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1848/49 und der Ort des Revolutionären in der deutschen Geschichte | 1848/49 | bpb.de

1848/49 Editorial 1848/49 und der Ort des Revolutionären in der deutschen Geschichte 1848/49. Ursachen, Entwicklung und Erbe einer europäischen Revolution Fragen an 1848/49. Ein Forschungsüberblick Frauen und die Revolution. 1848 als Frauenaufbruch Deutsche "Forty-Eighters" in den USA Demokratiestärkung durch Demokratiegeschichte? Beispiel 1848/49

1848/49 und der Ort des Revolutionären in der deutschen Geschichte

Claudia C. Gatzka

/ 14 Minuten zu lesen

Zum 175. Jahrestag der Revolution von 1848/49 stellt sich die Gretchenfrage der deutschen Demokratiegeschichte: Inwiefern kann und soll das Revolutionäre an 1848/49 überhaupt noch erinnert werden? Vermag sich die liberale Demokratie in die revolutionäre Tradition zu stellen?

Seit 2017 schwelt in der Bundesrepublik eine Debatte über Sinn und Wert der Frankfurter Paulskirche als ein symbolträchtiger Ort der deutschen Geschichte. Mit dem Plädoyer des Bundespräsidenten, die demokratischen Errungenschaften in dieser Geschichte stärker zu betonen und so eine positive Erzählung der Nation zu entwerfen, avanciert das Bauwerk aus dem frühen 19. Jahrhundert, das 1848/49 als Tagungsort des ersten frei gewählten nationalen Parlaments diente, zu einem geschichtspolitisch herausragenden "Gedenkort der Demokratie". Die liberale Reichsverfassung und der Grundrechtekatalog, die die Abgeordneten hier erarbeiteten, blieben zwar Makulatur, weil die fürstlichen Regierungen der großen deutschen Einzelstaaten ihnen und alsbald auch ihren Schöpfern die Anerkennung verweigerten. Die Nationalversammlung blieb ohne Autorität, begann sich innerlich aufzulösen, floh schließlich aus Frankfurt und wurde 1849 in Stuttgart vom württembergischen Militär auseinandergejagt. Dennoch dienten ihre liberalen Grundsätze als Orientierung bei der allmählichen Demokratisierung der deutschen Gesellschaft – Bismarcks allgemeines Wahlrecht von 1867 etwa setzte um, was im Bundeswahlgesetz von 1848 angelegt worden war. Die liberale Verfassungsordnung der Bundesrepublik steht in der Tradition der Achtundvierziger, von denen viele später auf kommunalpolitischer Ebene, im Reichstag oder im Ausland fortfuhren, ihre liberalen und demokratischen Ideen zu verwirklichen.

Die Herausforderung, den Erfolg und das Vermächtnis, aber auch das Scheitern und die Enttäuschung der Achtundvierziger angemessen abzubilden, steht im Zentrum der hitzig geführten Debatte um die künftige Ausgestaltung der Frankfurter Paulskirche. Die Beteiligten streiten nicht nur darüber, wie der Bau nach der Sanierung aussehen soll, sondern auch über die symbolische Ausstattung der liberalen Demokratie in Zeiten der nationalistischen Aneignung solcher Erinnerungsorte durch die AfD. Die vom "Zeit"-Mitherausgeber Benedikt Erenz ausgelöste Diskussion um die Rekonstruktion der Paulskirche im "authentischen" Zustand von 1848 hat die Aufmerksamkeit des offiziellen Gedenkens noch mehr als ohnehin schon auf die Nationalversammlung gelenkt – als "Urzelle (…) der deutschen Demokratie", wie Erenz meint. Doch diese Zentrierung auf die Paulskirche im öffentlichen Gedenken an 1848 und ihre emphatische Gleichsetzung mit Demokratie verzerrt in nicht unerheblicher Hinsicht die historische Realität. Die Demokraten waren in Frankfurt nämlich eine Minderheit und bildeten die linke Opposition – die Mehrheit der Nationalversammlung, also die gemäßigten Liberalen und die konservativen Rechten, beriefen sich gar nicht auf die Volkssouveränität.

