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Antisemitismus Editorial Antisemitismus – Was gibt es da zu erklären? Israel und der Antisemitismus. Antisemitismusdefinitionen im Kontext des Nahostkonflikts Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland Instrumentalisierte Feindschaften. Antisemitismus in muslimischen Communities und antimuslimischer Rassismus Antisemitismus in digitalen Räumen. Herausforderung für die politische Bildung Antisemitische Kommunikation im internationalen Vergleich "Mythos Auschwitz". Erinnerungskulturelle Deutungskämpfe von Rechtsaußen Shoahppropriation - Essay

Antisemitische Kommunikation im internationalen Vergleich

Matthias J. Becker

/ 15 Minuten zu lesen

Im Forschungsprojekt „Decoding Antisemitism“ wird in den Blick genommen, wie in Kommentaren auf Youtube- und Facebook-Profilen von deutschen, britischen und französischen Medien auf den 7. Oktober 2023 reagiert wurde: vielfach mit antisemitischer Hassrede.

Antisemitismus ist eine Hassideologie, die sich in ihrer über zweitausendjährigen Geschichte den politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen immer wieder angepasst hat. Mit der Gründung des Staates Israel 1948 rückte ein neues Objekt in den Mittelpunkt antisemitischer Agitation. Neben der bloßen Existenz des jüdischen Staates sind es die Eskalationsphasen im Nahostkonflikt, die stets weltweite Antisemitismuswellen ausgelöst haben. Jede Konfrontation, jeder Terrorakt, jede Reaktion vonseiten des israelischen Militärs haben off- wie online neben gerechtfertigter Kritik einen Anstieg in der Reproduktion von Stereotypen und anderen Formen antisemitischer Kommunikation zur Folge gehabt. Die Korrelation zwischen solchen Ereignissen und der Zunahme antisemitischer Diskurse hat insofern Kontinuität. Daran hat auch der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nichts geändert – dennoch war dieses Ereignis ein Wendepunkt.

Was zuvor eine Konzentration antisemitischer Äußerungen auslöste, Formen der Relativierung oder gar Leugnung verübter Verbrechen hervorrief, führte ab dem 7. Oktober zu offenem Hass beziehungsweise der Glorifizierung der an jenem Tag verübten massiven Gewalt gegen israelische Zivilist*innen. Nicht Phantasien über Jüd*innen bestimmten den Diskurs, sondern die von Schadenfreude gekennzeichneten Selbstpositionierungen gegenüber den jüdischen Opfern. Dies ist zumindest im Kontext der online-bezogenen Antisemitismusforschung ein Novum.

Im Folgenden werde ich einige Ergebnisse des Forschungsprojektes "Decoding Antisemitism" vorstellen, in dem unter anderem in den Blick genommen wird, wie auf unterschiedlichen Plattformen und in verschiedenen Sprachen auf die Vorgänge vom 7. Oktober reagiert wurde. Wie war das Echo in den sozialen Medien, als die User*innen mit den Bildern aus Südisrael konfrontiert wurden? Und was sagt uns das über das Verhältnis von Antisemitismus und Verschwörungsdenken beziehungsweise über deren Tabuisierung in den fokussierten Sprachgemeinschaften?

Methodischer Ansatz und Ergebnisse

Das Decoding Antisemitism-Projekt ist primär korpuslinguistisch angelegt. Das heißt, anhand bestimmter Kriterien wie Textsorte, Spezifik der Plattform, Diskursereignis oder Messzeitraum werden Datensätze gebildet und anschließend die Kommunikationsmuster in diesen Korpora beleuchtet. Die diesem Artikel zugrundeliegenden Fallstudien zum 7. Oktober basieren auf Daten, die von zwei Plattformen stammen: Youtube und Facebook. Der Fokus des Projektes liegt dabei auf den Profilen sogenannter Mainstreammedien in Deutschland, Frankreich und im Vereinigten Königreich. Zur Kontrastierung werden jedoch auch weitere, größtenteils europäische Länder in den Blick genommen.

