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Antisemitismus in digitalen Räumen | Antisemitismus | bpb.de

Antisemitismus Editorial Antisemitismus – Was gibt es da zu erklären? Israel und der Antisemitismus. Antisemitismusdefinitionen im Kontext des Nahostkonflikts Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland Instrumentalisierte Feindschaften. Antisemitismus in muslimischen Communities und antimuslimischer Rassismus Antisemitismus in digitalen Räumen. Herausforderung für die politische Bildung Antisemitische Kommunikation im internationalen Vergleich "Mythos Auschwitz". Erinnerungskulturelle Deutungskämpfe von Rechtsaußen Shoahppropriation - Essay

Antisemitismus in digitalen Räumen Herausforderung für die politische Bildung

Deborah Schnabel

/ 15 Minuten zu lesen

Wer den heutigen Antisemitismus verstehen will, muss sich mit den Logiken, Merkmalen und Wirkweisen unseres postdigitalen Zeitalters auseinandersetzen. Alle bekannten Motive des Antisemitismus tauchen auch im Digitalen auf. Politische Bildung muss sich darauf einstellen.

Welche Rolle spielen digitale Medien bei der Verbreitung von Antisemitismus? Für eine Antwort auf diese Frage müssen wir uns zunächst von der Vorstellung lösen, dass sich die Welt mehr oder minder direkt im Netz widerspiegelt. Unsere Wirklichkeit ist längst eine postdigitale: Der digitale Raum ist zum Alltag geworden, Teil unserer Lebenswelt, kein "zweiter" Raum. Wer Antisemitismus heute verstehen will, muss sich mit den Logiken, Merkmalen und Wirkweisen unseres postdigitalen Zeitalters auseinandersetzen. Hierbei geht es auch um hybride – also digitale und analoge – Meinungsbildungsprozesse, Dynamiken und Kommunikationsmuster.

Denn Meinungsbildungsprozesse starten heute oft direkt im Netz und werden dann erst ins Analoge getragen. Das ist zum Beispiel der Moment, in dem Erwachsene vermeintlich plötzlich radikalisierte Einstellungen bei Jugendlichen bemerken – dabei fiel die veränderte Kommunikation nur nicht auf, weil sich Jugendliche und Erwachsene nicht in den gleichen Räumen aufhalten. Für die Bedürfnisse der jüngeren Generation wird in analogen Räumen zu langsam, zu träge und zu wenig aktualitätsbezogen kommuniziert. Bis überprüfte Fakten oder ausgewogene Inhalte ins Netz gelangen, vergeht viel Zeit – Zeit, in der im Netz zum gleichen Thema von den unterschiedlichsten Akteur*innen eine Unzahl neuer Inhalte und Meinungsgegenstände produziert werden. Bis ein Tagesschau-Kommentar zu einer Nachricht das Publikum erreicht, ist die Meinungsbildung schon weit fortgeschritten. Aus der Forschung wissen wir auch, dass aufklärende Botschaften zu Verschwörungserzählungen im Netz nur noch wenig rezipiert werden beziehungsweise kaum wirksam sind. Zugleich treffen Kommunikationslogiken aus dem Netz häufig auf ein unvorbereitetes Analogpublikum. Komplexe Sachverhalte werden verkürzt, überspitzt, polemisch, provokant und aggressiv vorgetragen. Schnelle Stellungnahmen und Vereindeutigungen werden gefordert, jedes Bemühen um Ausgeglichenheit und umsichtige Argumentation ist wiederum Anlass für weitere Provokationen.