Das eigentlich Revolutionäre an 1848/49, nämlich die Märzereignisse, denen die Epoche des Vormärz ihren Namen verdankt, rückt so in den Hintergrund. Für viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen stand der März 1848, im Positiven oder im Negativen, nicht oder nicht nur für parlamentarische Politik, sondern für Volksversammlungen, für Umsturzversuche, für den Geschmack der Revolution. Das Paulskirchenparlament hingegen stand für die Einhegung der Revolution durch den Weg der Reform, und das hieß damals auch nachdrücklich: keine Republik, sondern eine konstitutionelle Monarchie – so wollte es die Mehrheit der Abgeordneten.

In der historischen Forschung ist deshalb die Frage gestellt worden, ob für Deutschland 1848 überhaupt von einer Revolution gesprochen werden kann. Diese Frage zum Leitthema des öffentlichen Gedenkens zu machen, hätte einiges für sich. Man könnte sie abwandeln zu der Frage, inwiefern das Revolutionäre an 1848/49 im Jahr 2023 überhaupt noch erinnert werden kann und soll, oder konkreter: ob und wie sich die liberale Demokratie in die revolutionäre Tradition zu stellen vermag. Das ist die Gretchenfrage der deutschen Demokratiegeschichte.

Probleme mit der Revolution

Deutschland und die Revolution – das war, so eine vertraute Erzählung, noch nie eine besonders innige Beziehung. Die politische Ordnung mit Gewalt umzustürzen, Barrikaden zu bauen, Herrschaftssitze zu stürmen, Monarchen abzusetzen oder gar zu töten – diese Praktiken gemahnten an Frankreich, das seit der Revolution von 1789, der Ausrufung der Ersten Republik 1792 und schließlich der Besetzung deutscher Territorien unter Napoleon Bonaparte zum Feindbild und zum Gegenbild deutscher "Ruhe und Ordnung" stilisiert werden konnte. Das Revolutionäre – und damit verbunden auch die Republik – assoziierten Liberale und Konservative in aller Regel mit jakobinischer Diktatur, mit Terror, mit Unordnung, mit Anarchie, mit Bürgerkrieg und letztlich mit dem Prinzip der Usurpation, also der illegitimen Anmaßung von Macht durch wenig respektable Personen. Revolution und Republik, so das Schreckbild, überließen den Staat den minderbemittelten Schichten, den politisch schwankenden Massen und ihren mediokren, demagogischen Führungsfiguren – vom "tollen Jahr" sprachen die konservativen Eliten deshalb rückblickend über 1848, als wären damals kurzzeitig die Irren aus den Anstalten
ausgebrochen.

Zugrunde lag, nicht nur in Deutschland, ein Konzept von Politik, das diese mit Staatskunst gleichsetzte und als maßvolles, sachliches, vernunftgeleitetes Handeln ästhetisierte. Die Massen standen darin für das Andere, das Emotionale, das Unzurechnungsfähige, das "Unpolitische". Konservative, aber auch liberale Politikkonzepte beruhten letztlich auf der Annahme, dass erst Besitz und Bildung in ihrer Verschränkung, und damit die emphatisch begriffene "Selbstständigkeit", einen Bürger dazu befähigten, Staatsgeschäfte zu leiten und in politischen Sachfragen mitreden zu können. Die Debatten der Paulskirche brachten diese Politikkonzepte immer wieder zum Ausdruck. Sie negierten damit die politische Mündigkeit der Vielen, deren Petitionen und Barrikadenkämpfe erst die Bildung von Nationalversammlungen erzwungen
hatten. Hunderte von ihnen waren während der Märzunruhen für fundamentale Grundrechte wie die Presse- und Versammlungsfreiheit gestorben. Dass der "Mob" sich vom preußischen Militär zusammenschießen ließ, schien, um es einmal zuzuspitzen, gewissermaßen der Ausweis seiner Unbesonnenheit.

