Björn Höcke bekommt nicht oft die Gelegenheit, in Formaten etablierter Medienhäuser über das Thema Erinnerungskultur zu sprechen. Am 10. April 2024 erhielt er eine: In einem TV-Duell des "Welt"-Nachrichtensenders kam der AfD-Spitzenkandidat für die im September anstehende Landtagswahl in Thüringen zum "Schlagabtausch" mit seinem CDU-Kontrahenten Mario Voigt zusammen. Heikel hätte es für Höcke werden können, als er auf seine einige Jahre zurückliegende Forderung nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" angesprochen wurde. Doch er gab sich als Missverstandener: Natürlich, der Holocaust sei "eine Schande". Ja, an die Verbrechen des Nationalsozialismus müsse erinnert werden. Doch ins Zentrum seines Redebeitrags stellte der AfD-Mann dann doch lieber die Erzählung eines erinnerungskulturellen Sonderwegs der Deutschen: "Mit einer negativen Identität kann man die Zukunft nicht gewinnen." Aus diesem Grund wolle man "grundsätzlich die Lichtseiten der deutschen Geschichte in den Mittelpunkt" rücken. Höcke äußerte in diesem Zusammenhang sein Gefühl, die Deutschen seien mit sich selbst "uneins, sie sind im Unreinen". Aus diesem Grund sei er davon überzeugt: "Wir müssen uns wieder mit uns selbst befreunden." Bezogen auf das gegen ihn laufende Verfahren wegen der Verwendung der SA-Parole "Alles für Deutschland" inszenierte sich Höcke als das Opfer eines zunehmend enger werdenden Diskursrahmens. Während Aussagen wie "Bomber Harris do it again" oder die Bezeichnung der Deutschen als "Köterrasse" straffrei blieben, werde er auf die Anklagebank gesetzt.
Anschließend durfte sich Höcke auch noch über die Ursachen des ansteigenden Antisemitismus in Deutschland äußern. Seine Erklärung folgte dem bekannten AfD-Muster: "Ich sehe keinen Antisemitismus ausgeprägten Maßes bei der ursprünglichen deutschen Bevölkerung – auch wieder ein Problem, das wir uns mit Migration ins Land geholt haben."
Opfer des "Schuldkults"
In der jüngeren Vergangenheit gilt das 2017 erschienene Buch "Finis Germania" des Historikers Rolf Peter Sieferle als wichtige neurechte Bezugsquelle für das Konstrukt von einem "Mythos Auschwitz". Das posthum bei Antaios publizierte Werk sorgte für einen Skandal, nachdem es kurzzeitig in den Top 10 einer seriösen Sachbuch-Bestsellerliste gelandet war, weil eines der Jurymitglieder seine Punkte akkumuliert vergeben hatte.
Insgesamt liest sich Sieferles schmaler, aus 31 fragmentarischen Texten bestehender Band wie ein völkischer Weckruf und eine Abrechnung mit dem postmodernen Zeitalter des Universalismus. Immer wieder arbeitet sich der Autor dabei an der deutschen Erinnerungskultur ab und beschreibt Auschwitz als "letzten Mythos", als eine "Wahrheit, die jenseits der Diskussion steht". Weiter urteilt er: "Das Ritual der Vergangenheitsbewältigung besitzt Züge einer veritablen Staatsreligion. Das Dogma ist einfach und eingängig: Die Urväter, die Nazis, haben die schwerste und singuläre Schuld auf Erden auf sich geladen und sich wie auch ihre Nachkommen damit aus dem Paradies der Geschichtsnormalität ausgeschlossen."
Doch bleibt er bei dieser Gegenüberstellung nicht stehen, sondern verbindet seine generelle Fortschrittskritik mit einer Art Schicksalsverwandtschaft beider Völker.
