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Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes | APuZ 3/1954 | bpb.de

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APuZ 3/1954 Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes Die Rheinarmee und Europa

Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes

Theodor Litt

Demokratie Der deutschen Erzieherwelt haben die seit dem Abschluß des Krieges verflossenen Jahre eine Reihe von höchst lehrreichen Erfahrungen beschert. Unter ihnen stehen nicht an letzter Stelle die Einsichten, die der Umgang und der Gedankenaustausch mit den Vertretern der Siegermächte mit sich brachte. Es lag ja in der Absicht dieser Mächte, durch Besprechungen, Tagungen, Besuche, Besichtigungen das deutsche Volk enger mit dem Leben der früheren Gegner zu verbinden, als es bis dahin der Fall gewesen war. Und in der Tat erfuhr unser Volk in den so zu Stande kommenden Begegnungen wesentlich mehr von Geistesart und Lebensgewohnheiten der auswärtigen Nationen, als auch die ergiebigste Lektüre orientierender Schriften ihm hätte vermitteln können. Es gewann eine Vorstellung von jenen Konstanten der Lebensführung, die deshalb nicht ausdrücklich ausgesprochen werden, weil sie den ihnen gemäß Verfahrenden „selbstverständlich" geworden sind.

Das gilt auch von den Fragen der „politischen Erziehung“. Diese Fragen, die sowohl die deutschen Politiker als auch die deutschen Erzieher unter dem Titel „staatsbürgerliche Erziehung“ seit mehr als einem halben Jahrhundert beschäftigt hatten, traten in eine neue Beleuchtung, seitdem die hier vorliegende Aufgabe nicht nur mit der Aufgabe einer „Erziehung zur Demokratie" gleichgesetzt, sondern auch mit den Vertretern und Verfechtern der bereits durchgebildeten Demokratien eingehend verhandelt wurde. Eine demokratische Staatsgesinnung war es ja, die den Deutschen in Gestalt der ausländischen Gesprächspartner entgegentrat. Aber in den LInterhaltungen, die diesem Thema gewidmet waren, zeigte es sich alsbald, wie grundverschieden dasjenige war, was man sich auf beiden Seiten unter dem Wort „Demokratie" vorstellte. Für den Deutschen war und ist „Demokratie“ die Bezeichnung für eine bestimmte Staatsverfassung, die die bis dahin bei uns gültige Staatsverfassung ablösen soll. Für den Amerikaner ist das Wort, wie die Pädagogik John Deweys immer wieder mit Nachdruck hervorhebt, die Bezeichnung für das geistige Klima, innerhalb dessen sich alles gemeinsame Leben und Wirken, sowohl diesseits als auch jenseits der Grenzen des im spezifischen Sinne Politischen, vollzieht und gestaltet. Die Verfassung ist nur die zusammenfassende Kodifikation und der repräsentative Ausdruck dessen, was in allen Bezirken des Lebens gilt und befolgt wird. Demokratie ist für den Amerikaner die Lebenslust, die er atmet, sobald er aus dem Kreise des Intim-Privaten hinaustritt Warum die Demokratie für dieses Volk zur allumfassenden Lebensform zu werden vermochte, kann beim Blick auf seine Geschichte nicht zweifelhaft sein. Sie ist geboren worden in einer der größten Stunden des nationalen Schicksals: in dem hinreißenden Schwung des nationalen Befreiungskampfes. Und sie hat die Probe bestanden in einem mit vereinten Kräften bewirkten Aufstieg von beispielloser Großartigkeit. Kein Wunder, daß diese Verfassung dem Volke, das ihr gemäß sein Leben führt, angegossen ist wie ein gut sitzendes Kleid.

An dem Gegenbilde dieses politischen Gesamtzustandes erhellt sich mit einem Schlage die Eigenart der Lage, in der sich unser Volk gegenüber der Staatsform „Demokratie" befindet. Was bei uns „Demokratie" heißt, das ist uns nicht in einer großen Stunde geschenkt worden, es ist nicht das öffentliche Klima, in dem wir zu atmen gewohnt sind. Zweimal ist sie zu uns gekommen auf einem Tiefpunkt unseres nationalen Schicksals, im Gefolge einer vernichtenden Niederlage, unter kräftiger und nicht immer geschickter Nachhilfe derer, die uns diese Niederlage bereitet hatten Auf ihr liegt nicht der Glanz eines nationalen Aufschwungs, sondern der düstere Schatten einer zermalmenden Katastrophe. Die erste Aufgabe, die ihr gestellt ist, ist die Liquididation der Konkursmasse, die das durch sie abgelöste System hinterlassen hat — ist die Durchführung der Bußen und Verzichte, die der verlorene Krieg zur Folge hat. Wie leicht haben es ihre inneren Gegner, an denen kein Mangel ist, ihr alles das aufs Schuldkonto zu setzen, was sie in Erfüllung dieser Verpflichtungen dem Volke zuzumuten genötigt ist! Wie kann ein Staat, der unter solchen Umständen seine ersten Schritte in die Welt zu tun hat, für seine Bürger mehr sein als ein Notbau, an dem seine Bewohner wenig Freude haben — wie kann er ihnen mehr bedeuten als die äußere Form, die mit Leben zu erfüllen der Zukunft vorbehalten bleibt!

Man braucht nur diesen Vergleich durchzuführen, um zu erkennen, in welch grundverschiedener Lage sich der politische Erzieher befindet, je nachdem er unter den Bedingungen des amerikanischen oder denjenigen des deutschen Lebens seines Amtes waltet. Dort hat er lediglich eine überkommene und zur festen Gewohnheit gewordene Weise, gemeinsame Angelegenheiten anzufassen und durchzuführen, getreulich auf die Nachwachsenden zu übertragen, und er darf sich in seiner Bemühung auf die Unterstützung verlassen, die ihm seitens aller an den Seelen formenden Einflüsse des öffentlichen Lebens zu teil wird. Die Schule ist nur e i n Faktor der politischen Erziehung inmitten eines Gesamtgetriebes, das in allen seinen Äußerungen mehr oder minder in die gleiche Richtung drängt. Hier gilt es die werdenden Seelen für eine politische Haltung zu gewinnen, die einstweilen mehr Forderung als Wirklichkeit ist, und für eine Form des Staates zu werben, der selbst im günstigsten Falle erst die Zukunft zu dem ihr gemäßen Inhalt verhelfen wird. Die Schule soll geradezu die Pflanzstätte der Gesinnung sein, die dermaleinst die Demokratie der Deutschen zu voller Blüte erwecken wird.

Ja, das allgemeine Leben versagt nicht nur der Erziehung zur Demokratie die Unterstützung, deren sie sich anderwärts erfreuen darf — es arbeitet ihr stellenweise direkt und absichtsvoll entgegen. Fehlt es doch bei uns nicht an Menschen und Gruppen, die der Demokratie im Raum des deutschen Daseins geradezu das Lebensrecht und die Wirkungsmöglichkeit absprechen möchten, weil sie nicht im Schoße des deutschen Lebens herangewachsen, sondern als ausländisches Produkt importiert worden sei. Mit scheinbarer Resignation, die in Wahrheit spöttischesÜberlegenheitsbewußtsein ist, versichert man, der Deutsche habe kein „Talent“ zur Demokratie, ohne so recht sagen zu können, was denn eigentlich bei uns ihre Stelle einnehmen solle. Weil dergleichen Deklamationen auch dem Lehrer in die Ohren klingen, sei das, was auf sie zu erwidern ist, in aller Klarheit ausgesprochen. Wie die Dinge heute, im Zeitalter der Massen und der Riesen„apparaturen“, nun einmal liegen, stehen wir vor der unausweichlichen Alternative: entweder wir werden zu einem Volk, das im Stande ist, in Form der Demokratie einen gemeinsamen Willen zu bilden und in Taten umzusetzen — oder wir werden abermals das Opfer einer mit mehr oder weniger Geschick getarnten Diktatur. Wer mit dem Gedanken einer dritten Möglichkeit spielt, der ist, er mag es wissen und wollen oder nicht, der Schrittmacher‘eines neuen Totalitarismus. Mag also immerhin die Demokratie, historisch gesehen, ihren Ursprung außerhalb der deutschen Welt haben, das ändert nichts daran, daß wir uns mit ihr zusammenfinden müssen, wollen wir einer Wiederholung des schon einmal Ausgestandenen entgehen.

Selbsterziehung Erst wenn wir uns die Lage der politischen Erziehung in Deutschland rückhaltlos klar gemacht haben, erhellt sowohl die Wichtigkeit als auch die Schwierigkeit der Aufgabe, die unserem Volke unter diesem Titel gestellt ist. Zugleich aber wird auch bemerklich, inwiefern diese Aufgabe aus dem Rahmen dessen herausfällt, was wir uns im Allgemeinen unter dem Wort „Erziehung“ vorzustellen pflegen. Erziehung ist, so meinen wir, ein Vorgang, in dessen Verlauf die ältere Generation das, was sie selbst an Wissen und Können, an Lebenserfahrung und Willens-klarheit ihr eigen nennt, auf die dies alles noch entbehrende junge Generation überträgt. Wo diese Vorstellung herrscht, da scheint nur darnach gefragt werden zu müssen, welches die F o r m e n seien, in denen diese Übertragung am erfolgreichsten und wirksamsten bewerkstelligt werden könne. Verfolgt man die ausgedehnte, alle Schul-und Bildungseinrichtungen umfassende Diskussion unseres Problems, dann könnte man den Eindruck gewinnen, als ob auch für die Durchführung der politischen Erziehung die wiedergegebene Vorstellung die selbstverständliche Voraussetzung bilden müsse. Allenthalben denkt man nur darüber nach, wie die ältere Generation es anzufangen habe, den in ihr selbst aufgespeicherten Schatz an politischer Weisheit und Willenenergie möglichst ungeschmälert an das junge Volk weiterzugeben. Allein hier ist denn doch die Frage am Platze, ob das in dieser Vorstellung sich bekundende Selbstvertrauen in den Tatsachen begründet ist und ob das Festhalten an ihr der Sache selbst zugute kommt oder Schaden tut. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst daran zu erinnern, daß die Demokratie, für die das junge Geschlecht gewonnen werden soll, für die Alten nicht eine ihnen bereits vertraute Form der politischen Willensbildung ist, vielmehr für die Mehrzahl von ihnen nicht weniger ein Novum darstellt als für die durch sie zu Erziehenden. Ja, sollte nicht für sie die Befreundung mit dieser Form aus dem Grunde noch schwieriger sein, weil ihre Seele von Jugend auf mit Leitbildern des politischen Lebens und mit Maximen des politischen Handelns besetzt worden ist, die mit Demokratie herzlich wenig zu tun haben? Sollte sich der als Erzieher zur Demokratie anbieten dürfen, der sein demokratisches Herz selbst erst entdecken muß? Daß die damit angedeuteten Bedenken nicht grundlose Verdächtigungen sind, kann demjenigen nicht zweifelhaft sein, der sich darauf besinnt, wie die Mehrzahl der Zeitgenossen, die sich heute „ältere Generation“ nennen dürfen, die politische Urteils-und Haltungsprüfung bestanden hat, der sie im letzten Menschenalter unterworfen worden ist. Wird diese Gewissenerforschung mit einer nichts unterdrückenden oder beschönigenden Redlichkeit durchgeführt, dann vermag schwerlich die Vorstellung sich zu behaupten, als dürfe die ältere Generation sich Besitzerin eines Schatzes von politischer Einsicht und Charakterstärke fühlen, aus dem gespendet zu bekommen die junge Generation sich glücklich schätzen müsse. Dann werden vielmehr die Klagen und Anklagen unüberhörbar werden, in denen die aus dem Felde heimkehrenden Söhne mit der politischen Verblendung der Väter ins Gericht gingen.

