Seit 2017 schwelt in der Bundesrepublik eine Debatte über Sinn und Wert der Frankfurter Paulskirche als ein symbolträchtiger Ort der deutschen Geschichte. Mit dem Plädoyer des Bundespräsidenten, die demokratischen Errungenschaften in dieser Geschichte stärker zu betonen und so eine positive Erzählung der Nation zu entwerfen, avanciert das Bauwerk aus dem frühen 19. Jahrhundert, das 1848/49 als Tagungsort des ersten frei gewählten nationalen Parlaments diente, zu einem geschichtspolitisch herausragenden "Gedenkort der Demokratie".
Die Herausforderung, den Erfolg und das Vermächtnis, aber auch das Scheitern und die Enttäuschung der Achtundvierziger angemessen abzubilden, steht im Zentrum der hitzig geführten Debatte um die künftige Ausgestaltung der Frankfurter Paulskirche. Die Beteiligten streiten nicht nur darüber, wie der Bau nach der Sanierung aussehen soll, sondern auch über die symbolische Ausstattung der liberalen Demokratie in Zeiten der nationalistischen Aneignung solcher Erinnerungsorte durch die AfD.
Das eigentlich Revolutionäre an 1848/49, nämlich die Märzereignisse, denen die Epoche des Vormärz ihren Namen verdankt, rückt so in den Hintergrund. Für viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen stand der März 1848, im Positiven oder im Negativen, nicht oder nicht nur für parlamentarische Politik, sondern für Volksversammlungen, für Umsturzversuche, für den Geschmack der Revolution. Das Paulskirchenparlament hingegen stand für die Einhegung der Revolution durch den Weg der Reform, und das hieß damals auch nachdrücklich: keine Republik, sondern eine konstitutionelle Monarchie – so wollte es die Mehrheit der Abgeordneten.
In der historischen Forschung ist deshalb die Frage gestellt worden, ob für Deutschland 1848 überhaupt von einer Revolution gesprochen werden kann.
Probleme mit der Revolution
Deutschland und die Revolution – das war, so eine vertraute Erzählung, noch nie eine besonders innige Beziehung. Die politische Ordnung mit Gewalt umzustürzen, Barrikaden zu bauen, Herrschaftssitze zu stürmen, Monarchen abzusetzen oder gar zu töten – diese Praktiken gemahnten an Frankreich, das seit der Revolution von 1789, der Ausrufung der Ersten Republik 1792 und schließlich der Besetzung deutscher Territorien unter Napoleon Bonaparte zum Feindbild und zum Gegenbild deutscher "Ruhe und Ordnung" stilisiert werden konnte.
ausgebrochen.
Zugrunde lag, nicht nur in Deutschland, ein Konzept von Politik, das diese mit Staatskunst gleichsetzte und als maßvolles, sachliches, vernunftgeleitetes Handeln ästhetisierte. Die Massen standen darin für das Andere, das Emotionale, das Unzurechnungsfähige, das "Unpolitische". Konservative, aber auch liberale Politikkonzepte beruhten letztlich auf der Annahme, dass erst Besitz und Bildung in ihrer Verschränkung, und damit die emphatisch begriffene "Selbstständigkeit", einen Bürger dazu befähigten, Staatsgeschäfte zu leiten und in politischen Sachfragen mitreden zu können. Die Debatten der Paulskirche brachten diese Politikkonzepte immer wieder zum Ausdruck. Sie negierten damit die politische Mündigkeit der Vielen, deren Petitionen und Barrikadenkämpfe erst die Bildung von Nationalversammlungen erzwungen
hatten.
Die Geschichtsschreibung hat ihren Teil dazu beigetragen, das Revolutionäre in der deutschen Geschichte vor allem als Bedrohung oder als Vabanquespiel zu begreifen. Wo der revolutionäre Wille 1848/49 zumindest rhetorisch gegeben war, nämlich in den Fraktionen links von den (gemäßigten) Liberalen, beobachtet die Geschichtsschreibung immer wieder auffällige Defizite. Zu "radikale" Ziele, zu "kühne" Konzeptionen von Volkssouveränität, eine zu unklare Haltung zur Gewalt und ein zu geringes Maß und Verantwortungsgefühl – das sind nur einige Negativurteile, die in der historischen Forschung stets aufs Neue wiederholt werden.
