Seit dem 7. Oktober 2023 erleben wir erneut eine mit viel Verve geführte Diskussion zu den Ursachen, Verlaufsformen und dem Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland. Dies mag nicht verwundern, haben der Angriff der Hamas auf israelische Zivilist:innen und der daran anschließende Krieg doch auch hierzulande dramatische Auswirkungen: Die Meldestellen des Bundesverbands RIAS dokumentierten allein in den ersten zwei Monaten nach dem Terrorangriff 994 antisemitische Vorfälle, darunter drei Fälle extremer Gewalt sowie 29 Angriffe, 32 Bedrohungen und 72 gezielte Sachbeschädigungen.
Ein Anstieg ist auch bei den antisemitischen Straftaten zu verzeichnen: Seit dem 7. Oktober erfasste das Bundeskriminalamt etwa 2300 antisemitische Straftaten in Zusammenhang mit dem Nahostkrieg – insbesondere Sachbeschädigungen und Volksverhetzungen –, von denen die meisten einer "ausländischen" oder "religiösen Ideologie" zugeordnet werden (Stand: April 2024).
Der nicht so neue "Neue Antisemitismus"
Die mediale Berichterstattung und die dadurch ausgelösten Debatten befassten sich in den zurückliegenden Monaten insbesondere mit verschiedenen propalästinensischen Protestformen, die zumeist Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zugerechnet wurden. Tatsächlich gab es zahlreiche Demonstrationen und andere Aktionen, bei denen antisemitische Äußerungen getätigt wurden – und auf denen auch Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund präsent waren. Das begeisterte Verteilen von Baklava auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln durch das palästinensische Samidoun-Netzwerk noch am Abend des 7. Oktober ist nur ein prominentes Beispiel.
Muslimische Communities standen rasch pauschal im Fokus der Aufmerksamkeit und sahen sich mitunter allgemeinen Verdachtszuschreibungen ausgesetzt. Vizekanzler Robert Habeck forderte wenige Wochen nach dem Hamas-Angriff explizit "die hier lebenden Muslime" auf, "sich klipp und klar von Antisemitismus zu distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen".
Die Themen und Gegenstände der Debatte sind jedoch nur die Fortsetzung einer Diskussion, die seit Anfang des Jahrtausends unter dem Schlagwort des "Neuen Antisemitismus" Judenfeindschaft unter Menschen mit muslimischem oder arabischem Hintergrund in den Blick nimmt, sowohl in den Herkunftsländern als auch in Westeuropa und Deutschland.
In der Berichterstattung über die Folgen der Migration wurde teilweise der polemische Begriff des "importierten Antisemitismus" verwendet, womit das Problem bequem externalisiert und vom verbreiteten Antisemitismus unter "Alteingesessenen" abgelenkt werden kann. Darüber hinaus verkennt der Begriff die Entstehungsgeschichte und Semantik des modernen Antisemitismus, der in allen zentralen Aspekten von europäischen Akteuren im 19. und 20. Jahrhundert geprägt wurde. Erinnert sei hier nur an die lange "Erfolgsgeschichte" der verschwörungstheoretischen "Protokolle der Weisen von Zion", auf die sich auch die Hamas in ihrer ersten Charta von 1987 bezog. Ferner ignoriert der Begriff die Tatsache, dass Deutschland eine (post-)migrantische Gesellschaft ist: Etwa ein Drittel der hier lebenden Menschen hat einen Migrationshintergrund. Die mehr als fünf Millionen Muslime sind ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Wie in allen gesellschaftlichen Gruppen gibt es Antisemitismus auch unter den Nachfahren von Zugewanderten und religiösen Minderheiten – nur ist er deswegen noch lange nicht "importiert".
Islamisierter Antisemitismus
Um das Allgemeine und das Besondere des Antisemitismus im Kontext von Migration zu verstehen, ist es notwendig, Phänomene der Judenfeindschaft multidimensional zu betrachten. Dabei gibt es sowohl in der politischen als auch in der wissenschaftlichen Debatte seit über zwanzig Jahren Kontroversen über die passende Terminologie sowie anhaltende Differenzen über die Einschätzung der historischen Genese und Verbreitung des Phänomens.
Vorstellungen eines spezifisch "muslimischen Antisemitismus" bergen die Gefahr, dass sehr viele sehr unterschiedliche Menschen pauschal mit Judenfeindschaft assoziiert werden – Sunniten und Schiitinnen, Atheistinnen wie Islamisten, Ägypterinnen wie Indonesier. Diese Art der Verallgemeinerung zeigt sich wiederholt im öffentlichen Sprechen über den "Antisemitismus der Anderen".
Angemessen erscheint insbesondere der Begriff des "islamisierten Antisemitismus".
Dies zeigt, dass sich der Antisemitismus im 20. Jahrhundert zu einem "flexiblen Code" entwickelt hat, der es ermöglicht, Narrative aus verschiedenen religiösen und kulturellen Kontexten zu kombinieren.
Aktuelle Datenlage
Dass antisemitische Vorurteile in Deutschland wie global auch unter Menschen zu finden sind, die sich als Muslime bezeichnen, ist empirisch unstrittig.
