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Israel und der Antisemitismus | Antisemitismus | bpb.de

Antisemitismus Editorial Antisemitismus – Was gibt es da zu erklären? Israel und der Antisemitismus. Antisemitismusdefinitionen im Kontext des Nahostkonflikts Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland Instrumentalisierte Feindschaften. Antisemitismus in muslimischen Communities und antimuslimischer Rassismus Antisemitismus in digitalen Räumen. Herausforderung für die politische Bildung Antisemitische Kommunikation im internationalen Vergleich "Mythos Auschwitz". Erinnerungskulturelle Deutungskämpfe von Rechtsaußen Shoahppropriation - Essay

Israel und der Antisemitismus Antisemitismusdefinitionen im Kontext des Nahostkonflikts

Tom Khaled Würdemann

/ 18 Minuten zu lesen

Seit einigen Jahren läuft eine Kontroverse um zwei Antisemitismusdefinitionen. In historischer Betrachtung haben beide größere Unschärfen, derer man sich bei der Beurteilung politischer Ereignisse und Erscheinungsformen des Antisemitismus bewusst sein sollte.

Wer in den vergangenen Jahren akademische und politische Debatten um Antisemitismus verfolgt hat, konnte um die Kontroverse um zwei Antisemitismusdefinitionen kaum herumkommen. Da ist zum einen die "Arbeitsdefinition von Antisemitismus" der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) – eine zwischenstaatliche Organisation, zu deren Aufgaben die Bekämpfung des Antisemitismus gehört. Ihre Arbeitsdefinition entstand in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen in einem Prozess zwischen 2003 und 2016. Zur Veranschaulichung wurde sie mit elf Beispielen für antisemitische Verhaltensweisen veröffentlicht, von denen sich sieben auf Israel beziehen. Zum anderen ist da die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (englisch abgekürzt JDA), die 2020/21 explizit als Reaktion auf die IHRA-Definition von einer internationalen Gruppe von Wissenschaftler*innen verfasst wurde und 15 Leitlinien umfasst, davon zehn explizit mit Bezug zu Israel und Palästina. Wer die Definitionen noch nicht kennt, kann sie im Internet leicht finden und nachlesen.

Kern der Kontroverse ist die Positionierung zum Staat Israel. Kurz zusammengefasst: Entsprechend der IHRA-Definition stehen bestimmte Aussagen über den Staat Israel per se im Verdacht, antisemitisch zu sein. Dazu gehört an zentraler Stelle die Infragestellung des Existenzrechts Israels als jüdischer Staat. Die JDA dagegen möchte den Antizionismus als solchen vom Verdacht des Antisemitismus freisprechen, weshalb unter anderem auch fünf Beispiele dafür aufgeführt werden, was "nicht per se antisemitisch" ist.

Die Debatte hat insofern politische Relevanz entwickelt, als die Arbeitsdefinition der IHRA inzwischen von verschiedenen staatlichen Einrichtungen politisch angewendet wird, also zum Beispiel als Grundlage für öffentliche Förderung dient. Im Folgenden soll es jedoch nicht um die Kontroversen dieser Anwendungen gehen. Stattdessen sollen die IHRA-Definition und die JDA auf Probleme abgeklopft werden, die anwendungsabhängig zwischen ihnen und historischen und politischen Beurteilungen des Staates Israel entstehen können. Welche Leerstellen entstehen dadurch, und was folgt daraus? Hierfür sind vor allem Fachkenntnisse zum Israel/Palästina-Konflikt unerlässlich – die in der deutschen Diskussion bislang jedoch zu wenig Niederschlag finden.

Mangelnde Expertise

Deutsche Debatten um den Staat Israel und Antisemitismus laufen oft abgeschnitten von relevanten Forschungsfeldern. Sowohl die Arbeitsdefinition der IHRA als auch die JDA bestätigen, dass sich zeitgenössischer Antisemitismus auch auf den Staat Israel bezieht. Ebenso ist aber der Vorwurf bekannt, dass mit Antisemitismus-Unterstellungen Kritik an israelischer Politik mundtot gemacht werde.

