Mit Genhmigung der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart, übernehmen wir aus der Zeitschrift „AUSSENPOLITIK“ (Heft 11/1953) den folgenden Beitrag von Chester Wilmot, der am 10. Januar dieses Jahres beim Absturz der „Comet" -Verkehrsmaschine bei der Insel Elba tödlich verunglückte. Den Lesern der Beilage des Parlaments ist Chester Wilmot als Autor der Beiträge über die „Raketenkriegsführung“ bekannt.
Wenige Aspeskte der britischen Außenpolitik werden im Auslandsofalsch interpretiert und mißverstanden, wie Großbritanniens Stellung zu den gegenwärtigen europäischen Einheitsbestrebungen. Man bezichtigt Britannien, derldeeder Vereinigten Staaten von Europa feindselig gegenüberzustehen und ihre Verwirklichung vorsätzlich zu verhindern, weil es eine Beteiligung an übernationalen Organisationen wie der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft als volles und aktives Mitglied verweigert.
An keiner dieser Anschuldigungen ist etwas Wahres und jene, die sie erheben, übersehen die Eigentümlichkeiten britischer Interessen und Verantwortlichkeiten. England gehört Europa durch geographische, gefühlsmäßige und kulturelle Bindungen an. Aber es gehört auch zur atlantischen Gemeinschaft, als Brücke zwischen der Alten und der Neuen Welt, und zu seinem eigenen weltweiten Commonwealth, wo es das Bindeglied zwischen Asien und Europa, zwischen dem Atlantik und dem Pazifik bildet. Diese dreifache Treuepflicht — zu Europa, dem Atlantik und dem Commonwealth — bedingt die englische Politik: Britannien kann keine Verpflichtungen übernehmen, die seine Loyalität gegenüber einem dieser drei gefährdet, noch kann es sich einem Partner rückhaltlos verschreiben. Falls es das tun sollte, würde es seinen Einfluß auf die anderen schwächen und damit seine Fähigkeit, gute Dienste zu leisten.
Folglich steht am Anfang der englischen Europapolitik ein wesentlicher Vorbehalt: daß England sich keiner überstaatlichen Organisation oder föderalistischen Institution anschließen kann, der es einen Teil seiner Souveränität opfern müßte. Dieser Vorbehalt wird in gleicher Weise von der Konservativen und der Labourpartei und der öffentlichen Meinung gutgeheißen. Er entspringt dem besonderen Verhältnis zwischen Großbritannien und den anderen Mitgliedern des Commonwealth, das eine freie Vereinigung gleichberechtigter, autonomer Nationen ist, die nicht starre konstitutionelle Fesseln, sondern gemeinsame Loyalität zur Krone und eine weite Gemeinschaft des Geistes und der Interessen verbinden.
Die Widerstandskraft des Commonwealth beruht auf der Tatsache, daß alle seine Glieder souveräne Staaten bilden und über volle Handlungsfreiheit nicht nur in inneren Angelegenheiten. sondern auch in ihrer auswärtigenPolitikverfügen. Sie wirken mittels Konsultation und Kooperation zusammen und nicht aufGrund derLeitung irgendeiner zentralen Behörde, die über die Gewalt verfügt, den anderen die Auffassung der Mehrheit oder die Politik des mächtigsten Mitglieds, Großbritanniens, aufzuerlegen.
Einige der Commonwealth-Länder verfolgen in zahlreichen Fragen eine betont unabhängige Linie, was jedoch ihre allgemeine Anhänglichkeit an die Völkergemeinschaft und ihre großen Ziele nicht mindert. Da überdies angenommen wird, daß das vereinigte Königreich bemüht ist, die Interessen des ganzen Commonwealth zu fördern, akzeptieren die übrigen Mitglieder in den Hauptfragen der Außenpolitik und Verteidigung gewöhnlich die britische Führerschaft.