Für eine Belebung des öffentlichen Gedenkens an 1848/49 wäre es lohnenswert, auf der Basis hervorragender Spezialstudien, die zu diesem Thema vorgelegt worden sind,
Orte und Praktiken des Revolutionären 1848/49
Die symbolische Kraft der Paulskirche verleitet manche Beobachtenden dazu, die Metropole am Main zur "Gründungsstätte der Demokratie" zu erklären, wobei auch nicht der Vergleich mit Philadelphia gescheut wird.
Frankfurt war mithin nicht das Zentrum der Revolution, sondern zunächst einmal der Ort, wo seit der Gründung des Deutschen Bundes 1815 Bundespolitik gemacht wurde und wo deshalb auch eine Nationalversammlung gut aufgehoben schien. Die Deutsche Nationalversammlung aber war das Produkt revolutionärer Ereignisse, die im Frühjahr 1848 an vielen verschiedenen Orten des Deutschen Bundes und ganz Europas stattgefunden hatten und auch nach dem Zusammentreten der Nationalversammlung latent blieben. Sie äußerten sich in unzähligen Volksversammlungen, die nicht gewaltförmig abliefen, sowie in gewalttätigen Konfrontationen zwischen "Volk" und Militär. Charakteristisch für diese revolutionäre Atmosphäre war ihre Dezentralität. Die Revolution auf deutschem Boden hatte diverse Zeiten und diverse Räume, die nur in Lokalgeschichten einzufangen sind. Tatsächlich wird man dieser Dezentralität der Geschehnisse in Deutschland am ehesten gerecht, wenn man 1848/49 als ein Zeitfenster begreift, in dem die Revolution im Sinne eines Umbruchs der politischen Herrschaftsordnung, für manche Beteiligten verbunden mit Hoffnungen auf eine soziale Revolution, ein mögliches Szenario war, das die Handlungsweisen vor Ort konditionierte.
Genau genommen begann das Ereignis 1848 schon 1847, und zwar in der badischen Stadt Offenburg. Männer der Stadt hatten sich am 12. September in einem Festsaal zusammengefunden und 13 Forderungen formuliert, die sie im Namen "des Volkes in Baden" an die Staatsregierung in Karlsruhe richteten. Darin beklagten sie die Verletzung der Landesverfassung durch die Staatsregierung und verlangten Pressefreiheit, Gewissensfreiheit und die Vereidigung des badischen Militärs auf die Verfassung. Zudem verurteilten sie die Bevormundung der Bürger durch die Polizei und die Störung des Vereinsrechts, der Versammlungsfreiheit und der Freiheit des Verkehrs durch dieselbe. Schließlich forderten sie "Vertretung des Volks beim deutschen Bunde" und eine "volksthümliche Wehrverfassung", also eine allgemeine Wehrpflicht, um die hohe finanzielle Last der stehenden Heere nicht länger tragen zu müssen. Auch verlangten sie eine "volksthümliche Staatsverwaltung". Beides lief auf eine Demokratisierung in sozialer Hinsicht hinaus, denn Militär und Staatsverwaltung lagen vorwiegend in der Hand der Aristokratie. Entsprechend forderten sie die "Abschaffung aller Vorrechte" und die "Selbstregierung des Volkes" anstelle der "Vielregierung der Beamten".
Die Märzrevolution hatte ihr Zentrum in Berlin.
Politisierung des Alltagslebens
Das Revolutionäre zeigte sich in der Politik der Straße als Komplement zur Politik des
Parlaments.
Solche Gewaltphänomene machten jedoch nicht den Kern des Revolutionären aus. Die historische Forschung hat die europäischen Revolutionen von 1848/49 vielmehr als Kommunikationsereignisse und Politisierungsmomente gefasst, die auf die Partizipation breiter Bevölkerungsschichten verweisen.
bediene.
