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"Mythos Auschwitz" | Antisemitismus | bpb.de

Antisemitismus Editorial Antisemitismus – Was gibt es da zu erklären? Israel und der Antisemitismus. Antisemitismusdefinitionen im Kontext des Nahostkonflikts Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland Instrumentalisierte Feindschaften. Antisemitismus in muslimischen Communities und antimuslimischer Rassismus Antisemitismus in digitalen Räumen. Herausforderung für die politische Bildung Antisemitische Kommunikation im internationalen Vergleich "Mythos Auschwitz". Erinnerungskulturelle Deutungskämpfe von Rechtsaußen Shoahppropriation - Essay

"Mythos Auschwitz" Erinnerungskulturelle Deutungskämpfe von Rechtsaußen

Niklas Fischer

/ 16 Minuten zu lesen

Die Neue Rechte sieht im Holocaust-Gedenken die Ursache einer negativen deutschen Identität, die es durch eine "erinnerungspolitische Wende" zu überwinden gelte. Sie inszeniert sich als Opfer einer "Zivilreligion". Antisemitismus verortet sie ausschließlich bei anderen.

Björn Höcke bekommt nicht oft die Gelegenheit, in Formaten etablierter Medienhäuser über das Thema Erinnerungskultur zu sprechen. Am 10. April 2024 erhielt er eine: In einem TV-Duell des "Welt"-Nachrichtensenders kam der AfD-Spitzenkandidat für die im September anstehende Landtagswahl in Thüringen zum "Schlagabtausch" mit seinem CDU-Kontrahenten Mario Voigt zusammen. Heikel hätte es für Höcke werden können, als er auf seine einige Jahre zurückliegende Forderung nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" angesprochen wurde. Doch er gab sich als Missverstandener: Natürlich, der Holocaust sei "eine Schande". Ja, an die Verbrechen des Nationalsozialismus müsse erinnert werden. Doch ins Zentrum seines Redebeitrags stellte der AfD-Mann dann doch lieber die Erzählung eines erinnerungskulturellen Sonderwegs der Deutschen: "Mit einer negativen Identität kann man die Zukunft nicht gewinnen." Aus diesem Grund wolle man "grundsätzlich die Lichtseiten der deutschen Geschichte in den Mittelpunkt" rücken. Höcke äußerte in diesem Zusammenhang sein Gefühl, die Deutschen seien mit sich selbst "uneins, sie sind im Unreinen". Aus diesem Grund sei er davon überzeugt: "Wir müssen uns wieder mit uns selbst befreunden." Bezogen auf das gegen ihn laufende Verfahren wegen der Verwendung der SA-Parole "Alles für Deutschland" inszenierte sich Höcke als das Opfer eines zunehmend enger werdenden Diskursrahmens. Während Aussagen wie "Bomber Harris do it again" oder die Bezeichnung der Deutschen als "Köterrasse" straffrei blieben, werde er auf die Anklagebank gesetzt.

Anschließend durfte sich Höcke auch noch über die Ursachen des ansteigenden Antisemitismus in Deutschland äußern. Seine Erklärung folgte dem bekannten AfD-Muster: "Ich sehe keinen Antisemitismus ausgeprägten Maßes bei der ursprünglichen deutschen Bevölkerung – auch wieder ein Problem, das wir uns mit Migration ins Land geholt haben." Einen direkten Bezug zur deutschen Geschichtspolitik vermied er an dieser Stelle. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, wie die Neue Rechte und der völkische Teil der AfD die in dem TV-Duell besprochenen Themenfelder der Identität, Meinungsfreiheit, Einwanderung und die Feindschaft gegen Jüd*innen miteinander verknüpfen. Im Mittelpunkt steht dabei das Konstrukt von einem "Mythos Auschwitz", das vor allem in den Publikationen des Verlages Antaios aus dem Umfeld des Höcke nahestehenden "Instituts für Staatspolitik" immer wieder aufgegriffen wird. Dieses Konstrukt und sein Gebrauch im Kontext der geforderten "erinnerungspolitischen Wende" werden im Folgenden näher betrachtet.