Damit soll Antisemitismus im Netz keineswegs als bloßes Missverständnis, gar als Generationenkonflikt dargestellt werden. Gerade im Zuge des 7. Oktober 2023 hat antisemitischer Content auf nahezu allen digitalen Plattformen extrem zugenommen – sowohl quantitativ als auch in der Aggression. Wie schon der Anschlag der Hamas wird auch der Gaza-Krieg teilweise live auf Tiktok gebroadcastet. Das schließt hochemotionalisierende, gewaltvolle, unkontextualisierte Bilder und Videos ein, die massenhaft abrufbar sind. Influencer*innen positionieren und politisieren sich, profilieren sich binnen weniger Tage in der Rolle von Nahost-Expert*innen. Es entstehen Parallelrealitäten mit sich selbst erfüllenden Prophezeiungen: In der eigenen Filterblase wird eine Haltung von allen Seiten bestätigt, während andere Perspektiven höchstens als fails beziehungsweise Objekte des Spotts auftauchen, wenn überhaupt. Diese im Netz entwickelten Haltungen tauchen in der analogen Welt unvermittelt auf – und strahlen wiederum ins Netz zurück.

Antisemitismus als Problem in der postdigitalen Welt

Ein Beispiel für die Wirkweise dieser Dynamiken ist die Behandlung des Nahostkonflikts auf Social Media: Hoher Profilierungs-, Produktions- und Positionierungsdruck, gepaart mit einer extrem verengten Sicht auf die Welt, treffen bei vielen Content-Produzent*innen auf mangelndes Wissen über Antisemitismus sowie die mangelnde Reflexion der eigenen goj-normativen, also nichtjüdischen Position. Dazu wirkt der Zwang, Content für eine vor allem unterhaltungsorientierte Zielgruppe zu entwickeln. Es zählt die clickability. Achtlos wird mit Hashtags wie #fromtherivertothesea, #freegazafromgermanguilt, #genozid, #tiktokintifada, #silentholocaust und vielen weiteren hantiert – ohne deren Tragweite wirklich zu begreifen, ohne zu kontextualisieren oder Betroffene zu schützen. So können sich unter Posts mit genuin solidarischen und empathischen Botschaften extrem rechte oder islamistische Positionen mischen, die gemeinsam mit den unterstützenden Perspektiven als Meinungsbündel an Personen weitergegeben werden, die sie nicht unterscheiden können – ein für antisemitische Einstellungen ideales Biotop. Diese online eingeübten Haltungen manifestieren sich dann scheinbar unvermittelt und in radikaler Eindeutigkeit auf Schulhöfen, Straßen, in Universitäten und letztlich auch im gesamtgesellschaftlichen Klima.

Die postdigitale Verschränkung von Netz und "wirklicher Welt" zeigt insbesondere auch, wie dringlich es ist, dass politische Bildung auf die veränderten Lebenswelten der jüngeren Generationen eingeht. Mag es früher vielleicht eine hetzerische Schlagzeile pro Woche gewesen sein, die alle Kontaktpunkte einer Einzelperson mit antisemitischen Inhalten beschreiben konnte, gibt es heute ein dynamisches antisemitisches Medienuniversum, das inzwischen durch KI automatisiert antisemitische Inhalte produziert und seine Attraktivität und hetzerische Wirkung fortlaufend algorithmisch präzisiert.

Dieser postdigitalen Welt müssen politische Bildner*innen Rechnung tragen. Eine postdigitale Herangehensweise wendet sich ab von der rein technisch fokussierten Digitalisierung von (politischer) Bildung und hin zu einer Nutzenden-Zentrierung und Möglichkeitsräumen. Letzteres bedeutet auch, dass vieles möglich und wenig sicher ist. So wissen wir heute schlichtweg (noch) nicht, welche Effekte der Einsatz bestimmter digitaler Technologien auf politische Bildung haben kann. Gleichzeitig liegen noch teils unbekannte und unausgeschöpfte Potenziale in einer politischen Bildung, die sich nicht als externen Einfluss auf ein Biotop versteht, sondern aus ihm heraus entstanden ist – die also nicht einfach alte Inhalte für neue Medien übersetzt, sondern die aus diesen heraus organisch neu entsteht. Dieser Anspruch erfordert natürlich Prozesse, die mit bestehenden Methoden kollidieren. Innovationen in allen Bildungsbereichen sind durch sich überlappende und asynchron verlaufende Phasen gekennzeichnet, wo erprobte Ansätze neben disruptiven Herangehensweisen existieren und Ablehnung und Neugier sich in ein und derselben Zielgruppe wiederfinden.