Verabschieden wir also, wenn das Thema „Politische Erziehung" zur Erörterung steht, jenes weithin als selbstverständlich geltende Schema von pädagogischer Einwirkung, das den Älteren einseitig die Rolle des Gebenden und den Jüngeren ebenso einseitig die des Nehmenden zuweist, und gestehen wir uns statt dessen ein: wenn es bei uns Deutschen um politische Erziehung geht, dann handelt es sich um einen Erziehungsvorgang, dessen Eigenart darin besteht, daß nicht die Älteren erziehen und die Jüngeren erzogen werden, vielmehr die Älteren so gut wie die Jüngeren erzogen werden. Und da nun keine sowohl jenen als auch diesen überlegene Instanz, keine beiden übergeordnete Erziehungsmacht vorhanden ist, an die diese Aufgabe überwiesen werden könnte, so liegt hier der bemerkenswerte Sonderfall pädagogischen Geschehens vor, in dem der zu Erziehende zugleich die Funktion des Erziehenden übernehmen muß. Jener Prozeß der „Selbst-Erziehung", den man im Allgemeinen nur als Möglichkeit und Bestimmung des einzelnen Menschen ins Auge zu fassen pflegt, überträgt sich auf ein ganzes Volk, das durch die Geschichte vor die Notwendigkeit gestellt ist, sich zu einer politischen Form durchzuringen, zu der es durch seine Vergangenheit nicht vorgebildet ist. Das Volk, ein Alt und Jung umfassendes Ganzes, erzieht sich selbst als eben solches Ganzes. Und nur dies eine bleibt als Vorzug der älteren Generation übrig, daß sie Wesen und Notwendigkeit dieser Selbst-erziehung mit größerer Klarheit zu erfassen — zumindest die Möglichkeit hat.

Ermißt man die Tragweite der damit gestellten Aufgabe und die Bedingungen ihrer Lösung, dann hört man auf, die politische Erziehung lediglich als Sache derjenigen anzusehen, denen diese Aufgabe von Amts wegen anvertraut ist. Man erkennt, daß sie der Gesamtheit derer obliegt, die irgendwo und irgendwie an der Prägung des öffentlichen Geistes beteiligt sind. Und wie weit reicht der Kreis der Menschen und Gruppen, für die dies zutrifft! Politisch erzogen wird auch in den Amtsräumen der Ministerien und auf den Bühnen der Parlamente, in Gerichtssälen und Verwaltungskanzleien, durch die Verlautbarungen von Presse und Rundfunk usw. Ja, selbst in dem Kreise der Familie und in vertrauten Freundeszirkeln gehen unzählige Worte hin und her, durch die der politische Charakter so oder so gemodelt wird. Es ist. das unübersehbare Geflecht dieser zwischen Mensch und Mensch spielenden Einwirkungen, in dem bei uns ein politischer Gemeingeist sich erst bilden muß, wie er glücklicheren Völkern durch den Gang ihrer Geschichte mitgegeben worden ist. Welch hohes Maß von Besonnenheit und Selbstzucht gehört dazu, dies vielverzweigte Werden vor Mißwuchs zu bewahren und in heilsame Bahnen zu lenken! Niemand aber ist zu dieser Selbstzucht so sehr verpflichtet wie derjenige, zu dessen Amt das politische Erziehertum hin-zugehört, mithin die Gesamtheit aller derer, die auf irgend einer Stufe unserer Bildungshierarchie, von der Hochschule bis zur Volksschule, an den Seelen der ihnen Zugeführten modeln.

Besinnung und Bewährung Aus dem Gesagten geht hervor, daß uns keine geringere Aufgabe gestellt ist als die, uns in einer späten, einer beängstigend späten Stunde des nationalen Wachstumsprozesses und in bewußtem Gegensatz zu den bisherigen Tendenzen dieses Prozesses gleichsam eine neue politische Natur „anzuerschaffen“. Weil diese nationale Erziehungsaufgabe unter Bedingungen zu lösen ist, die den im Zeichen der Demokratie großgewordenen Völkern fremd sind, darum muß sie auch in Formen gefaßt werden, die bei jenen fehl am Ort sein würden. Was für sie selbstverständlich ist, das ist für uns nichts weniger als selbstverständlich. Das bedeutet: es kann nicht anders sein, als daß bei uns der Anteil der bewußten Besinnung auf das Anzueignende unvergleichlich viel größer ist als bei den wie von selbst in die demokratische Lebensform Hineingewachsenen. Die anzustrebende Wandlung kann nicht geschehen ohne die Erweckung klarer Einsicht in das, was uns nottut. und ohne schonungslose Enthüllung dessen, was uns mißleitet.

Mit dem Zugeständnis dieser Notwendigkeit erledigt sich eine Streitfrage, die in den Diskussionen über „staatsbürgerliche Erziehung", wie sie um die Jahrhundertwende in Gang kamen, die Geister entzweit hat, Auch an diese Erziehungsaufgabe wurde die alte Pädagogenfrage herangebracht: worauf kommt es in dieser Bemühung an, auf Erkenntnis oder auf Gesinnung, auf Wissen oder auf Charakter, auf Belehrung oder auf Bewährung? Ist es die rechte Einsicht oder ist es der rechte Wille, was den guten Staatsbürger macht? Es versteht sich von selbst, daß, ist diese Alternative erst einmal als zwingend und unumgehbar anerkannt, der Erzieher garnicht anders kann als für Gesinnung, Charakter, Wille votieren und der Einsicht jene Geringschätzung bezeigen, die ihr ob ihrer „intellektualistischen" Unfruchtbarkeit gebührt. Ja, es kann unter dieser Voraussetzung sogar zu der Meinung kommen, daß durch das Hineinreden des Wissens die ursprüngliche Frische und Reinheit des Willens Schaden leide. Ist die Entscheidung in diesem Sinne gefallen, dann ergibt sich für die organisierte Erziehungsarbeit die einfache Folgerung: man gestalte die Schule so um, daß sie zum „Staat im Kleinen“ wird und so die Stätte bildet, an der die staatsbürgerlichen Tugenden gleichsam in Kleinformat entwickelt und geübt werden können! So wird durch Gewöhnung und Bewährung im werdenden Menschen das hervorgebracht werden, was durch theoretische Belehrung nie und nimmer erzeugt werden kann.

Allein bevor der politische Erzieher sich so für die praktische Einübung und gegen die theoretische Erhellung entscheidet, tut er gut daran, sich die Frage vorzulegen, ob denn überhaupt das Entweder-Oder, das ihn zu einer Parteinahme zu zwingen scheint, zu Recht besteht — ob Theorie und Praxis auf dem Boden der uns beschäftigenden Problematik so voneinander getrennt und gegeneinander ausgespielt werden können, wie es in der pädagogischen Reflexion so oft und gerne geschieht. Es würde zu weit führen, wollten wir diese Prinzipienfrage bis in ihre letzten Tiefen verfolgen. Es muß genügen, festzustellen: wann immer der Mensch Entschließungen faßt und Handlungen vollzieht, die nicht auf die außer-menschliche Natur, sondern auf den Menschen im Kleinen und Großen, auf menschliche Verhältnisse, menschliche Ordnungen zielen, wird die wirkliche Sachlage verhängnisvoll verzeichnet, wenn man Gesinnung und Einsicht so meint auseinandernehmen und gesondert entwickeln zu können, wie es in Beziehung auf die außermenschliche Wirklichkeit tatsächlich möglich ist. Wo der Mensch mit Menschlichem befaßt ist, da ist jedes Aufleuchten echter Einsicht schon ein Anderswerden in der Richtung auf das entsprechende Tun — da ist jeder Durchbruch echten Tuns das Aktuellwerden einer die Richtung weisenden Einsicht. Eine „Einsicht“, die sich nicht in das zugehörige Tun hinein fortsetzt, ist nicht das, was dieser Name besagt, sondern ein unverbindliches Spiel des Intellekts — ein " Tun", das sich nicht aus der zugehörigen Einsicht herleitet, ist nicht das, was dieser Name besagt, sondern Abgleiten in leere Geschäftigkeit. Zugegeben, daß es in der Wirklichkeit an diesen Zerrformen nicht fehlt, wäre doch die Pädagogik übel beraten, wollte sie sich durch sie über das Verhältnis von Theorie und Praxis belehren lassen. Umgekehrt wird sie in ihnen die Entstellungen erkennen, die nicht ausbleiben können, wenn künstlich gesondert wird, was sachlich zusammengehört. Und zumal wenn ein Volk sich vor die Aufgabe gestellt findet, mit Bewußtsein zu erwerben, was anderwärts zwar nicht ohne Bewußtsein, wohl aber unter sehr viel schwächerer Beteiligung der Reflexion herangewachsen ist, könnte ihm nichts unzuträglicher sein als die Vorstellung, es gehe nur darum, ein praktisches Sichverhalten heranzuzüchten, das der Erleuchtung durch die Einsicht in das zu Tuende entraten könnte.

Mit dieser Erkenntnis hebt jene Alternative sich auf, durch die der Erzieher zur Entscheidung entweder für eine nicht durch Einsicht erleuchtete Praxis oder eine nicht durch Taten sich bewährende Theorie gezwungen zu sein vermeint. Der Deutsche muß recht eigentlich „wissen“ um den Staat, um ihm durch sein Tun gerecht werden zu können.

Staat und Staatsbewußtsein Je weniger die Notwendigkeit des „Wissens" um den Staat übersehen werden kann, um so dringlicher die Frage nach dem Inhalt des geforderten Wissens. Die Wortführer der „staatsbürgerlichen Erziehung“ meinten diesen Inhalt finden zu sollen in dem, was man wohl „Bürgerkunde“ nannte: in der Kenntnis der Verfassung, des Verwaltungsaufbaus, der Grundzüge der Rechtsordnung, der gesellschaftlichen Gliederung usw. Kein Zweifel, daß ein Wissen dieses Inhalts für den in den Staat Hineinwachsenden sehr nützlich sein kann. Ob aber dieses Wissen bis zu dem Punkt vorzudringen vermag, an dem sich zwischen Staat und Staatsbürger das rechte Verhältnis herstellt, das ist eine andere Frage. Denn 'in ihm ist doch nur das Insgesamt der institutioneilen Formen zusammengefaßt, in denen das Leben des Staates sich fort und fort „objektiviert“. Dieses Leben selber aber, dieser in rastloser Dynamik fortschreitende Prozeß, der jene Objektivationen nur als vergängliche Verfestigungen aus sich heraussetzt, kann dem in jenem Wissen Sattelfesten vollkommen verborgen bleiben.

Es kann für diese Behauptung keinen schlagenderen Beleg geben als die wahrhaft verblüffende Tatsache, von der wir im Folgenden Bericht erstatten. Wer darauf ausgeht, die Notwendigkeit staatsbürgerlicher Erziehung darzutun und ihren Inhalt näher zu bestimmen, der kommt nicht darum herum, seine Auffassung vom Wesen des Staates — das sich in den genannten Objektivationen nicht von ferne erschöpft — und von den mit diesem Wesen gegebenen Aufgaben des politischen Lebens zumindest anzudeuten. Insofern ist alles das, was während eines halben Jahrhunderts zu unserem Thema geredet und geschrieben worden ist, eine fortlaufende Rechenschaft über die Vorstellungen, in denen die Wortführer dieser Bewegung sich das Wesen der politischen Wirklichkeit vergegenwärtigten. Geht man aber dieser Rechenschaft nach, dann entdeckt man mit Überraschung, wie einseitig und ergänzungsbedürftig, wie wirklichkeitsfern und konstruiert so manche unter den Annahmen waren, aus denen jene Wortführer ihre Vorschläge und Forderungen ableiteten. Ja, es will mir scheinen, als biete die einschlägige Literatur so etwas wie eine Heerschau der Irrtümer, durch die sich der Deutsche hat abhalten lassen, die politische Wirklichkeit als das zu sehen und in seine Lebens-rechnung einzusetzen, was sie ihrem ureigensten Wesen gemäß nun einmal ist. Wenn uns diese Irrtümer sogar bei denjenigen begegnen, denen die Erziehung zum politischen Menschen ein Herzensanliegen ist, so wird man daraus schließen müssen, wie es in dieser Hinsicht erst bei denjenigen bestellt sein mag, die sich durch Sorgen dieses Inhalts nicht das Gemüt beschweren lassen!