Die darin steckende Relativierung und Selbstermächtigung sollte nochmal auf den Punkt gebracht werden: Der von Deutschen ausgehende Versuch der Vernichtung des Judentums hat demnach die heutigen Deutschen zu den Juden von früher gemacht. Sie seien die Opfer des "Schuldkults", der ein Herrschaftsinstrument des von den Siegermächten eingepflanzten Antifaschismus sei. Für die Neue Rechte wird "Auschwitz" damit zu einer Waffe der Geschichtspolitik, die das Leugnen des neuzeitlichen "Sündenfalls" unter Strafe stelle, um die Meinungsfreiheit einzuschränken.
"Gesinnungsgesetze" gegen Holocaustleugnung
Als einer der wichtigsten Vordenker für die Neue Rechte hatte der Publizist Armin Mohler bereits 1994 gegen das Verbot der "Auschwitzlüge" polemisiert, mit der die Existenz von Gaskammern in den deutschen Vernichtungslagern abgestritten wurde. Mohler sah in dem drohenden Verbot in erster Linie ein mögliches moralisches Druckmittel, mit der die Forschungs- und Meinungsfreiheit bedroht werde.
Ähnlich argumentiert Autor Manfred Kleine-Hartlage und meint, durch "eigens auf ihn zugeschnittene Blasphemiegesetze" werde der Holocaust "nicht etwa als das monströse Verbrechen gebrandmarkt, das er tatsächlich war, sondern zum Inbegriff des absolut Bösen und damit aus dem Zuständigkeitsbereich der Geschichtsschreibung in den der Theologie überführt".
Natürlich ist es nicht das Gleiche, Fakten zu leugnen und Fakten zu deuten. Haverbecks Verbreitung von "Unwahrheiten" folgt erkennbar einem rechtsextremen Motiv. Der Straftatbestand schützt dezidiert die betroffene Opfergruppe und ihre Würde. Er soll verhindern, dass sie durch nachträgliche Verleumdung gewissermaßen einen zweiten Tod sterben.
"Buße" und "Bevölkerungsaustausch"
In ihrem völkischen Weltbild geht die Neue Rechte von einer homogenen deutschen Kultur und damit auch von einer eigenen, nicht veränderbaren deutschen Identität aus. Sie zu erhalten, gilt deshalb etwa für den neurechten Aktivisten Martin Sellner als Hauptziel jeder rechten Politik.
Gerade aber, wie Antaios-Autor Konstantin Fechter schreibt, weil der Nationalsozialismus in der Bundesrepublik den "Urzustand der Gewalt" darstelle, werde nun jede rechte Gewalt darauf zurückgeführt, während alle anderen Formen ausgesondert oder gar nicht wahrgenommen würden.
Auch Fechter sieht einen ständigen Bedarf für "Sündenböcke". Aus diesem Grund würde die "politische Theologie der Bundesrepublik" eine eigene "Opferkaste" bilden, in die "sie alle Kritiker ihrer gesellschaftlichen Ambivalenz" einsortiere. Dazu gehöre natürlich auch die Neue Rechte selbst, "gilt sie letztendlich als die alte Rechte im neuen Gewand".
Die Hohmann-Affäre zeigt beispielhaft, wie Antisemitismus in den eigenen "rechten" Reihen bagatellisiert und die Selbststilisierung als Opfer betrieben wird. Ein besonderes Stilmittel der neurechten Akteure besteht dabei darin, die "Nazi-" beziehungsweise "Antisemitismuskeule" selbst in die Hand zu nehmen und derlei Affären als Kampagnen der "herrschenden Zivilreligion" darzustellen.