Formen, Motive, Codes

Alle bekannten Motive des Antisemitismus tauchen online wieder auf – teils als direkte Wiedergaben historischer Inhalte (zum Beispiel antisemitische Karikaturen, die als Tiktok-Slideshow gezeigt werden), teils als plattformkonforme Adaptionen (wenn etwa dieselben Karikaturen durch KI animiert und mit KI-generierten Texten und Sprecher*innenstimmen hinterlegt werden), teils als neuartige Eigenproduktionen (beispielsweise verherrlichende Nachbauten von KZs in Minecraft oder Roblox).

Zu den häufigsten antisemitischen Narrativen und Weltbildern, die in den sozialen Medien aufgegriffen, weiterverbreitet und zunehmend normalisiert werden, zählen:

  1. Othering: Jüd*innen sind das Andere, die Fremden;

  2. Lebensfeindlichkeit: Sie morden, vergiften, töten Kinder, saugen Blut;

  3. Macht- und Geldgier: Sie streben illegitimerweise nach Macht oder Reichtum, sie rauben und beherrschen;

  4. Subversion: Sie sind verborgen, heimtückisch, "als Menschen getarnt", missbrauchen Empathie;

  5. Internationalismus: Sie sind international und schwächen die Nationen;

  6. Es gibt einige wenige "gute Jüd*innen", die den Motiven 1 bis 5 widersprechen und darüber aufklären; die Mehrheit aber ist feindselig.

Die seit dem 7. Oktober online vorherrschende Form des israelbezogenen Antisemitismus wendet diese Motivkomplexe auf den Staat Israel an:

  1. Othering: Israel ist kein richtiger Staat, sondern eine Entität, ein Regime, eine Besatzungsmacht, anders als andere Staaten, fremd ("Israhell", "Isnotreal");

  2. Lebensfeindlichkeit: Israel tötet Unschuldige ohne Grund, vergiftet oder untergräbt bösartig die Trinkwasserversorgung ("Kindermörder Israel");

  3. Macht- und Geldgier: Israel will sich immer weiter ausbreiten, die gesamte Welt beherrschen;

  4. Subversion: Israel appelliert in manipulativer Absicht an Empathie oder Mitgefühl, zum Beispiel für die Geiseln der Hamas;

  5. Internationalismus: Israel missbraucht internationale Institutionen und Verbündete für seine eigenen sinistren Zwecke;

  6. Es gibt (mindestens) eine jüdische Einzelperson, die all mein antisemitisches Wissen über Israel bestätigt.

Die Nutzer*innen, die solche Inhalte bewusst verbreiten, sind sich meist auch der gesellschaftlichen, juristischen und plattformspezifischen Sanktionsmechanismen bewusst, die ihre Erzählungen auslösen können. Entsprechend versuchen sie, diesen Sanktionen vorzugreifen. Je nach Publikum, Anonymität, angestrebtem Effekt und Risikobereitschaft werden die ideologisch inszenierten Motive unterschiedlich stark codiert und/oder chiffriert. Im Online-Leser*innenforum einer Tageszeitung werden religiöse Antisemit*innen keine Traktate über die theologische Verdorbenheit des Judentums schreiben, sondern über Redewendungen wie "alttestamentarische Gebräuche", "Zahn um Zahn" oder "Judaslohn" darauf anspielen. Neonazis hingegen reproduzieren in Tiktok-Kommentaren Kennzeichen antisemitischer Organisationen nicht direkt, sondern zum Beispiel über Emoji-Kombinationen, die ihnen ähneln – etwa durch zwei "Blitz"-Emojis, die SS-Runen gleichen. Emojis, Bilder, Memes, auch bewusst markierte Leerstellen ("seis jdn" als Abkürzung für "scheiß Juden") werden auch deswegen verwendet, weil die überwiegend KI-gestützten Inhaltskontrollen der großen Plattformen sie schlechter erkennen als direkte Äußerungsformen.

