"Der 7. Oktober war kein Terroranschlag. Er war der Beginn eines neuen, globalen antisemitischen Krieges, in dem alle Jüdinnen und Juden sich angegriffen fühlen, weil sie alle angegriffen werden."
Vor diesem Hintergrund fördert die Antidiskriminierungsstelle des Bundes seit Februar 2024 eine auf zwei Jahre angelegte Studie zu den Wirkungen des Terroranschlags auf die jüdische und israelische Community in Deutschland, mit deren Erstellung wir beauftragt wurden.
Um die Relevanzsetzungen der Interviewten in Erfahrung zu bringen, arbeiten wir mit offenen, erzählanregenden Verfahren.
Bedeutungszuweisungen: "Wie ein Schnitt"
Der lang geplante Überfall der Hamas beginnt am 7. Oktober 2023 am frühen Schabbatmorgen während Simchat Tora, dem Abschluss des Laubhüttenfestes Sukkot. Das Eindringen von bewaffneten Terroristen in das israelische Kernland überrascht Menschen im Schlaf, am Frühstückstisch oder beim Tanzen und Feiern auf dem Supernova-Musikfestival. Jüdinnen und Juden weltweit erreichen die Nachrichten des Angriffs je nach Lebensweise erst nach Schabbatende, manche hören davon auf dem Weg in die Synagoge, manche lesen sie morgens im Bett auf ihrem Handy.
Die meisten Interviewten beginnen ihre Eingangserzählung mit einer detailreichen Schilderung ihres Erlebens am 7. Oktober. Der Tag wird in seinem Ablauf genau erinnert, was auf die einschneidende traumatische Wirkung verweist. Studienteilnehmer:innen beschreiben, wie sie zunächst auf ihre aus früheren Terroranschlägen vertrauten Praktiken zurückgreifen und die ersten Informationen zunächst nicht als außergewöhnlich einordnen. Durch die sich verdichtenden Nachrichten über das Eindringen von Terroristen auf israelisches Gebiet sowie die Erschießung und Entführung von Zivilist:innen begreifen die Interviewten im Laufe des Tages, dass es um ein nie dagewesenes Ausmaß von Terror gegen Israel geht. Sie erfassen, dass die Menschen vor Ort schutzlos überwältigt werden und dass Sicherheitssysteme und Terrorabwehr nicht greifen. Vielfach schildern sie diesen Samstag und die Zeit danach als "Einschnitt".
Einzelne setzen in ihrer Erzählung früher ein und beginnen mit einer subjektiven Deutung des 7. Oktober, indem sie diesen Tag mit anderen Anschlägen in Verbindung setzen. Sie nehmen Bezug auf Selbstmordattentate in Israel, den Überfall auf die Ukraine im Februar 2022, den Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale 2019, den sogenannten Wehrhahn-Anschlag in Düsseldorf 2000 oder auf Antisemitismuserfahrungen als jüdische Kinder in Deutschland, in der Ukraine und anderen Ländern.
Interviewpartner:innen schildern, dass sie emotional noch in diesem Tag verhaftet sind. Die Zeit sei seitdem gefühlt "stehen geblieben". Eine Mitte-30-jährige Interviewpartnerin beschreibt die Zeit seit dem 7. Oktober als einen nicht enden wollenden "Alptraum":
"Das ist der absolute Horror (…), wie ein Alptraum, der nicht zu Ende geht. (…) So fühlt es sich immer noch an. Es ist etwas, was mich jeden Tag beschäftigt."
Das Gefühl der stehengebliebenen Zeit schildert eine in Israel aufgewachsene und aus beruflichen Gründen nach Deutschland gezogene Anfang-40-jährige Interviewpartnerin wie folgt:
"Also für mich [war der] 7. Oktober (…) wie ein Schnitt, [ein] Einschnitt in mein Leben. Es war (…) schrecklich, und ich habe das Gefühl, dass wir immer noch im Oktober sind. (…) Die Zeit ist stehengeblieben, habe ich das Gefühl. (…) [Der] 7. Oktober war quasi so was wie das Schlimmste, was der Menschheit überhaupt passiert ist, also die unterste Schublade an Grausamkeit, was Menschen anderen Menschen antun können."