Opfer des "Schuldkults"

In der jüngeren Vergangenheit gilt das 2017 erschienene Buch "Finis Germania" des Historikers Rolf Peter Sieferle als wichtige neurechte Bezugsquelle für das Konstrukt von einem "Mythos Auschwitz". Das posthum bei Antaios publizierte Werk sorgte für einen Skandal, nachdem es kurzzeitig in den Top 10 einer seriösen Sachbuch-Bestsellerliste gelandet war, weil eines der Jurymitglieder seine Punkte akkumuliert vergeben hatte. Die übrige Jury distanzierte sich von der Empfehlung; mit dem Politologen Herfried Münkler urteilte eines ihrer Mitglieder, es sei ein "miserables Buch", das "zutiefst von antisemitischen Vorstellungen getränkt" sei. Über Wochen tobte in den deutschen Feuilletonspalten eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Publikation. Im "Spiegel" wurde Sieferle die Relativierung des Holocaust vorgeworfen. Björn Höcke dagegen lobte "Finis Germania" auf seiner Facebookseite als "Vermächtnis aller, die noch Hoffnung haben".

Insgesamt liest sich Sieferles schmaler, aus 31 fragmentarischen Texten bestehender Band wie ein völkischer Weckruf und eine Abrechnung mit dem postmodernen Zeitalter des Universalismus. Immer wieder arbeitet sich der Autor dabei an der deutschen Erinnerungskultur ab und beschreibt Auschwitz als "letzten Mythos", als eine "Wahrheit, die jenseits der Diskussion steht". Weiter urteilt er: "Das Ritual der Vergangenheitsbewältigung besitzt Züge einer veritablen Staatsreligion. Das Dogma ist einfach und eingängig: Die Urväter, die Nazis, haben die schwerste und singuläre Schuld auf Erden auf sich geladen und sich wie auch ihre Nachkommen damit aus dem Paradies der Geschichtsnormalität ausgeschlossen." Natürlich ist Sieferles allgemeines Verständnis eines Mythos als wirkungsmächtiges Fundament einer Ideologie zunächst nicht originell. Auch von der angesehenen Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann etwa wird der "Holocaust als negativer Gründungsmythos" identifiziert. Anders als Sieferle erkennt sie aber eine Umwandlung der Hypothek der deutschen Geschichte "in zukunftsweisende Werte", die sie trotz aller Herausforderungen insgesamt als Erfolgsgeschichte beschreibt. Der "Zivilisationsbruch" sei zum Ausgangspunkt für die "neue Zivilgesellschaft" geworden. Bei Sieferle dagegen erscheint das angebliche Beharren auf der Singularität des Holocaust als unverrückbarer Glaubenssatz. Er stehe im Zentrum einer Zivilreligion, in der Deutschen und Jüd*innen jeweils feste Rollen zugewiesen würden: "Hitler hat im Namen der Deutschen die Juden vernichtet, d.h. er hat (…) zwei Völker herausgehoben, die sich dadurch vom profanen Rest der Menschheit unterscheiden, daß sie komplementär den Charakter des Absoluten besitzen: Sie sind absolute Täter und absolute Opfer."

Doch bleibt er bei dieser Gegenüberstellung nicht stehen, sondern verbindet seine generelle Fortschrittskritik mit einer Art Schicksalsverwandtschaft beider Völker. Demnach sei das Schicksal der Jüd*innen als "Christusmörder" und das Schicksal der Deutschen als Mörder der Jüd*innen als negative Projektionsfläche miteinander vergleichbar, denn beide hätte ein ähnlicher Bannfluch getroffen: "Da die Juden aber keinen Anteil an der christlichen Ehre haben konnten, nisteten sie sich in den Nischen dieser Gesellschaft ein, als Wucherer und Händler. Auch hier eine Affinität zu den Deutschen, die von Helden zu Händlern geworden sind, von aller Welt verachtet und auf ihren Vorteil bedacht. Die Welt braucht offenbar Juden oder Deutsche, um sich ihrer moralischen Qualitäten sicher zu sein." Sieferle reist also gewissermaßen in die Zeit vor dem eliminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten zurück, um die Feindschaft gegen Jüd*innen im Christentum mit der Feindschaft gegenüber den Deutschen der Gegenwart gleichzusetzen: "Die Menschen, welche in Deutschland leben, haben sich ebenso daran gewöhnt, mit dem Antigermanismus fertigzuwerden, wie die Juden lernen mußten, mit dem Antisemitismus zurechtzukommen."