Für beide Fälle ist es wichtig, Aussagen über den Staat Israel sauber in "richtig" und "falsch" unterscheiden zu können. Ein Merkmal des israelbezogenen Antisemitismus ist, entsprechend der Antisemitismusforschung, die "De-Realisierung": der pathologisch verzerrte Blick auf den jüdischen Staat. Andersherum heißt es in der IHRA-Definition, dass die Kritik an Israel nicht antisemitisch sei, die "mit der an anderen Ländern vergleichbar" sei. Das bedeutet, dass zum Beispiel der "Apartheid"-Vorwurf an Israel sowohl eine "mit der an anderen Ländern vergleichbare" Kritik als auch eine pathologische "De-Realisierung" sein könnte. Das Urteil hängt von regionalem und völkerrechtlichem Fachwissen ab. Diese Arbeit zur Unterstützung der Antisemitismusforschung wäre Aufgabe der Nahostwissenschaften. In Deutschland besteht hier Nachholbedarf. Quellengestützte Forschung zur Geschichte Israels/Palästinas und des arabischen Antisemitismus ist selten und hat wenig öffentliche Wirkung. Die dafür prädestinierten Israelstudien stecken noch in den Kinderschuhen. Und für die häufig zur Islamwissenschaft gehörenden Regionalstudien der arabischen Welt ist der jüdische Staat oft immer noch nicht Teil der Region.

Auch auf diesen diskursiven Mangel ist es zurückzuführen, dass bisweilen in einer Form von concept creep Konzepte etwa des Antisemitismus als einer antimodernen Weltanschauung eins zu eins auf den Israel/Palästina-Konflikt übertragen werden. Dessen Grundmuster ist aber viel mehr das eines ethnischen Konflikts zwischen Nationalbewegungen. Ungenaue Aussagen über den Israel/Palästina-Konflikt sind daher auch in Publikationen der deutschen Antisemitismusforschung zu finden.

In dieser Hinsicht wäre die Förderung eines Feldes von miteinander verknüpften Israel-Palästina-Studien hilfreich. Nach dem Historiker Derek Penslar ist damit Forschung gemeint, die Israel und Palästina als miteinander verbundene, gleichwertige Subjekte betrachtet. Ein solcher Ansatz ermöglicht zum einen die stärkere Berücksichtigung von Interdependenzen und Wechselwirkungen, zum anderen kann eine solche Israel/Palästina-Wissenschaft dabei helfen, in den tieferen historischen Schichten Potenziale für Frieden auszuloten. Das Ziel ist die scharfe Abwägung der Fakten und zugleich die weiche Entwicklung von mehr Empathie im Sinne von Versöhnung und Koexistenz.

Staatskritik und Antisemitismus

Israel ist ein Staat. Das bedeutet, dass die "Kritik der Israelkritik" in einem sensiblen Bereich liegt: Als unpersönliche Entitäten der Gewalt und Machtausübung verdienen Staaten beziehungsweise ihre Regierungen es wie kaum ein anderer Aspekt menschlicher Gesellschaft, umfassender Kritik zu unterliegen. Für Israel und seine Regierung gilt das genauso wie für andere Staaten und deren Regierungen. Mutmaßliche Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg, illegale Siedlungen im Westjordanland und systematische Diskriminierungen nicht-jüdischer Gruppen, etwa von palästinensischen Bürger*innen in Ost-Jerusalem, sind klar als solche zu benennen – wie es ja vielfach auch geschieht.

Gleichzeitig ist klar, dass im Schatten der "Israelkritik" der Antisemitismus blüht. Der jüdische Staat zieht ein viel höheres Maß an Kritik auf sich als andere Staaten. Regelmäßig ignoriert diese Kritik das Recht des jüdischen Volkes auf Sicherheit und Selbstbestimmung und – am schlimmsten – das Potenzial des Antisemitismus, Menschen in Mordlust zu vereinen.