Durch die Aussage, für sie seien die Ereignisse das denkbar "Schlimmste", was Menschen anderen Menschen antun können, klassifiziert die Interviewpartnerin das Massaker als Zivilisationsbruch. Dieses Erleben beschreibt sie zudem als eine grundlegende Differenzerfahrung zu nichtjüdischen Deutschen:
"Das hatte auch Auswirkungen darauf, wie ich mich fühle in Deutschland, (…) ich habe das Gefühl, (…) dass die Deutschen so was (…), so eine Grausamkeit nicht erlebt haben. Ich meine, ich habe das nicht persönlich erlebt, aber (…) emotional habe ich schon das Gefühl, dass es mir passiert ist, weil ich sehe Israel als meine Familie, ganz Israel, und ich habe das Gefühl, das ist meiner Familie passiert oder meiner Identität (…). Ich bin (…) hier in Kontakt vor allem mit Deutschen (…), und da merke ich schon, (…) dass ich wirklich das Gefühl habe, dass wir irgendwie eine andere innere Welt haben. Also ja, es ist schwer zu erklären, also so einen ganz anderen Ausgangszustand."
Auch in Deutschland sozialisierte Interviewpartner:innen schildern ihre Wahrnehmungen einer "Parallelwelt" von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Vor diesem Hintergrund beschreiben sie die Nähe zu anderen Jüdinnen und Juden als hilfreich zur Bewältigung ihres Trauerprozesses und ihrer sozialen Erfahrungen.
Es ist das erklärte Ziel von Terroranschlägen, Menschen in ihrem Alltag zu überwältigen und damit die gesamte Gemeinschaft in ihrer Integrität und ihrem Sicherheitsempfinden zu erschüttern. Eine Ende-30-jährige Interviewpartnerin beschreibt, wie die Nachrichten aus Israel zu ihr durchdrangen, während sie mit ihrer Familie in der Gemeinde Schabbat hielt:
"Am 7. Oktober war ich in der Gemeinde (…). Wir wussten nicht, dass etwas passiert ist, und in der Gemeinde wusste es auch nicht jeder. Und dann kam eine Freundin (…) und hat irgendwie berichtet, dass da was passiert ist (…), und ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe ihr das nicht so geglaubt. Ich habe gedacht, sie übertreibt. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich war so – ja, war halt ein kleiner Terroranschlag, das kann in Israel schon mal passieren. Aber so, wie [sie] das (…) berichtet hat – ich konnte das wirklich einfach nicht glauben."
Sie erinnert, wie sie auf ihre Erfahrungen aus früheren terroristischen Angriffen gegen Israelis zurückgreift und den Angriff zunächst nicht realisiert. Andere erinnern, wie ihre Angehörigen die Nachrichten zunächst nicht an sich heranlassen können. So sagt eine Studienteilnehmerin über ihre Mutter, die sie am 7. Oktober zuhause besuchte: "Sie war so wie dissoziiert." Im Laufe des Tages drang dann die Erkenntnis durch, dass sich der Angriff von anderen Anschlägen unterscheidet. Dazu sagt ein Ende-30-jähriger Teilnehmer:
"[Ich] bin selber zweisprachig aufgewachsen, schaue oft und höre oft israelische Medien, meine Eltern natürlich fortlaufend. Da kriegt man natürlich auch durch israelische Medien oft Sachen mit, die hier in den Medien nicht erwähnt werden, und von daher, wenn die Hamas irgendwie Israel angreift, ist das erstmal leider im kleineren Rahmen nichts Neues. Aber irgendwie peu a peu hat man schon irgendwie gemerkt, da ist grad irgendwie was Krasseres passiert."
Die Antizipation von Anschlägen ist Teil jüdisch-israelischer Normalität. Einsozialisiert in diese Erfahrung entwickeln Menschen Umgangsstrategien, die durch den 7. Oktober jedoch überflutet wurden: Die eindringende Brutalität dieses Angriffs überschreitet die subjektiven Möglichkeiten der Einordnung und Verarbeitung.