Da sich der Antisemitismus politisch moderater Milieus in den meisten Fällen durch implizite Muster auszeichnet, ist der primäre Zugang zu den Online-Daten die qualitative Inhaltsanalyse. Zumindest die konventionellen quantitativen Verfahren können die Komplexität und Diversität von zwischenmenschlicher Kommunikation nur eingeschränkt erfassen, insbesondere wenn der zu erforschende Untersuchungsgegenstand eine tabuisierte Hassideologie ist und die Diskursteilnehmenden den Begriff "Antisemit" als Selbstbeschreibung in der Regel klar ablehnen. Dies führt zu "kreativen" Kommunikationsmustern und impliziter Hassrede, bei denen antisemitische Einstellungen über Wortspiele, Anspielungen, Metaphern, Ironie oder rhetorische Fragen zum Ausdruck gebracht werden. Aufgrund der Vielfalt und Komplexität dieser Muster kann die flächendeckende Erkennung von Antisemitismus in solchen Milieus nur über kontextsensitive Feinanalysen erfolgen. Die Klärung entsprechender Fragen lässt Rückschlüsse darauf zu, welche Stereotype eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz erlangt haben.

Unsere Untersuchungen zeigen mit Blick auf den 7. Oktober eine im Vergleich zu anderen gewaltsamen Ereignissen im Nahen Osten erhebliche Zunahme antisemitischer Kommentare. Die überwiegende Mehrheit dieser Kommentare besteht aus der Zustimmung, Verherrlichung und Rechtfertigung der Hamas-Terroranschläge. Ihre Häufigkeit und Direktheit variieren je nach Plattform, Sprache der User*innen sowie thematisierten Inhalten. Es lässt sich feststellen, dass die Anzahl der Kommentare, die die Grausamkeiten der Anschläge befürworten, besonders stark ansteigt, wenn es um Berichte über Angriffe auf Israelis oder Jüd*innen im Vergleich zu allgemeinen Berichten über die gegenwärtige Konfliktphase geht.

Gleich nach den genannten Formen der Selbstpositionierung umfassen die häufigsten antisemitischen Konzepte in diesen Kommentaren die Leugnung des Existenzrechts Israels, die einseitige Schuldzuweisung an Israel, dessen Dämonisierung als Terrorstaat, Verschwörungsmythen sowie Vorstellungen von Israel als dem absoluten Bösen. Wie in früheren Studien des Projekts wird auch in dieser Analyse eine Vielzahl antisemitischer Konzepte und kommunikativer Strategien festgestellt. Die Ergebnisse bestätigen die komplexe Natur des Antisemitismus als ein vielschichtiges Mosaik, das es unmöglich macht, sich mit allen Aspekten gleichzeitig zu befassen. Daher werden hier nur die auffälligsten Trends hervorgehoben.

Youtube-Profile britischer Medien

Das Youtube-Korpus britischer Medien ist mit 4000 Kommentaren der größte Datensatz unserer Vorab-Studie vom vergangenen Oktober. Üblicherweise beobachteten wir bei Berichten über den arabisch-israelischen Konflikt im britischen Kontext in 15 bis 25 Prozent der Social Media-Kommentare Antisemitismus. Mit der aktuellen Eskalation stieg dieser Anteil in den Youtube-Kommentaren jedoch sprunghaft an – bisweilen auf 30 bis 40 Prozent oder, wie im Falle eines Threads vom "Independent", sogar auf fast 55 Prozent. Dieser Thread bezieht sich bezeichnenderweise auf ein Video, das Details des Massakers im Kibbuz Kfar Aza zeigt. Die hohe Dichte an antisemitischen Kommentaren unter Clips über Hamas-Verbrechen und damit die Diskrepanz zwischen Medienperspektive und offenem Antisemitismus war ein überraschender Befund, da wir zunächst von Solidarität oder zumindest Zurückhaltung vonseiten der User*innen ausgegangen waren.

Die Affirmation antisemitischer Gewalt erfolgt zum einen direkt, mit Äußerungen wie "Long overdue", "The Palestinians are finally fighting back", "Good job Palestine" und "So happy to see justice finally". Andere Äußerungen, die in anderen Situationen nicht mit einer antisemitischen Bedeutung aufgeladen sind, sind "Allahu Akbar", "Long live Palestine" oder "Resistance is yours". Im Kontext des medial präsentierten Terroranschlags kommen entsprechende Kommentare einer Bestätigung gleich und können vor diesem Hintergrund als gleichbedeutend mit impliziten Todeswünschen gegenüber Jüd*innen gelesen werden. Dass sich die kommunizierten Haltungen nicht nur gegen Israelis, sondern auch gegen Jüd*innen allgemein richten, zeigen Wortspiele und Anspielungen wie "JURN THE BEWS" und "The Palestinians will complete the job that the Austrian painter started".