Die darin steckende Relativierung und Selbstermächtigung sollte nochmal auf den Punkt gebracht werden: Der von Deutschen ausgehende Versuch der Vernichtung des Judentums hat demnach die heutigen Deutschen zu den Juden von früher gemacht. Sie seien die Opfer des "Schuldkults", der ein Herrschaftsinstrument des von den Siegermächten eingepflanzten Antifaschismus sei. Für die Neue Rechte wird "Auschwitz" damit zu einer Waffe der Geschichtspolitik, die das Leugnen des neuzeitlichen "Sündenfalls" unter Strafe stelle, um die Meinungsfreiheit einzuschränken.

"Gesinnungsgesetze" gegen Holocaustleugnung

Als einer der wichtigsten Vordenker für die Neue Rechte hatte der Publizist Armin Mohler bereits 1994 gegen das Verbot der "Auschwitzlüge" polemisiert, mit der die Existenz von Gaskammern in den deutschen Vernichtungslagern abgestritten wurde. Mohler sah in dem drohenden Verbot in erster Linie ein mögliches moralisches Druckmittel, mit der die Forschungs- und Meinungsfreiheit bedroht werde. An dieser Einschätzung hat sich bis heute bei der Neuen Rechten nichts geändert: In zahlreichen Publikationen finden sich immer wieder direkte Angriffe auf das gesetzliche Verbot der Holocaustleugnung. Sieferle schreibt gar von "Gotteslästerung".

Ähnlich argumentiert Autor Manfred Kleine-Hartlage und meint, durch "eigens auf ihn zugeschnittene Blasphemiegesetze" werde der Holocaust "nicht etwa als das monströse Verbrechen gebrandmarkt, das er tatsächlich war, sondern zum Inbegriff des absolut Bösen und damit aus dem Zuständigkeitsbereich der Geschichtsschreibung in den der Theologie überführt". Dagegen lässt sich der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gegen die Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck von 2018 anführen, die versucht hatte, gegen die Strafbarkeit der Leugnung Verfassungsbeschwerde einzulegen. Im Ablehnungsbeschluss heißt es unmissverständlich: "Die Verbreitung erwiesen unwahrer und bewusst falscher Tatsachenbehauptungen kann nicht zur Meinungsbildung beitragen und ist als solche nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt." In der Begründung wird explizit von der "Gefahr einer gezielten Agitation gegen Bevölkerungsgruppen durch Leugnung eines an ihnen begangenen Völkermordes" gesprochen.

Natürlich ist es nicht das Gleiche, Fakten zu leugnen und Fakten zu deuten. Haverbecks Verbreitung von "Unwahrheiten" folgt erkennbar einem rechtsextremen Motiv. Der Straftatbestand schützt dezidiert die betroffene Opfergruppe und ihre Würde. Er soll verhindern, dass sie durch nachträgliche Verleumdung gewissermaßen einen zweiten Tod sterben. Doch auch bezüglich des Straftatbestands der Holocaustleugnung verdreht die Neue Rechte die Fakten: So wird behauptet, dass "Gesinnungsgesetze wie der Paragraph 130 (Volksverhetzung) (…) exklusiv gegen Deutsche angewandt" werden und diese zudem "gegen Kritiker der Ausländerpolitik und des Islamismus praktikabel" seien. "Mit Hilfe periodischer Anti-Rechts-Kampagnen wird Kritik als ‚nazistisch‘ untedrückt."

"Buße" und "Bevölkerungsaustausch"

In ihrem völkischen Weltbild geht die Neue Rechte von einer homogenen deutschen Kultur und damit auch von einer eigenen, nicht veränderbaren deutschen Identität aus. Sie zu erhalten, gilt deshalb etwa für den neurechten Aktivisten Martin Sellner als Hauptziel jeder rechten Politik. Exemplarisch verknüpft er die angebliche Instrumentalisierung des Holocaust mit der heraufbeschworenen Gefahr der "Überfremdung" Deutschlands. Unter Verweis auf den Autor Markus Vahlefeld sieht Sellner die "Elite" eines "Schuldkultblocks" im Hintergrund die Fäden ziehen, dem die "Demütigung und Schädigung des eigenen Volkes Freude" bereiten würden: "Der Bevölkerungsaustausch wird aus dieser Perspektive oft ganz explizit als ‚Wiedergutmachung‘ einer historischen Schuld beschrieben, die den Kern der Identitätspolitik ausmacht."