"Eine genozidale Botschaft"
Der Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 reiht sich ein in eine lange Geschichte terroristischer Anschläge gegen die israelische Zivilbevölkerung, auch wenn dieser in seiner Qualität als besonders schwer bewertet wird. Mit ihm sendete die Hamas eine eliminatorisch-antisemitische Botschaft aus, die durch die Bilder und Videos der gequälten Geiseln fortdauernd inszeniert wird. Ein Ende-20-jähriger Interviewpartner fasst dies wie folgt in Worte:
"Ich würde eigentlich diesen Angriff auch so beschreiben, (…) dass eine genozidale Botschaft gesendet wurde, die Juden und Jüdinnen weltweit so auch verstanden haben."
In diesen Einordnungen greifen Interviewpartner:innen auf ihr Erfahrungswissen zurück und beschreiben, wie sie bei den ersten Nachrichten daran gedacht haben, dass nun ein Krieg bevorsteht und dieser weitreichende Folgen haben wird. So ordnet eine Ende-30-jährige Interviewpartnerin ihre ersten Gedanken ein, als sie am 7. Oktober im Laufe des Tages vom Angriff erfährt:
"Es war völlig klar, was das für die Menschen in Gaza bedeutet, und es war auch völlig klar, was das Schicksal der Menschen in Gaza für den Antisemitismus bedeutet."
In den Vorahnungen drückt sich ein historisch gelagertes Wissen über Stufen und Folgen antisemitischer Verfolgung aus. Dabei bildet die Täter-Opfer-Umkehr eine zentrale Struktur des historischen und gegenwärtigen Antisemitismus. Jeder Eskalation im Nahen Osten folgte ein Anstieg an antisemitischen Übergriffen gegen jüdische Gemeinschaften außerhalb Israels.
Für Studienteilnehmende mit ukrainisch-jüdischer Biografie reaktivierte der 7. Oktober 2023 zudem Erinnerungen an den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022. So schildert eine aus der Ukraine geflüchtete Anfang-50-jährige Frau, deren Sohn für den Armeedienst nach Israel gegangen ist, ihr Erleben des Angriffs als "noch ein Trauma":
"Das war für mich (…) persönlich noch ein Trauma. Ich kann sagen, ich war nicht einfach gestresst oder nervös oder was, [das war] noch ein Trauma, wie [im] Februar 22, genauso. Ich konnte nicht mehr essen, ich fühlte mich schrecklich schlimm, und ich konnte nicht verstehen, wie viel Zeit verlaufen ist. (…) Glücklicherweise war ich ja in Kontakt mit meinem Sohn, aber dann erfahre ich (…), was mit Geiseln passiert ist."
Hier wirken der Angriff Russlands und der Angriff der Hamas kumulativ und verdichten sich zu einer gemeinsamen (post-)traumatischen Erfahrung. Die Angriffe auf zwei Länder, mit denen die Interviewpartnerin biografisch eng verbunden ist, wirken zusammen mit der Angst um den eigenen Sohn. Diese doppelte Exposition eines großen Teils der hiesigen jüdischen Community durch die Parallelität des Terrors in Israel und des Krieges in der Ukraine ist in Deutschland weitgehend unbekannt.
Auswirkungen auf soziale Beziehungen
Interviewpartner:innen erleben, wie der Angriff auf Israel in öffentlichen und privaten Räumen in Deutschland ausgehandelt wird. Ihr Umfeld weist Israel die Schuld für das Massaker zu, Berichte über Vergewaltigungen und Folter durch die Terroristen der Hamas werden ignoriert oder angezweifelt, die Situation der Geiseln und der auch nach dem 7. Oktober weiterhin beschossenen israelischen Zivilbevölkerung scheinen nichtjüdischen Personen kaum präsent zu sein. Im Mittelpunkt von öffentlichen Diskussionen und Protesten steht schon bald das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza.
So beschreibt eine Ende-20-jährige Teilnehmerin eine grundlegende Veränderung ihrer Lebenswelt durch die Reaktionen ihres nichtjüdischen Umfelds als weitere Erschütterung nach der Zäsur des Massakers. Es wird ein tabuisierendes Schweigen wahrgenommen, da "das Thema bei den nichtjüdischen Freund:innen irgendwie größtenteils ausgeklammert" erscheint. Andere Interviewte berichten von Erfahrungen, durch rigorose Statements in privaten Alltagsbegegnungen bedrängt zu werden, sei es beim Saunabesuch mit einer Freundin, während eines Dates oder in privaten Chats. Vielfach nutzen Interviewpartner:innen den Begriff der "Empathielosigkeit", wie in diesem Statement eines Mitte-30-jährigen Teilnehmers:
"[Es ist] das Schweigen der Menschen, die Empathielosigkeit, die mich bestürzt hat [längere Pause], ja [weinen] (…). Wo mir erstmal klar wurde (…), ich bin ja auch [ein] Teil dessen, [dessen] Leid und Leben irgendwie anders gewichtet werden."
