man als Erzmilitaristen bezeichnen kann: der Chef des Militärkabinetts Edwin von Manteuffel und der Generaladjutant Gustav von Alvensleben, König Wilhelm’s vertrauteste Berater. Sie haben (wie ich glaube aus den — jetzt unzugänglich gewordenen oder verschwundenen — Dokumenten der Berliner Archive nachweisen zu können) nicht nur den König in seinem eigensinnigen Festhalten an der zweijährigen Dienstzeit bestärkt, sondern die Dinge ganz bewußt dahin zugespitzt, daß eine politische Krise entstehen sollte, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gäbe als einen Staatsstreich zur Abschaffung bzw. Revision der preußischen Staatsverfassung. Sie trieben eine ultra-royalistische Politik, und zwar unter Berufung auf den „Willen der Armee". Ihr Ideal war nicht nur eine Armee des „reinen Kommißgehorsams“ (um die Sache mit dem zugleich populärsten und treffendsten Ausdruck zu bezeichnen), d. h. eine Armee als königliches Hofgefolge und als Staat im Staate, losgelöst aus aller Verbindung mit dem politischen Leben der Nation, sondern der königliche Absolutismus schlechthin. Wäre es nach ihrem Willen gegangen, d. h. wäre nicht schließlich Bismarck dazwischen getreten, so hätte der Konflikt am Ende eine blutige Wendung genommen und entweder zur Zerstörung der konstitutionellen Staatsform oder zu einer schweren Niederlage der Krone geführt..
Was ist das Neue und Besondere an dieser Form des „militaristischen Denkens"? Es ist die Übersteigerung eines militärischen Bedürfnisses, des Bedürfnisses nach klaren eindeutigen Befehlsverhältnissen, zu einem politischen Prinzip. In unserem Zusammenhang ist es nicht so wichtig, daß Edwin von Manteuffel von dem romantischen Royalismus und Konservatismus der fünfziger Jahre herkam, daß er ein alter Höfling war, aus der Camarilla Friedrich Wilhelms IV., und daß er einen so großen Historiker wie Ranke zu seinen Freunden zählte. In den Konfliktsjahren erscheint Manteuffel — und von Alvensleben gilt das noch viel mehr — in erster Linie als der sture Nursoldat, dem von seinem soldatischen Denken her jeder Zugang zur Welt der bürgerlichen Freiheit fehlt. Dies nursoldatische Denken wird uns, in wechselnder Form, von jetzt an mehr und mehr als die wichtigste Erscheinungsform des modernen Militarismus beschäftigen.
Primat der politischen Leitung xnter Bismarck Zum Glück für die preußische und deutsche Geschichte war der „starke Mann", den die neue Camarilla zu Hilfe rief, Otto von Bismarck, wohl eine Kämpfernatur größten Stils, aber ganz und gar kein Militarist. Er war auch kein Absolutist — schon deshalb nicht, weil er die Mithilfe der liberal-nationalen Bewegung für die Gründung des neuen Reiches gar nicht entbehren konnte. Er wollte nicht einfach mit dem Strom der öffentlichen Meinung segeln, aber auch nicht auf die Dauer gegen ihn, sondern hoffte die ganze Nation eines Tages für sein Werk zu gewinnen. Was ihn dazu veranlaßte, sich zur Durchfechtung des Verfassungskonfliktes zur Verfügung zu stellen, war keineswegs die militärtechnische Streitfrage über die Länge der Dienstzeit — die interessierte ihn nicht im geringsten —, sondern in erster Linie die Möglichkeit, auf diesem Weg an die Macht zu gelangen und sich in ihr zu behaupten. Darüber hinaus sein Wunsch, das Übergewicht der königlichen Regierung im monarchisch-konstitutionellen System zu befestigen. Dieses Übergewicht sollte aber auch den Soldaten gegenüber gelten, denen nunmehr jede, auch die geringste Einmischung in politische Fragen verwehrt wurde. Daß der Krieg nichts weiter ist als ein Werkzeug der Politik, hat Bismarck mit geradezu klassischer Klarheit immer wieder ausgesprochen. Dem Politiker allein steht „die Feststellung und Begrenzung der Ziele zu, welche durch den Krieg erreicht werden sollen"; daraus folgt, daß er in letzter Linie auch über die Durchführung und die dafür aufzubietenden Mittel zu entscheiden hat. Diese Entscheidung hat Bismarck niemals den Technikern des Krieges allein überlassen; er hat sie aber ebenso wenig von Strömungen der öffentlichen Meinung, von den Leidenschaften und Vorurteilen der Masse abhängig gemacht. Maßgebend war für ihn immer nur die Staatsraison — mit strenger Ausschließlichkeit.
Mit anderen Worten: Bismarck war der letzte große Kabinettspolitiker Europas, der letzte Nachfahre Richelieus und Friedrichs des Großen — nur mit dem Unterschied, daß seine Staatsraison nicht mehr ausschließlich den Ruhm und die Größe einer Dynastie, aber auch nicht allein die Stärke des preußischen Staates im Auge hatte, sondern zugleich der deutschen Gesamtnation diente und sie für sein Werk zu Hilfe rufen mußte. Diese höchst eigentümliche Stellung an der Grenzscheide zweier Epochen ist nun auch in seiner Kriegspolitik wiederzufinden. Man kann sagen, daß deren triumphaler Erfolg durch eine ganz einmalige Kombination glücklicher Umstände bedingt war. Die preußische Armee von 1866 besaß die Schlagkraft und die massenhaften ausgebildeten Reserven eines modernen Volksheeres. Das gab ihr gegenüber Österreich und Frankreich mit ihren veralteten Aushebungssystemen eine so gewaltige Überlegenheit, daß die Feldzüge von 1 866 und auch von 1870 in der Hauptsache durch eine große Vernichtungsschlacht entschieden werden konnten. Auf der anderen Seite war dank der Roon’schen Heeresreform das Offizierkorps so fest in der Hand des Monarchen, das innere Gefüge des ganzen Heeresapparates so straff, daß es nicht die geringsten Schwierigkeiten machte, mit dieser Truppe auch einen so unpopulären Kabinettskrieg wie den von 1866 zu führen — gegen die öffentliche Meinung des ganzen Nation, ja zuletzt gegen die Wünsche selbst Moltkes, des preußischen Generalstabschefs. Am Ende dieses Kabinettskrieges war es Bismarck möglich, mit dem besiegten Gegner einen betont versöhnlichen Frieden zu schließen und patriotische Leidenschaften, Stimmen der Annektionisten und des Rachegeistes gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Widerstand, den er bei seinem König fand, war gewiß zeitweise ernsthaft, aber doch ohne allzuviel Schwierigkeit zu überwinden. Und die Militärs haben, wie man heute weiß, sich damals in politische Fragen überhaupt nicht eingemischt. Im allgemeinen ist das auch während des siebziger Krieges mit Frankreich nicht der Fall gewesen, als dessen Sieger niemals die Generäle erschienen, wie später im Ersten Weltkrieg, sondern immer der greise Monarch, den die Nation als „Heldenkönig“ feierte, so wenig er auch diesen Glanz durch seine eigenen militärischen Leistungen verdient hat. Aber die friderizianische Tradition war in diesem adligen Offizierskorps noch so selbstverständlich lebendig, die allgemeine Dankbarkeit für das Werk der Heeresreform so groß und der Respekt vor dem militärischen Sachverständnis des Herrschers noch so allgemein, daß die Fiktion des Roi connetable, der sein Heer persönlich zum Siege führt, im wesentlichen erhalten blieb. Vor allem aber war es ein ganz seltener Glücksfall, daß der eigentliche Triumphator dieses Krieges, der Generalstabschef Moltke, eine ebenso vornehme wie selbstlose Persönlichkeit war, ein Mann ohne allen politischen Ehrgeiz, der sein Lebenswerk ausschließlich als Dienst betrachtete, — durchaus kein „Militarist", wenn dieses Wort bedeutet, daß einer einseitig militärisches Denken auf das politische Gebiet ausdehnt. Gegensätze zwischen Bismarck und Moltke Dennoch hat es auch 1870/71 ein sehr ernsthaftes Problem des „Militarismus" gegeben, und diese Tatsache ist vielleicht der stärkste Beweis für seine Unvermeidbarkeit, für sein Wesen als „existenzieller Konflikt". Es wurde sichtbar in sehr erbitterten Kämpfen zwischen politischer und militärischer Kriegsleitung, d. h. zwischen Bismarck und Moltke. Die Tatsache, daß solche Kämpfe entstehen konnten, zeigt zugleich, daß die Vereinigung von politischer und militärischer Führung in der Person des Monarchen, des Roi connetable, keine volle Wirklichkeit mehr war. Äußerlich stellen sich die Kämpfe als Ressortstreitigkeiten dar, als Streit um die fachliche Zuständigkeit. Dahinter steckt aber doch ein weit tieferer Gegensatz: das rein militär-technische Denken des Soldaten widersetzt ich der Einmischung politischer Gesichtspunkte in die Kriegführung, die der Staatsmann für selbstverständlich hält. Moltke und der von ihm geführte Generalstab haben gegen den Politiker Bismarck das Lebensgesetz des „absoluten Krieges“ geltend gemacht, wie es schon Clausewitz in seiner philosophischen Altersschrift „Vom Kriege“ gelehrt hatte: daß der Krieg seiner Natur nach ein Zweikampf ist, in dem es auf die völlige physische Wehrlosmachung des Gegners ankommt; die Sachlogik eines solchen Zweikampfes fordert, daß er nicht durch die Einmischung sachfremder Erwägungen gestört wird — dies um so weniger, als es eine natürliche Zwangsläufigkeit militärischer Handlungen gibt, deren Bedeutung sich im Einsatz moderner Massenheere noch fortwährend steigert. Der Soldat, meint Moltke, kann immer nur nach dem höchst erreichbaren Ziel, der Wehrlosmachung des Gegners streben; er muß es der Politik überlassen, diesen Erfolg diplomatisch auszunützen, fordert aber, daß ihm während des Kampfes selbst völlig freie Hand gelassen wird — eine Forderung, die Bismarck niemals zuzugestehen bereit war.