Rolle sozialer Medien

Soziale Medien treten in der postdigitalen Gesellschaft grundsätzlich als "fünfte Gewalt" auf: Sie steuern die Verbreitung klassischer Medieninhalte, kontrollieren, kommentieren und kritisieren sie auf eine Weise, wie dies die Medien der "vierten Gewalt" mit den drei vorgelagerten Gewalten tun. Sie framen Medieninhalte, erklären sie, bauen sie in weiterführende Erzählungen ein und bereiten sie für bestimmte Zielgruppen auf. Zugleich sind soziale Medien heute Hauptmotoren antisemitischer Inhalte. Sie sind dabei nicht auf klassische Postings beschränkt; sämtliche Komponenten der Kommunikation auf sozialen Medien – Hashtags, Überschriften, Bilderklärungen, Profilbilder und so weiter – können der Verbreitung von Antisemitismus dienen. So ist es unserer Beobachtung nach insbesondere der Kommentarbereich klassischer Postings, in denen Inhalte überhaupt erst antisemitisch geframed und erklärt werden; zudem dienen sie dazu, weiteren Content zu empfehlen und dabei zu immer radikaleren Inhalten weiterzuleiten.

Die zeitgenössische Ausformung sozialer Medien begünstigt dabei die Reproduktion solcher Botschaften besonders stark. Da sind einerseits die viel beschriebenen Rabbit-Hole-Mechanismen, die durch die algorithmische Ausspielung neuer Inhalte entstehen: Nahezu alle sozialen Medien versorgen Nutzer*innen, die sich einmal für ein bestimmtes Thema interessiert haben, mit immer mehr und immer aufregenderen Inhalten aus diesem Themenfeld. In politischen Zusammenhängen führt das bei anfälligen Personen zu einer fast zwangsläufigen ideologischen Verhärtung ("algorithmische Radikalisierung"). Andererseits wird Antisemitismus auch durch den Zusammenhang von Trend- und Influencer*innen-Fixierung zeitgenössischer sozialer Medien gespeist. Der Algorithmus versucht, größere Social-Media-Trends zu erkennen, sie möglichst vielen Nutzer*innen auszuspielen und diese zu einer Reaktion zu veranlassen – dabei ist es fast gleichgültig, ob es sich um tagesaktuelle Nachrichten zum Weltgeschehen oder ein neues Katzenvideo handelt. An Influencer*innen wird von ihren Follower*innen die Erwartung gestellt, solche Trends zu erkennen, auf sie zu reagieren und dabei ihre jeweilige, für sie typische Message zu transportieren.

Das kommt der Verbreitung von Antisemitismus als Welterklärungsmodell und transhistorischer Wahrheit entgegen: Verlässlich erklären die Telegram-Kanäle von Verschwörungsideolog*innen vom Schlage eines Xavier Naidoo und Attila Hildmann, warum die jeweils neuesten Weltnachrichten in Wahrheit auf jüdisches Verschwörungshandeln zurückzuführen seien. Im verwirrenden Strom von Trends und Nachrichten geben antisemitische und verschwörungsideologisch Influencer*innen vor, Halt und Stabilität anbieten zu können; ein als chaotisch empfundenes Weltgeschehen wird auf einfache Prinzipien, nämlich die Agenda skrupelloser Verschwörer*innen, zurückgeführt.