Interviewte schmerzt die Erkenntnis, dass ihre Existenz als jüdische Person "irgendwie anders gewichtet" wird. Jüngere Interviewpartner:innen sprechen darüber, dass sie vielleicht auch auf das Supernova-Festival gegangen wären, wenn sie zu dem Zeitpunkt in Israel gewesen wären: "Das hätte ich sein können." Anhand von Reaktionen stellen sie irritiert fest, dass Bekannte ihre Vergewaltigung oder ihren Mord offenbar unkommentiert gelassen oder als berechtigten palästinensischen Widerstand gebilligt hätten.
Menschen mit ukrainischer Familiengeschichte heben den scharfen Kontrast zu der zuvor erlebten Solidarität mit der Ukraine nach dem russischen Angriff hervor, wie zum Beispiel eine Mitte-20-jährige Interviewpartnerin:
"Als das in der Ukraine war, gab es schon auch regelmäßig Rückfragen irgendwie: Wie geht’s dir denn? Und: Ich habe gelesen, das und das ist passiert (…) in deiner Heimatstadt, das Atomkraftwerk, bla bla bla. Wie ist das, wie geht’s dir jetzt damit? Und das war halt einfach gar nicht."
Einige Interviewte üben auch Kritik an der israelischen Regierung. Sie verorten sich gegenüber den Interviewerinnen als politisch links. Eine Person sagt, dass der 7. Oktober bei ihr zu einem verstärkten Engagement in propalästinensischen Gruppen geführt habe. Andere äußern sich enttäuscht angesichts doppelter Standards, die in linken Milieus angelegt werden, sobald es um Israel geht. Vielfach wird von Kontaktabbrüchen und stark verkleinerten Freundeskreisen infolge von verletzenden Diskussionen erzählt. Social-Media-Posts sind ein häufig genannter Kontext, wie in diesem Ausschnitt, in der ein Mitte-30-Jähriger über eine Studienfreundin spricht:
"[Die hat] von Anfang an sehr antiisraelisch gepostet (…) und mir dann vorgeworfen (…), ich wäre einseitig, und sie hätte von mir gedacht, ich wäre für Völkerverständigung. Und ich dachte mir, reflektierst du eigentlich deine eigenen Posts? Oder vielleicht verstehen wir was anderes unter Völkerverständigung. Also, da ist dann der Kontakt kaputt gegangen."
Studienteilnehmer:innen sehen sich zu politischen Positionierungen als jüdische Person gezwungen. Manche sprechen von einem Verlust ihrer "politischen Heimat" in linken Milieus. Mit vertrauten Begriffen aus linken Diskursen werden Taten beschrieben, die für die jüdischen Interviewpartner:innen für eine mörderische Gewalt und Vernichtungsabsicht stehen. Die Folge sind Gefühle der Isolation und die Einsicht, als Juden "auf uns alleine gestellt zu sein", wie eine Ende-30-jährige Interviewpartnerin konstatiert:
"Wir sind einfach auf uns alleine gestellt. Selbst bei sowas halten es anscheinend manche Menschen für nicht schlimm genug (…). [Von denen] hat sich niemand bei mir gemeldet, und das sind auch alles (…) so super linke Leute."
Auswirkungen auf Berufs- und Familienleben
Im Arbeitsleben bewegen sich die Interviewpartner:innen vorwiegend in einem nichtjüdischen Umfeld. Einzelne erzählen von unterstützenden Statements durch Leitungskräfte. In mehreren Interviews werden jedoch auch Fälle von Diskriminierung und Mobbing mit Bezug zur Situation in Israel und Gaza beschrieben. Thematisiert wird die Missachtung von Sicherheitsbedürfnissen. Ein Anfang-30-jähriger Interviewpartner spricht über antisemitische Posts durch Kooperationspartner seiner Organisation, woraufhin die Vorgesetzte gesagt habe: "Du steigerst dich da rein" und "Wir müssen uns nicht gegen Antisemitismus positionieren."