Ich muß hier darauf verzichten, im einzelnen nachzuweisen, wie weit sich der Generalstab Moltkes von der Kriegsphilosophie des Clausewitz, auf die er sich berief, in Wahrheit bereits entfernt hatte — und zwar in der Richtung auf den sogen, totalen Krieg der Gegenwart hin. Clausewitz hatte trotz seines Ideals vom „absoluten Krieg“ diesen immer nur für ein praktisch unerreichbares Ideal gehalten und so wenig daran gezweifelt, daß der Krieg nur ein Werkzeug der Politik sei, daß er rein militärische Kriegspläne geradezu für unsinnig erklärte. Er hatte dem Krieg zwar eine eigene „Grammatik" (Technik), aber keine eigene „Logik" zugestehen wollen, die verschieden wäre von der Logik der Politik. Ich muß ebenso darauf verzichten, die mancherlei unzweifelhaften Irrtümer, Mißgriffe, verfehlten und ungerechten Urteile aufzuführen, die sich Bismarck dem Generalstab gegenüber zu Schulden kommen ließ. Historisch belangreich ist zuletzt nur die Frage, ob Moltke recht hatte mit seiner grundsätzlichen Forderung, daß während der Kampfhandlungen nichts weiter gelten dürfe als die „Sachlogik“ des Kampfes, d. h. praktisch: das Urteil des Militärtechnikers. Wer diese Frage bejaht, macht offenbar drei Voraussetzungen: 1. daß es keine natürliche Grenze des kriegerischen Kräfteeinsatzes gibt, deren Überschreitung selbst den militärischen Totalsieg sinnlos macht, 2. daß die völlige Niederwerfung des Gegners unter allen Umständen ein auch politisch wünschenswerter Kriegserfolg ist, und 3. daß politische und militärische Probleme sich überhaupt reinlich voneinander scheiden lassen.
Die Erfahrungen zweier Weltkriege haben uns inzwischen — denke ich — unzweideutig gelehrt, daß keine dieser drei Voraussetzungen zu-trifft. Moltke und sein Generalstab rechneten noch mit der Möglichkeit, einen Krieg im Aufeinanderprall immerhin zahlenmäßig begrenzter, gründlich geschulter Heere in wenigen Entscheidungsschlachten rasch zu Ende zu bringen. Die beiden Weltkriege haben ein ganz neuartiges Schauspiel gezeigt, das noch keiner der Militärtechniker des 19. Jahrhunderts vorausgesehen hat: ein gegenseitiges Abringen der größten Nationen Europas unter Einsatz alles Lebens schlechthin, an der Front wie in der Heimat, in endlos fortdauernden Kampfhandlungen, in ungezählten Schlachten und endlos eintöniger Berennung von Feldstellungen, aber auch in wirtschaftlichen Erdrosselungsversuchen gegen das Leben ganzer Völker, zuletzt in barbarischen Zerstörungen aller Werke der Zivilisation schlechthin aus der Luft. Die Tatsache, daß in diesen beiden Weltkriegen praktisch die Militärtechniker allein das entscheidende Wort zu sprechen hatten; daß die Politik tatsächlich nicht mehr imstande war, irgendein „Prinzip der Mäßigung“ (um mit Clausewitz zu sprechen) gegen die grausame Sachlogik des Krieges zur Geltung zu bringen; die Tatsache, daß es im Sturm der einmal entfachten Leidenschaften und im teuflischen Bannkreis einer immer raffinierter werdenden Tötungstechnik der Politik unmöglich wurde, dem wilden Rasen Einhalt zu gebieten vor der völligen physischen Erschöpfung des Gegners, aber auch der Siegernationen, diese Tatsachen haben schließlich zur völligen Zerstörung des alten Europa geführt.
Stellung des Heeres im Bismarckreich Von hier aus gesehen, gewinnen die Auseinandersetzungen zwischen Bismarck, dem nüchtern besonnenen Kabinettspolitiker, und Moltke, dem ebenso nüchternen Militärtechniker, eine geradezu aufregende Aktualität. Gewiß: die politische Autorität Bismarcks war so groß, seine Vertrauensstellung bei König Wilhelm so stark, daß er den Primat des Politischen über die militärtechnischen Erwägungen immer wieder behaupten konnte: in der Frage der Kapitulation von Paris, die Moltke zu einem übergroßen militärischen Triumph gestalten wollte, in wichtigen Punkten des Friedensschlusses, im Verzicht auf die völlige Niederwerfung und Wehrlosigkeit Frankreichs, ganz allgemein in der Ablehnung jedes Präventivkrieges, zu dem Moltke aus militärtechnischen Erwägungen immer wieder geraten hat: 1867, 1875, 1887. Der Generalstabschef hat sich praktisch in allen Fällen zuletzt gefügt — in jener vornehmen und strengen Selbstbescheidung, die ihm nun einmal eigen war. Trotzdem läßt sich, wie mir scheint, schon in der Geschichte Bismarcks eine ganz bestimmte Schranke erkennen, die auch sein titanischer Machtwille nicht zu durchbrechen vermochte. Sie verläuft genau an derselben Stelle, wo auch die Ohnmacht seiner Nachfolger später wieder beginnen wird. 1. Der Krieg ließ sich auf die Dauer nicht mehr in den Schranken einer reinen Kabinettspolitik halten, als bloße Kraftprobe wohl organisierter monarchischer Heere von beschränktem Umfang. Bismarck hätte den Kampf mit Frankreich am liebsten nach Sedan, mit dem Sturz seines Gegenspielers Napoleon, abgebrochen. Statt dessen geriet er halb wider Willen in einen wilden Volkskrieg hinein, dem er mit deutlich spürbarer innerer Unsicherheit gegenüber stand. Die erste Folge war, daß er zu Terrormaßnahmen von recht fragwürdiger Wirkung geriet, die seinem Grundprinzip eines beschränkten Kampfes mit nachfolgender Aussöhnung des Gegners eigentlich widersprachen.