Die Geschichtsschreibung hat ihren Teil dazu beigetragen, das Revolutionäre in der deutschen Geschichte vor allem als Bedrohung oder als Vabanquespiel zu begreifen. Wo der revolutionäre Wille 1848/49 zumindest rhetorisch gegeben war, nämlich in den Fraktionen links von den (gemäßigten) Liberalen, beobachtet die Geschichtsschreibung immer wieder auffällige Defizite. Zu "radikale" Ziele, zu "kühne" Konzeptionen von Volkssouveränität, eine zu unklare Haltung zur Gewalt und ein zu geringes Maß und Verantwortungsgefühl – das sind nur einige Negativurteile, die in der historischen Forschung stets aufs Neue wiederholt werden. Man muss keine Revolutionsromantikerin sein, um den Eindruck zu gewinnen, dass eine ganz eigene Normativität wirksam wird, wenn es darum geht, Revolutionen und Revolutionsversuche in die deutsche Geschichte einzuordnen. Nicht wenige Historikerinnen und Historiker reproduzieren in ihren Großerzählungen und Überblicksdarstellungen schlichtweg die zeitgenössischen Einschätzungen konservativer und liberaler Revolutionsgegner.

Für eine Belebung des öffentlichen Gedenkens an 1848/49 wäre es lohnenswert, auf der Basis hervorragender Spezialstudien, die zu diesem Thema vorgelegt worden sind, das Revolutionäre in der deutschen Geschichte und seine zyklisch auftretenden Manifestationen zu beschreiben, zu erklären und zu ergründen. Dazu ist es notwendig, sich von der engen Fixierung auf die Gewaltsamkeit von Revolutionen zu lösen – nicht, um diese zu bestreiten, sondern um zu erforschen, was das Revolutionäre darüber hinaus ausmachte und warum es bei allem Bedrohlichen, das von ihm ausging, Teil der deutschen Geschichte war. Auf diese Weise erst lassen sich die Ereignisse von 1848/49 in ihrer ganzen Komplexität verständlich machen. Und nur so lassen sich Beteiligte außerhalb der Frankfurter Paulskirche erfassen, die im Fokus auf die Nationalversammlung und ihr wichtiges Verfassungswerk außen vor bleiben.

Orte und Praktiken des Revolutionären 1848/49

Die symbolische Kraft der Paulskirche verleitet manche Beobachtenden dazu, die Metropole am Main zur "Gründungsstätte der Demokratie" zu erklären, wobei auch nicht der Vergleich mit Philadelphia gescheut wird. Sicherlich verfügte Frankfurt als Freie Stadt im Deutschen Bund, neben Lübeck, Hamburg und Bremen, über republikanische Traditionen und ein starkes liberales Bürgertum. Doch was Frankfurt als Standort der Nationalversammlung empfahl, war auch der schlichte Umstand, dass es seit 1815 Tagungsort des Deutschen Bundes war, genauer der Bundesversammlung der deutschen Fürsten und Stadtstaaten. Insofern war das Finanzzentrum am Main, das schon damals die wichtigsten deutschen Bankhäuser beheimatete, nicht nur eine Hochburg der Liberalen, sondern auch Treffpunkt konservativer Regierungseliten, der deutschen Fürsten und Monarchen und ihrer höheren Beamten, die nicht zuletzt mit den Frankfurter Bankiers Kredite für ihre Staats- und Hoffinanzen aushandeln mussten.

Frankfurt war mithin nicht das Zentrum der Revolution, sondern zunächst einmal der Ort, wo seit der Gründung des Deutschen Bundes 1815 Bundespolitik gemacht wurde und wo deshalb auch eine Nationalversammlung gut aufgehoben schien. Die Deutsche Nationalversammlung aber war das Produkt revolutionärer Ereignisse, die im Frühjahr 1848 an vielen verschiedenen Orten des Deutschen Bundes und ganz Europas stattgefunden hatten und auch nach dem Zusammentreten der Nationalversammlung latent blieben. Sie äußerten sich in unzähligen Volksversammlungen, die nicht gewaltförmig abliefen, sowie in gewalttätigen Konfrontationen zwischen "Volk" und Militär. Charakteristisch für diese revolutionäre Atmosphäre war ihre Dezentralität. Die Revolution auf deutschem Boden hatte diverse Zeiten und diverse Räume, die nur in Lokalgeschichten einzufangen sind. Tatsächlich wird man dieser Dezentralität der Geschehnisse in Deutschland am ehesten gerecht, wenn man 1848/49 als ein Zeitfenster begreift, in dem die Revolution im Sinne eines Umbruchs der politischen Herrschaftsordnung, für manche Beteiligten verbunden mit Hoffnungen auf eine soziale Revolution, ein mögliches Szenario war, das die Handlungsweisen vor Ort konditionierte.