Gerade aber, wie Antaios-Autor Konstantin Fechter schreibt, weil der Nationalsozialismus in der Bundesrepublik den "Urzustand der Gewalt" darstelle, werde nun jede rechte Gewalt darauf zurückgeführt, während alle anderen Formen ausgesondert oder gar nicht wahrgenommen würden. Als eine Art Ablenkungsmanöver von den dramatischen Folgen des "Bevölkerungsaustauschs" werde ein rechter "Sündenbock" identifiziert und verstoßen, so die neurechte Erzählung. Ein Beispiel dafür erkennt der Publizist Martin Semlitsch, der als Martin Lichtmesz für verschiedene neurechte Medien schreibt, im Umgang mit den Morden des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU). Das "offizielle NSU-Narrativ" habe "eine Kette von politischen Bußritualen und Schuld-Schambekenntnissen" ausgelöst, die ihren "Höhepunkt" in einer "effektvoll inszenierten Gedenkveranstaltung" gefunden hätten. Er behauptet deshalb: "Die mutmaßlichen Täter waren in diesem Drama nicht einfach Psychopathen, Kriminelle oder Außenseiter (…), sondern wurden als Repräsentanten des ‚ewigen Hitler in uns‘, des ewigen ‚häßlichen Deutschen‘, als Spitze des Eisbergs einer immer noch durch und durch ‚rassistischen‘ Volksgenossenschaft dargestellt." Er beschreibt die NSU-Morde als Stilisierung einer "Art ‚Mikroholocaust‘ (…), mit ‚frischen‘ Opfern und ‚frischen‘ Nazis". "Auch hier war die Kombination aus beiden ausschlaggebend. Ausländische Opfer sind die komplementäre Projektionsfläche zu deutschen Tätern. Sie stehen in der Opferhierarchie höher als andere, werden quasi zu Alpha-Opfern erklärt (…)."

Auch Fechter sieht einen ständigen Bedarf für "Sündenböcke". Aus diesem Grund würde die "politische Theologie der Bundesrepublik" eine eigene "Opferkaste" bilden, in die "sie alle Kritiker ihrer gesellschaftlichen Ambivalenz" einsortiere. Dazu gehöre natürlich auch die Neue Rechte selbst, "gilt sie letztendlich als die alte Rechte im neuen Gewand". Ein prominentes Beispiel ist für Fechter die Affäre um den CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann. Dieser hatte 2003 am Tag der Deutschen Einheit in seinem osthessischen Wahlkreis eine antisemitische Rede gehalten. Darin hatte er ausführlich die Verschwörungserzählung von einer angeblichen Führungsrolle jüdischer Kommunisten im Kontext der bolschewistischen Oktoberrevolution ausgebreitet, um schlussfolgernd die Frage in den Raum zu stellen, ob man daher nicht auch "Juden mit einiger Berechtigung als ‚Tätervolk‘ bezeichnen" könne. Dann aber zog er sein rhetorisches Ass aus dem Ärmel, indem er den Terror von Nationalsozialismus und Kommunismus entgegen jedes Forschungsstands allein auf ihre "gottlosen Ideologien" reduzierte: "Daher sind weder ‚die Deutschen‘, noch ‚die Juden‘ ein Tätervolk." Nach seinen geschichtsrevisionistischen Ausführungen wurde Hohmann zunächst aus der eigenen Fraktion, im Jahr darauf dann aus der Partei ausgeschlossen. Für Fechter hatte Hohmann nicht mehr als eine "unglückliche Rede" gehalten, durch die er (zu Unrecht) dem "rituellen Zorn der gesamten (…) Kultgemeinde" verfallen sei. Hohmann fand schließlich in der AfD als "parlamentarische Vertretung der Verfemten" eine neue politische Heimat, für die er von 2017 bis 2021 erneut im Bundestag saß. Dies zeige, so Fechters Deutung, dass die Rituale der Ausgrenzung immer weniger gelingen.