Die zweite Folge: daß er beim Friedensschluß innerlich unsicher geworden war, ob eine versöhnliche Geste wie der Verzicht auf Lothringen und Metz wirklich ausreichen würde, um den tiefgekränkten Stolz und Ehrgeiz der Franzosen mit der neuen Machtverteilung in Europa zu versöhnen. Das machte es ihm unmöglich, den Annektionsforderungen der Generäle, die mit dem militärtechnischen Bedürfnis einer gesicherten Grenze begründet wurden, zu widerstehen — ein Nachgeben, das er später selbst mehrfach als Fehler bezeichnet hat. 2. Er konnte es nicht verhindern, daß der Generalstab, also die Oberste Heeresleitung unter dem König, sich als gleichgestellte, nicht etwa als untergeordnete Behörde betrachtete und auch im Frieden das Recht des sogen. Immediatvortrags erhielt. Es gab also in Preußen-Deutschland keine formelle Unterordnung der militärischen unter die politische Leitung. Wie gefährlich das werden konnte, hat sich schon 1890 beim Abgang Bismarcks gezeigt: der neue Generalstabschef Waldersee hat durch seine Intrigen bei Kaiser Wilhelm II., die sich auf militärische Bedenken stützten, nicht unwesentlich zum Sturz des Kanzlers beigetragen. Überhaupt bildete die preußisch-deutsche Armee immer so etwas wie einen eigenen Staat im Staate — Bismarck konnte das um so weniger ändern, als er ja 1862 ausdrücklich deshalb zum Minister berufen war, weil er diese Sonderstellung zu verteidigen versprach. Hätte er später dagegen vorgehen wollen, so hätte er seine ganze Vertrauensstellung beim Monarchen selbst erschüttert. Je selbständiger aber die Stellung der Armee im Staate war, um so größer wurde im Ernstfall das Gewicht militärtechnischen Denkens, um so geringer die praktische Möglichkeit für den Staatsmann, auf den Gang der einmal ins Laufen geratenen Kriegsmaschine noch wesentlichen Einfluß zu gewinnen. Sie wurde um so geringer, als das moderne Kriegswesen mit seiner fortwährenden Ausdehnung und technischen Komplizierung sich immer mehr zu einem Präzisionsinstrument entwickelt, das seine eigene Zwangsläufigkeit besitzt und immer empfindlicher wird gegen Störungen von außen her. Es ist eben diese technische Zwangsläufigkeit, die das Problem des Militarismus in unserer Zeit so ungeheuer schwer lösbar macht.
Das deutsche Heerwesen 1890-1914
Blicken wir einen Augenblick zurück auf den bisher durchschrittenen Weg, so zeigt sich, daß alle wesentlichen Seiten des von uns erörterten Problems schon in der Epoche altpreußischer Militärtradition, d. h. bis zum Ende der Kanzlerschaft Bismarcks irgendwie in Erscheinung getreten sind. Im Rahmen dieses Vortrags muß ich mich notgedrungen damit begnügen, die Umrisse der weiteren Entwicklung bis zur Gegenwart mit ein paar flüchtigen Strichen bloß noch zu skizzieren.
Die Sonderstellung der Armee im Staate, die nach altpreußischer Tradition als Vorzugsstellung empfunden wird, wirkt sich je länger je mehr auf das öffentliche Leben aus. Die Schulung immer breiterer Massen durch die allgemeine Dienstpflicht, die enge Berührung der gebildeten Jugend mit den Standessitten des Offizierkorps gibt dem deutschen Leben jenen „militaristischen" Anstrich, der zu den auffallendsten äußeren Merkmalen des kaiserlichen Deutschland gehörte: mit seinem barschen Verkehrston in den unteren Rängen, seinem betonten „Schneid“ im Auftreten der oberen Stände.
Die Komplizierung des modernen Militärapparates wächst nach 1890 ununterbrochen weiter, in Deutschland besonders seit den großen Flotten-bauten unter Wilhelm II. Die Steuerung dieses großen Apparates leidet unter der uns schon bekannten altpreußischen Tradition oder vielmehr Fiktion, daß der Monarch persönlich die oberste Befehlshaberschaft führt. Die Folge ist der Mangel eines einheitlichen Wehramtes oder Verteidigungsrates, wie es in den westlichen Ländern entwickelt wurde, in dem die Bedürfnisse der verschiedenen Wehrmachtsteile auf einander abgestimmt werden können, und zwar unter Vorsitz des leitenden Staatsmannes, des Reichskanzlers — erste Voraussetzung für eine einheitliche und allseitige Vorbereitung des Krieges. Statt dessen finden wir ein schlecht geregeltes Nebeneinander der verschiedensten Militärbehörden und militärischen Immediatstellen, die alle gleich nahen Zugang zum Ohr des Herrschers haben. Um so mehr wird dieser abhängig von einzelnen energischen Persönlichkeiten, die ihn zu lenken wissen, wie dem Staatssekretär der Marine von Tirpitz, oder von seiner engsten Umgebung, den Generaladjudanten, Mitgliedern des Militär-und Marine-kabinetts. Erstaunlich locker sind schon die Beziehungen zwischen Generalstab und Kriegsministerium, noch lockerer die zwischen Heeres-und Marinebehörden; so gut wie völlig fehlt es an Zusammenarbeit zwischen Generalstab und Auswärtigem Amt, wie mich meine Studien im Archiv des Generalstabs gelehrt haben.
Was ist die unvermeidliche Folge? Mehr und mehr geht der Grundsatz verloren, daß das Militärwesen nur ein Werkzeug in der Hand des leitenten Staatsmannes sein soll. Bekanntlich hat Bülow in seinen Memoiren geleugnet, daß er je etwas von den Plänen des Generalstabes erfahren habe, im Konfliktsfall durch Belgien zu marschieren. Das muß ein Irrtum oder eine bewußte Verfälschung sein. In den Originalentwürfen des berühmten Schliessen-Planes vom Dezember 1905, die ich kürzlich im Nationalarchiv der USA in Washington gesehen habe und mir photokopieren ließ, fand ich die Notiz Schliessens selbst, er habe die Notwendigkeit eines Durchmarschs durch Belgien mit dem Reichskanzler besprochen. Als Bülow 1920 vom Reichsarchiv darnach gefragt wurde, glaubte er sich erst nach langem Besinnen an eine solche Mitteilung dunkel zu erinnern. Schon diese Tatsache läßt in Abgründe blichen: in ein völliges Versagen der politischen Autorität vor ihrer militärpolitischen Aufgabe. Jener Schlieffenplan, als eine Art von Testament für den Nachfolger im Generalstab bestimmt, läuft eigentlich ganz auf den Nachweis hinaus, daß der gegenwärtige Stand der deutschen Heeresrüstung selbst im günstigsten Falle, in einem Krieg mit Frankreich allein, für eine rasche Überwältigung dieses Hauptgegners nicht ausreiche, daß also eine starke Heeresvermehrung höchst dringend sei. Überhaupt: wer diese Pläne sorgsam studiert, besonders auch Schliessens private Ergänzungsarbeit von 1912 und die Bemerkungen seines Nachfolgers Moltke dazu, kann sich nicht dem erschütternden Eindruck entziehen, daß beide Generalstabschefs nichts weniger als ein sicheres Siegesrezept in Händen zu haben glaubten (diese Auffassung stammt erst von späteren Kritikern Moltkes). Ihre Aufmarschpläne erscheinen vielmehr als höchst gewagtes und unsicheres Auskunftsmittel, und für den Fall des Zweifrontenkrieges gab es im Grunde überhaupt keinen klaren Aufmarschplan, jedenfalls nicht für die Ostfront. Auch der ältere Moltke hatte dafür kein militärisch befriedigendes Rezept mehr gewußt. Man sollte nun meinen, in so verzweifelter Lage hätte alles getan werden müssen, um den Durchmarsch durch Belgien wenigstens irgendwie diplomatisch vorzubereiten, die englische Neutralität sicher zu stellen, vor allem alle Kraft auf die von Schliessen geforderte Heeresverstärkung zu konzentrieren. Statt dessen ging man gerade 1906, während der schweren außenpolitischen Krise um Marokko, zu einem Wettrüsten allergrößten Stils in der Marine über, das England erst recht ins feindliche Lager trieb, und tat nicht das Geringste für die Heeresvermehrung. Es ist bekannt, welchen großen Anteil an dieser Politik die Vorliebe des Kaisers für die Flotte, sein militärtechnisches Spielzeug, gehabt hat; der Einfluß eines typisch beschränkten, reinen Militärtechnikers, des Großadmirals Tirpitz, stand dahinter. Die Versäumnisse Bülows hat erst sein Nachfolger Bethmann-Hollweg aufzuholen gesucht, als die ganze Nation nach der zweiten Marokkokrise von 1911 in schwere Unruhe geriet und der Generalstab auf Betreiben Ludendorffs sehr energisch in seinen Forderungen wurde. Bekanntlich hat der neue Kanzler dann auch mit England einen Ausgleich noch in letzter Stunde versucht. Aber nun kam alles zu spät, und Bethmanns politische Autorität war viel zu schwach, um den Primat der politischen Leitung über das Militärwesen, vollends über die Marine, wiederherzustellen. Es scheint nicht einmal, daß er diesen Primat wirklich ernsthaft erstrebt hat. Jedenfalls rühmt er sich in seinen Memoiren geradezu, daß unter seiner Amtsleitung sich die Politik niemals in „das militärische Für und Wider der Kriegspläne eingemischt habe". Die Militärtechniker hatten also jetzt völlig freie Hand — so wie es schon der ältere Moltke erstrebt, aber Bismarck niemals zugelassen hatte.