Bevor wir uns der Prüfung dieser Irrtümer zuwenden, machen wir uns klar, aus welchem Grunde alle Fehlurteile, in die sich die Auffassung der politischen Wirklichkeit verliert, nicht ernst genug genommen werden können. Ein schlichter Vergleich macht mit einem Schlage sichtbar, worauf es ankommt. Der Gefahr des Irrtums ist der Mensch ausgesetzt, worauf auch immer er seinen Blick richten mag. Allein die Wirkung des Irrtums ist nicht die gleiche, ob er nun diesem oder jenem Bezirk der Wirklichkeit zugewandt ist. Sie ist eine andere, wenn er in einem Erkenntnisbemühen unterläuft, das sich auf die außermenschliche Wirklichkeit richtet — eine andere, wenn er die Erkenntnis jener Wirklichkeit verdunkelt, die durch den Menschen selbst und das von ihm Hervorgebrachte gebildet wird. In j e n e m Falle fragt die Wirklichkeit nicht darnah, ob sie von dem ihr zugewandten Betrachter richtig oder falsch gesehen wird. Sie ist, was sie ist, sie verläuft, wie sie verläuft, gleichgültig, wie sie sich in dem Kopfe des um sie Bemühten spiegelt. Sein Bemühen ist und bleibt ihr äußerlich. In diesem Falle ist der Irrtum, dem der denkende Geist zum Opfer fällt, selbst ein Teilvorgang innerhalb der Wirklichkeit, auf die dieser Geist sich richtet. Wenn der Mensch sich mit Menschlichem beschäftigt, betrachtet er nicht eine Gegenstandswelt, die ihm als ein Abgesondertes gegenüberstände und deshalb gegen sein Bemühen gleichgültig wäre; er bedenkt ein Ganzes, dessen Leben auch in ihm selbst pulsiert, ja dessen Leben auch an dem Irrtum, der ihm das Bild dieses Ganzen verzerrt, ein Stück seiner Fortbewegung hat. In diesem Falle bleiben Wahrheit und Irrtum der Wirklichkeit, in deren Betrachtung sie statthaben, nicht äußerlich; sie gehen in ihr Getriebe ein, und zwar nicht als beiläufige Randbemerkungen, sondern als führende bzw. verführende Impulse des Geschehens. Wenn wir übrigens in diesem Bereich das Denken der Wirklichkeit und die in diesem Denken beziehe Wirklichkeit dergestalt verschränkt finden, so ist das kein anderer Zusammenhang als derjenige, für dessen Anerkennung wir oben eintraten, als wir der Lehre, die auch im Menschlichen Theorie und Praxis streng auseinanderhalten möchte, die Einsicht in ihre unauflösbare Solidarität entgegenstellten.

Alles hier Dargelegte gilt auch und besonders von der Gesamtheit der Vorstellungen, in denen der Mensch sich jenes Stück seiner eigenen Wirklichkeit vergegenwärtigt, das sich „Politik" nennt. Wenn es eines Beleges dafür bedarf, so kann er gefunden werden in der Funktion, die die sog. „Staatstheorien“ im Leben der Staaten ausgeübt haben und fort und fort ausüben. Sind sie doch wahrlich nicht’bloß Belichtungen eines Sachverhalts, der auch unbelichtet derjenige sein würde, als der er sich in ihnen zur Darstellung bringt — nein: sie sind treibende, bisweilen explosiv losbrechende Kräfte innerhalb des Gesamtgeschehens, das durch sie belichtet werden soll.

Ans diesen Überlegungen erhellt, welches Gewicht allen Irrtümern beizulegen ist, durch die dem Menschen die ihn umschließende politische Wirklichkeit verdunkelt wird — welches Gewicht auch und besonders den Irrtümern zukommt, die sich in das Nachdenken über die politische Erziehung nur zu leicht einschleichen. Sie sind nicht Versehen, die den in ihnen mißverstandenen Gegenstand unberührt ließen, sie sind Fehl-leitungen wie des Urteils so des Willens, die das in ihnen falsch Gesehene um so mehr in Verwirrung bringen müssen, je zäher sie sich in den Gemütern der ihnen Verfallenen festsetzen. Es ist wahrlich ein verantwortungsschweres Beginnen, was mit der Losung „Staatsbürgerliche Erziehung" in Gang gebracht wurde!

Staatsbürgerliche Erziehung Der Staat ist ein Gebilde von höchst komplexer Natur. In seinem Aufbau vereinigen sich Motive von durchaus gegensätzlicher Art. Sein Leben vollzieht sich in dem unausgesetzten Bemühen, die ihm innewohnenden Spannungen zu einem relativen und unter allen Umständen nur vorübergehenden Ausgleich zu bringen. Das Unternehmen, einem Gebilde von so verwickelter Struktur durch die Erkenntnis näher zu kommen, ist unausbleiblich der Versuchung ausgesetzt, sein Gefüge dadurch zu vereinfachen und durchsichtig zu machen, daß man eine der in ihm zusammenwirkenden Motivgruppen zur alleingültigen erhöht und die zu ihr im Gegensatz stehenden entweder übersieht oder zur Unerheblichkeit herabdrückt. Und diese Versuchung muß sich erst recht dann geltend machen, wenn die Erkenntnis des Staates nicht um ihrer selbst willen, sondern in der Absicht gesucht wird, für das Ideal des erst zu verwirklichenden Staates die entscheidenden Züge zu gewinnen. Denn alizunahe liegt es dann, von der Vielfältigkeit der im Staat zusammenwirkenden Grundmotive nur diejenigen zu sehen und als pflegewürdig anzuerkennen, die eines positiven Wertakzents für würdig erachtet werden, dagegen diejenigen zu bagatellisieren, die man in seinem Bilde getilgt zu sehen wünscht. Es versteht sich von selbst, daß diese Versuchung auch und erst recht denjenigen bedroht, der Richtlinien der Erziehung zum Staatsbürger aufstellen möchte. Denn nicht für den Staat, wie er i s t, möchte er das werdende Geschlecht erzogen sehen; Erziehung zum Staat ist ihm Heranbildung zu der Entschlossenheit und Fähigkeit, den Staat, wie er sein soll, in die Wirklichkeit einzuführen.

Von der Kraft der hier geschilderten Versuchung zeugt die Geschichte des Gedankens der politischen Erziehung über ihre ganze Erstreckung hin.

Die dem Deutschen so oft nachgesagte Neigung, ja Leidenschaft, sich in letzte Extreme zu verlieren, findet in der Natur des hier zur Erörterung stehenden Objekts nur zu reichliche Nahrung. Man bemerkt in der Geschichte jenes Gedankens das Walten einer Dialektik, die die gegensätzlichen Positionen aneinander und durcheinander zu letzter Grundsätzlichkeit zuschärft. Es muß genügen, diese Dialektik in ihren Haupt-phasen zu kennzeichnen.

Repräsentativ für die mit dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts anhebenden Bemühungen war die als richtungweisend anerkannte Schrift Georg Kerschensteiners „Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung". Er vor allem ist es gewesen, der durch eine totale Umgestaltung des schulischen Lebens es dahin zu bringen gedachte, daß „der Staatsverband mit der fast unübersehbaren Verknüpfung der Lebensinteressen seiner Bürger nur als ein ins Riesenhafte vergrößertes Abbild jenes Schul-Verbandes und seiner Einrichtungen erscheine" und daß mithin die Schule zu einer Übungsstätte aller der Tugenden werde, von denen das Gedeihen des Staates abhänge. Den Kern seines Reformprogramms bilden das Prinzip der „Arbeitsschule", insbesondere der „Arbeitsgemeinschaft", und das Prinzip der „Schüler-Selbstverwaltung“. Es genügt, sich das in die'. pädagogischen Veranstaltungen Vorausgesetzte und Angestrebte zu vergegenwärtigen, um auch schon die Grundzüge des Staatsideals hervortreten zu sehen, zu dessen Realisierung die so erzogene Jugend willig und fähig gemacht werden soll. Denn selbstverständlich muß dieses Staatsideal in der Verlängerung der Linie zu suchen sein, in der jene schulischen Bemühungen sich vorwärtsbewegen. Wird doch ganz unbefangen in dem oben wiedergegebenen Satze der Staat zum Abbild des Schulverbandes und nicht etwa die Schule zum Abbild des Staatsverbandes erklärt! Was ist es, was die Schule zum Embryo des Staates madht Indem die Arbeit aus einem individuellen Anliegen in eine mit vereinten Kräften zu bewältigende Aufgabe verwandelt wird, wird dem Schüler die Erfahrung der fundamentalen Tatsache zuteil, daß nicht nur der arbeitende Mensch tausendfältig auf das helfende Zugreifen des Mit. meischen angewiesen ist, sondern daß auch durch das planvolle Ineinandergreifen der individuellen Kräfte Leistungen ermöglicht werden, wie sie die abgesondert tätigen Individuen nie und nimmer zu Stande bringen würden. Indem ferner die gemeinsamen Angelegenheiten der Schüler in gemeinsamer Besprechung verhandelt und spruchreif gemacht werden, indem die Schüler mit der Verwaltung dieser gemeinsamen Angelegenheiten betraut und für ihre sachgemäße Erledigung haftbar gemacht werden, lernen sie in eigenem Tun die Grundfunktionen kennen, durch deren gewissenhafte Ausübung ein geordnetes Zusammenleben überhaupt erst möglich wird. Sowohl in der Arbeitsgemeinschaft als auch in de: Selbstregierung wird der Schüler mit den Formen der Kooperation und der verantwortlichen Fürsorge vertraut, die auf erweitertem Schauplatz und mit entsprechend erweitertem Wirkungsradius den Staat gründen, erhalten und fortbilden. Das Wesen des Staats aber, der in der Richtung einer dergestalt vorgehenden Erziehung gelegen ist, bestimmt sich in der Tat durch eben die Züge, die in verkleinertem Maßstabe an der nach solchen Grundsätzen organisierten Schule hervortreten. Er ist der Staat der gutwilligen Zusammenarbeit und der verantwortlichen Fürsorge. Er ist, mit Kerschensteiners Worten gesprochen, das „sittliche Gemeinwesen", der „Vernunftstaat", der „Kultur-und Rechtsstaat“, der Staat der „Gerechtigkeit und Brüderlichkeit". Das untrüglichste Kennzeihen aber der totalen Versittlichung, zu der der ideale Staat es zu bringen hat, ist dies, daß in ihm „Gerechtigkeit und Gemeinsinn’ der Bürger so sehr das Feld beherrschen, daß er „keiner Zwangsgewalt mehr bedarf". In diesem Staat wird es so sein, daß „die Staatsinteressen sich mit den ausgeglichenen Interessen aller decken".

Wider dies so überaus harmonische Staatsideal und die aus ihm gefolgerte Staatspädagogik hat schon Friedrich Wilhelm Foerster zu bedenken gegeben, daß die Tugenden, deren Pflege Kerschensteiner der Schule zur Pflicht mache, Tugenden des sozialen Zusammenlebens und -wirkens, nicht aber eigentlich Tugenden des politischen Menshen seien. Denn die Erziehung, die durch Arbeitsgemeinschaft und Selbstverwaltung geleistet werde, sei eine Erziehung zur Verträglichkeit mit Gleichstrebenden und Gleichgesinnten. Im Staate aber komme es gerade darauf an, solche Menschen und Gruppen zu ersprießlichem Zusammenleben und -wirken zu vereinigen, die durch ihre Abweichung in grundlegenden Lebensüberzeugungen nicht nur getrennt, sondern geradezu verfeindet würden. Bereitwillige Einfügung in die Arbeitsgemeinschaft sei mit handfestem Egoismus, der nicht einnehmender werde, wenn er sich zum Gruppenegoismus heraufpotenziere, sehr wohl vereinbar. Das Zusammenleben im Staate aber verlange „eine ganz tiefgehende Überwindung des Egoismus“.