Die Hohmann-Affäre zeigt beispielhaft, wie Antisemitismus in den eigenen "rechten" Reihen bagatellisiert und die Selbststilisierung als Opfer betrieben wird. Ein besonderes Stilmittel der neurechten Akteure besteht dabei darin, die "Nazi-" beziehungsweise "Antisemitismuskeule" selbst in die Hand zu nehmen und derlei Affären als Kampagnen der "herrschenden Zivilreligion" darzustellen.

Der Antisemitismus der Anderen

Die wiederkehrende Erzählung der Neuen Rechten folgt dem immer gleichen argumentativen Muster, wonach die eigene, legitime Überzeugung als "unsagbar" delegitimiert werden solle. Am Beispiel von Sieferles "Finis Germania" zeigt sich jedoch, wie versucht wird, den Spieß des Antisemitismusvorwurfs innerhalb des eigenen intellektuellen Lagers umzudrehen. Deutlich wird dies bei Michael Klonovsky, der als persönlicher Referent des AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland tätig war und heute für den AfD-Bundestagsabgeordneten Matthias Moosdorf arbeitet. Szenebekannt ist Klonovsky aber vor allem als Autor seines Internettagebuchs "Acta diurna", in dem er 2017 zum großen Rundumschlag gegen Sieferles Kritiker*innen ausholte und sich selbst mit der "Antisemitismuskeule" bewaffnete: "Pikant wird der ganze Vorgang (…), weil hier Leute den Import von Antisemiten gutheißen und gleichzeitig zur Hatz auf einen unbescholtenen Gelehrten blasen, dem sie antisemitische Ansichten unterstellen, die es überhaupt nicht gibt." Und weiter: "Was sich hier gegen einen freien Geist wie Sieferle in Stellung bringt, ist exakt dieselbe Mentalität, die sich 1933 zu Fackelzug und Judenboykott versammelte. Die Nazimentalität auf Nazisuche: ein routiniertes Spiel und meutenhaftes Selbstvergewisserungsspektakel mit einem neuen Opfer."

In dieser Deutung erscheint Sieferle als das eigentliche Opfer, die Stigmatisierung seines Buches als antisemitisch sei nicht mehr als ein unlauterer Versuch, den Historiker von den Grenzen des Sagbaren fernzuhalten. Bei Klonovsky schimmert zudem durch, wie sich Neue Rechte und AfD mit dem Stereotyp des "importierten Antisemitismus" zu exponieren versuchen. Das gilt umso mehr seit dem starken Anstieg antisemitischer Straftaten im Kontext des seit Herbst 2023 eskalierenden Nahostkonflikts, wie unter anderem auch die berüchtigten Pläne von Martin Sellner für eine "Remigration" verdeutlichen: In seinem gleichnamigen Buch fordert Sellner, nur "jene Fremden, die sich tatsächlich assimilieren, dürfen das hohe Gut der Staatsbürgerschaft erhalten". In diesem Zusammenhang erinnert er an die "Hamas-Demonstrationen" Ende des Jahres 2023 und knüpft an die damals aufgekommene Forderung aus den Reihen der SPD an, Antisemiten den deutschen Pass zehn Jahre rückwirkend wieder zu entziehen.

Geschichtsrevision als "Versöhnung"

Nun fragt man sich, welche Lehren nach dem Verständnis der Neuen Rechten überhaupt aus dem Holocaust gezogen werden sollen. Folgt man Sellner, dürfte die "Holocaust education" jedenfalls nicht dazugehören, stecke dahinter doch nicht mehr als eine im "Zuge der ‚Entnazifizierung‘ installierte Erziehungspraxis (…). Ihr Ergebnis ist die systematische Traumatisierung aller deutschen Nachkriegsgenerationen." Auch er versucht, jeden Vorwurf der Geschichtsvergessenheit zu zerstreuen: "Historische Verbrechen werden weder geleugnet noch verharmlost. Sie werden jedoch der ‚mystisch-religiösen‘ Aura, die ihren politischen Mißbrauch ermöglicht, entledigt. Vielmehr sollen sie nach ihrer Historisierung nicht mehr das "alleinige Zentrum, sondern einen (integralen) Teil der versöhnlichen Erinnerungskultur" darstellen.