Militärtechnische Zwangsläufigkeiten und Kriegsausbruch 1914
Natürlich bedeutete das nicht etwa die Freiheit, einen Krieg, auch nicht den Präventivkrieg, zu einem günstigen Augenblick anzuzetteln. Im deutschen Generalstab war die Neigung dazu auch denkbar gering — im Gegensatz zum österreichisch-ungarischen, wo Conrad von Hötzendorf den Krieg als ein über kurz oder lang unausweichlich einbrechendes Schicksal betrachtete, das man zur rechten Zeit nicht scheuen dürfe. Wer die deutschen Aufmarschpläne für den Fall des Zweifrontenkrieges gesehen hat, kann sich nicht darüber wundern, daß der jüngere Moltke geradezu die Fassung verlor, als er im Juli 1914 seinen Mitarbeitern den Mobilmachungsbefehl weitergeben mußte. Er war ganz gewiß kein Militarist im Sinn eines übermäßigen kriegerischen Ehrgeizes. Aber er war — wie alle europäischen Generalstäbe des Juli 1914 — ein Gefangener der militärischen Aufmarschtechnik, deren Zwangsläufigkeit einfach nicht mehr auszuweichen war, seit einmal die Politik die Herrschaft verloren hatte über den Ehrgeiz und die politischen Leidenschaften der Völker. Das im Einzelnen nachzuweisen, ist hier nicht möglich, aber vielleicht auch nicht mehr nötig. Aus reiner Furcht, ein paar Tage, vielleicht auch nur ein paar Stunden zu spät zu kommen, glaubte der Generalstab und damit auch die deutsche Regierung sich genötigt, das Odium des Angreifers und Friedensbrechers auf sich zu laden. Ähnliche Besorgnisse haben bekanntlich die überstürzte russische Gesamtmobilmachung veranlaßt. Frankreidf’und England allein waren in der Lage, ruhig abwarten zu können, bis die Deutschen sich — gewissermaßen „zwangsläufig“ — ins Unrecht gesetzt hatten. Daß sie durch Belgien marschieren würden, um Frankreich überhaupt militärisch fassen zu können, hielt man im britischen Generalstab schon längst für so selbstverständlich, daß General Robertson schon im Frühjahr 1905, also lange vor der Ausarbeitung des großen Schlieffenplanes, ein Kriegsspiel durchführen ließ, daß diesen Durchmarsch voraussetzte. Es ist später noch oft wiederholt worden. Man wußte also auch dort sehr genau, was militärtechnische „Zwangsläufig-keit" ist, und nichts ist interessanter als zu verfolgen, wie der englische General Wilson, Chef der Operationsabteilung im britischen Generalstab, seit 1906 aus rein militärtechnischen Erwägungen ein Netz von Verabredungen mit seinem französischen Kollegen gesponnen hat, das England im Ernstfall zwar nicht formell, aber tatsächlich die politische Entschließungsfreiheit nahm. Das Inselreich ist so von Anfang an in einem Ausmaß und einer Form in die kontinentalen Konflikte verstrickt worden, die allen seinen militärischen und politischen Traditionen widersprach — eine geschichtlich sehr folgenreiche, ja verhängnisvolle Tatsache.
Alles in allem: ein höchst unheimliches Schauspiel, dieses Überwiegen militärtechnischer Zwangsläufigkeiten über den freien Willen der Staatsmänner am Vorabend des Ersten Weltkrieges — und zwar in ganz Europa! Daß es dahin kam, war freilich nicht Schuld der Soldaten oder irgendwelcher „Militaristen", sondern Schuld war das allgemeine Wettrüsten in der Form einer immer radikaleren Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht nach preußisch-deutschem Muster. Als Ursache dieses Wettrüstens erscheint die ungeheuer gesteigerte Eifersucht und der enorme Machtdrang der modernen Nationalstaaten in der Epoche des Imperialismus — was wiederum mit einem fortwährend steigenden Überschuß an Kräften im Zeitalter der großen Industrieentfaltung zusammenhängt, aber auch mit der fortschreitenden Politisierung der Völker und der Weckung ihres nationalen Ehrgeizes. Beides zusammen hat sich dann im Laufe des Weltkrieges erst vollends ausgewirkt: die technische Zwangsläufigkeit der großen Kriegsmaschinen und der unversöhnliche Kampfgeist und gegenseitige Haß der politisierten und militarisiertet) Völker. Der „Militarismus" nimmt so während des Krieges eine neue Form an: die Ferm der Militarisierung ganzer Nationen.
Das deutsche Volk im 1. Weltkrieg Es kann nicht geleugnet werden, daß Deutschland auf diesem Wege vor andern Völkern einen Vorsprung besaß: dank der hier viel länger dauernden militärischen Erziehung des Volkes (die zuletzt seine ganzen Lebensformen weitgehend mitbestimmt hatten), dank aber auch des schweren Verlustes an öffentlichem Vertrauen, den die politische Leitung unter Wilhelm II. schon seit langem erlitten hatte und dank der großen Schlachtenerfolge seiner Generäle, die ihnen das öffentliche Vertrauen nun in stärkstem Maße zuwandten. Aber diesen Vorsprung haben wir Deutschen teuer bezahlen müssen: mit einer immer ärger werdenden, zuletzt verhängnisvollen Verdunkelung der politischen Vernunft durch rein militärtechnische Erwägungen, mit einem lebensgefährlichen Über-gewicht der Soldaten über die Politiker. Es war um so gefährlicher, als sich auf Seiten der „Obersten Heeresleitung" auch der weitaus stärkere Willensmensch fand: Ludendorff, der Urtyp des Militaristen reinsten Wassers. Ich wage es ihn so zu nennen, weil sich hier beides vereinigt findet, was ich zu Anfang dieses Vortrags als Kennzeichen des Militaristen anführte: das einseitig militärtechnische Denken und die einseitig kämpferische Grundhaltung. Ihm gegenüber hätten sich die Politiker nur dann behaupten können, wenn sie eindeutige Beweise dafür hätten vorzeigen können, daß es noch einen anderen Weg zum Frieden gab, als den des Weiterkämpfens bis zum bitteren Ende. Aber auf der Gegenseite, im Lager unserer Kriegsgegner, gab es ja nun auch nichts weiter als radikalen Vernichtungswillen im Stil des „totalen Krieges".
Immerhin: auf die Dauer war in Deutschland dieses einseitige Uebergewicht nicht zu behaupten. Auf die Dauer war es unvermeidlich, daß auch die Politik als „mäßigendes Element“ sich während des Krieges wieder zu Wort meldete, daß der Wille zur Verständigung, zum rechtzeitigen Abbruch eines aussichtslosen Kampfes sich gegen die Militaristen zur Wehr setzte. Nur haben diese Kräfte, die sich vor allem auf der bürgerlichen und sozialistischen Linken fanden, vor dem miFitärischen Zusammenbruch praktisch nichts mehr ausrichten können. Die Folge war, daß der Gegensatz zwischen den rein kämpferischen und den verständigungsbereiten Kräften zu einem radikalen — und geschichtlich wiederum höchst unheilvollen — Zwiespalt in der Nation geführt hat. Es gab nun, mitten im Kriege, zwei feindliche Lager, die einander immer weniger verstehen konnten und sich gegenseitig erbittert beschimpften: als „Annexionisten“ und „Kriegsverlängerer“ wurden die einen, als Vaterlandsverräter die anderen öffentlich angeklagt. Jene rational unauflösliche Antinomie, die wir als Kern des Militarismusproblems erkannten: die Antinomie zwischen kämpferischem Machtwillen und friedesuchenden Ordnungs-und Versöhnungswillen, sprengte nunmehr die deutsche Nation förmlich in zwei Hälften auseinander.