Diese Voraussetzung würde hinfällig werden, wenn das vereinigte Königreich der europäischen Föderation angehörte, die ein Recht hätte, die britische Politik in Angelegenheiten der Verteidigung und des Außenhandels, die für das Commonwealth von so großer Bedeutung sind, zu bestimmen. Eine derartige Mitgliedschaft würde England Verbindlichkeiten aufbürden, die mit seiner Verantwortung für die anderen Glieder des Commonwealth unvereinbar sind. England würde gegenüber der europäischen Föderation Verpflichtungen übernehmen, die gewichtiger wären als jene, die es mit den Commonwealth-Ländern verbindet. Wenn so das Vereinigte Königreich durch formale verfassungsmäßige Bindungen enger an Europa denn an das Commonwealth geknüpft wäre, könnte es nicht die Interessen des Commonwealth voranstellen und würde unverzüglich die Führungsposition verlieren, die es jetzt innehat.
Zusätzlich ergäbe sich ein schwerwiegendes verfassungsmäßiges Problem. Von allen Mitgliedstaaten wird die Königin als das Haupt des Commonwealth anerkannt, und die Krone ist es, der die Untertanentreue jedes Bürgers im Commonwealth, außer in Indien, verpflichtet ist. Die Schaffung eines europäischen Überstaates, dem Britannien als Bestandteil angehört, würde diese Stellung grundlegend ändern. Der Kanadier, der Australier, der Jamaicer, sie alle schuldeten als LIntertanen der Krone ungeteilte Gefolgschaft, aber der britische Bürger im Vereinigten Königreich wäre in einer anderen Situation. Zwar wäre er noch immer der Königin die Untertanentreue schuldig, dies jedoch vorbehaltlich seiner darüber stehenden Verpflichtung in der europäischen Föderation.
Diese verfassungsmäßige Verwirrung würde zweifellos das Commonwealth schwächen; denn unweigerlich bedeutet sie einen Konflikt zwischen der Loyalität, die das Vereinigte Königreich seinen Commonwealth-Verbündeten auf der einen und seinen europäischen Partnern auf der anderen Seite schuldig wäre. Das Commonwealth könnte sogar dadurch auseinanderbrechen, und wenn dies einträte, wäre Britanniens Einfluß in Europa und in der ganzen Welt empfindlich vermindert. Daher würde das, was Europa durch eine direkte Beteiligung Englands an der Föderation gewänne, zweifellos durch den allgemeinen Niedergang britischer Autorität ausgeglichen. Heute wie in beiden Weltkriegen kann Britannien zur Stärkung und Verteidigung Europas Hilfsquellen in den großen überseeischen Dominien, vor allem Kanada, Australien und Neuseeland, erschließen. In einem durch Britanniens Zugehörigkeit zum föderalistischen Europa geschwächten Commonwealth wären jedoch seine Möglichkeiten dafür kaum so günstig. Es ist in der Tat angemessen, zu sagen, daß England dann nicht mehr in der Lage wäre, einen auch nur entfernt so großen Beitrag zum Wohlstand und zur Verteidigung Europas zu leisten.
Während des vergangenen Jahres sind auf dem Kontinent Englands Schwierigkeiten und seine Vorbehalte besser verstanden worden. 1951 trat der Belgier Henri-Paul Spaak vorn Präsidium der beratenden Versammlung des Europarats zurück, weil er in der britischen Politik eine Vereitelung des westeuropäischen Zusammenschlusses sah. Im September 1952 aber erklärte Spaak in Straßburg: „Wir erkennen ein für allemal, daß Britannien uns nicht in eine Föderation folgen kann, aber es arbeitet schon im Schumanplan und in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit uns zusammen. Wir haben die Idee akzeptiert, daß sich Britannien nicht mit uns vereinigen kann, uns aber unterstützen wird."