Was die neurechte Auslegung einer solchen Versöhnung bedeutet, findet sich in einer Publikation von Andreas Lombard (vormals Landt). Der ehemalige Chefredakteur des Magazins "Cato" und Namensgeber des Landt Verlags will in der Debatte um die Schuldfrage vor allem eine Selbstanklage von (linken) Deutschen gegenüber (rechten) Deutschen ausgemacht haben: "Wenn wir nichtjüdischen Deutschen uns nicht zu Richtern in eigener Sache aufschwingen wollen (…), dann doch bitte auch nicht zu Staatsanwälten in eigener Sache. (…) Würden wir die Annahme einer absoluten Schuld allen Ernstes und sehenden Auges auch gegen versöhnungsbereite Juden geltend machen wollen? Das wäre absurd."

Natürlich geht es auch Lombard um Entlastung. Dagegen aber ließen sich zunächst die Fakten anführen. So geben laut einer im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 2022 veröffentlichte Studie 54 Prozent der befragten Israelis an, die Verfolgung und Ermordung der Jüd*innen während der NS-Zeit belaste das Verhältnis zu den Deutschen noch immer. Erinnert sei zudem an verschiedene Stimmen in Deutschland, die die Forderung nach Versöhnung problematisieren. In der jüngeren Vergangenheit zählt dazu etwa der Schriftsteller Max Czollek, der unter anderem kritisiert, dass jüdischen Menschen im deutschen "Versöhnungstheater" häufig nur die repräsentative Funktion von Entlastungszeug*innen zukomme. Sie sollen den Nachfahren der Täter*innen bestätigen, dass nun "wieder alles gut" werde. Das Bedürfnis einer solchen "Normalisierung" aber führe dazu, dass die Bedrohungslage durch Rechtsextremist*innen übersehen werde. Der Publizist Achim Doerfer spricht gar von einem "Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung" und fordert, jüdische Menschen "weniger als machtlose Opfer darzustellen". Dabei helfen könnte etwa eine stärkere Thematisierung von jüdischen Heldengeschichten, zum Beispiel des eigenen Widerstands gegen das NS-Regime. Das negiert natürlich die Notwendigkeit einer intensiven und breiten Auseinandersetzung mit deutscher Täterschaft nicht. Genau diese aber würde es mit der "erinnerungspolitischen Wende" der Neuen Rechten und dem völkischen Teil der AfD nicht geben.

Schuldbefreiter Diskurs

In der neurechten Lesart ist das Holocaust-Gedenken als "Mythos Auschwitz" vor allem eines: eine große Erzählung der deutschen Schwäche. Um die deutsche Erinnerungskultur von ihrer negativen Hypothek zu entlasten, wird die Schuld in Darstellungen über den Zweiten Weltkrieg daher weitestgehend auf die andere Seite der Front verlagert. Die Verbrechen des Nationalsozialismus und auch der Holocaust werden zwar verurteilt, gleichzeitig aber dadurch relativiert, dass es in vielen Publikationen in erster Linie um alliierte Gewalt geht.

Besonders deutlich wird dies bei dem Historiker und Antaios-Autor Stefan Scheil, der sich als Wahrheitsverkünder gegen eine vermeintlich ideologisierte Geschichtswissenschaft in Szene setzt. Sein roter Faden ist dabei die generelle Behauptung, dass die deutsche "Kriegführung ganz sicher nicht die Kette von unprovozierten Überfällen auf andere Länder war, als die sie dem Publikum heute im Dreiklang von ‚Historytainment‘, Forschung und Politik häufig präsentiert wird". Ob 1939 der Angriff auf Polen oder 1940 auf Skandinavien: Die Deutschen seien ihren Gegnern stets zuvorgekommen, die Kriegsmotive fänden sich nicht allein in der "Agressionslust" Hitlers. Scheils Geschichtsrevisionismus kulminiert gar in der Behauptung, der Überfall auf die Sowjetunion 1941 sei ein Präventivkrieg gewesen. Zum Stilmittel der neurechten Entlastung gehört generell eine auf Adolf Hitler personalisierte Zuschreibung der NS-Verbrechen. Auch die zahlreichen Beispiele eines in der Bevölkerung verbreiteten und gerade nicht "von oben" befohlenen Antisemitismus werden so insgesamt zur Leerstelle – schließlich gehört es sich nicht, die eigenen Großväter anzuklagen. Die Ausblendung beziehungsweise Negation einer "Kollektivschuld" ist entscheidend, schafft sie doch erst die Voraussetzung dafür, einen "Schuldkult" zu behaupten.