Genau genommen begann das Ereignis 1848 schon 1847, und zwar in der badischen Stadt Offenburg. Männer der Stadt hatten sich am 12. September in einem Festsaal zusammengefunden und 13 Forderungen formuliert, die sie im Namen "des Volkes in Baden" an die Staatsregierung in Karlsruhe richteten. Darin beklagten sie die Verletzung der Landesverfassung durch die Staatsregierung und verlangten Pressefreiheit, Gewissensfreiheit und die Vereidigung des badischen Militärs auf die Verfassung. Zudem verurteilten sie die Bevormundung der Bürger durch die Polizei und die Störung des Vereinsrechts, der Versammlungsfreiheit und der Freiheit des Verkehrs durch dieselbe. Schließlich forderten sie "Vertretung des Volks beim deutschen Bunde" und eine "volksthümliche Wehrverfassung", also eine allgemeine Wehrpflicht, um die hohe finanzielle Last der stehenden Heere nicht länger tragen zu müssen. Auch verlangten sie eine "volksthümliche Staatsverwaltung". Beides lief auf eine Demokratisierung in sozialer Hinsicht hinaus, denn Militär und Staatsverwaltung lagen vorwiegend in der Hand der Aristokratie. Entsprechend forderten sie die "Abschaffung aller Vorrechte" und die "Selbstregierung des Volkes" anstelle der "Vielregierung der Beamten". Im Februar 1848 sollte eine Mannheimer Volksversammlung, die sich auf die Nachrichten über revolutionäre Unruhen in Paris hin zusammenfand, eine Petition ähnlichen Inhalts verabschieden und damit die eigentliche Märzrevolution in Deutschland auslösen.

Die Märzrevolution hatte ihr Zentrum in Berlin. Hier konstituierte sich nicht nur eine eigene "Nationalversammlung", die Preußische, analog zur Österreichischen in Wien. Vor allem war die preußische Hauptstadt ein zentraler Schauplatz der Konfrontationen zwischen "Volk" und Militär. Die männlichen und weiblichen Todesopfer auch unter den Zuschauenden führten unmittelbar nach den Berliner Barrikadenkämpfen vom 18. März 1848 zu einem lokal einmütigen Gedenken – die Stadt als Miniatur der Nation schien sich an den Gräbern der zivilen wie der militärischen Gefallenen zu vereinen. Beinahe wären die Toten beider Seiten gemeinsam bestattet worden, doch die Offiziere rückten "ihre" Gefallenen nicht heraus. Der Friedhof der Märzgefallenen im Volkspark Friedrichshain stellt bis heute einen Gedenkort dar, der an die soziale und auch geschlechtliche Diversität der revolutionären Akteure von 1848 erinnert. Wer sich seit März 1848 auf den Straßen als "Volk" präsentierte, waren häufig Handwerker und kleine Selbstständige, vor allem auch junge Menschen, Gesellen und Lehrlinge, aber auch Anwälte oder Lehrer, auf dem Land abhängige Bauern, für die es auch um persönliche Freiheit und Emanzipation von ihren Herren ging. Frauen unterstützten die revolutionären Akteure auf diverse Weisen und nahmen auch selbst an so manchem "Kampf" teil. Die Straßen und die lokale Öffentlichkeit gestanden ihnen aktivere Rollen zu als das Paulskirchenparlament, wo sie nur auf den Rängen Platz nehmen durften.

