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Antisemitismus - Was gibt es da zu erklären? | Antisemitismus | bpb.de

Antisemitismus Editorial Antisemitismus – Was gibt es da zu erklären? Israel und der Antisemitismus. Antisemitismusdefinitionen im Kontext des Nahostkonflikts Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland Instrumentalisierte Feindschaften. Antisemitismus in muslimischen Communities und antimuslimischer Rassismus Antisemitismus in digitalen Räumen. Herausforderung für die politische Bildung Antisemitische Kommunikation im internationalen Vergleich "Mythos Auschwitz". Erinnerungskulturelle Deutungskämpfe von Rechtsaußen Shoahppropriation - Essay

Antisemitismus - Was gibt es da zu erklären? Essay

Jan Philipp Reemtsma

/ 19 Minuten zu lesen

Die Geschichte der Versuche, den Antisemitismus zu „erklären“, ist lang und unübersichtlich – und vergeblich. Letztlich ist er ein Angebot, Mitglied einer internationalen Ressentimentgemeinschaft zu sein und die Schranken der Zivilisation einzureißen.

"Was gibt es da zu erklären?" Damit meine ich nicht: Was gibt es da zu sagen, alles liegt doch auf der Hand. Bei einem so oft debattierten, so umstrittenen, so sehr mit Definitionsstreit überzogenen Phänomen wie dem Antisemitismus wäre das eine nonchalante Leichtfertigkeit. Vielmehr möchte ich mich auf das beziehen, was ich anderswo einmal "Erklärungsbegehren" genannt habe, also den meist öffentlich vorgetragenen Wunsch, etwas, das etwa die Nachrichten beherrscht und manche irritiert, "erklärt" zu bekommen. Dabei wird nie ausgeführt, was man eigentlich haben möchte, wenn man eine "Erklärung" will. Nur eines wird deutlich: Erklären ist offensichtlich Irritationsabwehr. Etwas verstört, man fragt: "Können Sie das bitte erklären?", und wenn etwas folgt, das der Fragende als "Erklärung" akzeptiert, kann er etwas sagen wie "Ach so!" und vielleicht immer noch beunruhigt sein, aber nicht mehr durch das vermeintlich Rätselhafte der Angelegenheit beunruhigt. Diese Vorstellung von Beruhigen-durch-Erklären fußt meist auf der Idee, dass, wie man so sagt, "etwas dahintersteckt". Wie wenn man einen Vorhang sich bauschen sieht, die Bewegungen nicht deuten kann, aber, wenn der Vorhang beiseitegezogen wird, sieht, wer oder was dahintersteckte und was er oder sie oder es da eigentlich gemacht hat. "Ach so!" Dass der Wunsch nach Erklärung im Sinne von Herausfinden-was-dahintersteckt häufig durch die Auskunft, die Freimaurer, das Finanzkapital oder die Juden seien es gewesen – wir nennen sowas heutzutage "Verschwörungstheorien" – befriedigt wird, sei hier nur erwähnt. Der Wunsch nach Erklärung ist nicht dem Bedürfnis, Verschwörungserzählungen serviert zu bekommen, gleichzusetzen, kann aber bei manchen Leuten darauf hinauslaufen. So viel als Vorbemerkung zum zweiten Teil des Titels.

Zum ersten Teil, "Antisemitismus". Es wird hier nicht darum gehen, wann jemand ein Antisemit "ist". Bekannt sind Gesprächsabläufe wie dieser: "Was du da eben gesagt hast, ist antisemitisch!" "Ich bin aber kein Antisemit!" Die Selbstaussage "Ich bin kein Antisemit" hat mit der Vorhaltung, etwas Gesagtes sei antisemitisch, erst einmal rein gar nichts zu tun. Jemanden kategorisierend einzuordnen kann unter Umständen richtig und gerechtfertigt sein, ist aber selten interessant. Meistens geht es darum, zu beurteilen, was einer sagt und tut. Ich kann eine Äußerung oder ein Benehmen mit guten Gründen scharf kritisieren, ohne gleich die ganze Person der oder des Kritisierten als Verkörperung dessen, was an der Äußerung zu kritisieren war, anzusehen. Umgekehrt ist es absurd, wenn auf den Satz "Nein, ein Antisemit ist er nicht" etwas wie ein Aufatmen folgt, etwas wie "Dann ist es ja halb so schlimm".

Meistens arbeiten sich Versuche, den Antisemitismus zu erklären, daran ab, Eigenschaften von Juden, Besonderheiten der jüdischen Religion, der Diasporagemeinschaften zu suchen, die den Antisemitismus plausibel machten. Für solche Versuche hat Jean-Paul Sartre in seiner 1944, gleich nach der Befreiung von Paris verfassten und erschienenen Schrift "Zur Judenfrage" den passenden lakonischen Kommentar gefunden: Was würde man zu jemandem sagen, der meine, es sei doch interessant herauszubekommen, was an Tomaten dran sei, dass er sie so verabscheuen müsse?

Auch wird es im Folgenden nicht um die Frage gehen, wann "Israelkritik" antisemitisch sei, als ob es sich um eine Frage des rechten Maßes handelte. Die Frage muss nicht lauten, bis zu welcher Grenze "Israelkritik" "erlaubt" und wann sie "antisemitisch" sei, sondern in welcher Form der Judenhass die Form von – noch einmal das Wort – "Israelkritik" annimmt. So viel zu den Vorbemerkungen.