Das Alleinstellungsmerkmal dieser "Zivilreligion" sei der Neuen Rechten zufolge die "negative Identität" der Deutschen samt des Bedürfnisses permanenter Buße durch die zu großzügige Aufnahme von Geflüchteten. Das "Böse" des "Mythos Auschwitz" müsse daher vom "Deutschen" gelöst werden, damit der "Bevölkerungsaustausch" gestoppt werden könne. Dies erklärt auch, warum die Neue Rechte das postkoloniale Konzept der deutschen Erinnerungskultur als "Katechismus der Deutschen" ablehnt, obwohl es in der Einschätzung des Holocaust als Zivilreligion durchaus Überschneidungen gibt. Dazu zählt das Dogma der Festschreibung des Holocaust als singuläres Verbrechen, die eine Kritik am Staat Israel beziehungsweise an "den Juden" als Antisemitismus tabuisieren würde. Der entscheidende Unterschied sei aber, folgt man Antaios-Autorin Sophie Liebnitz (bürgerlich Bettina Gruber), dass es im Katechismus-Konstrukt um eine "Universalschuld" gehe, "die nunmehr allen ‚Weißen‘ aufgebürdet werden soll". Vereinfacht ließe sich festhalten: Während es dem Postkolonialismus um "mehr" Verbrechen geht, arbeitet die Neue Rechte daran, die deutsche Schuld in der eigenen Geschichte vollständig zu relativieren.

Ausblick

Insgesamt drehen sich die neurechten Deutungskämpfe vor allem um eines: um sich selbst. Eine Ethik des Gedenkens sucht man vergebens. So schreibt etwa Martin Sellner: "Die Lehre aus der Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland im 20. Jahrhundert kann im 21. Jahrhundert nicht die Ersetzung deutschen Lebens in Deutschland durch Fremde sein." Die Toten, die nicht verstummen wollen, sind für die Neue Rechte der Sargnagel des deutschen Volkes. Um eine Zukunft zu haben, brauche es "einen vitalen Patriotismus", erklärte etwa Höcke im erwähnten TV-Duell.

Sollten die Neue Rechte und der völkische Teil der AfD ihre "erinnerungspolitische Wende" durchsetzen können, wird vor allem das bestehende Gedenken an Millionen von Menschen, die während des Holocaust ihr Leben verloren haben, keine Zukunft haben. Keine Zukunft hat dann auch das Bewusstsein für die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus, der in allen Bereichen der Gesellschaft verankert ist. Dabei geht es nicht um einen "Schuldkult". Natürlich ist die Feindschaft gegenüber Jüd*innen nicht auf Deutschland beschränkt, natürlich gab es sie vor 1933. Dennoch: Auschwitz war eine deutsche Erfindung. Daraus ergibt sich eine singuläre Verantwortung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=EcXtacwO56w.

  2. Das rechtsextreme Institut in Trägerschaft eines privaten Vereins wurde im Frühjahr 2024 aufgelöst, mutmaßlich um einem Verbot zuvorzukommen. Um die Arbeit fortzuführen, kündigte der Vorsitzende Götz Kubitschek die Gründung einer Gesellschaft unter anderem Namen an.

  3. Vgl. Sachbücher des Monats: Juni 2017, 3.6.2017, Externer Link: https://telepolis.de/-3729482.

  4. "Ein Miserables Buch", 16.7.2017, Externer Link: http://www.deutschlandfunkkultur.de/herfried-muenkler-zur-finis-germania-debatte-ein-miserables-100.html.