Politisierung des Alltagslebens

Das Revolutionäre zeigte sich in der Politik der Straße als Komplement zur Politik des
Parlaments. Sie stand in einem dialektischen Verhältnis zu den Landtagen und Nationalversammlungen, das heißt, sie forderte parlamentarische Vertretung ein und kommentierte diese kritisch. Sie war ein Hebel direkter Demokratie dergestalt, dass sich konkrete Forderungen und Unzufriedenheit mit den Regierungen oder den Entscheidungen der Parlamente in organisierten Volksversammlungen – als Manifestationen des "Volkswillens" oder in Petitionen – artikulierten oder aber sich in spontanen Volksaufständen entluden, wie im Falle der Septemberunruhen 1848 in Frankfurt anlässlich der Billigung des Waffenstillstands im preußisch-dänischen Krieg durch die Mehrheit der Abgeordneten. Hier entfesselte sich der Volkszorn, den Konservative und Liberale fürchteten, durch tödliche Angriffe auf adlige Abgeordnete der rechtsliberalen Fraktion der Nationalversammlung – und dahinter stand nicht nur Nationalismus, sondern auch Unmut darüber, dass ein Ende der Kampfhandlungen im auswärtigen Krieg die Kräfte des preußischen Militärs freisetzen würde, um fortan wieder gegen Aufständische im Inland einsetzbar zu sein.

Solche Gewaltphänomene machten jedoch nicht den Kern des Revolutionären aus. Die historische Forschung hat die europäischen Revolutionen von 1848/49 vielmehr als Kommunikationsereignisse und Politisierungsmomente gefasst, die auf die Partizipation breiter Bevölkerungsschichten verweisen. Demnach war das revolutionäre Zeitfenster durch eine kurzweilige Blüte der politischen Öffentlichkeit gekennzeichnet, sichtbar in der Gründung von Zeitungen und Zeitschriften, der Gründung politischer Clubs, Vereine, Berufsverbände und mithin lokaler Organisationsformen, die als Vorformen moderner politischer Parteien, Gewerkschaften und Verbände zu begreifen sind. "Die Revolution machte Demokratie das erste Mal erfahrbar", hat der Historiker Rüdiger Hachtmann mit Blick auf den blühenden politischen Meinungsmarkt Berlins im revolutionären Moment zwischen März und November 1848 festgehalten. Entscheidend war die Vielfalt und Konkurrenz der Meinungen. Denn in der Latenzphase der Revolution ergriff die Politisierung auch ihre Gegner, die wiederum in unterschiedlichen Schattierungen auftraten. Im Rheinland gründete die monarchische Partei im Juni 1849 eine Zeitung, die konservative Stimmen in der regionalen Öffentlichkeit vertreten sollte. Der zugrundeliegende Aufruf an die Bevölkerung in Elberfeld (heute Wuppertal) und Barmen illustriert die Argumentation der Revolutions- und Republikgegner, die zugleich aber die Verfassung begrüßten: Der überwiegende Teil der Bewohner, die dem König treu ergeben seien und "die konstitutionelle Monarchie mit Freiheit, Ordnung und Gesetz ebenso entschieden wollen, als sie der Republik mit Gewaltherrschaft, Unordnung und Anarchie abhold sind", hätten noch kein Organ, das ihre Interessen vertrete, weil die Zeitungspresse in der preußischen Rheinprovinz nur die revolutionären oder die ultramontanen, also die Interessen der katholischen Kirche,
bediene. So gesehen war die Revolution auch ein Hebel für die Organisation und Artikulation gegenrevolutionärer Haltungen. Insofern steht 1848 nicht nur im Parlament, sondern auch im Alltagsleben für die erste mitreißende Erfahrung eines politischen Pluralismus, wie er in der deutschen Geschichte immer wieder vermisst wird.

Akzentuiert man diese fundamentalen Aspekte revolutionärer Ereignisse – die zivile Mobilisierung, der öffentliche Austausch von Meinungen, die Straßenpolitik, die Massenpartizipation und die Kommunikation mit den Autoritäten –, dann erscheint das Revolutionäre nicht als Marginalie oder gar als beschämende, weil gewaltförmige Facette der deutschen Demokratiegeschichte, sondern als ihr Herzstück: Sie stellen Ausnahmezustände dar, die sich durch eine starke Politisierung des Alltagslebens und die intensive Kommunikation mit den politischen Autoritäten in den Parlamenten wie in den Regierungen auszeichnen. Revolutionäre Phasen dezentrierten damit die Politik und erlauben es der historischen Forschung, das Politische jenseits des Staates zu verorten. Sie verweisen darauf, dass die Idee der Volkssouveränität von außen, oder wenn man will: "von unten", an politische Institutionen herangetragen wurde und sich in enger Kommunikation mit ihnen ihren Weg in die Verfassungen moderner Demokratien bahnte.