Diese Einwände haben zum Kern die Überzeugung, daß Kerschen-Steiner von einer allzu optimistischen Betrachtung der Wirklichkeit ausgehe, aus der es den Staat hervorzubilden gelte — daß er die Stärke der Widerstände unterschätze, denen dieser Staat abzugewinnen sei Insofern tragen die Überlegungen, die wider diesen Optimismus ins Feld geführt werden, einen betont „realistischen" Charakter. Aber derselbe Foerster, der hier als Anwalt der durch die Erziehung zu respektierenden Realität auftritt, läßt dann doch in dem, was er seinerseits der politischen Erziehung zum Ziele setzt, es nicht weniger an der dieser Realität gebüb. renden Rücksicht fehlen. Sicherlich gehört „Überwindung des Egoismus zu den Aufgaben, deren sich die Erziehung anzunehmen hat. Es ist aber zu fragen, wie weit diese Forderung auch auf das Gebiet des Politischen ausgedehnt werden darf, ohne daß durch sie die Realität, die wir „Politik nennen, nicht sowohl versittlicht als vielmehr verneint würde. Prüfstein dafür ist die Behandlung, die dem Problem der staatlichen Machti Rahmen dieser Überlegungen widerfährt. Daß das Moment der politischen Macht in Kerschensteiners Ideal des vollkommen versittlichten Staates vergeblich gesucht wird, kann bei der inhaltlichen Bestimmung diese ea s ni t Wunder nehmen. Foerster geht nicht so weit, Tatsache un en ig eit der staatlichen Macht geradehin zu verleugnest-Alkin in die inhaltliche Bestimmung des durch den Staat zu verwirklichenden Ziels wird sie nicht ausgenommen. Sie wird ausdrücklich aus ihr entfernt. „Das eigentliche Wesen und Fundament des Staates, das Bindemittel seines Zusammenhalts, ist geradezu das Gegenteil von Macht, nämlich Recht, Ordnung, sittliche Gemeinschaft zwischen entgegengesetzten Interessen“. Ein Satz, der notwendig eine Fülle von Fragen, vor allem aber die eine Frage hervorrufen muß, ob Macht als solche das Gegenteil des als sittliche Verfassung des Staates Anzustrebenden darstellt und daher aus dem Zielbereich der politischen Erziehung zu verbannen ist. Wenn Foerster hier der Erziehung unter dem Namen „Staat“ ein Gemeinwesen als Ideal vorhält, das man nicht unangemessen mit Berthold Otto als „organisierte Nächstenliebe“ bezeichnen könnte, so ist genau der Zweifel am Platze, mit dem er selbst der Staatspädagogik Kerschensteiners begegnet: ob hier nicht der Boden des Politischen verlassen und die Sphäre allgemein-menschlicher Verpflichtungen betreten sei, die, wie immer ihr Verhältnis zu den Seins-und Handlungsformen der politischen Welt beschaffen sein mag, auf keinen Fall mit ihnen identifiziert werden dürfen. „Freund und Feind“

Es bedarf nicht näherer Ausführung, wie radikal der Umschlag war, der in der Entwicklung der Ideen zur politischen Erziehung und in der Gestaltung dieser selbst erfolgte, als der Staat der Deutschen sich der „Weltanschauung" des Nationalsozialismus verschrieb. War doch in dieser Weltanschauung eine Bestimmung der dem Staat obliegenden Aufgaben und der ihm vorbehaltenen Handlungsformen enthalten, die in allen Teilen der Verneinung, ja der Ächtung alles dessen gleichkam, wofür die bis dahin anerkannten Wortführer der politischen Pädagogik eingetreten waren. Hatte bisher die Losung „Friede, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Brüderlichkeit“ gelautet, so wurden jetzt diese Forderungen insgesamt als Ausfluß femininer Weichlichkeit gebrandmarkt und durch eine Verkündigung ersetzt, die den Haß gegen das anders Geartete und Gerichtete zur preisenswertesten Tugend erhöhte und den Kampf als die Form des Handelns feierte, durch die die schönste Bewährung hervorgelockt werde und für die deshalb die Gemüter der Heranwachsenden so früh und so wirksam wie möglich vorzubereiten seien. Wir verzichten darauf, den Ergüssen jener Pädagogen zu lauschen, die sich äußerst beflissen zeigten, das Evangelium vom männerzüchtenden Kampf in die Formeln handlicher Erziehungsprogrammatik umzuschreiben, und begnügen uns damit, die Auswechselung der Begriffe zu verfolgen, in der der Umschwung des staatspädagogischen Denkens sich am greifbarsten ausprägte. Kerschensteiners „Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung" tritt als schroffe Antithese Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ gegenüber — eine Schrift, in der das „kämpferische“ Ethos des Nationalsozialismus sich selbst in Gedankenform wiederfand und die daher für einen großen Teil besonders der akademischen Jugend zum Kanon des politischen Verhaltens werden konnte.

Schmitt hat mit den vorher besprochenen Autoren dies gemein, daß er das Wort „politisch" als Bezeichnung eines Sachverhalts versteht, der zwar im Staate manifest wird, aber sich nicht auf die Sphäre des Sraats beschränkt — nur daß diese Erweiterung nicht unvermerkt und wider Willen, sondern mit vollem Bewußtsein geschieht. Aber der Hauptunterschied liegt in etwas anderem. Bei den Genannten hat jene Erweiterung den Erfolg, daß am Politischen durch Annäherung an das Allgemein-Menschliche der Zug entzweiender Parteibildung merklich zurücktntt. Bei Schmitt hat sie zur Wirkung, daß am Allgemein-Menschlichen durch Akzentuierung des Politischen der Charakter feindseliger Aufspaltung beherrschend hervortritt. Denn worin findet Schmitt das entscheidende Kriterium für das Wesen des „Politischen“? Er findet es in der fundamentalen Unterscheidung, die überall da das Verhalten bestimmt, wo Menschen und Menschengruppen politisch denken, wollen und handeln. Diese Unterscheidung ist diejenige von Freund und Feind. Daraus folgt, daß der Grundsinn des Politischen sich vor allem im K a m p f offenbart. Und dieser Kampf hinwiederum erweist dadurch die „existentielle“ Bedeutung des Grundverhältnisses, aus dem er entspringt, daß er in letzter Konsequenz sich auf Leib und Leben des Bekämpften erstreckt. So sind Krieg bzw. Bürgerkrieg die menschlichen Ereignisse, an denen sich das Wesen des Politischen am vollkommensten ablesen läßt.

Wer das Wesen des Politischen an der Hand dieses Kriteriums meint bestimmen zu sollen, der kann in dem Bilde des Staates, an dem sich die Staatspädagogik bis dahin orientiert hatte, nur die Ausgeburt eines Denkens erblichen, welches dem Politischen nicht nur ohne jedes Verständnis gegenübersteht, sondern es durch erzieherische Einwirkung aus dem Dasein des Menschen zu verdrängen bedacht ist. Dies Bild ist ihm nichts weiter als der pädagogische Ausdruck jenes „Liberalismus", der, wenn er „Staat“ sagt, die völlig entpolitisierte „Gesellschaft“ meint, der also, auch wenn er es nicht weiß oder wissen will, de facto den Staat verneint. Dieser illusionären Verflüchtigung des Staates stellt sich die Lehre entgegen, die das Wesen der den Staat konstituierenden Grundmotive mit einem nichts unterdrückenden oder beschönigenden „Realismus" ins Licht zu rücken entschlossen ist. Welchen Inhalt eine politische Pädagogik haben muß, die sich den so bestimmten Begriff des Politischen zur Richtschnur nimmt, versteht sich von selbst. Herauskommen kann dabei nichts anderes als jene Pädagogik des „kämpferischen“ Menschen, die der Nationalsozialismus mit allen ihm verfügbaren Mitteln zur Alleinherrschaft zu bringen bemüht war. Das Gegenextrem zur Pädadagogik der staatsbürgerlichen Eintracht ist erreicht. „Partnerschaft“

Es kam die Stunde, da die „nationalpolitische Erziehung“ des Dritten Reichs mit den Verwesern dieses Reichs von der Bildfläche verschwand. Indem unser Volk sich vor die Aufgabe gestellt fand, ein neues Staatswesen wie aus dem Nichts aufzubauen, ein Staatswesen, von dem einstweilen nur so viel feststand, daß es ein solches von „demokratischem“ Gepräge sein müsse, wurde der politischen Erziehung ein Auftrag erteilt, wie er ihr in solcher Schwere noch nicht auferlegt worden war. Es war der Auftrag, von dessen Natur und Schwierigkeit die einleitenden Ausführungen Rechenschaft gaben. Es galt, die Seelen der Heranwachsenden nicht etwa bloß einem schon vorhandenen Staatswesen zuzubilden, sondern zum Einsatz für ein erst zu schaffendes Staatswesen willig und fähig zu machen. Die Sachlage brachte es mit sich, daß die damit gestellte Auf--gäbe nur in Auflehnung wider den Geist des vom Schauplatz abgetretenen politischen Systems, also nur im Angehen wider die Pädagogik der heldischen Bewährung angepackt werden konnte. Es geschah mithin nur, was zu erwarten war, wenn das Pendel, nachdem es bis zur Apotheose des Kampfes ausgeschlagen war, nunmehr mit nicht geringerer Energie in die entgegengesetzte Lage zurückschwang. Mustern wir die seit Kriegsende hervorgetretene Literatur zu unserem Thema, so gewahren wir die Herrschaft einer Grundtendenz, die sich schon in dem beliebten Titel „Gemeinschaftskunde“ unmißverständlich ausspricht. Die politische Erziehung hat alle diejenigen Einsichten und Willensimpulse zu entwickeln und zu pflegen, die geeignet sind, das Gemüt auf Versöhnlichkeit, Einmütigkeit, Verständnisbereitschaft, Hilfsbereitschaft zu stimmen. Man fühlt sich mit einem Schlage wieder in die geistige Atmosphäre versetzt, die uns aus den Auslassungen der „staatsbürgerlichen" Pädagogen bereits vertraut ist. Dabei widerfährt dann dem Begriff des „Politischen“ von neuem jene Verflößung ins Soziale, ja Allgemein-Menschliche, die sich mit einer solchen Sänftigung des Politischen so leicht und selbstverständlich verbindet.

Repräsentativ für diese neue Wendung in der politischen Erziehung ist das Buch von Friedrich Oetinger, das schon durch seinen Titel die maßgebende Orientierung zu erkennen gibt. Es nennt sich „Partnerschaft". Zu der erwähnten Ausweitung bekennt sich der Verfasser schon im Eingänge durch die Erklärung, daß für ihn die Staatserziehung nicht mehr sei als ein „Sonder fall der politischen Erziehung“. Und dieser Erklärung dient der gesamte Inhalt des Buches zur Erfüllung. Denn was in ihm behandelt wird, ist nicht weniger als das Insgesamt der zwischenmenschlichen Beziehungen, deren Gestaltung über die Möglichkeit und Ersprießlichkeit des Zusammenlebens und Zusammenwirkens entscheidet. Neben dem Begriff der „Partnerschaft“ ist es vor allem der der „Kooperation“, der das Wesen der durch die politische Erziehung zu erzeugenden „Haltung" bezeichnet. Hinzu treten weiterhin das „soziale Wohlwollen“, die „nachbarschaftliche Solidarität“ die „Genossenschaftlichkeit“, schließlich die „Menschlichkeit“. Kein Wunder, daß angesichts der inhaltlichen Bereicherung, die dem Begriff des „Politischen“ damit widerfährt, das im engeren und eigentlichen Sinne „Politische" zum „Bloß staatlichen“ verblaßt und daß der Mißerfolg der bisherigen Ver-suche politischer Erziehung dem „monotonen Hinstarren auf den Staat" zu Lasten geschrieben wird. Dem deutschen Bürger wird es zum Vorwurf gemacht, daß er unter dem Einfluß dieser „Staatsmetaphysik“ „zu seinem Staat in einem unmittelbaren Verhältnis gestanden habe“ — im Gegensatz zum englischen Bürger, der „nur mittelbar zum Staate sei“, d. h. von ihm nur durch Vermittlung der gemeindlichen Selbstverwaltung erfahre. Daher der Apell: „Weg von den Staatsbildern und hin zur praktischen Lebensführung!" „Demokratie nicht als Staatsform, sondern als Lebensform!“

Kritik und Forderung beweisen übereinstimmend, wie sehr hier das Verhalten zum Ganzen des Staates einerseits, das Verhalten innerhalb der übersehbaren Kreise alltäglichen Zusammenlebens andererseits als stetig ineinander übergehende Stufen eines und desselben menschlichen Grund-verhaltens angesehen werden. „Politik" beginnt in der Urzelle der Familie, setzt sich fort in der Schule, in der Schülerselbstverwaltung, in der Arbeitsgemeinschaft, im Jugendbund, im Sport, vollendet sich in der Kooperation der sich im Geist der Partnerschaft zu gemeinsamem Tun Verbindenden. Dazu paßt es, wenn die der Politik gestellte Aufgabe in einer Weise bestimmt wird, die den von Schmitts Freund-Feind-Theorie Herkommenden höchstlich verblüffen muß: es ist ihre Aufgabe, „Frieden zu halten“. Oder noch einfacher: „Politik ist derjenige Handlungszusammenhang, in dem die Einsicht leitend ist, daß das Leben weitergeht.“

Auf die Einwände seiner Kritiker eingehend, stellt Oetinger nicht in Abrede, daß zum Wesen der Politik der Kampf gehöre. Aber indem dann der politische Kampf den Formen der Auseinandersetzung nebengereiht wird, die „den meisten sozialen Situationen anhaften“, geht der Wert dieses Zugeständnisses verloren. Das zeigt sich darin, daß die „Änderung des Kampfstils", die der politischen Erziehung zur Aufgabe gesetzt wird, in nichts anderem besteht als darin, daß durch Unterordnung unter die Idee der „Partnerschaft“ der Austrag des politischen Kampfs den Weisen des Sichverständigens angeglichen wird, durch die im Bereich der sozialen Beziehungen die Eintracht der zunächst Uneinigen sich herstellt. Wenn man, wie Oetinger das tut, „in allen sozialen Gebilden ein gewisses Maß von Macht, Autorität, Überordnung" meint finden zu sollen, dann hat man eine Klimax aufgestellt, durch welche die Auflösung des Politischen ins Soziale beträchtlich erleichtert wird. Und doch ist ein wahrhaftig nicht nebensächlicher Unterschied zwischen den in einer bestimmten Ordnung menschlicher Dinge vorgesehenen Verhältnissen der Über-und Unterordnung und jener „Überordnung" des aus dem Kampf um die Macht siegreich Hervorgegangenen, von der die Anlage dieser Ordnung und die Verteilung der innerhalb ihrer Gebietenden und Gehorchenden überhaupt abhängt!