Deshalb muss die Diskussion um den israelbezogenen Antisemitismus kontrovers sein. Die Meinungen können sich durch unterschiedliche Gewichtung dieser Aspekte unterscheiden, ohne dass dahinter finstere ideologische Motive stehen müssen. Das erklärt auch, warum sich die Kontroverse um die Definition des Antisemitismus insbesondere an der Kritik an Israel als Staat entzündet. Blicken wir nun zunächst auf die Arbeitsdefinition der IHRA.

Schiefe Ebene in den Antisemitismus

Eine prominente Position in der IHRA-Definition nimmt der sogenannte 3-D-Test ein, der auf den konservativen israelischen Politiker Natan Sharansky zurückgeht. Diesem Test zufolge ist Kritik an Israel antisemitisch, wenn sie das Land 1) dämonisiere, 2) delegitimiere und 3) einen doppelten Standard anlege. Letzteres heißt, in einer vergleichbaren Situation einen schärferen Maßstab an Israel anzulegen als an andere Länder. Die drei Ds finden sich abgewandelt auch in der IHRA-Definition wieder: Delegitimation unmittelbar, der Doppelstandard im Vergleich mit "demokratischen Staaten" und die Dämonisierung in Erweiterung auf den gegebenenfalls "als jüdisches Kollektiv verstandenen" Staat Israel. Die Arbeitsdefinition schränkt sich allerdings insofern ein, als in ihr konstatiert wird, dass aktuelle Beispiele für Antisemitismus "unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts" bestimmte Verhaltensweisen einschließen können – was Interpretationsspielraum lässt.

Für eine differenzierte Diskussion ist dieser Spielraum notwendig. Es versteht sich von selbst, dass der Antizionismus der US-amerikanischen Ultraorthodoxie keine Form des Antisemitismus ist. Und bei einer Palästinenserin aus Hebron ist zunächst von ihrer persönlichen Betroffenheit auszugehen, wenn sie die israelische Besatzung mit einem anderen Maß misst als die Politik anderer Staaten – und nicht von einem "Doppelstandard."

Das Hauptproblem des 3-D-Tests ist aber, dass er in den aufgeheizten Debatten oft benutzt wird, um kritische Äußerungen über israelische Politik "Dämonisierung" oder "doppelten Standard" zu nennen. Ein plattes Beispiel dafür ist ein Interview des "Philosophie Magazins" vom Februar 2024 mit dem Historiker David Greenberg. Darin behauptet Greenberg, die bloße Assoziation von Israels Kriegführung in Gaza mit Begriffen wie "ethnischer Säuberung" sei Teil eines antisemitischen Glaubenssystems, in dem Israel als "dämonische Kraft" erscheine. Dabei berichtete selbst die regierungsnahe israelische Presse im November 2023, dass Premierminister Benjamin Netanjahu die Erarbeitung von Plänen zur "Ausdünnung der Bevölkerung von Gaza auf ein Minimum" befohlen habe. Das ist Grund genug, die Assoziation von israelischer Kriegführung mit ethnischen Säuberungen als Warnung (nicht als Tatsachenbehauptung) formulieren zu dürfen.

Weiter charakterisiert Greenberg den Vergleich zwischen der Netanjahu-Regierung und autoritär regierten Staaten wie Ungarn unter Viktor Orbán als "Wunsch, Israel zu dämonisieren". Tatsächlich sind Netanjahu und Orbán nicht nur politische Freunde, sondern werden in Israel selbst als Vertreter derselben autoritären Tendenz benannt. Vergleichbare Gleichsetzungen von kontroversen Aussagen mit antisemitischen Dämonisierungen sollen mit der IHRA-Definition zwar ausgeschlossen werden, kommen aber regelmäßig vor und beeinflussen die Debatte.

Normative Setzung von Geschichte

Das eigentliche Problem des Bezugs auf Israel in der IHRA-Definition ist aber, dass das siebte der elf aufgeführten Beispiele eine historische Aussage macht, deren Komplexität im Rahmen einer Antisemitismusdefinition nicht adäquat widergespiegelt werden kann.