Als solche verweisen revolutionäre Phasen auf eine geteilte europäische Geschichte. Die historische Forschung hat insbesondere 1848/49 als wahrhaft europäisches Medien- und Kommunikationsereignis markiert, ja als einen europäischen Dominoeffekt, der auf der intensiven Beobachtung der Straßenpolitik über staatliche Grenzen beruhte. Das Frühjahr 1848 markiert so den Beginn einer Geschichte grenzüberschreitender politischer Öffentlichkeit in Europa, die im Moment der Revolution zu einer transnationalen Öffentlichkeit zusammenzuschmelzen
schien. Insofern könnte 1848/49 eigentlich zum europäischen Erinnerungsort erster Güte werden, zumal im Rahmen der EU-Grenzen von 2023. Denn während nicht nur Frankreich oder Italien, sondern auch das geteilte Polen, Ungarn und andere Teile Osteuropas Schauplätze der revolutionären Bewegung wurden, begnügte sich die Öffentlichkeit in der parlamentarischen Monarchie Großbritanniens 1848/49 darauf, die Geschehnisse auf dem europäischen Kontinent aus der Ferne zu beobachten.

Intensive europäische Kommunikation und Nationalismus schlossen sich nicht aus. Gerade die graswurzelartig wachsende Demokratiebewegung von 1848/49 und die sie vertretende parlamentarische Linke sind als unnachgiebige Verfechter des Nationalstaats gekennzeichnet worden, die so auch die Nationalitätenkonflikte heraufbeschworen, die das künftige Europa prägen sollten. Man darf allerdings nicht vergessen, dass die Vorstellung der Nation für die Demokraten von 1848/49 ein Hebel war, um sich gegenüber Fürsten und Obrigkeiten Legitimität und politische Handlungsmacht zuzuweisen und möglichst viele Mitstreitende "im Volk" zu mobilisieren. Nachdem ihre revolutionären Ambitionen gescheitert waren, mussten viele von ihnen der Nation den Rücken kehren, um der politischen Verfolgung durch den Staat zu entkommen. Sie emigrierten zahlreich in die USA, wo sie ihr Engagement für Demokratie und Grundrechte häufig fortsetzten – etwa auch im Kampf gegen die Sklaverei. Eine Gedenkkultur, die auch solche Migrationsgeschichten berücksichtigt, könnte das Demokratische in der deutschen Geschichte auch dort würdigen und feiern, wo es früher erfolgreich war als in Deutschland selbst: nämlich außerhalb der nationalen Grenzen.

Schluss

Die erste Deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche wird 175 Jahre nach ihrem Zusammentreten das nationale Gedenken an 1848/49 bestimmen. Ihr Symbolwert für den ersehnten Nationalstaat, für die Fragilität der Freiheit, für liberale Grund- und Menschenrechte sowie für den Parlamentarismus ist unbestritten. Als Gedenkort der Demokratie bildet sie jedoch nur einen Teil der Nation ab: respektable Männer, die damals bekannt genug waren, um gewählt zu werden. Auch einige Juden waren unter ihnen. Das Gros der Menschen jedoch, die in den vielen kleinen Märzrevolutionen in Deutschland und Europa den deutschen Fürsten die Presse- und Versammlungsfreiheit abgerungen hatten und die sich auch nach den Wahlen zur Nationalversammlung weiterhin öffentlich versammelten und organisierten, um ihre politischen Forderungen zu artikulieren und die Bestimmungen der Reichsverfassung vor Ort Wirklichkeit werden zu lassen, sind in der Paulskirche nur unzulänglich repräsentiert. Erst eine Barrikade würde das gesamte Deutschland am Gedenkort der Demokratie sichtbar machen – und die Toten beider Seiten, deren Namen vergessen sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Herfried Münkler, Gedenkorte der Demokratie – Denkorte der Demokraten. Erwiderung auf Philipp Oswalt, in: Merkur 867/2021, S. 77–85; vgl. Frank-Walter Steinmeier, Deutsch und frei, 13.3.2019, Externer Link: http://www.zeit.de/2019/12/demokratie-nationalismus-tradition-gedenktage-geschichtsunterricht.