Die Bitte eines Interviewpartners, als jüdische Person nicht mehr direkt mit einer aus seiner Sicht islamistischen, den 7. Oktober relativierenden Organisation zusammenarbeiten zu müssen, hatte Kündigungsdrohungen zur Folge. Interviewpartner:innen erleben, dass Antisemitismus am Arbeitsplatz "totgeschwiegen" wird. Als Beispiele schildern sie unter anderem das Auslassen des Begriffs "Antisemitismus" in Posts ihrer Organisationen zum Shoah-Gedenktag am 27. Januar oder die Verweigerung einer Beschäftigung mit Antisemitismus im Rahmen eines rassismuskritischen Sensibilisierungsworkshops für Mitarbeiter:innen auf einem internationalen Filmfestival.
Deutlich wird auch, dass sich Jüdinnen und Juden relativ unbehelligt im beruflichen Kontext bewegen können, wenn sie ihre jüdische Zugehörigkeit, ihre Trauer, ihre Sorge vor verbalen oder tätlichen Angriffen und ihre Kritik am Antisemitismus vollständig zurückhalten. Dazu resümieren einige, dass sie den Eindruck hätten, als jüdische Person öffentlich-beruflich nicht mehr existieren zu dürfen.
Antisemitismus durchdringt das Leben der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden in vielfacher Hinsicht und reicht von der Arbeitswelt bis in die Nachbarschaft und die eigenen Familien hinein. Eltern machen sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Kinder und orientieren sich dabei an Vorerfahrungen mit antisemitischen Bedrohungen. Im folgenden Ausschnitt beschreibt ein Mitte-30-jähriger Interviewpartner sein "mulmiges Gefühl", wenn seine Kinder draußen spielen:
"In den Nachbarhäusern wissen wir eben nicht, wer da wohnt und wer wie denkt. Und da die Kinder allein auf offener Straße spielen zu lassen, allein das sorgt (…) schon für [ein] sehr mulmiges Gefühl, um es mal vorsichtig zu formulieren. Manchmal auch für ganz krasse Unsicherheit (…), dass da keiner kommt, dass da keiner was Böses im Sinn hat, weil die Religion unserer Kinder ist in der Schule auch bekannt."
Im weiteren Studienverlauf sollen auch die Auswirkungen des 7. Oktober aus den Perspektiven jüdischer Kinder und Jugendlicher erhoben werden. Bisher deuten die Schilderungen von Eltern darauf hin, dass jüdische Kinder zwar unterschiedlich mit der Situation umgehen, aber von ähnlichen Erfahrungen berichten. So erzählt eine Mutter, dass die antiisraelischen Demonstrationen bewirkt hätten, dass ihr Sohn "furchtbare Angst vor Demos bekommen" habe.
Im folgenden Auszug beschreibt ein Mitte-30-jähriger Vater, wie seine Partnerin und er mit ihren Kindern über den Angriff der Hamas und den anschließenden Krieg sprechen und dabei versuchen, die Kinder einerseits durch den Hinweis auf die Entfernung zum Nahen Osten zu beruhigen und sie andererseits in ihrer eigenen Identität zu stärken:
"Sie schütteln es ganz gut ab. Ich glaube, vielleicht auch deshalb, weil wir ihnen dann ein bisschen versucht haben zu erklären, wieso, weshalb, warum, und ihnen (…) dann die Sorge zu nehmen und zu sagen: Pass auf. Das betrifft dich hier nicht. Du weißt, wer du bist."
Der ansteigende Antisemitismus nach dem 7. Oktober wirft indes auch Sorgen in Bezug auf zukünftige Elternschaft auf. Interviewpartner:innen beschäftigt, wo sie in Zukunft als jüdische Familie sicher leben können und wie sie ein jüdisches Kind in dieser Gesellschaft großziehen sollen.
Auswirkungen auf jüdische Identität
Die Reaktionen auf den 7. Oktober erzeugen bei den Interviewpartner:innen ein Gefühl der Entfremdung, zugleich ist ein Zusammenrücken der Community zu beobachten. So beschreibt ein in Deutschland aufgewachsener Mitte-30-Jähriger, wie sich ein schon vorher bestehendes Gefühl, ein "Fremdkörper" zu sein, im Zusammenhang mit der "Entsolidarisierung" der zurückliegenden Monate verstärkt hat:
"Als Jude in der Gesellschaft fühlt man sich ein Stück weit (…) entfremdet oder wie ein Fremdkörper. Aber der 7. Oktober war ein krasser Katalysator, also das definitiv. Das Verständnis fehlt, [es gibt] Anteilslosigkeit oder (…) Entsolidarisierung."