Akzentuiert man diese fundamentalen Aspekte revolutionärer Ereignisse – die zivile Mobilisierung, der öffentliche Austausch von Meinungen, die Straßenpolitik, die Massenpartizipation und die Kommunikation mit den Autoritäten –, dann erscheint das Revolutionäre nicht als Marginalie oder gar als beschämende, weil gewaltförmige Facette der deutschen Demokratiegeschichte, sondern als ihr Herzstück: Sie stellen Ausnahmezustände dar, die sich durch eine starke Politisierung des Alltagslebens und die intensive Kommunikation mit den politischen Autoritäten in den Parlamenten wie in den Regierungen auszeichnen.
Als solche verweisen revolutionäre Phasen auf eine geteilte europäische Geschichte. Die historische Forschung hat insbesondere 1848/49 als wahrhaft europäisches Medien- und Kommunikationsereignis markiert, ja als einen europäischen Dominoeffekt, der auf der intensiven Beobachtung der Straßenpolitik über staatliche Grenzen beruhte. Das Frühjahr 1848 markiert so den Beginn einer Geschichte grenzüberschreitender politischer Öffentlichkeit in Europa, die im Moment der Revolution zu einer transnationalen Öffentlichkeit zusammenzuschmelzen
schien.
Intensive europäische Kommunikation und Nationalismus schlossen sich nicht aus. Gerade die graswurzelartig wachsende Demokratiebewegung von 1848/49 und die sie vertretende parlamentarische Linke sind als unnachgiebige Verfechter des Nationalstaats gekennzeichnet worden, die so auch die Nationalitätenkonflikte heraufbeschworen, die das künftige Europa prägen sollten. Man darf allerdings nicht vergessen, dass die Vorstellung der Nation für die Demokraten von 1848/49 ein Hebel war, um sich gegenüber Fürsten und Obrigkeiten Legitimität und politische Handlungsmacht zuzuweisen und möglichst viele Mitstreitende "im Volk" zu mobilisieren. Nachdem ihre revolutionären Ambitionen gescheitert waren, mussten viele von ihnen der Nation den Rücken kehren, um der politischen Verfolgung durch den Staat zu entkommen. Sie emigrierten zahlreich in die USA, wo sie ihr Engagement für Demokratie und Grundrechte häufig fortsetzten – etwa auch im Kampf gegen die Sklaverei. Eine Gedenkkultur, die auch solche Migrationsgeschichten berücksichtigt, könnte das Demokratische in der deutschen Geschichte auch dort würdigen und feiern, wo es früher erfolgreich war als in Deutschland selbst: nämlich außerhalb der nationalen Grenzen.
Schluss
Die erste Deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche wird 175 Jahre nach ihrem Zusammentreten das nationale Gedenken an 1848/49 bestimmen. Ihr Symbolwert für den ersehnten Nationalstaat, für die Fragilität der Freiheit, für liberale Grund- und Menschenrechte sowie für den Parlamentarismus ist unbestritten. Als Gedenkort der Demokratie bildet sie jedoch nur einen Teil der Nation ab: respektable Männer, die damals bekannt genug waren, um gewählt zu werden. Auch einige Juden waren unter ihnen. Das Gros der Menschen jedoch, die in den vielen kleinen Märzrevolutionen in Deutschland und Europa den deutschen Fürsten die Presse- und Versammlungsfreiheit abgerungen hatten und die sich auch nach den Wahlen zur Nationalversammlung weiterhin öffentlich versammelten und organisierten, um ihre politischen Forderungen zu artikulieren und die Bestimmungen der Reichsverfassung vor Ort Wirklichkeit werden zu lassen, sind in der Paulskirche nur unzulänglich repräsentiert. Erst eine Barrikade würde das gesamte Deutschland am Gedenkort der Demokratie sichtbar machen – und die Toten beider Seiten, deren Namen vergessen sind.