Das Politische und das Soziale In dem Schicksal der Entschärfung, das dem wahrhaft „politischen“ Kampf, dem Kampf um die Macht, in dieser Theorie der politischen Erziehung widerfährt, kann ich nur den jüngsten Beleg für jene Unsicherheit unseres Staatsbewußtseins erblicken, für die mir die ganze Geschichte der Staatspädagogik in allem Wechsel der Auffassungen Zeugnis abzulegen scheint. Sieht es doch so aus, als ob in ihrem Fortgang immer wieder die eine Einseitigkeit durch die ihr entgegengesetzte kompensiert werden müßte. Es geht von einer Friedenseligkeit, die den politischen Kampf zu einer der Korrektur bedürftigen Abirrung herabsetzt, hinüber zu einem angeblichen Realismus der Staatsbetrachtung, der das Wesen des Politischen nur im Zusammenprall unversönlicher Gegensätze finden kann, und dann wieder zurück zu einer abermaligen Sänftigung des politischen Kräftespiels, die den politischen Konflikt der Vielzahl der durch wohlmeinende Verständigung zu schlichtenden Meinungsverschiedenheiten einreiht. Aus diesem Schwanken kann ich nur das eine folgern, was schon oben ausgesprochen wurde. Wir Deutschen können und werden mit dem Staat nicht zurechtkommen ohne eine wirkliche Einsicht in sein Wesen — eine Einsicht, die uns davor bewahrt, ihn entweder zu einer gesellschaftlichen Veranstaltung zu verharmlosen oder zum Herd eines permanenten Kriegszustandes zu verteufeln. Und diese Einsicht kann uns nicht durch gutwilliges Einleben in engere Lebenskreise „vermittelt" werden; sie kann nur in direktem Blick auf diese ohne gleichen dastehende Schöpfung des geschichtlichen Menschen gewonnen werden. Diese direkte Zuwendung ist um so unerläßlicher, als wir in unserer gegenwärtigen Lage wahrlich nicht die Zeit für einen Lehrkursus haben, der uns im Durchgang durch unterstaatliche Lebenskreise schrittweise zu einem erst zuletzt in Sicht tretenden Staat durchdringen ließe. Wir sind als Staatsvolk verloren, wenn es uns nicht in letzter, in allerletzter Stunde ein „unmittelbares" Verhältnis zum Staat zu gewinnen gelingt.

Worin der Irrtum der den Staat unzulässig verharmlosenden Doktrinen besteht, das geht schon aus folgender Überlegung hervor. Wer den Staat anhält, sich an den durch das soziale Leben entwickelten Formen der Verständigung und Zusammenarbeit ein Beispiel zu nehmen, der bringt ihn mit jenen in ein Verhältnis der Neben Ordnung. Er ist ihm eine Spielart menschlicher Vereinigung neben anderen, ja recht eigentlich der „Spezialfall" eines weit über ihn hinausgreifenden menschlichen Verhaltens. Nur auf Grund dieser Vorstellung ist ein abwägender Vergleich des im Staat und des in der Gesellschaft Geschehen-den und die Entscheidung für die dort oder die hier heimischen Handlungsformen möglich. Allein diese Nebenordnung kann nur dem statthaft erscheinen, der vergißt, daß für die Gesamtheit der gesellschaftlichen Formen, für ihr Werden und für ihr regelrechtes Funktionieren, das Bestehen des Staates notwendige Voraussetzung ist. Nur im Rahmen und auf dem Boden der Lebensordnung, deren Zuverlässigkeit einzig und allein durch den Staat garantiert wird, kann das gesellschaftliche Leben jene Formen der Verständigung und Zusammenarbeit hervorbringen und betätigen, die wegen ihrer „Friedlichkeit“ des Beifalls der Wohlgesinnten sicher sind. Wo diese Ordnung fehlt oder auch nur brüchig ist, da entfällt auch die Möglichkeit einer auf gütlicher Vereinbarung beruhenden Kooperation. Denn diese Kooperation würde im Wirbel der Unordnung untergehen.

Wenn es aber die Bestimmung des Staates ist, durch die von ihm gestiftete und gehütete Ordnung die Bedingungen friedlichen Kooperation zu schaffen und zu wahren — ist er dann seinerseits im Besitze der Möglichkeit oder untersteht er gar der Forderung, auch sein eigenes Verhalten auf die Formen dieser Kooperation zu bringen, d. h. dahin zu gelangen, daß es in seinem eigenen Bereich ebenso „friedlich" hergeht wie in dem Bereich jener sozialen Vereinbarungen? Das kann zunächst aus dem einfachen Grunde nicht so sein, weil er unmöglich für die Einhaltung der bestehenden Ordnung die Gewähr übernehmen könnte, wenn er nicht bereit und gerüstet wäre, den Widerstand derjenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, sich dieser Ordnung zu fügen ablehnen, durch Einsatz von physischem Zwang zu brechen. Wollte er auch gegen sie nur in den Formen vorgehen, durch die in der Gesellschaft etwaige Unstimmigkeit behoben wird, so wäre es um seine Ordnung geschehen. Wenn also Kerschensteiner der staatsbürgerlichen Erziehung als Richtund Zielpunkt ein Gemeinwesen meint vorhalten zu sollen, das „keiner Zwangsgewalt mehr bedarf", so hat er damit dem Staat, zu dem er erzogen sehen möchte, etwas geraubt, durch dessen Abwesenheit er Staat zu sein aufhört, damit aber auch schon die Bedingung aufgehoben, durch die das Bestehen von wirklich der Zwangsgewalt nicht bedürfenden Verbände überhaupt erst möglich wird.

Schon diese bittere Notwendigkeit schließt den Staat von der Möglichkeit eines rein „partnerschaftlichen" Verhaltens aus. Aber noch gewichtiger ist ein zweites Hindernis. Wenn wir von „der" Ordnung sprechen, für deren Einhaltung „der“ Staat die Garantie übernehme, so könnte das so klingen, als ob das Wie dieser Ordnung und die Beschaffenheit des für sie einstehenden Staates sich von selbst verstehe. Allein in Wahrheit setzt, wenn die Notwendigkeit „der“ Ordnung anerkannt ist, die schwerste Problematik erst ein. Denn jetzt heißt es: welche Ordnung? welcher Staat? Sind doch solcher staatlicher Ordnungen sehr verschiedenartige denkbar und durch die Menschheit realisiert worden. Darüber belehrt zu werden hat keine Generation weniger nötig als die der gegenwärtig Lebenden. Haben doch die Gegensätze, durch die die Welt von heute zerrissen wird, nicht zum wenigsten darin ihren Grund, daß es so grundverschiedene Bilder der anzustrebenden staatlichen Ordnung sind, an denen sich die politischen Leidenschaften der Völker und der Parteien entzünden. Aber selbst zwischen denen, die hinsichtlich es Wie der zu verwirklichenden Ordnung einer Meinung sind, kann neuer Zwiespalt aufbrechen angesichts der weiteren Frage, wie denn innerhalb der übereinstimmend bejahten Ordnung die durch sie vorgesehenen Funktionen auf die in Betracht kommenden Personen verteilt werden sollen. Umstritten ist wie die Wahl der Ordnung so die Auslese der sie vertretenden Menschen. Kurzum: wann immer es gilt, nicht innerhalb einer schon bestehenden Ordnung Einvernehmen zu stiften, sondern überhaupt erst eine Ordnung herzustellen, tut sich ein Feld grundsätzlicher und personaler Gegensätze auf, die ausgetragen werden müssen, bevor überhaupt an die Realisierung von Ordnung herangegangen werden kann.

Dies die Verwicklung, auf der es beruht, daß vom Wesen des Politischen das Moment des Kampfes nicht abzutrennen ist. Soweit die Theorie von Schmitt es sich angelegen sein läßt, diesem Moment zu seinem Recht zu verhelfen, ist ihr nicht zu widersprechen. Daß, wo Politik getrieben wird, auch gekämpft wird, das hat nicht darin seinen Grund, daß in Gestalt des Staates den sonstigen gesellschaftlichen Verbänden ein weiterer zur Seite träte, der sich von ihnen durch seine schlechten Manieren unterschiede und deshalb nach ihrem Muster zu besseren Sitten erzogen werden müßte. Es hat darin seinen Grund, daß, damit überhaupt in den menschlichen Verhältnissen irgend eine dauerhafte Ordnung geschaffen werden könne, es einer Entscheidung über die Gestalt dieser Ordnung und die Auslese der sie vertretenden Personen bedarf — einer Entscheidung, die nur als Resultat eines Kampfes zwischen den auf diesem Felde Konkurrierenden zu Stande kommen kann. Was dem in diesem Kampfe Obsiegenden zufällt, das ist die „M acht", d. i. das Vermögen und die Befugnis, der ihm vorschwebenden Ordnungsidee zur Verwirklichung zu verhelfen. Alle Versuche, den Kampf aus dem politischen Leben zu verbannen, verraten ihr Ungenügen in der Unfähigkeit, der Macht im Gefüge des Menschlichen den rechten Platz anzuweisen.

Es ist demnach nicht der Staat, der erst den Kampf in ein Leben hinein-brächte, das ohne sein Auftreten kampflos sein würde. Es ist der Kampf, der durch die in ihm fallende Entscheidung den Staat erst möglich macht und der auch die seine weitere Fortbildung bestimmenden Entscheidungen herbeiführt. Die Rechtfertigung dieses Kampfs und dessen, was bei ihm herauskommt, liegt darin, daß nur durch die ihm zu verdankende Ordnung jene Vereinigungen möglich werden, die es ihrerseits nicht nötig haben, sich in gleich rauhen Formen zu bilden und zu festigen. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet erscheint das, was dem gesell-schfatlichen Leben von Seiten des Staates zuteil wird, geradezu als das Geschenk einer Entlastung. Die diesem Leben entspringenden Vereinigungen können und dürfen „friedlich“ sein, weil der Staat den aus dem gemeinsamen Menschenleben nicht auszuscheidenden Unfrieden in sich konzentriert und durch sich verarbeitet. Staat und Gesellschaft stehen nicht als Spielarten menschlicher Verbandsbildung äußerlich nebeneinander. Sie stehen in einem funktionalen Zusammenhang, der so geartet ist, daß jener auf sich nimmt, was dieser untersagt, damit aber auch erspart bleibt.