Demnach ist die Unterstellung, dass "die Existenz des Staates Israel" ein "rassistisches Unterfangen" sei, gegebenenfalls antisemitisch. Zunächst ist das Beispiel durch Diskrepanzen zwischen den sprachlichen Versionen der IHRA-Definition unklar: Im Englischen ist von der "existence of a State of Israel" die Rede, im Deutschen von der "Existenz des Staates Israel". Dieser Unterschied ermöglicht verschiedene Auslegungen je nach Sprache. Angesichts der zunehmenden juristischen Rolle der IHRA-Definition ist das unverständlich.

Hauptsächlich aber hängt die Gültigkeit des siebten Beispiels am historischen Urteil, wie man die Frage des (Kolonial-)Rassismus in der Gründungsgeschichte Israels beurteilt. Selbst ausgewiesen proisraelische Politikwissenschaftler wie Stephan Grigat konstatieren, dass der Zionismus koloniale Elemente enthielt. Vor und während der Staatsgründung Israels war das zionistische Projekt zwischen Kolonialismus, Antikolonialismus und Postkolonialismus verortet. Denn es umschloss Elemente aller drei Phänomene: eine nationale Befreiungsbewegung, Formen kolonialer Machtausübung und den Aufbau eines Staates nach Ideen, die typisch für die postkoloniale Zeit waren.

Entsprechend äußern palästinensische Nationalisten (oft einseitige) Kritik am Zionismus als einer kolonialen und damit "rassistischen" Bewegung. Zentral für die Bewertung dieser Aussage ist das Verhältnis der zionistischen Politik zur arabischen Mehrheit im Mandatsgebiet Palästina vor der Gründung Israels. Der Vorwurf lautet, dass die zionistische Bewegung das Recht der um 1920 knapp 90 Prozent der Bevölkerung betragenden arabischen Mehrheit in Palästina nicht anerkannte, eine jüdische Staatsgründung in ihrem Land über das Mehrheitsprinzip abzulehnen. Und tatsächlich hätte ein solches Mitspracherecht bei der Frage nach der Existenz eines jüdischen Staates das Ende des zionistischen Projekts bedeutet. Für den palästinensischen Nationalismus war das "zionistische Projekt" im britischen Mandatsgebiet daher ein "rassistisches Unterfangen", da es das arabische Recht auf Selbstbestimmung missachtet habe. Zu den ersten arabischen Antworten auf den modernen Zionismus gehörte ein Brief des Jerusalemer Intellektuellen Yusuf Dia al-Khalidi von 1899: "Die Idee des Zionismus ist gut und gerecht. (…) Historisch gesehen, ist es wirklich Euer Land. (…) Aber es ist nun von einem anderen Volk bewohnt (…). Im Namen Gottes, lassen Sie Palästina in Frieden."

Wie die palästinensische Politik dann später tatsächlich reagierte – mit prinzipieller Kompromisslosigkeit, Gewaltwellen und der Kollaboration des Großmuftis von Jerusalem mit den Nationalsozialisten –, ist ein anderes Thema. Aber auch die ehrliche zionistische Absicht, die palästinensischen Araber in einen jüdischen Staat zu integrieren, täuscht nicht über die Unausweichlichkeit eines politischen Konflikts zwischen beiden Seiten hinweg. So argumentierte der zionistische Schriftsteller Ze’ev Jabotinsky mit dem Notstand des Antisemitismus: Das Erfordernis eines jüdischen Schutzraumes steche arabische Rechte auf politische Selbstbestimmung eben aus.

Ein zentrales Dokument für diese Lesart ist das "Mandatspapier" von 1922, das politische Programm der britischen Kolonialmacht für Palästina. Mit ihm sollte das britische Versprechen aus der Balfour-Deklaration von 1917 eingelöst werden, eine "nationale Heimstätte für das jüdische Volk" zu errichten. Hierzu heißt es in Artikel zwei des Mandatspapiers, dass die britische Verwaltung mit den zionistischen Institutionen kooperieren werde. Die "zivilen und religiösen Rechte anderer Einwohner" in Palästina würden davon "nicht beeinträchtigt". Was hier und insgesamt im Text fehlt, sind indes die politischen Rechte der "anderen Einwohner", also der arabischen Mehrheit. Die zionistische Bewegung stimmte dem Mandatspapier nicht nur zu, sondern hatte lange darauf hingearbeitet.