Schadenfreude ist besonders häufig bei Kommentaren zum Massaker an Besucher*innen des Supernova-Musikfestivals zu beobachten: "Peaceful community must treat like this everywhere", "Hahahah why r u runnin???", "This is better than Hollywood!" Zwei vom "Independent" geteilte Clips über die Entführung weiblicher Zivilistinnen lösten starke Zustimmung zu sexueller Gewalt aus: "They had a good time with her it seems like", "That’s the price paid for being cute". In diesem Kontext kommt es auch zu Rechtfertigungen sexueller Gewalt: "This woman was in the Israeli army so she should be treated like this".

Zusätzlich zur Bestätigung von Gewalt zeigen sich in vielen Kommentaren antisemitische Haltungen in Bezug auf Israel. In 9 bis 22 Prozent der antisemitischen Kommentare wird das Existenzrecht Israels geleugnet, wie etwa hier: "Only the Palestinians exercise their ‚right of return‘ to their ancestral land" und "Third Intifada! Full independence this time!" Ein fast gleich großer Anteil sieht eine Alleinschuld Israels im Konflikt, wie in: "Feel the pain of how Israeli massacred Palestinian kids for 70 years" oder "Tell that to the Palestinian women and children who have had to endure this for 75 years. Revenge is good. They deserve it". Damit wird im Kontext des Nahostdiskurses das klassische Stereotyp der jüdischen Schuld am Hass aktualisiert, der den Jüd*innen seit eh und je entgegenschlägt.

Diese Form der einseitigen Schuldzuweisung kann auch indirekt erfolgen – über Formulierungen wie "Karma!!!! The irony is killing me", "What goes around comes around", "It’s Hostages taking Hostages, let’s get it right!", "sow the wind reap the storm". Wie sehr entsprechende Konzeptualisierungen mit uralten Stereotypen zusammenfallen, sehen wir an Äußerungen wie: "We wouldn’t have had this war in the first place if the religion about the whole land has been promised by god for the ‚god’s chosen‘ never existed" oder "end of isreal rise of humanity".

Andere antisemitische Muster auf den Youtube-Profilen britischer Medien sind Verschwörungsmythen und Leugnung der Verbrechen: "fake news", "I agree seems staged". Unterhalb eines Interviews heißt es: "random soldier, fluent english", "cui bono? Who benefits … ?" und "The ‚hasbara‘ is fantastic; tentacles far and wide". Zudem wird eine Verbindung zum 11. September 2001 hergestellt: "The irony that it was dancing Israelis gunned down today and on 9/11 it was the ‚dancing Israelis who knew about the World Trade Center‘ and ‚documented the incident for Israel‘ instead of alerting America and stopping September 11th". In Bezug auf die Leugnungsstrategien fällt auf, wie häufig User*innen die antisemitische Motivation der Täter in Zweifel ziehen: "Hamas chose Saturday because they knew that the Israelis were not working so as to avoid civilian casualties. How honourable you are. May God help the Palestinians against the Israeli terrorists" und "brother, they [literally] took an Israeli mother to safety with her child, the only beating they are doing is to the soldiers".

Es lässt sich hier insofern neben einer Glorifizierung und Rechtfertigung des Terrors eine Fokussierung auf bestimmte antisemitische Konzepte ausmachen, die zwar nicht an die hohe Frequenz der zuvor genannten Selbstpositionierungen heranreichen, aber dennoch den Online-Diskurs mitprägen. Die Leugnung des israelischen Existenzrechts, Unterstellungen einer Alleinschuld und die Behauptung einer zionistisch-jüdischen Verschwörung dienten auch bei anderen Diskursereignissen als tragende Säulen für den israelbezogenen Antisemitismus.

Youtube-Profile deutscher Medien

Der Anteil antisemitischer Äußerungen im 2000 Kommentare umfassenden deutschen Youtube-Korpus variiert stark und beträgt bis zu 25 Prozent. Interessanterweise fokussieren alle sechs Threads, bei denen der Prozentsatz über 20 Prozent liegt, auf die Gräueltaten der Hamas.