  5. Vgl. Sebastian Hammelehle, Völkische Fantasie, in: Der Spiegel, 16.6.2017, S. 128f.

  6. Rolf Peter Sieferle, Finis Germania, Schnellroda 2017, S. 63, S. 70.

  7. Vgl. Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, München 2013, S. 67–76, Zitat S. 75.

  8. Sieferle (Anm. 6), S. 85.

  9. Vgl. Anna Sanberger/Alexa Krugel, Rolf Peter Sieferle: Finis Germania/Das Migrationsproblem, in: David Meiering (Hrsg.), Schlüsseltexte der ‚Neuen Rechten‘, Wiesbaden 2022, S. 213–228, hier. S. 220f.

  10. Sieferle (Anm. 6), S. 66ff., S. 77. Zu den zitierten Stellen vgl. auch Volker Weiß, "Schuldkult" und "Schuldkolonie", 2021, Externer Link: http://www.stiftung-gedenkstaetten.de/reflexionen/reflexionen-2021/schuldkult--und-schuldkolonie.

  11. Vgl. Armin Mohler, Notiz 11 (Junge Freiheit, 5.8.1994), in: Notizen aus dem Interregnum, Schnellroda 20224, S. 57–62.

  12. Sieferle (Anm. 6), S. 64.

  13. Manfred Kleine-Hartlage, "Neue Weltordnung". Zukunftsplan oder Verschwörungstheorie?, Schnellroda 20173, S. 49.

  14. Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung zum Beschluss vom 22. Juni 2018, 3.8.2018, Externer Link: http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/bvg18-067.html.

  15. Vgl. Achim Doerfer, Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung, Köln 2021, S. 289.

  16. Thorsten Hinz, Zurüstung zum Bürgerkrieg. Notizen zur Überfremdung Deutschlands, Schnellroda 20105, S. 60f.

  17. Vgl. Martin Sellner, Regime Change von rechts, Schnellroda 2023, S. 19–30.

  18. Ders., Remigration: Ein Vorschlag, Schnellroda 2024, S. 24.

  19. Vgl. Konstantin Fechter, Bürgerkrieg und Sündenbock, Schnellroda 2019, S. 59f.

  20. Martin Lichtmesz, Die Hierarchie der Opfer, Schnellroda 20173, S. 65–69.

  21. Fechter (Anm. 19), S. 70f.

  22. Gerechtigkeit für Deutschland, Rede des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2003 (Wortlaut), dokumentiert in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2004, S. 111–120, hier S. 117.

  23. Vgl. Fechter (Anm. 19), S. 79f.

  24. Michael Klonovsky, Acta diurna, 17. Juni 2017, in: Sezession, Sonderheft Sieferle lesen, August 2017, S. 20f.

  25. Vgl. Sellner (Anm. 18), S. 41ff.

  26. Ebd., S. 23, S. 27.

  27. Andreas Krause Landt, Mein jüdisches Viertel, meine deutsche Angst, Schnellroda 2010, S. 60.

  28. Vgl. Jenny Hestermann/Roby Nathanson/Stephan Stetter, Deutschland und Israel heute: Zwischen Verbundenheit und Entfremdung, Gütersloh 2022, S. 26f.

  29. Vgl. Max Czollek, Versöhnungstheater. Anmerkungen zur deutschen Erinnerungskultur, 11.5.2021, Externer Link: http://www.bpb.de/332617.

  30. Vgl. Doerfer (Anm. 15), S. 297f.

  31. Stefan Scheil, Weserübung gegen Operation Stratford. Wie Deutschlands Gegner 1940 den Krieg nach Skandinavien trugen, Schnellroda 20182, S. 7f. Zu Scheils Werken vgl. auch Wolfgang Benz, Geschichtspolitik der "Neuen Rechten": Revisionismus contra historische Wahrheit, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10/2014, S. 785–802.

  32. A. Dirk Moses, Der Katechismus der Deutschen, 23.5.2021, Externer Link: https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen.

  33. Vgl. Sieferle (Anm. 6), S. 63.

  34. Sophie Liebnitz, Antiweiss: Ein Kulturkampf, Schnellroda 20192, S. 75.

  35. Sellner (Anm. 18), S. 27.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Niklas Fischer für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Didaktik der Geschichte und Public History der Ludwig-Maximilians-Universität München.