Der politische Kampf Wenn aber aus der Sphäre des Politischen der Kampf nicht ausgeschaltet werden kann, dann muß auch die politische Erziehung sich hüten, Vorstellungen von einem möglichen und anzustrebenden Staat zu erwecken, der den Kampf von sich abgetan hätte. Und zwar ist es nicht bloß die für den Erzieher selbstverständliche Pflicht der Wahrhaftigkeit, die ihn abhalten muß, den Ernst der politischen Wirklichkeit durch schönfärberische Vorspiegelungen zu verschleiern. Viel schwerer wiegt noch die Erkenntnis, wie sehr der politische Kampf vergiftet werden muß, wenn die, die ihn zu führen haben, in ihm ein Vorkommnis erblicken, das, falls alles mit rechten Dingen zuginge, nicht sein dürfte. Denn sobald sich dieser Gedanke der Gemüter bemächtigt hat, muß alsbald auch die Frage laut werden, wer denn eigentlich für die Fehlentwicklung, die sich in dieser Abnormität verrate, verantwortlich zu machen sei. Verantwortlich gemacht werden können selbstverständlich nur die Menschen, die in den Kampf verwickelt sind. Da aber diese Menschen gerade in ihren letzten Überzeugungen einander schroff entgegengesetzt sind — ist es doch gerade diese Gegensätzlichkeit, die sie in den Kampf getrieben hat — so scheint es unmöglich, ja sinnwidrig, die Schuld gleichmäßig auf beide Seiten zu verteilen. Es muß doch wohl entweder die eine oder die andere Seite sein, deren Schuldkonto mit dieser Ausartung zu belasten ist. Von der Aufstellung dieses Entweder-Oder aber ist es dann nur ein Schritt bis zu der Folgerung, die dem vor Kampfesleidenschaft Erglühenden selbstverständlich ist: wenn denn nur eine Seite für diese Krankheitserscheinung der politischen Welt haftbar gemacht werden kann, dann kann es nur der Gegner sein, der die Last der Verantwortung zu tragen hat. Die eigene Sache steht zu hoch, als daß ihr der gleiche Verdacht nahen dürfte, und der Kampf, der im Namen dieser Sache geführt wird, ist der heilige Krieg gegen das, was nicht sein soll und deshalb als das Radikal-Böse mit allen Mitteln aus dem Dasein aus-getilgt werden muß. Durch solche Gedankenvermittlungen wird die Lehre, die den politischen Kampf als eine Ausartung des menschlichen Zusammenlebens meint verurteilen zu sollen, zum Nährboden jenes verbissenen Fanatismus, der im politischen Gegner nichts anderes zu erblicken vermag als den sei es um seiner Torheit sei es um seiner Niederträchtigkeit willen zu liquidierenden Schädling der menschlichen Gesellschaft. So kann es geschehen, daß eine Theorie der politischen Erziehung, die dem Frieden zu dienen meint, wenn sie den politischen Kampf als Verstoß wider die rechte gesellschaftliche Ordnung verurteilt, in Wahrheit einer Denkweise Vorschub leistet, die den nun einmal unaufhebbaren Antagonismus zum menschenmörderischen Vernichtungskampf aufpeitscht.

Daß mit dieser Überlegung nicht nur Möglichkeiten konstruiert, wo nicht Schreckgespenster beschworen, sondern grauenhafte Realitäten aufgezeigt sind, darüber belehrt uns ein Blick auf diejenigen Staatswesen, deren politische Praxis eine von solchen Überlegungen diktierte Ideologie zur Grundlage hat. Welches ist denn die Staatsform, die schlechthin alles tut, um mit der Meinung aufzuräumen, als gebe es, wenn die Ordnung menschlicher Dinge in Frage steht, eine Mehrheit von Ordnungsideen, deren Kampf nicht durch Heiligsprechung der einen und Ächtung der anderen unterbunden werden dürfe, sondern in dialektischer Auseinandersetzung auszutragen sei? Es ist der totalitäre Staat. Denn er will nur von einer Ordnungsidee wissen, nämlich derjenigen, der er im Aufbau seiner selbst gehorcht, und setzt systematisch alle sonstigen Ordnungsideen, die mit ihr konkurrieren könnten, zu verderblichen und daher um jeden Preis auszurottenden Verirrungen der Dummheit oder Erfindungen der Bosheit herab. Damit verwandelt sich automatisch die Unterdrückung der unerwünschten Ideen in die Liquidierung der Personen, die sie vertreten, und die Doktrin, die den politischen Kampf als eine den Böswilligen schuldzugebende Anomalie verurteilt, wird zur Rechtfertigung der grauenhaftesten Menschenschlächterei.

Wenn aber der totalitäre Staat das Verdienst hat, die Bedenklichkeit einer Lehre ad oculos zu demonstrieren, die den politischen Kampf in die Zone des Nichtseinsollenden verweist, so gibt es andererseits eine Staatsform, zu deren Wesen es gehört, daß sie diesen Kampf nicht nur als nicht zu beseitigende Tatsache hinnimmt und anerkennt, sondern geradezu als stilbildendes Motiv in ihr Gefüge einbaut. Diese Staatsform ist die Demokratie. Sie ist gerade insofern die eigentliche Gegenspielerin des Totalitarismus, als sie in dem Streit der Ordnungsideen und der sich ihnen unterstellenden Menschengruppen nicht einen leidigen Mißstand, sondern das Lebensprinzip erblickt, in dessen immer erneuter Realisierung sich der Staat je und je seine Gestalt gibt. Sie ist deshalb so ferne davon, einer bestimmten Ordnungsidee das Privileg der Vertretungswürdigkeit zuzusprechen, daß sie ihre Gegenspielerin nicht nur zum Kampfe zuläßt, sondern geradezu zum Widerstand einlädt. Sie ist die permanente Aufforderung zur kämpfenden Auseinandersetzung der in ihrem Schoße vereinigten Gegensätze. Denn sie hat zur Grundlage die Überzeugung, daß das Widereinander der Prinzipien und Gruppen dem Staat und den im Staate lebenden Menschen nicht nur keinen Schaden bringt, sondern, richtig ins Spiel gesetzt, zum Heile gereicht. Demokratie kommt der Absage an jede staatlich monopolisierte Heilslehre gleich.

Gerade der Demokratie wird also der schlechteste Dienst erwiesen durch eine Theorie der politischen Erziehung, die den politischen Kampf zu einer Verirrung stempelt, die zu Gunsten des Prinzips friedlicher Kooperation zum Verschwinden gebracht werden müsse. Was sie in Gestalt des politischen Kampfes verneint, das ist nichts Geringeres als das Lebensprinzip der Demokratie. Den Kampf der politischen Über-zeugungen nicht zu verleugnen, sondern in seine Rechte einzusetzen:

das liegt im Sinne der Staatsform, der uns zuzubilden die geschichtliche Stunde uns zur Pflicht macht.

Nur wenn die politische Erziehung sich entschließt, den Kampf der politischen Überzeugungen nicht nur nicht aus dem Bilde des idealen Staates zu entfernen, sondern als notwendiges Attribut auch und gerade des »freien" Staates anzuerkennen, st sie gewappnet wider einen Einwand, durch den die Gegner der Demokratie auf die noch Schwankenden besonders starken Eindruck zu machen pflegen. Gerade dies legen sie der Demokratie mit Vorliebe _ur Last, daß sie nicht im Stande sei, den Kampf der Meinungen durch Aufrichtung eines für alle Volks-genossen überzeugenden Staatsgedankens ein Ende zu bereiten. Ihr dauerndes Schicksal sei, Zersplitterung zu begünstigen, wo es Einheit zu stiften gelte. Ihr Unvermögen sichtbar zu machen muß dann sehr oft das Gegenbeispiel der — totalitären Staaten dienen. Was man auch -so heißt es dann — gegen Theorie und Praxis dieser Staaten cinwenden möge, eines könne ihnen auch der abgesagte Gegner nicht absprechen: daß es ihnen nämlich gelungen sei, zumindest große Teile des Volkes und zumal der Jugend durch die überredende Kraft einer die Gemüter packenden »Idee" zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Wie schlecht müsse im Vergleich mit dem hier Erreichten-ein Staat abschneiden, der, wie der demokratische, sich die Proklamation einer allverbindenden Idee schon aus dem Grunde zu untersagen habe, weil für ihn die Mehrheit der bereits vorhandenen Ideen Tabu sei!

Die also wider die Demokratie Deklamierenden vergessen, sich zu fragen, ob denn die Häufung von Mißbräuchen und Ausschreitungen, durch welche die totalitären Staaten die Mitwelt entsetzen und empören, und der sichtbare Erfolg ihrer Bemühungen, das Staatsvolk im Zeichen einer einzigen „Idee“ zu vereinigen, nur durch Zufall in einem und demselben Gemeinwesen zusammengetroffen seien — ob man also das Eine ohne das Andere, die Einheit der Idee ohne die Gewaltsamkeit ihrer Durchsetzung, haben könne. Stellen wir diese Frage, so kann nach dem oben Ausgeführten die Antwort nicht zweifelhaft sein. Wenn die Machthaber im totalitären Staat die eine und einzige Idee als Prinzip einer politischen Ersatzreligion für allverbindlich erklären und gegen die ihr nicht Gefügigen mit Feuer und Schwert einschreiten, so tun sie dies in der wohlbegründeten Überzeugung, daß auf der von uns erreichten Stufe der kulturellen Entwicklung eine Uniformität nicht so sehr der Gesinnungen wie der Bekenntnisse nur durch einen alle Mittel zum Einsatz bringenden Gewissenszwang und einen keine Schonung kennenden Terror erreichbar sei. Wenn umgekehrt die Demokratie auf Anerkennung einer allverbindlichen „Idee“ hinzuarbeiten unterläßt, so tut sie es nicht in resignierendem Verzicht auf ein an sich höchst Wünschens-und Erstrebenswertes, sondern in der Einsicht, daß, wie die Dinge heute liegen, das kostbare Gut der Freiheit nur in einem Staatswesen erhalten bleiben kann, das die Mehrheit vorhandener Überzeugungen nicht nur zu nivellieren sich verbietet, nicht nur ungehindert gewähren läßt, sondern mit vollem Bewußtsein und planmäßig als Momente seines eigenen Lebensprozesses zum Einsatz bringt. Ist die Alternative Uniformität — Freiheit in ihrer Unausweichlichkeit erkannt, dann wird man aufhören, ein Gebrechen der Demokratie darin finden zu wollen, daß es ihr an einer allerseits bejahten „Idee“ mangele. Und zumal die Jugend, der es gar so schwer fällt, sich mit der Demokratie zu befreunden, wird einsehen lernen, daß das, was man mit gutem Grunde die „Idee“ der Demokratie nennen könnte, in nichts anderem als darin besteht, daß sie eine inhaltlich bestimmte Idee von Staats wegen zu kanonisieren sich versagt.

Kampf und Friedensordnung Oben wurde der funktionale Zusammenhang aufgezeigt, in dem das »Politische" und das „Soziale" stehen. Es geschah in der Absicht, die strukturelle Verschiedenheit des einen und des anderen darzutun. Denn wenn zwei Betätigungsformen funktional miteinander verbunden sind, dann können sie nicht zugleich wie zwei Spielarten des nämlichen Grund-verhaltens einander nebengeordnet werden. Indes der gleiche Zusammenhang kann und will auch unter einem anderen Gesichtspunkt betradhtet und gewürdigt werden. Der Ton kann wie auf die Verschiedenheit des •funktional Verbundenen so auf die funktionale Verbundenheit des Verschiedenen gelegt werden. Und erst beide Aspekte zusammengenommen ergeben ein erschöpfendes Bild dessen, was im Zusammenspiel der Funktionen geschieht.

Das gilt auch dann, wenn das Verhältnis des Politischen und des Sozialen in Frage steht. Weil es zunächst darauf ankam, die Eigenart des Politischen gegen den Versuch der Grenzverwischung zu verteidigen. wurde aller Nachdruck auf das gelegt, wodurch das Politische sich vom Sozialen unterscheidet. Jetzt aber heißt es einschen, daß das Wesen des Politischen nicht weniger verzeichnet wird, wenn die Unterscheidung sich zur Abtrennung verschärft, mithin das Politische so auf sich selbst gestellt wird, daß das Soziale wie eine Beigabe erscheint, die ebensogut fehlen könnte, ohne daß dem Politischen an seinem Wesen Abbruch geschähe. Diese Verzeichnung liegt überall da vor, wo der Kampfcharakter des politischen Lebens mit harter Ausschließlichkeit ins Licht gerückt und davon abgesehen wird, daß der politische Kampf die Bestimmung hat, die Herstellung von Ordnung möglich zu machen. Ohne Frage heißt es das Politische bis zur Selbstaufhebung vereinseitigen, wenn man den Gegensatz, der die im politischen Kampf widereinander Stehenden entzweit, zu der Unbedingtheit einer das Letzte ergreifenden Verfeindung verschärft — einer Verfeindung, deren „existentieller" Charakter sich erst dann so recht enthüllt, wenn sie in die physische Vernichtung des Gegners ausläuft. Wenn es das Wesen des Politischen ist, sich im Akt der Tötung am reinsten zu offenbaren, dann kann es allerdings nicht anders sein, als daß das solcher Selbstausweisung nicht fähige Soziale zum gleichgültigen, wo nicht stilwidrigen Anhängsel entwertet wird.