Wie bei den britischen Medienprofilen fallen auch in den antisemitischen Kommentaren auf deutschen Youtube-Medienprofilen die Affirmation von Gewalt, Terror und Mord auf. In den 20 untersuchten Threads machen gewaltverherrlichende Aussagen über 41 Prozent der antisemitischen Kommentare aus. User*innen wiederholen die Rufe der Hamas-Terroristen wie "Allahu Akbar", formulieren vage Forderungen wie "Freiheit für Palästina" oder fragen "Kann man es den Palästinensern übel nehmen?" Schon frühzeitig werden Paraglider-Emojis verwendet, um den Hamas-Terror zu feiern. Klarere Zustimmung findet sich in Aussagen wie "Maşallah SubhanAllah weiter so Jungs", "Saubere Leistung", "Wir können stolz sein!" oder "Hamasssssss wird Siegen!" Einige User*innen verwenden Emoticons, um rassistische Stereotype über Jüd*innen und "Ungläubige" im Allgemeinen zu verbreiten, und drücken so indirekte Drohungen gegen den gesamten Westen aus, der im Kontext des Threads erwähnt wird.

Die Bestätigung von Gewalt und Terror wird in fast jedem vierten Kommentar mit der Behauptung kombiniert, dass Israel die Alleinschuld am Konflikt trage. Phrasen wie "Wer Wind sät, wird Sturm ernten!" oder "Sowas kommt von sowas" zeigen die Auffassung, dass Israel den palästinensischen Terror selbst kultiviert habe. In diesem Zusammenhang geht es nicht immer nur um den Umgang Israels mit Gaza, sondern um seine Existenz an sich.

Zusätzlich zur Schuldzuweisung sind Verschwörungsmythen mit über 12 Prozent weit verbreitet: "Wie kann einem bestens vernetzten Geheimdienst wie dem Mossad so eine riesige Feindoperation durch die Lappen gehen? Das riecht nach false flag …"; "Das wurde zugelassen, um die Lage eskalieren zu lassen". Selbst auf Clips, die emotionale Interviews mit den Eltern der israelischen Geiseln zeigen, reagieren Nutzer*innen mit wenig Empathie und unterstellen inszenierte Angriffe für bestimmte Ziele: "[Der Vater] ist ein Schauspieler" und "Vor lauter Trauer erstmal ein neues Siedlungsgebiet aufmachen und Lebensmitteltransporte blockieren. Das hilft der Moral etwas".

Das Arsenal antisemitischer Kommunikation ist jedoch breiter gefächert. So sehen wir diverse Formen der Relativierung und Leugnung des antisemitischen Charakters der Terroranschläge und Unterstellungen, Israel verfüge über einen "Freifahrtsschein" und instrumentalisiere den Antisemitismus. Auch enthalten zahlreiche Kommentare NS-Vergleiche, was nur von affirmierenden Bezügen zur NS-Zeit überboten wird. Auch deuten User*innen die Eskalation im Nahen Osten vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und greifen mit Blick auf potenzielle israelische Flüchtlinge auf offen antisemitische Witze zurück: "Wo wollt ihr die Juden denn aufnehmen, wo das Gas jetzt so teuer ist in Deutschland".

Es fällt auf, dass es zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen britischen und deutschen Youtube-Kanälen gibt. Ein bedeutender Unterschied liegt jedoch in der geringeren Häufigkeit von Antisemitismus auf deutscher Seite. Im Gegensatz zu den Mustern im britischen Datensatz fällt zudem auf, dass auf deutschen Kanälen Verschwörungsmythen häufiger auftreten als die Infragestellung des Existenzrechts Israels. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die indirekte Forderung nach der Auslöschung des jüdischen Staates zu sehr die Vorstellung eines Massenmordes aktiviert und somit nicht mit dem Bild einer salonfähigen "Kritik" vereinbar ist. Verschiedene Fallstudien der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Leser*innen britischer Medien antisemitische Vorstellungen wesentlich direkter und aggressiver äußern als Nutzer*innen in deutschsprachigen Kontexten, wobei grundsätzlich die Präsenz von antisemitischen Äußerungen in jedem Land stark vom Diskursauslöser abhängt.