Die Anlässe, die zur Reproduktion antisemitischer Inhalte im Netz herhalten müssen, sind entsprechend vielfältig, wobei Kommentare zum Nahostkonflikt der stärkste Auslöser sind. Daneben können, je nach Motivlage, auch besonders emotionalisierende Nachrichten aus dem jeweiligen ideologischen Kontext als Verbreitungsanlass dienen, etwa das Gefühl, die eigene Nation oder Religion könnten bedroht sein. Antisemitismus wird aber auch in Form jugendlicher Populärkultur reproduziert, als Spaß und/oder Grenzüberschreitung. Er wird dann selbst zum Trend, etwa durch Gesichtsfilter auf Tiktok, die ihren Nutzer*innen vermeintlich jüdische Gesichtszüge verleihen.

Die Schwäche der Moderation solcher Inhalte ist unmittelbar auf ihre Interaktionsrate zurückzuführen. Extremes klickt sich gut – und die Plattformen leben von Klicks, Interaktionen und den damit verbundenen Werbeeinnahmen. Auf Druck der Zivilgesellschaft haben die großen Anbieter*innen zwar Möglichkeiten des Meldens und besserer Content-Moderation eingeführt. Diese haben jedoch Lücken und beruhen zum überwiegenden Teil auf automatisierten Systemen, die durch Codierung und Chiffrierung von Botschaften leicht auszuhebeln sind. Teils ist die Aufhebung solcher Konventionen sogar Marketingstrategie: Elon Musk, der Eigentümer von X (vormals Twitter), sucht regelmäßig die Nähe zu prominenten Rechtsextremen und reaktivierte gelöschte Accounts von Rechtsradikalen – unter Verweis auf die Meinungsfreiheit. Versuche der juristischen Regulierung sozialer Medien stoßen regelmäßig auf geringes Interesse bis Ablehnung in der Öffentlichkeit: Rasch steht der Zensurverdacht im Raum, hinter dem berechtigte Schutzinteressen vulnerabler Gruppen immer wieder zurückzustehen haben.

Tiktok – (k)eine Plattform wie jede andere

Die besondere Rolle der Videoplattform Tiktok kann hier nur angerissen werden. Allgemein lässt sich sagen, dass Tiktok wie keine andere Plattform trend-, persönlichkeits- und interaktionsgetrieben ist. Die Ersteller*innen von Videos, die Creator*innen, sind gehalten, zu aktuellen Trends möglichst viele, schnelle und kurze Videos zu produzieren, um die Chance zu verbessern, im algorithmisch ausgespielten Videostrom ihrer Follower*innen aufzutauchen. Das befeuert den Druck, sich möglichst rasch zu positionieren und selbst schwierige politische Fragen in weniger als 20 Sekunden zu beantworten – möglichst auf eine Weise, die Emotionen weckt und polarisiert.

Antisemitismus war schon vor dem 7. Oktober ein virulentes Problem auf Tiktok – vor allem in Form von Verschwörungserzählungen, Shoah-Leugnung oder -Relativierung und israelbezogenem Antisemitismus. Altbekannte antisemitische Narrative und Codes wurden in Sketchen verarbeitet, mit Filtern und Musik kombiniert und so "hip" gemacht. So begegnen wir Videos, in denen die "Protokolle der Weisen von Zion" vermeintlich erklärt werden oder in denen vor einer neuen Weltordnung durch finstere (sprich: jüdische) "Eliten" gewarnt wird. Bereits 2021 wurden im Zuge der sogenannten Tiktok-Intifada Videos hochgeladen, die körperliche Angriffe auf jüdische Menschen in Israel zeigten. Die Videos verbreiteten sich massenhaft und erhielten viel Zustimmung, obwohl sie von der Plattform wegen Verstößen gegen die Community-Richtlinien (Verbot gewalttätiger und expliziter Inhalte) immer wieder gelöscht wurden.