Innere Nöte der Weimarer Republik Die hartnäckige Fortdauer dieses Gegensatzes hat das Leben der Weimarer Republik aufs schwerste vergiftet. Auf der einen Seite standen die Politiker des Völkerfriedens und der Versöhnung, die sich mühten, durch pünktliche Erfüllung der harten Friedensbedingungen Deutschland neues Vertrauen in der Welt zu gewinnen und so seine Lage allmählich zu erleichtern. Leider wurde ihnen — im Gegensatz zu den Erfahrungen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkriege — kein Erfolg gegönnt, der die deutsche Nation von der Richtigkeit dieses Weges hätte überzeugen können. Auf der anderen Seite verstockten sich die Militaristen immer mehr in hartnäckigem Trotz. In den Schriften der Generäle Erich von Ludendorff und Alfred von Krauss hat sich damals der unterdrückte Kampfwille bis zu einer bewußten Umkehrung der klassischen Kriegs-theorien von Clausewitz gesteigert: der Krieg ist nicht, hieß es jetzt, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern umgekehrt: eine gesunde Politik ist nichts weiter als eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln; denn nicht der Krieg, sondern der Friede hat als Ausnahmezustand zu gelten, weil alles Leben in der Natur und Menschen-welt ein beständiger Existenzkampf ist. Und so hat denn die Politik im wesentlichen nur die Aufgabe, durch Bereitstellung materieller und geistiger Hilfsmittel dem Krieg zu dienen
Adolf Hitler als Militarist Rückblickend erscheint uns heute diese extreme Formulierung als Vor-wegnahme dessen, was dann Adolf Hitler über Deutschland und die Welt gebracht hat. Es wäre aber falsch, den Militarismus Ludendorffs als Normalform der politischen Gesinnung des deutschen Offizierkorps in der Weimarer Republik zu betrachten. Ebenso verfehlt wäre es, die Dinge so darzustellen (wie es z. B. in Churchills Memoiren erscheint), als ob die deutschen Generalstäbler damals mit Ungeduld auf die Entfesselung eines neuen Weltkrieges gewartet hätten. Allerdings wissen wir heute, daß General Seeckt sich zeitweise mit recht bedenklichen Phantasien getragen hat, die auf eine gewaltsame Sprengung der „Fesseln von Versailles“, d. h. auf eine Niederwerfung Polens und eine Eindämmung der französischen Hegemonie (in unbestimmter Zukunft) hinausliefen. Es gibt aber keinen Aufrüstungsplan der Reichswehr (selbst nicht unter Hitler bis 1936), der mehr erstrebt hätte als eine Stärkung der Armee zu reinen Verteidigungszwecken; Hitlers weitergehenden Wünschen hat sich der Generalstab zunächst ziemlich hartnäckig widersetzt. Überhaupt zeigt die Haltung der Generalität im Dritten Reich ganz deutlich, daß auch diese Soldaten aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges gelernt hatten und sich bewußt waren, daß Deutschlands Kräfte zum Durchfechten eines zweiten Weltkrieges niemals ausreichen würden — auch dann nicht, wenn eine hochmoderne Rüstung ihm anfangs die Überlegenheit über seine Nachbarn sichern sollte. Die Gleichstellung der deutschen Generalität von 1939 mit den Militaristen der „Obersten Heeresleitung“ von 1914-18, wie sie besonders in England üblich war, hat sich während des Zweiten Weltkrieges geradezu verhängnisvoll ausgewirkt — nicht zuletzt in einer völlig falschen Einschätzung der militärischen Opposition gegen Hitler.
Auch der jähe Aufstieg der nationalsozialistischen Partei zur Macht seit 1931 ist nicht etwa aus irgendwelcher politischen Aktivität der Militärs zu erklären. Sicherlich: viele Offiziere haben mit Hitler sympathisiert, weil et ihnen eine rasche und starke Aufrüstung versprach. Aber es gab auch scharfe Gegner seiner proletarisch-lärmenden Volksbewegung, vor allem in der obersten Führungsschicht. Der Oberbefehlshaber Frh. v. Hammerstein hat sogar im Januar 1933 in aller Form beim Reichspräsidenten gegen den Ersatz Schleichers durch Hitler protestiert: . das sei für die Reichswehr „untragbar". Kein Zweifel: die Republik von Weimar ist nicht etwa durch „Militaristen" der Armee „überrollt" worden, sondern, wenn man cs will, vom Militarismus einer nationalsozialistischen Volksbewegung. Lind doch wird man auch diese zivilen Nachläufer Hitlers nicht ohne weiteres und nicht ohne Unterschied als Militaristen bezeichnen dürfen. Die große Masse derer, die dem gefährlichen Demagogen zujubelten, erwartete nicht etwa einen neuen Krieg von ihm, sondern etwas ganz anderes: die Überwindung des schon geschilderten tiefen Zwiespaltes, der die Nation zerriß, des Zwiespaltes zwischen Rechts und Links, zwischen den Anhängern nationalsozialistischer Kampfparolen und den sozialistischen Wohlfahrts-und Versöhnungspolitikern — beide vereinigt in einer neuen, alle Parteien überwölbenden Volksgemeinschaft der „nationalen Sozialisten". Aus der inneren Regeneration des deutschen Lebens, die so erfolgen würde, sollte ganz von selbst, ohne neuen Krieg, eine gewaltige Steigerung der deutschen Kraft und des deutschen Ansehens in der Welt hervorgehen und allein schon dadurch erreicht werden, daß die „Fesseln von Versailles“ in Kürze zerbrachen. So predigte es Hitler, und so erhoffte es die Masse seiner Wähler.
Tatsächlich ist niemals eine Erwartung grausamer enttäuscht worden. Im Zusammenhang unseres Themas ist die Erscheinung Hitlers vor allem deshalb interessant, weil sie deutlicher als alle anderen zeigt, wie wenig im Grunde alle äußere Organisation der staatlichen Führungsstellen bedeutet im Vergleich mit dem Geist, der die leitenden Männer erfüllt. Durch organisatorische Maßnahmen allein ist das Problem, das uns hier beschäftigt, noch keineswegs gelöst. Niemals hat die Armee sich in strengerer Abhängigkeit von der politischen Staatsleitung befunden als unter dem Regime Hitlers. Niemals war organisatorisch die Einheit der Wehrmachtsführung, aber auch das Übergewicht des Politikers über die Soldaten so vollkommen gesichert wie unter ihm. Hätte es sich um einen echten Staatsmann gehandelt, so hätte es nie eine so glänzende Möglichkeit gegeben wie unter seiner Leitung, die Gefahren des Militarismus praktisch zu überwinden, geballte Kampfkraft für die Sicherung des europäischen Friedens und eine gesunde Dauerordnung unseres Kontinents einzusetzen. Statt dessen ist es dahin gekommen, daß der Generalstab vergeblich sich mühte, vor dem Kriege wie während des Krieges, ein Element der Mäßigung (um das Wort Clausewitz'umzukehren) in die Politik hineinzutragen — unter Berufung auf militärtechnische Erwägungen! So wurde das natürliche Verhältnis von Politikern und Militärs geradezu auf den Kopf gestellt. Niemals ist die Militarisierung alles Lebens so radikal durchgeführt, niemals vorher ein so einseitiger Macht-und Kampfwille geschichtlich wirksam geworden wie durch diesen extremsten aller Militaristen. Wohin das führt, ist der Welt noch niemals so schauerlich demonstriert worden wie durch seinen Erfolg — und durch seinen Sturz.