Der Antisemitismus der Anderen
Die wiederkehrende Erzählung der Neuen Rechten folgt dem immer gleichen argumentativen Muster, wonach die eigene, legitime Überzeugung als "unsagbar" delegitimiert werden solle. Am Beispiel von Sieferles "Finis Germania" zeigt sich jedoch, wie versucht wird, den Spieß des Antisemitismusvorwurfs innerhalb des eigenen intellektuellen Lagers umzudrehen. Deutlich wird dies bei Michael Klonovsky, der als persönlicher Referent des AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland tätig war und heute für den AfD-Bundestagsabgeordneten Matthias Moosdorf arbeitet. Szenebekannt ist Klonovsky aber vor allem als Autor seines Internettagebuchs "Acta diurna", in dem er 2017 zum großen Rundumschlag gegen Sieferles Kritiker*innen ausholte und sich selbst mit der "Antisemitismuskeule" bewaffnete: "Pikant wird der ganze Vorgang (…), weil hier Leute den Import von Antisemiten gutheißen und gleichzeitig zur Hatz auf einen unbescholtenen Gelehrten blasen, dem sie antisemitische Ansichten unterstellen, die es überhaupt nicht gibt." Und weiter: "Was sich hier gegen einen freien Geist wie Sieferle in Stellung bringt, ist exakt dieselbe Mentalität, die sich 1933 zu Fackelzug und Judenboykott versammelte. Die Nazimentalität auf Nazisuche: ein routiniertes Spiel und meutenhaftes Selbstvergewisserungsspektakel mit einem neuen Opfer."
In dieser Deutung erscheint Sieferle als das eigentliche Opfer, die Stigmatisierung seines Buches als antisemitisch sei nicht mehr als ein unlauterer Versuch, den Historiker von den Grenzen des Sagbaren fernzuhalten. Bei Klonovsky schimmert zudem durch, wie sich Neue Rechte und AfD mit dem Stereotyp des "importierten Antisemitismus" zu exponieren versuchen. Das gilt umso mehr seit dem starken Anstieg antisemitischer Straftaten im Kontext des seit Herbst 2023 eskalierenden Nahostkonflikts, wie unter anderem auch die berüchtigten Pläne von Martin Sellner für eine "Remigration" verdeutlichen: In seinem gleichnamigen Buch fordert Sellner, nur "jene Fremden, die sich tatsächlich assimilieren, dürfen das hohe Gut der Staatsbürgerschaft erhalten". In diesem Zusammenhang erinnert er an die "Hamas-Demonstrationen" Ende des Jahres 2023 und knüpft an die damals aufgekommene Forderung aus den Reihen der SPD an, Antisemiten den deutschen Pass zehn Jahre rückwirkend wieder zu entziehen.
Geschichtsrevision als "Versöhnung"
Nun fragt man sich, welche Lehren nach dem Verständnis der Neuen Rechten überhaupt aus dem Holocaust gezogen werden sollen. Folgt man Sellner, dürfte die "Holocaust education" jedenfalls nicht dazugehören, stecke dahinter doch nicht mehr als eine im "Zuge der ‚Entnazifizierung‘ installierte Erziehungspraxis (…). Ihr Ergebnis ist die systematische Traumatisierung aller deutschen Nachkriegsgenerationen." Auch er versucht, jeden Vorwurf der Geschichtsvergessenheit zu zerstreuen: "Historische Verbrechen werden weder geleugnet noch verharmlost. Sie werden jedoch der ‚mystisch-religiösen‘ Aura, die ihren politischen Mißbrauch ermöglicht, entledigt. Vielmehr sollen sie nach ihrer Historisierung nicht mehr das "alleinige Zentrum, sondern einen (integralen) Teil der versöhnlichen Erinnerungskultur" darstellen.
Was die neurechte Auslegung einer solchen Versöhnung bedeutet, findet sich in einer Publikation von Andreas Lombard (vormals Landt). Der ehemalige Chefredakteur des Magazins "Cato" und Namensgeber des Landt Verlags will in der Debatte um die Schuldfrage vor allem eine Selbstanklage von (linken) Deutschen gegenüber (rechten) Deutschen ausgemacht haben: "Wenn wir nichtjüdischen Deutschen uns nicht zu Richtern in eigener Sache aufschwingen wollen (…), dann doch bitte auch nicht zu Staatsanwälten in eigener Sache. (…) Würden wir die Annahme einer absoluten Schuld allen Ernstes und sehenden Auges auch gegen versöhnungsbereite Juden geltend machen wollen? Das wäre absurd."