Facebook-Profile in Großbritannien, Frankreich und Deutschland

Der Blick auf Facebook-Profile britischer, französischer und deutscher Medien zeigt, dass am 7. Oktober und an den Folgetagen auch dort die Affirmation von Gewalt, häufig in Kombination mit Schadenfreude, im Vordergrund stand. In Frankreich beträgt der Anteil solcher Kommentare 53 Prozent der antisemitischen Kommentare. Die Zahlen für britische und deutsche Facebook-Profile fallen mit 33 und 19 Prozent etwas geringer aus als auf Youtube im selben Zeitraum. Bemerkenswert ist, dass im deutschen Korpus die Affirmation von Terror noch von der Vorstellung israelischer Alleinschuld übertroffen wird.

Ähnlich wie bei der Youtube-Fallstudie folgt der Gewalt-Affirmation auf britischen Facebook-Profilen die Idee einer Alleinschuld Israels, die Vorstellung, Israel sei ein Terror-, Apartheid- oder gar NS-Staat und – oft damit verbunden – die Leugnung des Existenzrechts Israels.

Auf französischen Profilen sind ähnliche Muster sichtbar. Allerdings werden diese ergänzt durch diverse Gewalt rechtfertigende religiöse Aussprüche wie "Oeil pour oeil, dent pour dent; c’est la loi du talion, et elle est prescrite dans les 3 religions du livre". Auch NS-Vergleiche sind Teil des Diskurses, im Zuge derer beispielsweise die Hamas mit der Résistance verglichen wird. Und schließlich folgt die Behauptung einer jüdischen Instrumentalisierung des 7. Oktober für pekuniäre Zwecke.

Im deutschen Diskurs mit seiner Fokussierung auf die Schuldfrage nehmen auch Konzepte von Israel als vermeintlichem Terror- oder NS-Staat oder allgemein als Weltenübel einen zentralen Platz in den Online-Debatten ein. Zugleich sind die Ereignisse in Nahost in den Facebook-Kommentarspalten wie auch auf Youtube ein zentraler Auslöser für Kritik an der deutschen Außen- und Migrationspolitik sowie für einen deutlichen Anstieg antimuslimisch-rassistischer Äußerungen.

Insgesamt ist zu beobachten, dass es inmitten der zahlreichen antisemitischen Kommentare auf den Facebook-Profilen der verschiedenen Medienhäuser weniger neutrale Reaktionen gibt als gewöhnlich. Es scheint, dass die jüngsten Ereignisse selbst in scheinbar politisch gemäßigten Milieus den Raum für Grauzonen weiter verkleinert haben, wodurch sich die Debatte polarisiert und sich der Diskurs auf beiden Seiten radikalisiert.

Kontrast zu weiteren Ländern

Die Analyse sechs weiterer länderbezogener Fallstudien zu den ersten Reaktionen auf den 7. Oktober zeigt, wie sehr es der Antisemitismus mit seinem breiten Arsenal an Stereotypen und anderen Konzepten vermag, sich nationalen Rahmenbedingungen anzupassen und selbst bei Konfrontation mit massiver Gewalt seinen hohen Grad an Attraktivität zu wahren.

Unser italienisches Korpus zeigt mit knapp unter 10 Prozent die niedrigste Frequenz antisemitischer Reaktionen im Vergleich zu anderen Sprachgemeinschaften, jedoch sind die zugrundeliegenden Konzepte identisch. Die antisemitischen Kommentare tendieren dazu, entweder Israel die Alleinschuld zuzuschreiben oder die Hamas-Angriffe zu zelebrieren. Eine beträchtliche Anzahl von Kommentaren rechtfertigt die Hamas-Angriffe durch die Dämonisierung Israels, entweder durch Vergleiche mit einem Terrorstaat oder durch die NS-Analogie. In vielen Fällen wird zudem das Existenzrecht Israels geleugnet.

Im spanischen Facebook-Datensatz wurden 17 Prozent der analysierten Kommentare als antisemitisch eingestuft. Ein Großteil der Kommentare begrüßt den Hamas-Terror und rechtfertigt diesen teils als legitime Antwort auf frühere israelische Aktionen und damit als Selbstverteidigung. Viele der Kommentare zeigen simplifizierend dichotome Vorstellungen von Unterdrückern und Unterdrückten. Wie auch im italienischen Korpus werden Darstellungen Israels als Terrorstaat (das häufigste antisemitische Konzept) oder gar NS-Staat genutzt, um Israels Existenzrecht zu leugnen.