Angesichts des arabischen Widerstands gaben die Briten ihre Versprechungen an die zionistische Bewegung in den Folgejahren zwar stückweise auf. Die palästinensische Position aber wurde entscheidend durch die Erfahrung geprägt, dass ihr Ausschluss aus dem politischen Mitspracherecht beabsichtigt war. Auch die ersten Pläne zur Teilung des Landes trugen solche Merkmale. So war das "Faisal-Weizmann-Abkommen" 1919 für einen zukünftigen jüdischen Staat ein Pakt mit einem nicht-palästinensischen Fürsten. Der Peel-Plan 1937 sah die "Umsiedlung" zahlreicher Araber vor, um in einem kleinen Gebiet überhaupt eine jüdische Mehrheit zu schaffen. Und selbst der UN-Teilungsplan von 1947, der für Israel ein Gebiet mit einer jüdischen Mehrheit vorsah, ignorierte die Demografie der nicht sesshaften Beduinen des Negev. All dies war für Geopolitik im Zeitalter des Imperialismus eher die Regel als die Ausnahme – man denke an das Schicksal des kurdischen Volkes nach dem Ersten Weltkrieg –, kann aber gerade deshalb kaum pauschal vom Vorwurf des Rassismus freigesprochen werden. Die zionistische Politik im britischen Mandat ein "rassistisches Unterfangen" zu nennen, ist daher eine kontroverse, aber zu diskutierende Behauptung. Dass die Fluchtbewegung europäischer Juden vor dem grassierenden Antisemitismus diesen Zusammenstoß hervorrief, gehört zur Tragik des Konflikts.

Zur Verdeutlichung ein zugespitztes Beispiel: Ein Deutscher, der 1920 einen "jüdischen Plan" zur Beherrschung seines Heimatlandes unterstellte, hing einem antisemitischen Wahn an. Ein Araber aus Palästina, der das Gleiche annahm, beschrieb damit in Bezug auf die jüdische Nationalbewegung die Realität. Das klingt hart – es sagt aber nur, dass es sich zwischen arabischer und zionistischer Bewegung zuvorderst um einen politischen Konflikt handelte, wie es im Zeitalter der Nationenbildung viele gab, und nicht lediglich um einen sich als Judenhass äußernden Verblendungszusammenhang. All das war auch führenden Zionisten dieser Zeit bekannt. Kein geringerer als der erste israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion äußerte 1956 gegenüber dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses Nahum Goldmann, dass er selbst, wäre er Araber, "niemals" Frieden mit den Zionisten schließen würde. Schließlich hätten sie ihnen "ihr Land weggenommen". Auch der israelische General und Minister Moshe Dayan und der Politikwissenschaftler und Geheimdienstoffizier Yehoshafat Harkabi haben in ähnlicher Weise die Feindschaft der palästinensischen Araber als naturgemäßes Ergebnis des politischen Konflikts betrachtet. Die Geschichte ist also komplizierter, als es das siebte Beispiel der IHRA-Definition suggeriert.

Aber was bedeuten diese historischen Kontroversen für den heutigen Umgang mit dem Israel/Palästina-Konflikt? Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten: Es ließe sich entweder versuchen, aus einem schwierigen historischen Erbe das Beste zu machen – oder man gibt sich einem Programm des Revisionismus hin und verschreibt sich einem ewigen Kampf. Hier kommen wir dem zentralen Problem näher, das die Jerusalemer Erklärung aufweist.

Schweigen im Walde

Das Kernproblem vermeintlich propalästinensischer Positionen wird sichtbar, wenn zur "Lösung" des Konflikts nicht ein Kompromiss, sondern die Eliminierung Israels gefordert wird. Das gilt unabhängig davon, ob ideologische Judenfeindschaft das "Motiv" ist oder nicht. Aus welchem Grund genau die Zerstörung des jüdischen Staates imaginiert wird, hat historisch betrachtet wenig Auswirkungen darauf, dass dieses Bestreben Unheil für jüdische Israelis bedeutet. Ob man die Gründung Israels vor 76 Jahren als legitim ansieht oder nicht: Eine Rückabwicklung gegen den Willen der jüdischen Bevölkerung ist nicht nur unrealistisch, sie würde auch niemals zum friedlichen Zusammenleben beider Völker führen.