Seit dem 7. Oktober ist die Hemmschwelle, was israelbezogenen Antisemitismus angeht, nochmals gesunken. Videos, die Israel das Existenzrecht absprechen, sind dabei fast schon alltägliche "Normalität": So etwa im Beitrag einer Make-up-Influencerin, die auf ihrem Gesicht erst die Umrisse Israels zeichnet, um sie dann ganz mit einer Palästina-Flagge auszufüllen. Ähnlich ist es mit Solidarisierungen mit den Taten der Hamas als "legitimem Widerstand". Weite Kreise zog etwa das Video einer Koch- und Back-Influencerin, die noch am 7. Oktober zur Feier des Tages Süßigkeiten auf der Straße verteilte.

Auch der 7. Oktober selbst ist Gegenstand unzähliger Fake News und Desinformationskampagnen. In diversen Beiträgen wird in Zweifel gezogen, ob das Massaker auf dem Supernova-Musikfestival überhaupt stattgefunden habe. Sollte es Tote gegeben haben, seien es keine Zivilist*innen, sondern Angehörige des Militärs gewesen, so das verschwörungstheoretische Geraune. Gleichzeitig wird gemutmaßt, die Massaker an der Zivilbevölkerung seien nicht von der Hamas verübt worden, sondern von der israelischen Regierung – der 7. Oktober sei ein sogenannter Inside-Job gewesen. Schon wenige Stunden nach den terroristischen Angriffen tauchten in verschwörungsideologischen Telegram-Kanälen wilde Interpretationen auf, darunter die Behauptung, Israel habe es auf die Organe palästinensischer Kinder abgesehen – das altbekannte Kindermörder-Narrativ, das auf die antisemitische Ritualmordlegende aus dem Mittelalter zurückgeht.

Typisch ist auch die Kennzeichnung von Jüd*innen als colonizer, die sich auch in der Diaspora von Israel zu distanzieren hätten. "Zionist*innen" wird als Schimpfwort gebraucht, das sofort Parallelziehungen zum "Dritten Reich" hervorruft: Jüd*innen seien die neuen Nazis, hätten aus ihrer eigenen Verfolgung nichts gelernt, oder Israel wird direkt mit Nazideutschland verglichen – eine eindeutige Relativierung der Shoah und Täter-Opfer-Umkehr.

Weitere digitale Räume

Soziale Medien sind bei Weitem nicht die einzigen digitalen Tummelplätze für Antisemitismus. Antisemitische Agitation ist zum Beispiel auch im Gaming ein großes Problemfeld. Es geht dabei nicht nur um offenkundigen Antisemitismus, wie etwa im schon älteren Fall einer Variante des Spiels "Moorhuhnjagd", bei dem Nutzer*innen Jagd auf Juden machen konnten. Auch Minecraft- oder Roblox-Server, auf denen nationalsozialistische Verbrechen oder Symbole verherrlicht werden, sind dabei nur eine Begleiterscheinung – ebenso wie Spiele, die den Terror der Hamas glorifizieren, indem sie es zulassen, in Shooter-Szenarien palästinensische "Widerstandskämpfer" zu spielen, oder von rechtsradikalen Nutzer*innen erstellte Shooter-Karten, die an den architektonischen Gegebenheiten der Amadeu-Antonio-Stiftung orientiert sind und damit gewissermaßen das Trainingsgelände für einen Amoklauf dort bereitstellen.

Subtiler und mit viel größerer Reichweite ausgestattet sind "Let’s Plays" – also Videospielübertragungen bekannter Gamer*innen. Nicht wenige von ihnen garnieren ihren Audiokommentar mit Bemerkungen zum Zeitgeschehen. Rechte Streamer*innen mit Nähe zur Alt-Right-Bewegung platzieren hier gerne Witze über Jüd*innen – zum Beispiel überall dort, wo Geld aufgesammelt wird. In den Kommentarbereichen werden solche "Späße" weitergetrieben – bis irgendwann die Unterscheidung zwischen edginess, also provokativer Grenzüberschreitung, und Agitation aufgehoben ist.