In den Kommentarbereichen polnischer Nachrichtenportale liegt der Anteil von antisemitischen Äußerungen durchschnittlich bei über 17 Prozent – unter einem Beitrag über das Supernova-Festival sogar bei 38 Prozent. Die häufigsten Themen sind im Gegensatz zu den meisten anderen Sprachgemeinschaften nicht Glorifizierungen von Gewalt und Terror, sondern Verschwörungsmythen, die Israel beschuldigen, selbst hinter den Angriffen der Hamas zu stecken, sowie die Darstellung Israels als böse und unmoralische Macht, gepaart mit Vorstellungen eines Terror- und NS-Staates. Trotz vieler Versuche, Antisemitismus als Problem der Vergangenheit oder anderer Nationen abzutun, zeigen Threads vermehrt tief verwurzelte Vorstellungen von Jüd*innen als privilegiert und Holocaust-Instrumentalisierer*innen.

Auf slowakischer Seite machen Glorifizierungen der Hamas-Aktionen in der antisemitischen Kommunikation "nur" knapp 15 Prozent aus. Eine größere Rolle spielen Formen der Verteufelung Israels und ein vermeintliches Tabu, die israelische Politik zu kritisieren. Gelegentlich wird die Gaza-Offensive Israels dekontextualisierend mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verglichen. Auch kommt es zur Gleichsetzung der Situation in Gaza mit dem Leiden der Jüd*innen während des Holocaust, was begleitet wird von Angriffen auf Israels Existenzrecht und Darstellungen Israels als fremden oder destruktiven Akteur in der Region. Schließlich gibt es – wenn auch mit geringerer Frequenz – Kommentare, die eine geheime Verschwörung hinter dem Hamas-Terror andeuten und Israel beschuldigen, davon zu profitieren.

Im rumänischen Datensatz wurden 18 Prozent aller Kommentare als antisemitisch eingestuft. Im Gegensatz zu anderen europäischen Kontexten sind israelbezogene Konzepte weniger präsent, während klassische antisemitische Motive und Schmähungen den Ton angeben und auf die Wahrnehmung Israels als "kollektiver Jude" hinweisen. Darüber hinaus zeigen die Threads eine Vielzahl antisemitischer Verschwörungsmythen, die von globaler Dominanz bis zu Bezügen zu den Chasaren reichen.

In Marokko gibt es unter anderem aufgrund der zentralen Bedeutung der palästinensischen Sache ein umfassendes Problem mit Antisemitismus, was auch im entsprechenden Korpus deutlich wird. Etwa 31 Prozent der analysierten Kommentare sind antisemitisch, häufig durch die Affirmation und Zelebrierung des Hamas-Terrors. Formen der Dehumanisierung der Opfer sowie die Leugnung des israelischen Selbstbestimmungsrechts sind verbreitet, während Verschwörungsmythen oder die NS-Analogie kaum zu beobachten sind. Im Gegensatz zum rumänischen Korpus verwenden einige User*innen "Zionist" anstelle von "Jude", landen aber schließlich immer wieder bei der Reproduktion antisemitischer Motive.

Im kontrastierenden Vergleich zeigt sich also, dass die Dominanz der Affirmation des Hamas-Terrors eher ein Phänomen westlicher Kontexte (Spanien, Großbritannien, Frankreich) und Marokkos zu sein scheint, während in Richtung Mittel- und Osteuropa andere antisemitische Konzepte die unmittelbaren Reaktionen auf den 7. Oktober geprägt haben. Gerade die Threads in osteuropäischen Kontexten zeigen, dass Verschwörungsmythen ebenso wie klassische Vorstellungen von Macht und Instrumentalisierung nach wie vor eine große Rolle spielen – was auch durch die Vermischung von Begriffen wie "Israelis", "Zionist*innen" und "Jüd*innen" deutlich wird.

Ausblick

Unsere fortlaufenden Analysen zeigen, dass in den drei fokussierten Ländern Großbritannien, Frankreich und Deutschland die Konzentration bestimmter Erscheinungsformen des Antisemitismus, die in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober noch sehr dominant waren, mittlerweile nachlässt. Israel wird inzwischen wieder seltener die alleinige Schuld am Konflikt zugeschrieben; die Affirmation oder gar Glorifizierung von Gewalt und Terror hat ebenso abgenommen. Stattdessen wird Israel in vielen Kommentaren als Weltenübel, Terror-, NS- oder Kolonialstaat charakterisiert und der Einflussnahme und der Desinformation beschuldigt. Insofern kann eine Rückkehr zu den alten Mustern des israelbezogenen Antisemitismus beobachtet werden, ohne dass die unmittelbar nach dem 7. Oktober vorherrschenden Motive komplett verschwunden sind.