Doch welche Wirkfaktoren führen zu antisemitischen Einstellungen – stehen diese wirklich in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Islam? Eine aktuelle Studie über Antisemitismus an deutschen Hochschulen der Soziolog:innen Thomas Hinz, Anna Marczuk und Frank Multrus gibt Hinweise darauf, dass Religion – in diesem Fall der Islam – kaum als alleiniger Wirkfaktor infrage kommt. In Bezug auf die muslimischen Befragten stellen die Autor:innen fest: "Muslimische Studierende zeigen häufiger antisemitische Einstellungen als christliche oder konfessionslose Studierende, was teilweise mit der eigenen und der familiären Herkunft aus einem Land, das an die Konfliktregion angrenzt, zusammenhängt. Aber auch Studierende mit einer christlichen Konfession unterstützen häufiger antisemitische Haltungen, wenn die Eltern aus einem solchen Land stammen."
Dies zeigt, dass Rezeption und Deutung des Nahostkonflikts nicht zwingend an Religionszugehörigkeiten gebunden sind. Dieser Befund deckt sich mit zahlreichen Studienergebnissen der vergangenen Jahre.
Antimuslimischer Rassismus
Die beschriebene Datenlage veranschaulicht das klare Bedrohungspotenzial und die anhaltende Präsenz von Antisemitismus seit dem 7. Oktober, und zwar in unterschiedlichen Milieus – darunter auch unter Muslim:innen. Die Debatte darüber ist gesellschaftlich aufgeladen und changiert zwischen Bagatellisierung auf der einen und Pauschalisierung auf der anderen Seite. Letztere mag eine der Ursachen dafür sein, dass auch der antimuslimische Rassismus in den vergangenen Monaten angestiegen ist. In den ersten sieben Wochen nach dem Hamas-Angriff dokumentierte die Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit CLAIM über 180 Fälle von gewaltvollen antimuslimischen Übergriffen, Beleidigungen und Drohungen – womit die Fallzahl bereits im November über dem Vorjahresniveau lag. Moscheen in ganz Deutschland erreichten Drohschreiben, die mit Fäkalien und Schweinefleisch gefüllt waren.
Diese Entwicklung reiht sich ein in einen seit Jahren verbreiteten Rassismus gegenüber Muslim:innen oder Menschen, die als solche wahrgenommen werden:
Auch eine vorgeschobene Antisemitismuskritik kann ein Vehikel für diskriminierende Vorurteile gegenüber Muslim:innen sein. In manchen Fällen lässt sich klar von einer Instrumentalisierung des Anti-Antisemitismus sprechen. So behauptete etwa der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke im April 2024 im Fernsehduell mit dem CDU-Politiker Mario Voigt, er sehe "keinen Antisemitismus ausgeprägten Maßes bei der ursprünglichen deutschen Bevölkerung". Vielmehr sei Antisemitismus "auch wieder ein Problem, das wir uns mit Migration ins Land geholt haben: millionenfache Einwanderung aus dem islamischen Kontext, die Islamisierung Deutschlands und Europas".
Diese Engführung und Verknüpfung der Themen Antisemitismus und Migrationspolitik ist indes nicht auf gerichtlich bestätigte Faschisten wie Höcke beschränkt. So forderte beispielsweise der CSU-Vorsitzende Markus Söder im November 2023 konsequente Abschiebungen als Antwort auf antisemitische Handlungen von (Post-)Migrant:innen sowie eine "grundlegende Neuordnung der Migrationspolitik".
Jenseits von Bagatellisierung und Pauschalisierung
Die derzeitigen Debatten in Medien, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik gehen häufig mit pauschalen Zuschreibungen einher. Sorgen und Ängste von betroffenen – jüdischen und muslimischen – Menschen werden für andere Zwecke instrumentalisiert.
Maßgebliche Akteure sind Extremisten vor allem aus dem islamistischen und rechtsradikalen Lager. Für das islamistische Lager können hier die verschiedenen Kanäle der transnationalen Bewegung Hizb ut-Tahrir angeführt werden. Deren Propagandisten werden nicht müde, Muslime als Opfer einer antimuslimischen Politik darzustellen, die angeblich weltweit zu beobachten sei. Die antisemitischen Gruppierungen finden auch Zulauf, weil Diskriminierungserfahrungen oft zu einem erhöhten Bedürfnis nach Identifikation mit einer – religiös oder ethnisch aufgeladenen – "Eigengruppe" führen können. Dies kann wiederum zu einer stärkeren Abgrenzung von vermeintlichen "Fremdgruppen", darunter Juden und Jüdinnen, führen.
Auf der rechtsradikalen Seite agieren Akteure, die eine Vielzahl von gesellschaftlichen Problemstellungen monokausal mit Migration und Islam in Verbindung bringen. Vorurteile wie antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus treten allerdings "statistisch mit hoher Wahrscheinlichkeit zusammen" auf, so ein Ergebnis der "Mitte-Studie" 2023.
Aktuelle Arbeiten des Forschungsverbundes RIRA (Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam) zeigen, dass gesellschaftliche Polarisierung und wahrgenommene Bedrohungen in eine reziproke Radikalisierungsspirale münden können, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt massiv beschädigen kann.