Die JDA erwähnt dieses Problem nicht. Ihrer Leitlinie 12 zufolge ist der Wunsch nach der Auflösung Israels nicht automatisch als Form von Antisemitismus zu verstehen. Ideengeschichtlich lässt sich so argumentieren, da dieser Wunsch etwa auch einem antinationalen Utopismus oder palästinensischem Nationalismus entstammen kann. Die einzige klare "Bedingung", die die JDA formuliert, um Antizionismus von Antisemitismus zu unterscheiden, ist Leitlinie 10: Demnach sei es antisemitisch, "Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben". In Leitlinie 15 wird noch nebulös hinzugefügt, dass "die Trennlinie zwischen antisemitischen und nicht antisemitischen Äußerungen eine andere [sei] als die Trennlinie zwischen unvernünftigen und vernünftigen Äußerungen". Sind Forderungen nach der gewaltsamen Zerstörung Israels also bloß unvernünftig? Dadurch, dass die JDA hierzu keine weiteren Worte verliert, bleibt eine gravierende Lücke – insbesondere nach dem 7. Oktober 2023.

Nach dieser Lesart gilt: Solange der Anspruch auf eine zukünftige Gleichberechtigung erhoben wird, kann der Kampf zur Beseitigung Israels nicht als relevant für Antisemitismus benannt werden – wenn er zum Beispiel Israel "als Kolonialmacht" treffen will und nicht "als Staat, weil er jüdisch ist". Damit reduziert die JDA den Antisemitismus auf seine ideengeschichtlichen Bestandteile, die für den Tod vieler Jüd*innen in der Vergangenheit verantwortlich waren. Sie erfasst aber nicht die gegen die heutigen, lebenden Jüd*innen gerichtete Unterstützung von Kriegen gegen Israel bis hin zum Wunsch seiner Zerstörung. So bleibt die Frage offen, ob in der JDA über die Bemühungen zur Exkulpierung des Antizionismus nicht der Schutz von Jüd*innen zurückgeblieben ist. Gerade weil die JDA sich bemüht, Antizionismus differenziert zu betrachten, wäre mindestens eine kritische Erwähnung des "weltbildhaften Antizionismus" angebracht gewesen.

Kompromissfähigkeit vs. Kompromisslosigkeit

Der Begriff des "weltbildhaften Antizionismus" ließe sich noch erweitern zum "eliminatorischen Antizionismus". Ein solcher beschreibt Kräfte, die die Eliminierung Israels beziehungsweise die "Befreiung ganz Palästinas" über den Wunsch nach dem friedlichen Zusammenleben beider Völker stellen.

Wer eine antizionistische Einstaatenlösung zum Ideal hat, aber als Kernziel das friedliche Zusammenleben beider Völker priorisiert, wird immer auch einen Zweistaatenkompromiss als Alternative zum dauerhaften Konflikt akzeptieren. Zentral dafür ist die Anerkennung des Wunsches nach jüdischer Selbstbestimmung und, in den Worten des palästinensischen Intellektuellen Muhammad Abu Zeid, eine Neugier für die Gefühle der anderen Seite selbst in Zeiten der bittersten Feindschaft. Wer dagegen kompromisslos die "Befreiung ganz Palästinas" will, wird auch dann gemeinsame Sache mit der Hamas machen, wenn man sich ideologisch zu einem multireligiösen Palästina bekennt.

Die Krux ist die Ablehnung des Kompromisses als Lösung und der Glaube an die notwendige Eliminierung Israels. Das Gleiche gilt für jüdische Israelis, die eine Zweistaatenlösung zugunsten von "Großisrael" ablehnen oder das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung mit einem verabsolutierten Bedürfnis nach "jüdischer Sicherheit" grundsätzlich ausschließen. Auch hier steht die maximalistische Utopie über der Menschlichkeit der anderen Seite.