Lassen Sie mich zum Schluß noch mit wenigen Sätzen eine Antwort versuchen auf die zu Anfang gestellte Frage, was sich etwa tun läßt, um die Gefahr des Militarismus zu beschwören. Sofern es sich dabei um die Gesinnung des deutschen Volkes handelt, scheint sie mir heute leichter, als die Außenwelt — befangen in mancherlei traditionellen Vorurteilen, Schlagworten, ja Geschichtslegenden, vor allem aber geblendet vom grellen Blitzlicht des Hitlerreiches — sich vorzustellen pflegt. Die deutsche Nation als Ganzes ist gar nicht so „militaristisch", wie man ihr nachzusagen pflegt; zum mindesten hat sie ihren „Militarismus“ in den grausigen Erfahrungen zweier Weltkriege gründlich verlernt, wie neuerlich wieder die Bundestagswahl vom 6. 9. 1953 bestätigt hat. Ich jedenfalls wage sie so zu deuten, daß unser Volk wirklich begriffen hat, was seine Lage in der Welt heute ist und daß es den friedlichen Aufbauwillen triumphieren lassen will über die Machtträume unbelehrbarer Nationalisten. Was die große Mehrheit der Deutschen heute will, ist (im Unterschied zu der Epoche nach dem ersten Weltkrieg) gewiß keine Neubelebung irgendwelcher „Machtpolitik“. Von der haben wir genug, und es ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß gerade die deutsche Jugend bereit sein würde, dafür auch nur noch einen Tropfen Blut zu vergießen. Gibt es noch ein Ideal, für das sie sich einzusetzen gewillt sein könnte, so ist es das der Verteidigung unserer Freiheit gegen die Gefahr einer neuen totalitären Zwangsherrschaft. Die allerdings spürt niemand in der Welt so unmittelbar und so hart wie unser zwischen die Machtblocks zweier Weltstaaten eng zusammengepreßtes Volk. Nirgends ist darum auch der Gedanke an einen engen Zusammenschluß des bedrohten Europa, ohne Rücksicht auf nationalistische Empfindlichkeiten, lebendiger als hier. Es scheint aber, daß auch die Welt heute begriffen hat, wie die innere Lage eines besiegten Volkes ist: daß sich eine starke politische Autorität, die nationale Ressentiments und gefährlichen militanten Ehrgeiz überwinden will im Geist einer neuen, dauerhaften Völkerordnung, nur da herausbilden und befestigen kann, wo man ihr reale Erfolge gönnt.
Mit alledem ist aber natürlich das Problem des Militarismus in unserer Zeit noch keineswegs gelöst. Die Frage, ob und wie es sich überhaupt praktisch lösen läßt, ist nicht bloß eine politische Frage. Letztlich geht es darum, ob die Menschheit noch imstande sein wird, sich von den dämonischen „Zwangsläufigkeiten“ der von ihr selbst geschaffenen Kriegstechnik im Zeitalter der Atombombe zu befreien, d. h. ob die sittliche Freiheit, ob der Wille zum Aufbau einer dauerhaften und gesunden Weltordnung stärker sein wird als die Naturgewalten der Zerstörung und des brutalen Machtwillens. Das aber ist mehr als eine Frage politischer Organisation. Es ist eine Frage nach den heute noch lebenden Restbeständen echter Menschheitskultur.
Politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt unserer nächsten Beilagen:
Abdel Megid Amin , Deutsche Orientpolitik heute Bernhard Brodie „Atomwaffen:
Strategie oder Taktik?" „Atombilanz 1953 — Wirkung, Transport und Abwehr atomarer Waffen"
Alfred Joachim Fischer „Siegt Atatürk über das Grab hinaus?"
Fritz von Globig „Der verhinderte Pazifikpakt“
Jean Hoffmann „Eine Einführung in die geistige Lage der französischen Jugend"
Kurt Georg Kiesinger „Haben wir noch den Bürger? Die Problematik des Parteienstaates“
Bernard Lewis „Kommunismus und Islam“
Dr. Gerhard Lütkens „Die geistige und soziale Entfremdung zwischen Ost und West"
P . . .
. „Zwischen Amerika und Rußland — aus indischer Sicht“ Bertram D. Wolfe „Der Kampf um die Nachfolge in der Sowjetunion"
Eine Zusammenstellung der aktuellen politischen Literatur „Im Brennpunkt Zeitgeschichte" Der politische Auftrag des Protestantismus in Europa Einleitende Vorfrage:
Hat der Protestantismus überhaupt einen Auftrag in Europa? Wer auch einigermaßen Bescheid weiß, der ist sich darüber im Klaren: 1. Es zählen die Leute nach Millionen, die sich ernsthaft heute fragen, ob denn solcher Auftrag überhaupt besteht. Und wenn solche Leute dann zu dem Ergebnis gelangen, daß nun doch offenbar der Protestantismus auch irgendeinen Auftrag für die Lösung europäischer Fragen hat, dann würde jedenfalls dabei sehr oft herauslcommen, daß sie sich diesen Auftrag lediglich im k u 11 u r -
protestantischen Sinn und mit rein säkularen Perspektiven denken können. 2. Um aber diesem Mißverständnis zu entgehen und sich die schwierige Sadie nicht zu einfach vorzustellen, wird es erforderlich sein, zunächst einmal die Gegenfrage zu stellen o b und w i e denn der Katholizismus einen Auftrag in Europa für sich in Anspruch nimmt. 3. Erst aus der Konfrontation der beiden Überlegungsreihen wird sich die ernsthafte Frage ergeben, ob nicht die Deutung eines protestantischen Auftrags in Europa auf einer ganz anderen Ebene zu suchen ist, als man sie gewöhnlich vor Augen hat.
A) Das Selbstverständnis des Katholizismus als Träger eines politischen Auftrags in Europa: 1. Der Katholizismus macht für die absolute Gültigkeit seines Auftrags geltend, daß er seinem Ursprung nach das geistige Erbe des römischen Imperiums im europäischen Raum übernahm. 2. Der Katholizismus sieht daher seit dem Zusammenbruch des alten Rom in sich selber vor allem den Hüter der römischen Rechtsidee. 3. Darüber hinaus hat der Katholizismus von jeher den Ehrentitel für sich reklamiert, daß er in den tumultarischen Übergängen des zugrunde gehenden Altertums der Bewahrer der antiken Kultur gewesen ist und bis zum heutigen Tage blieb. 4. Die katholische Kirche gilt auch bei uns ganz unbestritten als der großartige historische Schmelztiegel, in dem griechische Philosophie, lateinische Staatsweisheit und christliche Erlösungsreligion eng verschmolzen wurden. 5. Insofern vertritt der Katholizismus für sich die Anschauung, daß er zunächst wesentlich allein der kreative Genius bei der Entstehung der mittelalterlichen Geisteswelt bzw. bei dem Geburtsakt des „christlichen Abendlandes“ westlicher Prägung gewesen sei. 6. Immer wieder weist der Katholizismus noch heute auf die historische Tatsache hin, daß es wesentlich seiner einigenden übernationalen Macht gelungen sei, von einem Jahrhundert zum anderen die widerstrebenden Geister und Gewalten im europäischen Hexen-kessel zusammenzuhalten. 7. Der Katholizismus meint von daher, nicht ganz ohne Grund, für sich den Ruhm beanspruchen zu können, die fundamentale, christlich politische Gesinnung und die daraus resultierende christlich politische Gesittung in Europa durch alle Erschütterungen eines Jahrtausends hindurchgetragen zu haben, auf der noch in der Gegenwart jede Rekonstruktion einer europäischen Geisteshaltung ruhen müßte. 8. Niemand wird im übrigen bestreiten können, daß die eigentliche Stärke des Katholizismus tatsächlich in dem elastischen Ausgleich besteht, den die römische Kirche jeweils zwischen konservativen und revolutionären Tendenzen gefunden hat. Gerade in Bezug auf die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaftsbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts wird diese besondere Beweglichkeit des katholischen Verfahrens deutlich. 9. Dogmatische Unbeugsamkeit auf der einen Seite, liebevoll fürbittende Sanftmut und Opfergesinnung auf der anderen Seite. „Ecclesia militans“ und hingebende, demütige und opferbereite „Caritas“ zugleich sind der europäische politische Weg des Katholizismus in Europa.