Dies führt vor Augen, wie anpassungsfähig die Hassideologie des Antisemitismus ist. Auf die massive antisemitische Gewalt vom 7. Oktober wurde in Online-Kommentaren vielfach direkt mit Affirmation, Rechtfertigung, Relativierung oder gar Leugnung reagiert. In Reaktion auf das darauffolgende militärische Vorgehen Israels kamen dann klassische oder aktualisierte Stereotype sowie dämonisierende Analogien hinzu. Inwieweit die Vorgänge im Nahen Osten mit der Situation im eigenen Land verknüpft wurden und werden, hängt dabei mit der Stellung des Antisemitismus in den unterschiedlichen Sprachgemeinschaften zusammen.

Angesichts des schieren Umfangs an Online-Content sind die vorgestellten Erkenntnisse gleichwohl lediglich Schlaglichter. Im Decoding Antisemitism-Projekt werden wir den Judenhass in den sozialen Medien daher weiter untersuchen, wandeln sich doch nicht nur der Kommunikationsraum, die Sprache und allgemein die Kommunikation immer weiter, sondern auch die Hassideologie des Antisemitismus selbst. Wie sich die Judenfeindschaft formiert, wie der entsprechende Diskurs auf antisemitische Vorfälle reagiert und wie spezifische Narrative über jüdische Menschen fort- und umgeschrieben werden, bleiben auch in Zukunft wichtige Fragen – gerade auch für politische, juristische und pädagogische Gegenstrategien.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Externer Link: https://decoding-antisemitism.eu.

  2. Vgl. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, Weinheim–Basel 2015.

  3. Vgl. Jörg Meibauer (Hrsg.), Hassrede/Hate Speech, Gießen 2013; Matthias J. Becker/Hagen Troschke, Decoding Implicit Hate Speech: The Example of Antisemitism, in: Christian Strippel et al. (Hrsg.), Challenges and Perspectives of Hate Speech Analysis: An Interdisciplinary Anthology, Berlin 2023, S. 335–352. Siehe auch Matthias J. Becker et al., Decoding Antisemitism: A Guide to Identifying Antisemitism Online, London 2024 (i.E.).

  4. Dem verwendeten Kategoriensystem liegt die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus zugrunde, die im Rahmen einer umfassenden Operationalisierung für entsprechende Feinanalysen weiterentwickelt wurde. Siehe Externer Link: https://holocaustremembrance.com/resources/working-definition-antisemitism.

  5. Bereits Ende Oktober 2023 veröffentlichte das Decoding Antisemitism-Team eine Vorstudie, für die über 11000 Youtube- und Facebook-Kommentare ab dem 7. Oktober untersucht wurden. Diese Kommentare bezogen sich direkt auf Berichte von politisch moderaten Nachrichtenseiten. Vgl. Matthias J. Becker et al., Celebrating Terror. Antisemitism Online After the Hamas Attacks on Israel: Preliminary Results, Berlin 2023.

  6. Jeweils 1100 Kommentare entstammen den Youtube-Profilen von "The Guardian" und BBC News, 1000 Kommentare dem Profil von "The Independent" sowie 800 dem Profil von "The Times".

  7. Das Korpus besteht aus 1000 User*innen-Kommentaren von "Bild", 300 von "Der Spiegel", jeweils 200 von ZDF, Arte und Euronews sowie 100 vom WDR. Viele deutsche Medien, etwa "Die Zeit", haben die Kommentarfunktion beim Thema Nahostkonflikt deaktiviert.

  8. Vgl. Matthias J. Becker, Decoding Antisemitism in European Online Discourses, in: Manuela Consonni/Martina L. Weisz (Hrsg.), Analysis of Current Trends in Antisemitism, Berlin (i.E.).

  9. Zu diesem Abschnitt vgl. Matthias J. Becker et al., Decoding Antisemitism. An AI-Driven Study on Hate Speech and Imagery Online, Discourse Report 6, Berlin 2024.

  10. Vgl. American Jewish Committee, Translate Hate Glossary: Khazars, o.D., Externer Link: http://www.ajc.org/translatehate/Khazars.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Matthias J. Becker für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierter Linguist und leitet das Forschungsprojekt "Decoding Antisemitism" am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.