In der ernstlichen Absicht, den Schumanplan zu fördern, hat die britische Regierung zur engen Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl eine ständige Kommission in Luxemburg eingerichtet, aber es gibt viele, die nur mühsam begreifen, warum England an einer funktionellen Organisation dieser Art nicht unmittelbar beteiligt sein kann. Das briti-sche Argument jedoch ist klar und folgerichtig. Als im Mai 1950 der Schumanplan für den Zusammenschluß der westeuropäischen Kohle-und Stahlindustrien vorgeschlagen wurde, hielt sich England nicht zurück, weil es den Plan mißbilligte, sondern weil seine Regierung voraussah, daß diese übernationale Organisation wahrscheinlich von einer überstaatlichen politischen Behörde kontrolliert werden müßte, die einer formellen Föderation als Ausgangspunkt dienen könnte. Da England nicht wünschte, dieser Entwicklung bis zu ihrer vollen politischen Reife zu folgen, bestand die britische Regierung darauf, auch ihren Anfängen fernzubleiben. Man hielt es in England für besser, überhaupt beiseite zu stehen, als einer Organisation anfangs beizutreten, während sie noch allein auf wirtschaftlichem Gebiet arbeitete, nur um sie zu verlassen, sobald das politische Problem in den Vordergrund tritt.
nach einer politischen Bedürfnis übergeordneten Regierung ist jetzt anerkannt, nicht nur weil die Kontrolle von Kohle, Stahl und Verteidigung eine Koordinierung der Außenpolitik erfordert, sondern auch, weil es eine Möglichkeit geben muß, die Entfaltung der deutschen Macht innerhalb der funktionellen Gemeinschaften zu bändigen.
Je größer das Verlangen nach einer solchen politischen Autorität ist, um so größer müssen für England die Schwierigkeiten werden, diesen Körperschaften beizutreten. Der entscheidende Punkt ist, daß jede europäische Organisation, der sich England als volles Mitglied anschlösse, lose genug sein müßte, ihm die militärische, finanzielle und politische Handlungsfreiheit außerhalb Europas zu belassen. Eine derartige Organisation würde aber nicht die rechtlichen Sicherungen gegen das militärische Wiederaufleben oder die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands bieten, die Frankreich natürlicherweise fordert. Außerdem würde eine solche Organisation sich nicht zu einer derartigen Föderation entwickeln können, wie Westeuropa sie jetzt anstrebt.
So scheint es, daß Europa die Wahl zwischen einer straffen und echt föderalistischen Organisation ohne Großbritannien und einer weniger starren und wirkungsvollen Vereinigung mit englischer Beteiligung hat. Die Entscheidung muß sicherlich zugunsten der ersteren getroffen werden, denn die zweite wäre lediglich eine überflüssige Wiederholung der NATO.
Obwohl England seine Vorbehalte anmeldet und auf sie hinweisen muß, unterstützt es die europäische Einigungsbewegung weiterhin aufrichtig. England hat die Bildung einer einzigen Macht, deren Machtbefugnis über ganz Westeuropa reicht, traditionell bekämpft, und jahrhundertelang war seine Gleichgewichtspolitik auf ihre Vereitelung angelegt. Die Befürchtung, daß dies auch heute noch die englische Geisteshaltung sei, braucht jedoch kein Europäer zu hegen. England weiß jetzt, daß ein starkes Westeuropa, vereint und wenn nötig föderativ zusammengeschlossen, auf dem Kontinent als Bollwerk gegen das kommunistische Rußland und als Gleichgewicht gegen die Vereinigten Staaten innerhalb der NATO geschaffen werden muß.