Viele Diskussionen können durch Anwendung dieses Maßes entschärft werden, beispielsweise die Frage nach der Gewalt. So hat der Philosoph Michael Walzer schon vor über 20 Jahren darauf hingewiesen, dass sich die Erste Intifada ab 1987 als Volksaufstand gegen eine unterdrückerische Besatzung entscheidend von der Zweiten Intifada ab 2000 unterschied, in der israelische Zivilist*innen Ziel massiver Gewalt waren. Palästinensischer Widerstand ist daher weder immer so legitim noch so illegitim, wie einseitige Parteigänger*innen weismachen wollen. Vielmehr kann er daran gemessen werden, wie er zum Potenzial des friedlichen Zusammenlebens steht. Die Verteidigung des Angriffs der Hamas am 7. Oktober 2023 als "Widerstand gegen Unterdrückung" kann so einfach entlarvt werden: Wahllose Massaker an Zivilist*innen tragen grundsätzlich nicht zur Lösung eines Konflikts bei.

Der gleiche Maßstab gilt für Israel, wo legitime Selbstverteidigung von illegitimer Gewalt unterschieden werden kann – etwa in Form der Expansion im Westjordanland oder willkürlichen Menschenrechtsverletzungen. Dasselbe gilt für religiöse Ideologien: Wenn der Wunsch nach muslimischer (oder jüdischer) Herrschaft über die heiligen Stätten von Jerusalem die friedliche Koexistenz aussticht, herrscht kein Wille zum Zusammenleben.

Auch die Frage der "Delegitimierung" Israels lässt sich durch diese Brille sehen. "Eliminierung" eines Staates ist nämlich etwas grundsätzlich anderes als die "Delegitimierung" seiner derzeitigen Verfasstheit. Auf den Vorwurf der "Apartheid" kann der Wunsch nach einer Versöhnung mit dem Gewesenen und einer Reform des Bestehenden folgen. Die im August 2023 von einer Gruppe namens "Academics4Peace" gestartete Petition "The Elephant in the Room", in der die Besatzung des Westjordanlands als "Apartheid" bezeichnet wird, unterzeichneten auch intellektuelle Größen des zeitgenössischen Zionismus wie die Historiker Benny Morris, Dan Diner oder Derek Penslar – jeder von ihnen mit dem Wunsch nach einem besseren Israel anstatt keinem Israel. Ob man dem zustimmt, ist eine andere Frage, aber es kann schwerlich als Antisemitismus gewertet werden.

Antizionistische Aktivisten dagegen, die das Ziel eines egalitären Staates Palästina bekunden, aber trotzdem mit der Hamas solidarisch stehen, zeigen damit ihre Unterordnung des friedlichen Zusammenlebens unter das Hauptziel der Eliminierung Israels. Und eben dieses ist das Problem – viel mehr als die Vorstellung, der Staat Israel sei illegitim entstanden oder handle verbrecherisch (all das kann diskutiert werden). Die Unbedingtheit des militanten Antizionismus kann daher auch ohne Nachweis von ideengeschichtlichem Antisemitismus als judenfeindliche Praxis benannt werden: als eine Ideologie, die katastrophalen Schaden (nicht nur) für Jüd*innen anrichtet. Man kann hier den Umkehrschluss zum Thema "Apartheid" formulieren: Es ist bezeichnend für den negativen Charakter des eliminatorischen Antizionismus, dass Israel zwar mit der Apartheid Südafrikas verglichen wird – die Methoden der Bekämpfung sich allerdings so oft und so deutlich unterscheiden. Solange statt eines Nelson Mandelas ein Yahya Sinwar die Führungsgewalt hat, wird es keinen Frieden geben.