  2. Vgl. u.a. Herfried Münkler/Hans Walter Hütter/Peter Cachola Schmal, Der Paulskirche fehlt die Aura, 25.10.2020, Externer Link: http://www.faz.net/17017139.html; Philipp Oswalt, Bedarf die Paulskirche einer erinnerungspolitischen Revision? Architekturkolumne, in: Merkur 864/2021, S. 64–70.

  3. Benedikt Erenz, Was wird aus der Paulskirche?, 12.10.2017, Externer Link: http://www.zeit.de/2017/42/frankfurt-paulskirche-parlament-grundrechte-sanierung/komplettansicht.

  4. Vgl. Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867, Düsseldorf 20052, S. 14ff.

  5. Vgl. Manfred Hettling, 1848 – Illusion einer Revolution, in: ders. (Hrsg.): Revolution in Deutschland? 1789–1989. Sieben Beiträge, Göttingen 1991, S. 27–45.

  6. Vgl. Thomas Lindenberger, Ruhe und Ordnung, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. II, München 2001, S. 469–484.

  7. Vgl. den Beitrag von Theo Jung in diesem Heft.

  8. Für Beispiele vgl. Wilhelm Ribhegge, Das Parlament als Nation. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1998, S. 40, S. 87, S. 113f.

  9. Vgl. ebd., S. 85–91, insb. S. 91; Frank Eyck, Deutschlands große Hoffnung. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, München 1972, S. 364f.

  10. Invektiven gegen die Revolution finden sich prominent bei Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre, München 2020.

  11. Vgl. Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997 (für eine neue gekürzte Fassung vgl. ders., 1848. Revolution in Berlin, Berlin 2022); Christof Dipper/Ulrich Speck (Hrsg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt/M. 1998; Christian Jansen/Thomas Mergel (Hrsg.), Die Revolutionen von 1848/49. Erfahrung, Verarbeitung, Deutung, Göttingen 1998.

  12. Peter Badenhop, Philadelphia, Wiege der Freiheit, 5.4.2015, Externer Link: http://www.faz.net/13513109.html. Vgl. auch Matthias Trautsch, Viertägiges Fest in der "Hauptstadt der Demokratie", 6.9.2022, Externer Link: http://www.faz.net/18297010.html.

  13. Die Forderungen des Volkes, Offenburg, 12. September 1847, abgedruckt in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Berlin–Heidelberg 1998, S. 6.

  14. Vgl. Hachtmann 1997 (Anm. 11).

  15. Vgl. Carola Lipp (Hrsg.), Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Baden-Baden 1986.

  16. Vgl. Manfred Gailus, Die Revolution von 1848 als "Politik der Straße", in: Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 1021–1044.

  17. Vgl. Michael Wettengel, Revolution und Petitionen in Ulm von 1848/49, Stuttgart 2022.

  18. Vgl. Hettling (Anm. 5), S. 29.

  19. Hachtmann 1997 (Anm. 11), S. 13.

  20. Zit. nach Klaus Goebel/Manfred Wichelhaus (Hrsg.), Aufstand der Bürger. Revolution 1849 im westdeutschen Industriezentrum, Wuppertal 19742, S. 35.

  21. Vgl. Dieter Langewiesche, Kommunikationsraum Europa: Revolution und Gegenrevolution, in: ders. (Anm. 13), S. 11–35.

  22. Vgl. ebd., S. 22–24; Dowe/Haupt/Langewiesche (Anm. 16); Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Revolution in Deutschland und Europa 1848–1849, Göttingen 1998; Klaus Ries (Hrsg.), Europa im Vormärz. Eine transnationale Spurensuche, Ostfildern 2016.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Claudia C. Gatzka für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
E-Mail Link: claudia.gatzka@geschichte.uni-freiburg.de