Der britische Standpunkt wurde im vorigen Sommer durch Außenminister Eden zusammengefaßt. In einer Rede im Unterhaus sagte er: „Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und der Schumanplan sind Bestandteile der Einheitsbewegung, die im Europarat ihren Ausdruck findet. Aus diesem Grunde billigen wir beide Pläne und wollen wir so eng wie möglich mit ihnen verbunden sein. Dies hat uns bewogen, kürzlich den sechs Partner-Staaten mitzuteilen, daß wir ihre Vorschläge zur Förderung der Integration unterstützen, einschließlich einer eventuellen engeren politischen Vereinigung auf dem Kontinent.“ Eden schloß mit den Worten: „Was ist Englands Pflicht? Sicher doch muß es führen, die Zauderer ermutigen, seinem Glauben und dem Vertrauen Ausdruck verleihen, das die Aufgabe verdient, der wir uns alle — alle Parteien — seit vielen Jahren gewidmet haben.“
Edens Behauptung, daß England die Konsolidierung der europäischen Wirtschaft und militärischen Stärke führend unterstützt hat, ist in der Tat erwiesen. In zwei Weltkriegen hat England die Initiative ergriffen, um den kontinentalen Widerstand gegen Aggression und Tyrannei um sich zu sammeln und wachzuhalten. Er hat Unterstützung aus den Vereinigten Staaten und der Neuen Welt im allgemeinen für die Verteidigung oder Befreiung Europas mobilisiert.
Stärker als jemals in seiner Geschichte ist England heute mit der Verteidigung Westeuropas verbunden. Die Royal Air Force entsendet ein Drittel der Luftgeschwader, die General Gruenther zur Verfügung stehen, und in der Verteilung der neuesten Düsenflugzeuge gibt die englische Regierung sogar der westlichen Verteidigung vor dem Schutz des Vereinigten Königreichs den Vorrang. Die britische Rheinarmee — deren Hauptmacht aus den drei Panzerdivisionen besteht — ist nach Ansicht des Feldmarschalls Lord Alexander „die vortrefflichste Armee, die Britannien je in Friedenszeiten unterhielt“, und sie ist wahrscheinlich die wirksamste und schlagkräftigste Waffe, die General Gruenther besitzt. Diese auf dem Kontinent stationierten Truppen sind ein sichtbarer Beweis für die britische Entschlossenheit, den Plan der Europa-armee zu fördern. Aber damit nicht irgendwelche Zweifel entstehen, hat die britische Regierung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft eine gegenseitige Beistandsgarantie gegeben, die ihre kraft des Atlantikpaktes bereits übernommenen Verpflichtungen noch erhöht.
Mit Recht sind Deutschlands Nachbarn über die Möglichkeit besorgt, daß ein wiederbewaff. netes Deutschland die EVG dominieren könnte, aber die Anwesenheit britischer und amerikanischer Streitkräfte in Europa bedeutet eine Bürgschaft; dieser Schutz wäre in keiner Weise wirkungsvoller, wenn die britischen Kontingente formell der Europaarmee einverleibt würden.
Ich glaube, daß es im Gegenteil den britischen Einfluß als Gegengewicht gegen Deutschland schwächen könnte. So lange England nicht Mitglied der EVG ist, kann es immer mit dem Abzug seiner Truppen in Europa drohen, falls die USA danach trachten, sich zurüdezuziehen. Man kann daher die Behauptung vertreten, daß die Unabhängigkeit Englands in dieser Hinsicht — und der potentielle Druck, den es somit auf die Vereinigten Staaten ausüben kann — für Europa von größerem Wert als die tatsächliche englischc Beteiligung an der EVG ist.
Eine abschließende Überlegung: Es ist Englands größte Hoffnung, daß, wie Mr. Eden es formulierte, „eine kontinentaleuropäische Ge meinschaft" erwächst, „die Teil einer sich beständig entfaltenden atlantischen Gemeinschaft sein wird“. Ich glaube, daß es Englands wirkungsvollster Anteil an dieser Entwicklung sein dürfte, als Brücke zwischen Europa und Amerika zu dienen, aber es könnte diese Rolle nicht spielen wenn das Vereinigte Königreich selbst in einer europäischen Föderation eingegliedert wäre.