Ein noch wenig beachteter, aber für die Betroffenen sehr einschneidender digitaler Ort antisemitischer Erfahrungen sind Dating-Plattformen. Antisemitismus zeigt sich hier offener und gezielter als im persönlichen Kontakt. Personen, die ihre jüdische Identität in ihren Profilen angeben oder durch Symbole zu erkennen geben oder denen eine vermeintliche Zugehörigkeit zum Judentum zugeschrieben wird, sehen sich teilweise heftigen antisemitischen Angriffen ausgesetzt.

Antisemitismus digital bekämpfen

Die Notwendigkeit antisemitismuskritischer Bildungsarbeit ist so offenkundig wie nie – gleichzeitig stehen Bildner*innen in diesem Bereich unter einem erheblichen Leistungs-, Erfolgs- und Rechtfertigungsdruck. Sie spüren die Notwendigkeit, rasch auf die sich grundlegend veränderten Bedarfe und Möglichkeiten zu reagieren, was erhebliche Ressourcen bindet. Auch die politische Dimension darf nicht außer Acht gelassen werden: Die aktuelle Situation stärkt Stimmen, die Antisemitismus am liebsten mit Mitteln der Polizei und des Aufenthaltsrechts klären möchten – und Ansätze, die eine rassismuskritische Sensibilität in die Antisemitismusarbeit tragen wollen, haben einen besonders schweren Stand. Populist*innen hinterfragen die Wirksamkeit pädagogischer Ansätze ganz grundsätzlich – beispielsweise, was Projekte wie "Demokratie leben!" vom Bundesfamilienministerium angeht.

Gleichzeitig kann politische Bildung im digitalen Bereich so schnell wie nirgends sonst ihre eigene Wirksamkeit beweisen: sei es durch die statistischen Mittel, die die Plattformen selbst zur Verfügung stellen, durch Klick- und Interaktionsraten, durch organische Verbreitung oder anderes mehr. Auch digitale Erhebungen unter den Teilnehmenden neuer Bildungsformate können hierzu beitragen, etwa durch Betrachtung geänderter Einstellungen und neuer Erkenntnisse.

Wohlgemerkt: Es ist weder produktiv noch zeitgemäß, analoge Konzepte einfach digital umzusetzen oder Technologien nur aus dem Grund zu nutzen, dass sie verfügbar sind. Stattdessen ist es entscheidend, ein umfassendes Verständnis dafür zu entwickeln, wie sich die Erwartungen an Inhalte, Formate, Anpassungsfähigkeit, Individualität, Design, Zugänglichkeit und Geschwindigkeit verändern, und wie sich dies wiederum auf die Erwartungen an politische Bildung auswirkt. Ein zeitgemäßer Ansatz zur politischen Bildung erfordert eine umfassende Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen jenseits rein digitaler Paradigmen – es braucht einen postdigitalen Zugang.

Es gehört zur Ambivalenz digitaler Räume, dass sie einerseits wirkmächtige Multiplikator*innen für Antisemitismus sind – andererseits aber auch der Schauplatz eines engagierten Einsatzes gegen Antisemitismus, der von Einzelpersonen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgehen kann. Entsprechend muss politische Bildung weiterhin warnen, aufklären, analysieren – und zugleich die Potenziale des Mediums verteidigen. Dabei gilt es zu beachten, dass digitale und analoge Welt ineinander übergehen. Bildungspolitik sollte sich daher von dem Bild lösen, künftig für "zwei Welten" Inhalte entwickeln zu müssen. Für die jüngeren Generationen, um die es hier als Hauptzielgruppen geht, ist die Gegenüberstellung "Netz kontra wirkliche Welt" ohnehin fragwürdig – und Bildner*innen, die sie erreichen wollen, sollten sie nicht künstlich wiederherzustellen versuchen.