Natürlich geht es auch Lombard um Entlastung. Dagegen aber ließen sich zunächst die Fakten anführen. So geben laut einer im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 2022 veröffentlichte Studie 54 Prozent der befragten Israelis an, die Verfolgung und Ermordung der Jüd*innen während der NS-Zeit belaste das Verhältnis zu den Deutschen noch immer.
Schuldbefreiter Diskurs
In der neurechten Lesart ist das Holocaust-Gedenken als "Mythos Auschwitz" vor allem eines: eine große Erzählung der deutschen Schwäche. Um die deutsche Erinnerungskultur von ihrer negativen Hypothek zu entlasten, wird die Schuld in Darstellungen über den Zweiten Weltkrieg daher weitestgehend auf die andere Seite der Front verlagert. Die Verbrechen des Nationalsozialismus und auch der Holocaust werden zwar verurteilt, gleichzeitig aber dadurch relativiert, dass es in vielen Publikationen in erster Linie um alliierte Gewalt geht.
Besonders deutlich wird dies bei dem Historiker und Antaios-Autor Stefan Scheil, der sich als Wahrheitsverkünder gegen eine vermeintlich ideologisierte Geschichtswissenschaft in Szene setzt. Sein roter Faden ist dabei die generelle Behauptung, dass die deutsche "Kriegführung ganz sicher nicht die Kette von unprovozierten Überfällen auf andere Länder war, als die sie dem Publikum heute im Dreiklang von ‚Historytainment‘, Forschung und Politik häufig präsentiert wird". Ob 1939 der Angriff auf Polen oder 1940 auf Skandinavien: Die Deutschen seien ihren Gegnern stets zuvorgekommen, die Kriegsmotive fänden sich nicht allein in der "Agressionslust" Hitlers. Scheils Geschichtsrevisionismus kulminiert gar in der Behauptung, der Überfall auf die Sowjetunion 1941 sei ein Präventivkrieg gewesen.
Das Alleinstellungsmerkmal dieser "Zivilreligion" sei der Neuen Rechten zufolge die "negative Identität" der Deutschen samt des Bedürfnisses permanenter Buße durch die zu großzügige Aufnahme von Geflüchteten. Das "Böse" des "Mythos Auschwitz" müsse daher vom "Deutschen" gelöst werden, damit der "Bevölkerungsaustausch" gestoppt werden könne. Dies erklärt auch, warum die Neue Rechte das postkoloniale Konzept der deutschen Erinnerungskultur als "Katechismus der Deutschen"
Ausblick
Insgesamt drehen sich die neurechten Deutungskämpfe vor allem um eines: um sich selbst. Eine Ethik des Gedenkens sucht man vergebens. So schreibt etwa Martin Sellner: "Die Lehre aus der Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland im 20. Jahrhundert kann im 21. Jahrhundert nicht die Ersetzung deutschen Lebens in Deutschland durch Fremde sein."
Sollten die Neue Rechte und der völkische Teil der AfD ihre "erinnerungspolitische Wende" durchsetzen können, wird vor allem das bestehende Gedenken an Millionen von Menschen, die während des Holocaust ihr Leben verloren haben, keine Zukunft haben. Keine Zukunft hat dann auch das Bewusstsein für die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus, der in allen Bereichen der Gesellschaft verankert ist. Dabei geht es nicht um einen "Schuldkult". Natürlich ist die Feindschaft gegenüber Jüd*innen nicht auf Deutschland beschränkt, natürlich gab es sie vor 1933. Dennoch: Auschwitz war eine deutsche Erfindung. Daraus ergibt sich eine singuläre Verantwortung.