Es bedarf nicht des Nachweises, wie weit verbreitet und wie mächtig gerade in unseren Tagen die Leidenschaften sind, denen eine solche „existentielle“ Auslegung des politischen Kampfes so recht nach dem Herzen ist. Um so dringlicher ist es geboten, in Erinnerung zu bringen, daß ein Kampf erst dadurch zum „politischen“ Kampf wird, daß er die Herstellung von Ordnung zum Ziel oder wenigstens zum Erfolg hat. Wo dieser Erfolg ausbleibt oder gar das Gegenteil seiner erstrebt und erreicht wird, da ist der Kampf nicht mehr als das naturhafte Zusammenprallen vitaler Energien. Man wird also im Gegensatz zu Schmitt sagen dürfen, daß der wahrhaft „politische“ Kampf insofern gerade nicht ein „existentieller" ist, als es in ihm auf Herstellung eines Zustandes abgesehen ist, der die Freund-Feind-Relation für weite Bereiche außer Kraft setzt und durch friedlichere Beziehungen ersetzt.

Es sind zunächst allgemeine Erwägungen über das Wesen des Politischen überhaupt, die uns nötigen, einer Theorie zu widersprechen, die dies Wesen von den Grenzfällen des Krieges bzw.des Bürgerkrieges her meint interpretieren zn sollen. Aber unser Widerspruch gewinnt den Charakter einer wahrhaft brennenden Aktualität, wenn wir uns fragen, wie diese Theorie zu der besonderen Lage paßt, in der w i r uns als die an diesem bestimmten Ort der Geschichte Ausgesetzten befinden. Die Behauptung, daß die Politik erst dann ganz sie selbst sei, wenn Blut fließe, hat etwas tief Erschreckendes für ein Geschlecht, welches weiß oder wenigstens wissen kann, daß der nächste Krieg nicht nur die ganze Welt in Flammen setzen, sondern auch mit der Selbstvernichtung der Kulturmenschheit enden wird. Den politischen Kampf wird es geben, so lange es Menschen gibt. Er könnte nur aufhören, wenn sie davon abließen, in der Ordnung der allgemeinen Dinge den Gegenstand ihres Nachdenkens und ihres Bemühens zu finden — worin wir weder etwa Mögliches noch etwas Wünschbares erblicken können. Ist es wirklich an dem, daß der Wille, der diesen Kampf in Gang erhält, erst als Wille zur physischen Vernichtung des Gegners zu seinem Vollsinn durchbringt, dann ist über die Menschheit bereits das Todesurteil verhängt. Eine Rettung vor dem uns drohenden Untergang gibt es nur dann, wenn es möglich ist, den politischen Kampf auch weiterhin mit allem Ernst, ja mit der ganzen Leidenschaft zu führen, die ihm gebührt, und doch den Austrag mit den Waffen aus seinem Vollzug völlig zu eliminieren. Weil von dem Gelingen dieser Ausschaltung schlechthin alles abhängt, deshalb ist jede Doktrin von Übel, die uns glauben machen möchte, daß der politische Kampf kraft seiner inneren Logik unfehlbar in den Kampf der Waffen einmünden müsse.

Denn sie lähmt den Willen, dem nahenden Verderben Einhalt zu gebieten.

Umgekehrt kann das Bestreben, den Krieg aus dem Leben der Menschheit zu verbannen, keinen besseren Bundesgenossen finden als jene be-

grifflichieBestimmung des Politischen, die ihm seine „existentielle“ Unversöhnlichkeit nimmt, indem sie den Zusammenhang mit der sozialen Friedensordnung ins Licht rückt. Denn in diesen Zusammenhang könnte am letzten eine Politik sich einfügen, die an der physischen Vernichtung des Gegners ihr sinngebendes Endziel hätte.

Schon in der Erörterung dieses Grenzfalles zeigt es sich, daß, wenn das Politische in der Tat so mit dem Sozialen verbunden ist, wie es hier dargetan wurde, der politische Kampf nicht einfach als ein Faktum, in das man sich zu schicken hat, hingenommen werden muß, sondern bestimmten Forderungen unterstellt zu werden verlangt, die zwar das Daß seines Bestehens unberührt lassen, aber um-so energischer in das W i e seiner Verwirklichung hineingreifen. Es ist durchaus nicht so, daß, wer in dem politischen Kampf ein durch kein Ausgleichsstreben dem Menschenleben Abzunehmendes erkennt, ihn auch in jeder Form der Durchführung gutzuheißen genötigt wäre. Im Gegenteil: gerade weil es zum Schicksal des Menschen gehört, den Kampf der politischen Über-zeugungen immer wieder durchstehen zu müssen, wenn anders er zu verläßlicher Ordnung durchdringen will, kommt alles darauf an, diesem Kampf die Gestalt zu geben, die er haben muß, um die von ihm erwartete Entscheidung in aller Klarheit herbeiführen und doch sich von allem freihalten zu können, was unnötige Bitternis erzeugen, unnötiges Leid bereiten und so dem Zustand entgegenwirken würde, den möglich zu machen der Sinn des Kampfes ist. Der Wille, den Krieg aus ihm zu entfernen, ist nur der äußerste Grenzfall eines Bestrebens, das auch da, wo die politische Auseinandersetzung in unblutigen Formen vor sich geht, genug Anlaß zu mäßigendem Eingreifen findet. Wenn wir oben den Ausführungen, in denen Oetinger einer „Änderung des Kampfstils“ das Wort redet, mit kritischen Bedenken begegneten, so bezogen sich diese Bedenken nicht auf die Forderung als solche, sondern nur auf die Art ihrer Begründung und Ausarbeitung. Läßt es sich doch zeigen, daß die in jener Formel ausgesprochene Aufgabe nur unter der Voraussetzung mit Erfolg in Angriff genommen werden kann, daß der politische Kampf als solcher nicht durch Angleichung an die Formen sozialer Kooperation verleugnet, sondern in seiner Unterschiedenheit von ihnen ohne Vorbehalt anerkannt wird.

Daß dem so ist, das wird durch eine Fehlentwicklung erwiesen, deren Wesen und Ursprung schon oben erörtert wurde. Wir sahen, daß der Kampf gegen den politisch Andersdenkenden gerade da am sichersten die Gestalt eines Vernichtungsfeldzuges annimmt, wo man in der Notwendigkeit, zu kämpfen, nur die Folge der Verfehlung erblicken will, deren sich eben jener Andersdenkende schuldig gemacht habe. Also gerade unter der Herrschaft einer Ideologie, die von dem Kampf als einem die Struktur des Politischen bestimmenden Grundmotiv nichts wissen will, sehen wir diesen Kampf zum organisierten Massenmord ausarten. Aber vielleicht tun wir gut, nicht bei der Entrüstung über diesen Triumph der Unmenschlichkeit stehen zu bleiben, sondern uns die Frage vorzulegen, ob die Vorstellungen, von denen es zu so schaudererregenden Folgerungen weitergeht, nur in dem totalitären Staat den Kurs bestimmen, oder ob die dort Tonangebenden nur eine Denkweise bis zur Vollendung durchbilden, die auch anderwärts, ja auch in den „freien" Staaten ihr Unwesen treibt. Gestehen wir uns doch ein, daß, wo immer sich politische Bekenntnisse im Kampfe messen, die Versuchung, den Anders-denkenden dadurch mattzusetzen, daß man ihn zum Dummkopf oder zum Schurken stempelt, ständig im Hintergrund lauert! Selbstgerechtigkeit und Unduldsamkeit sind Untugenden, die den politischen Kampf auc da zu vergiften drohen, wo der Staat davon absieht, den von der offiziellen Heilslehre Abweichenden zum Ketzer zu erklären und als Verbrecher unschädlich zu machen. Und zumal wir Deutsche haben, wie schon der Blick auf unsere Vergangenheit lehrt, wenig Grund, uns gegen diese Versuchung immun zu glauben. Schwerlich hätte der nationalsozialistische Totalitarismus mit seinem Evangelium wütenden Hasses bei uns so breite Gefolgschaft finden können, wäre nicht der Hang, den politisch Andersgläubigen zu verketzern, ihm als eingefressenes nationales Laster zur Hilfe gekommen. Und auch die deutsche Demokratie wird für solche Entartung bedenklich anfällig bleiben, so lange die in ihr vereinigten Parteien darauf bestehen, ihren Programmen ein „weltanschauliches" Fundament, d. h. ein solches Fundament zu geben, das mit Glaubensinbrunst bejaht und verfochten zu werden verlangt.

Erst im Hinblick auf die hier ständig drohende Verhärtung der Kampf-fronten und Verwilderung der Kampfsitten wird vollends deutlich, wie wichtig es ist, daß die politische Erziehung in dem Kampf der politischen Überzeugungen die Form erkennen lehrt, in der das politische Ganze sich je und je seine Gestalt gibt, und sich hütet, diese Form dadurch zu verwischen, daß sie ihr durch Annäherung an die soziale Friedensordnung gerade ihre charakteristischen Züge nimmt. Denn nur, wo man der politischen Wirklichkeit ohne Bangen in ihr strenges Antlitz blickt, kann jene „Änderung des Kampfstiles“ Wirklichkeit werden, deren kein Staat so sehr bedarf wie der demokratische. Nur wo die Einsicht herrschend geworden ist, daß das Widereinander der sich befehdenden politischen Ideen und Gruppen nicht ein zu beklagendes und zu beseitigendes Gebrechen, sondern die Normalform gesunden politischen Lebens ist, kann der Typus jenes politischen Menschen gedeihen, der an der eigenen Über-zeugung mit einer nicht ins Wanken zu bringenden Treue festhält und ihr mit ganzer Hingabe zu dienen nicht müde wird, ohne deshalb in dem Nachbar, der einem abweichenden Bekenntnis in gleicher Treue ergeben ist, etwas Anderes und Schlechteres erblicken zu wollen als den Widerpart, mit dem in ritterlichem Kampf um den Siegespreis der Macht zu ringen das Gesetz des politischen Lebensraumes gebietet.

Wo die Macht durch eine von solcher Gesinnung regierte Kampfführung errungen und zur Herstellung einer vom gleichen Geist diktierten Ordnung eingesetzt wird, da erweist sich die Abwegigkeit von Foersters Behauptung, die Macht sei das Gegenteil dessen, was den Staat im Innersten zusammenhält, dieweil sie Äußerung jenes „Egoismus“ sei, den zu unterdrücken der Staat den Auftrag habe. Macht ist ein notwendiges Moment an jedem Staat, der Ordnung zu stiften sich fähig erweisen soll. Allerdings kommt nun nicht weniger als alles darauf an, welches die Formen sind, in denen die Macht erkämpft wird, und wie die Ordnung aussieht, der sie zum Dasein verhilft. Hier tut sich die ganze Skala von Möglichkeiten auf, die sich von dem Pol der heilsamsten Machtausübung bis zum Pol des schnödesten Machtmißbrauchs erstreckt. Das Geheimnis aber und der nicht zu ersetzende Vorzug cer Demokratie ist es, daß unter den durch sie geschaffenen Bedingungen der Kampf um die Macht in vollkommener Klarheit, mit letzter Entschlossenheit und doch ohne jede der Menschenwürde abträgliche Entgleisung geführt werden kann und daß die Ordnung, die der in ihr zur Macht Gelangte stiftet, sich immer von neuem der Prüfung durch die in ihr Zusammengefaßten aussetzen muß.