B) Das Selbstverständnis des Protestantismus als Träger eines politischen Auftrags in Europa. a) Die Skepsis gegenüber solchem politischen Auftrag: 1. Noch einmal sei es gefragt: Weiß der Protestantismus überhaupt um einen solchen Auftrag in Europa? Er, von dem man nach dem letzten Krieg bitter gesagt hat, er sei im Grunde gar keine Kirche, sondern ein Sammelsurium von geistigen Schwerpunkten. 2. Ist der Protestantismus nicht von Anbeginn der Zerstörer dieser Harmonie gewesen, wie sie das Mittelalter der Neuzeit überlieferte? 3. Bedeutete nicht schon das bloße Auftreten der Reformation den Auseinanderfall der mittelalterlichen Welt und der abendländischen Gemeinschaft, die damals Europa darstellte? 4. Trägt nicht letztlich der Protestantismus daran Schuld, daß die Idee des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als der sammelnden Mitte der europäischen Familie zu Grabe getragen wurde? 5. Hat nicht der Protestantismus erst alle destruktiven Kräfte mobil gemacht, die bis in unsere Zeit hinein die Erschütterung und dann den Zerfall Europas zur Folge hatten? Hat nicht er die Religionskriege heraufgeführt und in deren Gefolgschaft Zentraleuropa förmlich mortifiziert? 6. Ist nicht der Protestantismus auch im rein geistigen Sinn seinem Wesen nach unverträglich, rechthaberisch, kompromißlos und darum „u n p o 1 i t s c h “ im Prinzip? 7. Macht der Protestantismus mit seinem „entweder — oder“
und seinem „alles oder nichts“ nicht jede Verständigung, jede weise Lösung auf einer gemäßigten Linie des Handelns unmöglich? 8. Lebt der Protestantismus nicht immer nur von abstrakten Theologien, von ideologischen Glaubenswahrheiten? Stirbt er nicht darum schließlich an seinen sachlichen U n möglichkeiten, weil er das Mögliche im Relativen nicht verträgt? Ist unter solchen Umständen der Protestantismus überhaupt in der Lage, einen politischen Beitrag im europäischen Raum zu liefern? b) Auf der anderen Seite sind doch nun aber einige a n d e r e Feststellungen nötig, die uns zu denken geben. 1. Die „unitas christiana" der mittelalterlichen Welt war faktisch zu Luthers Zeiten gar nicht mehr vorhanden. Nicht nur die moralische Degeneration der verweltlichten Renaissance-Päpste hatte die einigende Funktion des Stuhles Petri in den Augen der europäischen Völker längst unglaubwürdig erscheinen lassen. Sondern sowohl der wieder aufgelebte Geist der durchaus asozialen Antike, als auch die veränderte seelische Haltung des spätmittelalterlichen Menschen hatten seit dem 13. Jahrhundert schon unter den Völkern Europas dekompositive Entwicklungen angebahnt, an deren Ende ein völlig chaotischer Zustand des christlichen Abendlandes stehen mußte. 2. Darum beschränkte sich auch die R e s o n a n z , die Luthers reformatorische Tat im ersten Stadium gleich fand, durchaus nicht auf Deutschland allein, sondern trat gerade in fremden Völkern, wie in Frankreich, England und Polen in Erscheinung. Im übrigen ist der Protestantismus überhaupt zu e n g gefaßt, wenn man ihn lediglich auf das deutsche Luthertum und auf den schweizerisch französisch-holländischen Calvinismus beschränkt. 3. Sowohl (die nicht-römisch-katholischen) anglikanischen Kirchen, als auch die angelsächsischen Frei kirchen und die reformierte Kirche von Schottland mit ihren ganz anderen historischen Hintergründen und politischen Auswirkungen sind Teilbezirke der reformatorischen Bewegung im 16. Jahrhundert und trotz der insularen Distanz der britischen Inseln vom europäischen Kontinent fortgesetzt von gestaltender Bedeutung für die geistige Entwicklung des protestantischen europäischen Raums, so vohl in Deutschland, wie in Frankreich, Holland und in Skandinavien gewesen. 4. Aber vor allem ist dieses zu beachten: der Protestantismus hat von Anbeginn eine ganz eigene schöpferische Kraft und formende Genialität besessen, die nicht minder aus europäischen Wurzeln erwuchsen, als der katholische Beitrag beim Werden Europas.
Wenn der Katholizismus mehr die lateinische Welt geprägt hat, aus der er stammt, dann ist die evangelische Frömmigkeit ganz ohne Zweifel für die nördlichen Länder charakteristisch und zugleich auch im Sinne eines europäischen Gesamtbewußtseins höchst gemeinschaftsbildend gewesen. 5. Bei dem geschichtlichen Gegensatz zwischen dem römisch-katholischen Polen und dem orthodox-byzantischen Groß-Rußland kann man diese protestantische Funktion des Hineinwirkens in den europäischen Osten zumal auf dem Wege über die geschichtliche Aufgabe der Baltenlande und des Wolga-Deutschtums im Zarenreich der letzten zwei Jahrhunderte gar nicht unterschätzen. 6. Bis in die Gegenwart hinein haben die lebendigen Beziehungen zwischen der hugenottischen Kirche Frankreichs einerseits und den reformierten Kirchen andererseits in Schottland und Deutschland eine nicht ganz gleichgültige europäische Rolle gespielt. Aber im Zeitalter der aufkeimenden Nationalstaaten nach dem Konzept der Renaissance-Fürsten des 15. Jahrhunderts war insbesondere die enge Verbindung zwischen Genf, Den Haag und Berlin durch die politisch-religiöse Kraft der gemeinsamen calvinistisch-oranischenTrad i t i o n lange die einzige Klammer, die die von Europa weg-strebende holländisch-protestantische Kolonialmacht mit den Ereignissen und Entwicklungen in Zentraleuropa verband. Ähnliches, wenn auch in viel geringerem Maße gilt auch für die Doppelfunktion, die das Haus Braunschweig-Hannover als deutsches Fürstenhaus auf dem englischen Thron im 18. Jahrhundert gespielt hat. Und nun ein Letztes: So kritisch man im einzelnen zu dem Phänomen des Preußischen Staates im mitteleuropäischen Felde stehen mag, so hoch hat man die brückenbildende Aktion dieses ganz eminent lebendigen Staatsgebildes jeweils in der Vergangenheit unter den Zeitgenossen veranschlagt. Mit dem Verschwinden des preußischen Staates ist jedenfalls im Herzen der europäischen Welt eine Lücke entstanden, die man in Zukunft mühsam wieder wird schließen müssen, wenn überhaupt das Ost-West-Problem lösbar sein soll. c) Worin bestand die geistig-politische Bedeutung des Protestantismus für das europäische Selbstbewußtsein und für die Sendung Europas? 1. Es wird wichtig sein, diesen politischen Beitrag zum europäischen Problem zunächst auf der religiös-theologischen Ebene zu suchen. 2. Was dem Protestantismus in seinen Anfängen den erstaunlichen Durchbruch durch die Verfestigungen der dekadenten mittelalterlichen Welt erlaubt und ihn dann später zu einer so wirksamen und kreativen Macht in Europa hat werden lassen, ist in erster Linie die Lutherische Entdeckung von der Kraft des getrösteten Gewissens. An dieser Stelle wird zweifellos die Dynamik des protestantischen Siegeszuges in Europa und über die Ozeane am zutreffensten und am tiefsten erklärbar. Die Ursprünglichkeit, die reinigende sittliche Macht, wie die Tatbereitschaft der evangelischen Glaubens-haltung haben hier ihre geheimnisvollen Wurzeln. 3. Die geistig-politische Bedeutung des Protestantismus besteht aber bis in unsere Tage hinein nicht minder in der Proklamation eines Christenmenschen, wie sie von Luther interpretiert wurde. Wenn diese Freiheit auch alsbald unter dem Einfluß des Humanismus liberalistisch mißdeutet und a n t i christlich verwirklicht wurde, so bleibt doch der hohe sittliche Wert einer an Gott gebundenen Freiheit ein unaufgebbares Gut der europäischen Völkergemeinschaft.