Die Vorteile digitaler Bildungsarbeit liegen auf der Hand: Sie ist skalierbar, kann also mit geringem Aufwand von einem Schulklassenprojekt auf eine landesweite Initiative ausgeweitet werden. Potenziell ist die gesamte Gesellschaft Zielpublikum – auch Personen, die nicht aktiv nach antisemitismuskritischen Inhalten suchen, können mit ihnen konfrontiert, aus Echokammern und Radikalisierungsschleifen herausgebrochen werden. Die unterschiedlichen Ausspielungsformen gestatten es dabei, jede Niveaustufe anzusprechen – von kurzweiligem, niedrigschwelligem Infotainment wie Erklärvideos bis hin zu komplexen, KI- und VR-unterstützten erinnerungskulturellen Projekten. Denn auch darin liegt eine Chance: Digitale Bildung ist automatisierbar, verlangt nicht die ständige Präsenz physisch anwesender Pädagog*innen – virtuelle Gedenkstätten und KI-Zeitzeug*inneninterviews sind funktionierende Beispiele dafür. In Zukunft kann KI vielleicht dabei helfen, Sehgewohnheiten zu hinterfragen, verkürzte und verschwörungsideologische Welterklärungsmodelle zu erkennen und zurückzuweisen. In einer Zeit, in der Empathie und Perspektivwechsel schwerfallen, lohnt der Gedanke, wie immersive Technologien eine tiefere Auseinandersetzung mit Betroffenengruppen ermöglichen könnten.

Nicht unterschätzt werden sollte auch die Möglichkeit, neue sensorische und emotionalisierende Zugänge für politische Bildung zu entdecken. Emotion und Interaktion sind neue Dimensionen politischer Bildung, die es auszuloten gilt. Auch Gaming ist für die politische Bildung noch ein relativ neues Arbeitsfeld, dessen Potenziale längst nicht ausgeschöpft sind. Politische Bildung kann in eigens entwickelten Spielen stattfinden ("Serious Games"), aber auch in den etablierten Gaming-Arenen selbst – sei es über die Teilnahme an dort laufenden politischen Debatten, über digital streetwork oder politisch informierte "Let’s Plays".

Eine besondere Chance liegt darin, Influencer*innen beziehungsweise Creator*innen als wichtige Multiplikator*innen zu begreifen und entsprechend zu sensibilisieren und antisemitismuskritisch zu bilden. Qua Expert*innenstatus, Glaubwürdigkeit und Idolisierung haben sie eine immense Bedeutung für junge Menschen. Ihre Reichweiten sind Fluch und Segen zugleich – ihr persönliches Verantwortungsgefühl entscheidet über die politische Meinungsbildung zahlreicher junger Menschen. Viele der Creator*innen sehen diese Herausforderung ebenfalls: In unseren digitalen Bildungsprojekten erleben wir, dass progressive Influencer*innen ein großes Bedürfnis nach hochwertigen Bildungsinhalten haben – und nach Hinweisen, wie sie selbst inhaltlich solide antisemitismuskritische Inhalte produzieren können. Tool- und Medienkits, Guidelines und Best-practice-Papiere, aber auch Schulungen, die Influencer*innen dabei unterstützen, werden in der Bildungsarbeit voraussichtlich eine immens wichtige Rolle spielen.

Aktuell erleben wir, wie vor allem die radikalen und populistischen Akteur*innen ungehemmt mit digitalen Technologien umgehen und sich so rasend schnell in digitalen Räumen ausbreiten. Umso wichtiger ist es für die politische Bildung, im Digitalen beherzt Präsenz zu zeigen und experimentelle Wege zu gehen. Es ist neuer Mut gefragt – Mut auch für die Politik, die Bedarfe politischer Bildner*innen ernst zu nehmen. Im Kampf gegen Antisemitismus braucht es – neben klassischer Regulierung – eben auch Awareness, Alphabetisierung, empowernden Content. Ebenso braucht es Mut für Versuche und Irrtümer, für schnelles Scheitern – denn auch in der Frage, wie Antisemitismus zeitgemäß in digitalen Räumen begegnet werden kann, erlaubt schnelles Scheitern schnelle Lerneffekte.

ist promovierte Psychologin und Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.