Demokratie und Erziehung Dem Wesen der Demokratie gerecht werden zu können darf man nicht hoffen, wenn man nicht das Wesen des Staates, das Wesen des Politischen überhaupt erkannt hat. Wie reich an Spannungen dieses Wesen ist, wie leicht es infolgedessen unzulänglichen, weil einseitigen Auslegungen zum Opfer fällt, wie stark durch solche Irrungen das Verständnis der Demokratie in Mitleidenschaft gezogen wird, haben unsere Darlegungen gezeigt. Dabei ist es wahrlich nicht bloß das Bedürfnis nach theoretischer Klarheit, was uns antreibt, diesem Wesen auf den Grund zu kommen. In spätester Stunde genötigt, uns mit einer uns fremden Staatsform zu befreunden, können wir nicht des Beistandes entraten, den nur ein zur Höhe des Wissens entwickeltes Staatsbewußtsein uns in dem Ringen mit dieser Aufgabe leisten kann. An wenigen Stellen werden die aus dieser Lage sich ergebenden Schwierigkeiten so empfindlich verspürt wie im Bereich der politischen Erziehung. Ist es deren Bestimmung, die Nachwachsenden in den Staat hineinzubilden, der an ihnen dereinst seine Träger haben soll, so kann sie sich auch nicht der Aufgabe entziehen, jenes tiefere Wissen zu erwecken, ohne das diese Einfügung nicht gelingen kann. Und muß dieses Wissen so vielen nicht nur möglichen, sondern faktisch grassierenden Mißdeutungen abgewonnen werden, so ist gerade der politische Erzieher derjenige, der die Hemmungen, welche der Lösung der uns gestellten geschichtlichen Aufgabe im Wege stehen, in seiner Tagesarbeit auf Schritt und Tritt zu spüren bekommt.

Und doch kann der Gedanke nicht ernstlich in Frage kommen, vor der damit gestellten pädagogischen Aufgabe mit der Begründung zu kapitulieren, daß das, was hier dem Zögling an Erkenntnis zugemutet werde, „zu schwer" sei. Selbstverständlich bedarf es der ernstlichsten Anspannung der pädagogischen Phantasie und eines erheblichen Aufgebots an methodischer Erfindsamkeit, damit es möglich werde, auf den verschiedenen Stufen der Bildungshierarchie, ir der dem Alter und der Reife der Zöglinge angemessenen Form, jene Einsicht, der einzig sich das Wesen des politischen Getriebes erschließt, wachzurufen und zu der Klarheit durchzubilden, in der sie allein willenbestimmende Kraft zu entwickeln vermag. Vielleicht ist erst die Hochschule diejenige Bildungsstätte, an der der völlige Durchbruch gelingen kann (eine Vermutung, die auf die der Hochschule aus dieser Sachlage erwachsende Verpflichtung ein helles Licht wirft!). Allein wenn seit einem halben Jahrhundert auf die Durchführung der politischen Erziehung so viel Gedanken und Bemühungen verwandt worden sind, dann wäre es doch ein beschämendes Versagen, wollte man vor dieser Aufgabe jetzt die Arme sinken lassen, weil es sich herausgestellt hat, daß die bisherigen Lösungsversuche von allzu einfachen Voraussetzungen ausgegangen sind. Durch einen solchen Verzicht würde die Erziehung ja die Erklärung abgeben, daß sie sich weigere, ihren Anteil an einer Aufgabe zu übernehmen, von deren Bewältigung nicht weniger als die deutsche Zukunft abhängt.

Allein wenn die besagten Schwierigkeiten nicht zum wenigsten darauf beruhen, daß es gerade die Staatsform der Demokratie ist, für die die Erziehung den deutschen Menschen reif machen soll, so mögen zum Abschluß an der Demokratie doch auch diejenigen Eigentümlichkeiten hervorgehoben werden, durch die sie dem durch sie geforderten erzieherischen Bemühen sichtbarlich entgegenkommt. Ohne Übertreibung kann behauptet werden, daß es keine Staatsform gibt, deren Lebensprinzip mit dem Gedanken der Erziehung durch eine so enge, so notwendige Solidarität verbunden wäre, wie sie zwischen Demokratie und Erziehung obwaltet. Gewiß gibt es keinen Staat, der, ist er zu einer gewissen Reife gediehen, auf die Hilfe verzichten möchte, die jene planmäßige Einwirkung auf die Heranwachsenden, die sich „Erziehung" nennt, ihm im Streben nach Selbstbefestigung leisten kann. Allein die Frage, die sich in jedem einzelnen Falle erhebt, ist die, wie weit die Einwirkung, die sich mit jenem Namen schmückt, ihn auch wirklich verdient. Wird diese Frage mit vollem Ernst gestellt und beantwortet, so zeigt es sich, daß zwischen dem Charakter des Staates, der die Erziehung für sich in Anspruch nimmt, und dem Charakter der „Erziehung", die diesem Anspruch Genüge tut, das Verhältnis strenger Korrespondenz besteht. Was das heißt, das läßt sich am einfachsten an jenem Staat des Totalitarismus dartun, der uns schon wiederholt dadurch erleuchtende Aufschlüsse spendete, daß er als Grenzfall der politischen Wirklichkeit ihre möglichen Fehlentwicklungen mit einer sich nichts erlassenden Folgerichtigkeit ans Licht bringt. Auch das, was er als angebliche „Erziehung" in das System seiner Selbstbehauptung einbaut, ist diesen Grenzofenbarungen einzureihen. Ist doch die so sich benennende Einwirkung auf die Heranwachsenden einzig und allein von dem Zielgedanken her bestimmt, jene politische Dogmatik, an der der totale Staat sein ideologisches Fundament hat, so unauslöschlich in das nachgiebige Material der werdenden Seele einzuprägen, daß kein konkurrierender Ordnungsgedanke Gehör finden, geschweige denn Zustimmung finden kann. Das bedeutet aber: die Einsicht, durch deren Erwerb der Mensch zur Fähigkeit des eigenen Urteils und der selbstverantwortlichen Stellungnahme erwacht, wird durch diese „Erziehung“

nicht nur nicht entwickelt, sondern durch eine raffinierte Technik der Seelenbearbeitung niedergehalten. Je zahlreicher und je intensiver die „Schulungen" sind, durch die dieser Staat sich in den Seelen zu verankern versucht, um so krasser tritt es hervor, daß diese angebliche Erziehung das Gegenteil dessen ist, was sie zu sein behauptet: sie ist Dressur zu amtlich vorgeschriebenen Meinungen und Haltungen und damit systematische Unterdrückung dessen, was echte Erziehung mit allen Mitteln emporzuentwickeln bestrebt ist.

Hat der totalitäre Staat allen Grund, in einer die echte Einsicht entwickelnden Erziehung die gefährlichste Gegnerin seiner selbst zu erblicken und sie deshalb durch eine Betriebsamkeit zu ersetzen, die das pädagogische Bestreben zum greulichen Zerrbild entstellt, so läßt sich an diesem Gegenbilde mit aller Klarheit ablesen, weshalb Demokratie nur ihrem ureigensten Lebensprinzip gehorcht, indem sie der Erziehung zu einsichtiger Lebensmeisterung alle erdenkliche Förderung angedeihen läßt. Es liegt im Wesen der Demokratie, daß sie sich nicht auf eine der Kritik entzogene und den Wandel von sich abhaltende Doktrin festlegt, sondern ihre Gestalt und Bewegungsrichtung immer von neuem aus dem Wettstreit sich entgegenstehender Vorschläge und Forderungen sich hervorbilden läßt. Ein Staat, der so mit Bewußtsein auf jede überdauernde Form Verzicht leistet, der kühn genug ist, sich dem Wechsel der Menschen und Meinungen ohne Vorbehalt anheimzugeben, kann sich nur in dem Falle vor dem Schicksal des Zerfalls bewahren, daß die Menschen, von deren Entscheidung seine jeweilige Gestaltung abhängt, der klaren Einsicht in die Lebensverhältnisse mächtig sind, die zu ordnen seine Sadie ist. Denn nur kraft dieser Einsicht können sie im Widerstreit der um sie werbenden Parteien und Programme ein sachlich begründetes Urteil gewinnen. Fehlt es an solcher Einsicht, dann wird die Sache unsichtbar, auf die die zur Entscheidung Aufgerufenen hinblicken müssen, um einer vertretbaren Parteinahme fähig zu sein und sich in der Anerkennung sachgegründeter Notwendigkeiten finden zu können. Welche Stellung der Einzelne bezieht, das wird Werk des Zufalls oder der Willkür, und der Ausfall der Gesamtentscheidung wird das Ergebnis einer Lotterie, bei der nur von ungefähr einmal das dem Staat Zuträgliche herauskommen, im Regelfälle aber der Unsinn triumphieren wird. Echte Demokratie steht und fällt mit der Urteilsklarheit der Staatsbürger, die ihren jeweiligen Kurs zu bestimmen haben. Echte Demokratie ist deshalb auch in unauflösbarem Bunde mit jener dem Namen „Erziehung" genugtuenden Einwirkung auf werdende Menschen, die in der Erweckung zu solcher Urteils-klarheit einen wesentlichen Teil ihres Auftrages erblickt.

Und diese innere Verwandtschaft zwischen Demokratie und Erziehung ist es nun auch, die den deutschen Erzieher von heute zuversichtlich stimmen muß, selbst wenn er sich von den Schwierigkeiten unverhohlen Rechenschaft gibt, mit denen er als Anwalt der Demokratie zu kämpfen hat. Zwar ist es um die Unterstützung zweifelhaft bestellt, die er sich von dem gegenwärtigen Stande des öffentlichen Lebens und der durchschnittlichen Sinnesweise seiner Mitbürger versprechen darf. Aber mit dem Geist des Staatswesens, dem sein erzieherisches Bemühen zu statten kommen soll, ist er durch eine tief in der Sache wurzelnde Solidarität engstens verbunden. Und sollte diese in Schicksalsgründe hinabreichende Solidarität den deutschen Erzieher nicht doch auch mit einem gewissen Stolz erfüllen? Darf er sich doch sagen, daß er nicht lediglich bestellt ist, eine durch die Geschichte herangebildete und im Laufe der Jahrhunderte zur Selbstverständlichkeit gewordene politische Haltung auf das junge Geschlecht zu übertragen, sondern keinen geringeren Auftrag hat als den, in jugendliche Gemüter den Keim einer Staatsgesinnung zu legen, die einem erst zum Leben zu erweckenden Staat die Seele geben wird! Eine Erziehung, der so viel anvertraut ist, darf sich Mitschöpferin des Staates fühlen, dem sie Geburtshelferdienste leistet. Dem Maß der zu bestehenden Schwierigkeiten entspricht die Abmessung des Anteils an der Anbahnung des Kommenden. Daß ein so sich begründendes erzieherisches Selbstbewußtsein nicht als Selbstüberhebung zu verdammen ist, das dürfen wir annehmen, wenn wir hören, wie ein wohlgesinnter ausländischer Berater den deutschen Erzieher ob der ihm vorbehaltenen Aufgabe ausdrücklich glaubt beglückwünschen zu dürfen. Aus dem Vergleich mit dem, was politischer Lehre und Erziehung in den außerdeutschen Ländern an Verpflichtungen obliegt, entnimmt I. B. Mason, amerikanischer Hochschullehrer der politischen Wissenschaft, das Recht, folgenden Appell an einen Kreis deutscher Staatserzieher zu richten: „Sie haben so viel aufzubauen, daß Sie oft übermenschlich werden arbeiten müssen. Aber ich möchte sagen: als politischer Wissenschaftler und als Erzieher beneide ich Sie auch, weil Sie so viel zu tun haben und eine solche großartige Gelegenheit haben, auf junge Menschen Ihres Landes einzuwirken, oft auch auf Institutionen, die in mancher Hinsicht noch jung sind. Nun soll man aber Menschen nicht beneiden, und deshalb möchte ich Sie bei dieser Gelegenheit nur sehr herzlich beglückwünschen." Ich denke, wir tun recht daran, wenn wir uns durch diese Anrede eines Mannes, der genau weiß, was es heißt, aus der Sicherheit eines seinem Genius vertrauenden Volkes und Staates heraus politische Erziehungsarbeit zu tun, zu dem Glauben ermutigen lassen, daß es auch unserem so viel weniger durch die Lage begünstigten Erziehungsstreben weder an Würde noch an Aussichten gebricht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Daß diese weitherzige Auslegung des Begriffs „Demokratie“ den Amerikaner nicht hindert, den politischen Kampf, sowohl den außen-als auch den innenpolitischen, in seiner unterscheidenden Besonderheit (s. u.) zu sehen und tätig zu verwirklichen, lehrt die gesamte Geschichte dieses Volkes bis in die Gegenwart hinein.

  2. Von diesem „Wesen“ handelt die von der Berliner Hochschule für Politik veröffentlichte Abhandlung „Die Freiheit des Menschen und der Staat“ (Berlin 1953). Sie bildet zusammen mit der vorliegenden Arbeit ein geschlossenes gedankliches Ganzes.

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