Wurzeln des eliminatorischen Antizionismus

Die Wurzeln dieser Politik der Zerstörung liegen zu einem großen Teil im Revisionismus, der seit Jahrzehnten in der palästinensischen Politik verbreitet ist – in der Vorstellung also, dass nur der Sieg über das "illegitime zionistische Projekt" den Konflikt beenden könne. Dieser Revisionismus wiederum beruht nicht ursächlich auf Antisemitismus, sondern auf Nationalismus. Zudem ist er maßgeblich vom Zionismus selbst und dessen Glauben an ewige nationale "Besitzrechte" an einem Land beeinflusst. Darin zeigt sich der ambivalente Charakter von Feindschaft in diesem Konflikt, in dem beide Seiten einander oft im Spiegel sehen.

Doch die Kompromisslosigkeit und die unverhältnismäßige Bedeutung, die dem Israel/Palästina-Konflikt überall auf der Welt beigemessen wird, haben auch andere Wurzeln. Dazu gehört seine emotionalisierende Verortung im "Heiligen Land", was sich sowohl proisraelisch als auch propalästinensisch äußern kann. Auch die in den Kontext des Kalten Krieges gehörende wahrgenommene Ungleichzeitigkeit von Israel als einer westlich-kolonialen Gründung in der Zeit der Dekolonisierung spielt eine Rolle. Hinzu kommt die symbolische Bedeutung von "Palästina" für arabischen Nationalismus und Islamismus: In diesen Ideologien war und ist Palästina der moralische Hebel zur Durchsetzung politischer Forderungen; die Befreiung des "arabischen" beziehungsweise "muslimischen" Palästina ist gleichbedeutend mit dem Erfolg der ideologischen Projekte und wird daher als notwendig angesehen.

Zu diesen Wurzeln gehört aber auch der Antisemitismus. Die Idee und Wahnvorstellung, dass "den Juden nicht vertraut werden dürfe", wirkt für den Motor des politischen Konflikts zwischen Israel und Palästina wie ein potenter Extra-Treibstoff. Für die palästinensisch-arabische Nationalbewegung boten Momente des historischen muslimischen Antijudaismus und des modernen europäischen Antisemitismus Deutungsschablonen, die zu oft übernommen wurden. Insbesondere im Islamismus ist das sichtbar und eine Trennung zwischen politischem Konflikt mit Israel und Antisemitismus fast unmöglich: Der Konflikt wird meist a priori als Angriff "der Juden" auf die muslimische Gemeinschaft gedeutet. Die übernommene Spezifik des europäischen Antisemitismus verschärft diese Feindschaft noch: Mit einem Gegner, der hinter jeder geheimen Verschwörung stehe, könne gar kein Frieden geschlossen werden. Als "Lösung" zählt nur der totale Sieg.

Fazit

Das Motiv des unversöhnlichen Wunsches nach Eliminierung des jüdischen Staates ist eine zentrale Bedrohung für heutige Jüd*innen. Die IHRA-Definition erfasst das, ist aber offen für unzulässige Verengungen bei Kritik an Staat und Politik Israels. Manche diskutablen Aussagen über Israel können mit der IHRA-Definition in die Nähe des Antisemitismus gerückt werden, was auch immer wieder geschieht.

Die JDA dagegen beabsichtigt die Exkulpierung des Antizionismus vom Antisemitismus. Das mag ideengeschichtlich häufig gerechtfertigt sein. Den Kern des Problems – die Priorisierung der Eliminierung Israels über die Schaffung von Frieden für beide Völker – erfasst sie aber nicht. Bei der Benennung des gefährlichsten Ausdrucks von judenfeindlicher Praxis in unserer Zeit bleibt die JDA eigentümlich stumm.

Bei allem Nutzen, den die Definitionen für die wissenschaftliche und pädagogische Arbeit haben: Beide haben ihre Unschärfen, derer man sich bei der Beurteilung des heutigen Antisemitismus bewusst sein sollte, insbesondere im komplexen Kontext des Israel/Palästina-Konflikts. Als wichtigster Gedanke bleibt daher: Das friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben beider Völker muss der zentrale Imperativ jeder Lösungsidee und des Weges dorthin sein.

ist Nahostwissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Graduiertenkolleg "Ambivalent Enmity" der Universität Heidelberg und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.