Diese Freiheit darf niemals absolut verstanden werden, sondern immer nur als eine gebundene Freiheit im Gehorsam gegen Gottes Gebot, aber in diesen Grenzen ist sie doch eine Gabe nach Gottes heiligem und gnädigem Willen und darum auch Gegenstand eines verpflichtenden Gebotes, und es steht keineswegs in unserem Belieben, ob wir das hohe Gut der Freiheit hüten, nutzen und verteidigen wollen oder nicht. Wir haben es vor Mißbrauch zu schützen und dürfen es gegebenenfalls für uns selbst einmal freiwillig Gott zum Opfer bringen. Niemals aber haben wir das Recht, die Lebenslust sittlicher Entscheidungsfreiheit im P r i n z i p mit der kollektiven Tyrannei zu vertauschen. Überall da, wo die evangelische Freiheit eines Christenmenschen im politischen Raum Gestalt gewinnt, da ist Europa im protestantischen Verständnis. 4. Die geistig-politische Bedeutung des protestantischen Geisteserbes für das Selbstverständnis und die Mission Europas ruht aber auch noch in einem letzten, durchaus evangelischen Postulat der Reformation:
in der Forderung persönlicher Verantwortung auf allen Gebieten. Sie kann ein lediglich moralisierender Appell sein. 5. Das Ernstmachen mit der christlichen eschatologischen Hoffnung.
Auch mit diesem Postulat sind selbstverständlich allerhand schlummernde Gefahren verbunden, die jeweils aus dem „Gebot eine sündige Verzerrung machen, aber es bleibt doch bestehen, daß das Leben des Einzelnen, wie das Leben der Völker, seinen Sinn verliert, wo der lebenweckende, lebenerhaltende und verworrene Fehlentwicklungen wieder heilende Wille zur persönlichen Verantwortung des an Gott gebundenen Menschen mangelt.
C) Wie sieht die Wirklichkeit aus? 1. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Protestantismus lange Zeit hindurch diesen seinen besonderen Auftrag gegenüber der europäischen Gemeinschaft und gegenüber der Zukunft Europas weder gesehen noch unmittelbar praktiziert hat. Indem bereits im 16. Jahrhundert die Landfürsten und insofern die deutschen Territorialstaaten den geistig-politischen Ertrag der Reformation übernahmen und durch die enge Bindung der Kirche an den Staat den Gedanken unmittelbarer kirchlicher Verantwortung gegenüber den weltlichen Mächten gelähmt haben, ist der Protestantismus in den reformierten wie in den lutherischen Gebieten hier und da einer gewissen spießbürgerlichen Enge erlegen, die in der Praxis eine wesentlich obrigkeitsfromme quietistische Haltung der meisten evangelischen Christen erzog. 2. Wo aber überhaupt so etwas wie ein protestantischer Beitrag zu den Schicksalsfragen Europas geliefert wurde, da trat er stets in einer doppelten, nicht nur verschiedenartigen, sondern einander entgegengesetzten Haltung auf. a) Die politische Gesinnung, die das Luthertum unwillkürlich pflegte, kam im allgemeinen mehr dem Ordnungsprinzip und dem Ideal von Gehorsam, Disziplin, Pflichttreue und Bescheidenheit zugute.
b) Die politischen Gesinnungsenergien dagegen, die der Calvinismus entwickelte, entsprachen vielmehr dem Widerstands-willen einer kämpferischen Kirche, die dem säkularen Staat und auch den weltlichen Staatengemeinschaften (zum Teil in deutlicher Ablehnung) den heiligen Willen Gottes gegenüber stellten. Im eigenen Bereich gestalten sie dafür einen schriftgebundenen Stadtstaat, der wesentlich theokratische und militante Züge aufwies, die das Gefühl für die Zusammengehörigkeit der Völker und für ein hier geltendes Völkerrecht im Bewußtsein der europäischen Nationen zum Schwinden brachten. 3. Auf diese Weise hat das Luthertum, ohne es zu wollen, zur Pflichttreue und zu einem wenig reflektierten Untertanengehorsam, der Calvinismus aber zur permanenten Oppositionshaltung geführt, die noch bis in die Zeiten des Hitlerreiches der Bekennenden Kirche in Deutschland, Holland, Frankreich und Norwegen zugute kam.
D) Was hat der Protestantismus zukünftig in Bezug auf seine politische Aufgabe zu lernen?
In k e i n e m Fall hat er gegenüber der katholischen Christenheit zu resignieren. 1. Der Protestantismus wird aber an der Notwendigkeit nicht vorübergehen können, seine bisherigen Überlieferungen zu revidieren.
a) Er wird vor allen Dingen erkennen müssen, daß er in einen ökumenischen Zusammenhang der Kirche hineingehört, in dem seine eigenen Wahrheitserkenntnisse als relative Beiträge zur Gesamt-verantwortung begriffen und den Erfordernissen des heutigen Gemeinschaftssuchens angepaßt werden.
b) Er wird — durch die Erfahrungen der letzten 20 Jahre belehrt — von Grund auf lernen müssen, daß es ein privates Christentum nicht gibt, und daß eine Kirche, die sich lediglich auf ihre innergeistlichen und verwaltenden Aufgaben beschränkt, an dem Auftrag Gottes schuldig wird, der die Welt mit ihrer Sünde, ihrer Not und ihrer Hoffnungslosigkeit, wie die Menschen, die davon betroffen sind, für Gottes unergründliches Erbarmen in Anspruch nimmt.
c) Wenn das aber richtig ist, dann muß der Protestantismus der Gegenwart in seiner Mitte ein neues „diakonisches Amt“ entwikkeln, das im großen Stil die Gestaltung des Lebens in allen seinen Formen, also auch die des Lebens im Beruf, in der Arbeitsgemeinschaft, in der völkischen Gemeinschaft und in der Staatengemeinschaft übernimmt. Weil die Menschheit in unsere Zeit das Dasein nicht mehr bewältigt — weder die Einzelnen, noch die Völker — wird sich eine Christenheit finden müssen, die die ungelösten Probleme unseres Jahrhunderts im Verhältnis der Generationen zueinander, im Verhälnis der Geschlechter zueinander, im Verhältnis der Berufsstände zueinander und im Verhältnis der Staaten und der großstaatlichen Gebilde zueinander auf das Herz und Gewissen nimmt. Hier läge eine Vokation des Protestantismus von einer so ungeheuren Bedeutung, daß sie geradezu als eine „politische Vokation“ verstanden werden kann. Entweder wir lernen es, in Zukunft wieder miteinander leben zu können auf allen Ebenen unserer sozialen Existenz oder wir werden zugrunde-gehen. Nicht nur Europa, sondern dann auch die Welt.
Die Wandlung, die wir hier brauchen, wird sowohl eine Wandlung der Erkenntnisse, wie eine Wandlung der Gesinnung sein. Sie wird sich ganz sicher nicht von außen erzwingen lassen, und sie ist erst recht nicht engeres Aktionsreservat der unmittelbaren politischen Verantwortungsträger. Sie ist aber eine politische Aufgabe von eminenter Tragweite. Sie wird nur übernommen und gelöst werden können, wenn wir die Gewissen der evangelischen Christenmenschen in Europa aufrufen und in unserer Mitte den neutestamentlichen Gedanken des „allgemeinen Priestertums“
als Laienapostolat der Glaubenden entfalten. Die Möglichkeit, daß es in Europa noch einmal so etwas geben könnte, wie die Realität eines „christlichen Abendlandes“ kann füglich bestritten werden.
Was aber nicht bestritten werden kann, das ist das Vorhandensein der eminent wichtigen Tatsache, daß alle großen Fragen, die die Zukunft Europas und der Welt angehen, einen zugleich politischen und zugleich parapolitischen, also allgemeinen menschlichen, sozialen, geistigen, ja religiösen Charakter tragen. Was nicht bestritten werden kann, ist die Dringlichkeit der Forderung, daß letzte, tragende und lösende Kräfte (nicht rein politischer Art) entbunden werden müssen, wenn nicht jeder vordergründige Entwirrungsversuch in Europa von vornherein zum Scheitern verurteilt sein soll.
Schluß:
Die Frage, ob der Protestantismus einen politischen Auftrag in Europa hat oder nicht, kann nicht theoretisch beantwortet werden, sondern muß in actu, d. h. im Vollzüge ermittelt werden. Sie ist also immer eine Frage an uns selbst. Mea res agitur. Wie man sie angreift, ist generalisierend nicht auszusagen. Wollte man es dennoch versuchen, dürfte man es nur so tun, daß man in contrapunktischen terminis sich ausdrückt. Man könnte dann vielleicht am besten so formulieren:
Wir müssen in der evangelischen Kirche viel geistlicher werden, als wir es leider oft gewohnt waren und im selben Augenblick viel w e 111 i c h e r , als wir es uns in der Gefangenschaft getrauten. Beides zugleich!