Studienteilnehmer:innen erzählen, wie sie damit beginnen, zum Schabbat einzuladen oder erstmalig jüdische Gruppen als geschützte Räume aufsuchen. Eine Anfang-50-Jährige beschreibt diese Entwicklung als ein "Verstehen, wer meine Leute sind" und erzählt von dem Gefühl der Nähe, das sie in einer jüdischen Mütter-Chatgruppe empfindet:
"Verstehen, wer meine Leute [sind], ist (…) sehr wichtig, und das hilft immer. Fühlen, dass whatever passiert, du bekommst die Unterstützung von deinen Leuten (…). Diese Gruppe von Mamas (…), wir haben [da] eine Frau, die in Australien wohnt, und sie ist immer die Erste natürlich, die schreibt ‚Schabbat Shalom‘ (…). Also ich arbeite noch vormittags am Freitag und bekomme diese Nachricht, ‚Schabbat Shalom‘, dann weiß ich, okay, es gibt diese Frau, diese quasi Freundin, die sich in Australien schon für Schabbat vorbereitet. Also meine Leute. Auch, wenn wir so weit voneinander sind, einfach fühlen, dass jemand da ist, ähnliche Gefühle hat. Das ist ja vielleicht auch meine Projektion, dass sie ähnliche Gefühle hat, aber es ist mir wichtig."
Das geteilte jüdische Wissen und die Tradition von Schabbat beschreibt diese Interviewpartnerin als Stärkung und reflektiert zugleich, dass es sich bei der Idee "ähnlicher Gefühle" um ihre Projektion handelt. Deutlich wird die zunehmende Bedeutung einer Vergewisserung von grundsätzlicher Unterstützung in jüdischen Gruppen, "whatever passiert".
Fazit
Wenn von Gewalt die Rede ist, werden damit in der Regel eher Formen physischer Gewalt assoziiert als subtilere psychische Formen. Im Zusammenhang mit dem brutalen Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 scheint jedoch selbst die offensichtliche, durch die Täter selbst dokumentierte und medial ausgestrahlte Gewaltausübung abstrakt und ungebunden.
In den Monaten, in denen die zitierten Interviews erhoben wurden, befanden sich die meisten Interviewpartner:innen in der Phase der Trauer und Verarbeitung. Es wird deutlich, dass der Anschlag nicht nur die israelische Gesellschaft, sondern auch die in der Diaspora lebenden Jüdinnen und Juden tief erschüttert hat.
Studienteilnehmende berichten von immer enger beziehungsweise unsicherer werdenden Räumen, vom Verlust der politischen Heimat, von Verinselung inmitten einer antisemitisch strukturierten Debatte um Israel und Palästina. Dabei ist es wichtig zu begreifen, dass nicht "nur" der Umstand des Terrors nachwirkt, sondern auch die Abwehr, die Nichtbeachtung, die Anerkennungsverweigerung. In der deutschen, postnationalsozialistischen und postmigrantischen Gesellschaft stehen Jüdinnen und Juden sowie Israelis einer Mehrheit gegenüber, die ihre Beziehung zur eigenen Geschichte weitgehend abspaltet, die Erinnerung an die Shoah als leeres Ritual begreift und den Kontakt zu allem Jüdischen ambivalent gestaltet.
Wird das Trauma der jüdischen Communities in Deutschland nicht anerkannt, nicht eingeordnet, droht das ohnehin brüchige Vertrauen zwischen der nichtjüdischen Mehrheit und jüdischer wie auch israelischer Communities zerstört zu werden. Die Beschäftigung mit dem durch den 7. Oktober deutlicher als je zuvor nach 1945 hervorgetretenen Antisemitismus ist dabei eine Aufgabe, die der Politik und der Zivilgesellschaft zukommt, um Jüdinnen und Juden mit ihren Erfahrungen und Perspektiven stärker einzubeziehen und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ohne Einschränkungen zu ermöglichen.