Begründung seiner selbst

Der Begriff "Antisemitismus" kommt im späten 19. Jahrhundert auf, oft verbindet man ihn mit dem deutschen Journalisten Wilhelm Marr, der 1879 eine Schrift mit dem Titel "Der Sieg des Judentums über das Germanentum" veröffentlichte, in der er die Juden nicht als eine durch einen gemeinsamen Glauben konstituierte (und definierte) Gemeinschaft, sondern als eine besondere (orientalische) "Rasse" bezeichnet, die schon in ihrer geografischen Herkunftsregion aus Gründen angefeindet worden sei, in Europa dann sich durch parasitäres Ko-Existieren mit den übrigen "Rassen" und vor allem der germanischen ausgezeichnet habe. Der Antisemitismus sei gewissermaßen das wissenschaftliche Fundament des Antijudaismus, der sich selbst als Religionsauseinandersetzung missverstanden habe. Eine Reihe von Leuten, die sich über den Antisemitismus Gedanken gemacht haben, sind der Meinung, der Antisemitismus beginne im Grunde erst mit dieser Verbindung von Judenfeindschaft und der Idee menschlicher Rassen mit vererbbaren Eigenschaften. Alles Vorherige sei Religion und könne mit zunehmender Säkularisierung irgendwie von selbst abgebaut werden.

Dem liegen zwei Gedankenfehler zugrunde. Der erste ist die Annahme, mit dem Bedeutungsverlust der ideologischen Rahmung eines Ressentiments verliere auch dies an Bedeutung. Diese Annahme verkennt den seelischen Gewinn, den die Pflege eines Ressentiments mit sich bringt. Die Pflege eines Ressentiments ist die aufwandärmste Weise, ein Überlegenheitsgefühl zu gewinnen und auf Dauer zu stellen. Die Pflege eines Ressentiments ist ein seelischer Machtgewinn, ein imaginierter, gewiss, aber Imaginationen können danach streben, sich die Wirklichkeit untertan zu machen, und können verteufelt erfolgreich dabei sein. Die ideologische Rahmung eines Ressentiments kann verfaulen wie eine Frucht, und der Kern – das Ressentiment – bleibt übrig.

Der zweite Gedankenfehler liegt darin, dass man meint, für die Idee, die Juden hätten verderbliche Eigenschaften, die ihnen wesensmäßig zugehörten und die sie über die Jahrhunderte vererbten, hätte es die Rassenideologie des 19. Jahrhunderts gebraucht. Das ist interessanterweise nicht der Fall. Die Betrachtung dieses Mechanismus führt unmittelbar in das Verständnis der historischen Dynamik des Antijudaismus (ob man ihn nun so oder "Antisemitismus" nennt) hinein.

Erlauben Sie einen Sprung zurück, und zwar ins Spanien des Jahres 1492. In diesem Jahr stach Kolumbus in See, um auf dem Westweg Indien zu finden. Ebenfalls in diesem Jahr endete die Reconquista, die "Rückeroberung" der von muslimischen Arabern eroberten und besetzten iberischen Halbinsel, und das kastilisch/aragonische Königspaar Isabella und Ferdinand stellte die spanischen Juden vor die Alternative, zum Christentum zu konvertieren oder zu emigrieren. Nach christlicher Logik wäre ein konvertierter Jude kein Jude mehr, sondern eben ein Christ gewesen, aber die christliche Politik gegenüber den im Land gebliebenen, also getauften Juden war eine andere. Man überwachte sie, ob sie nicht im Geheimen weiter jüdischen Gebräuchen folgten, also etwa am Schabbat nicht arbeiteten, auch keine Hausarbeit machten, man fragte bei Metzgern nach Familien, die kein Schweinefleisch kauften, etc.

Der meist natürlich gerechtfertigte Verdacht, die (zwangs-)getauften Juden seien keine richtigen Christen, ihr Bekenntnis sei nicht echt, weil eben erzwungen, transformierte sich zu der fixen Idee, ein Jude bleibe ein Jude, gleich welchem Bekenntnis er sich offiziell verpflichte. Man begann eine Abstammungslogik zu konstruieren und Grade der "limpieza de sangre", der "Reinheit des Blutes" zu definieren, wobei man in etwa die Nürnberger Rassegesetze des nationalsozialistischen Deutschlands vorwegnahm und Volljuden, Halbjuden, Vierteljuden etc. unterschied. Das Spanien der nächsten Jahrhunderte definierte "den Juden" nach dem Phantasma der Blutreinheit, also rassistisch, ohne einen eingeführten Begriff menschlicher "Rassen" überhaupt zu haben. Die Maßnahme, Juden mit einem auf die Kleidung aufgenähten gelben Stoff-Fleck zu kennzeichnen, stammt aus Spanien und wurde in Deutschland als Kennzeichnung durch einen gelben Davidstern wiederaufgenommen, wie auch die Nürnberger Rassegesetze wirken, als seien die spanischen Bestimmungen zum Vorbild genommen. Auch die Idee einer jüdischen Weltverschwörung können wir dort beobachten. Die deutsche Reformation galt als antikatholische Verschwörung der aus Spanien vertriebenen Juden.

Dies ist keine spezielle Sonderbarkeit aus der Geschichte der Judenfeindschaft, sondern eine exemplarische Episode. Es tritt in ihr ein allgemeiner Mechanismus zutage, der für lange Verfolgungsgeschichten charakteristisch ist: Sie werden zur Begründung ihrer selbst, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens, weil den Verfolgten unterstellt wird, sie würden sich rächen wollen. Zweitens, weil zur Legitimation von Diskriminierung, Verfolgung und Mord immer wieder herangezogen wird, dass man es doch schon früher getan habe – ergo könne es nicht ohne Grund geschehen sein.

Scheinerklärungen

Die Geschichte der Versuche, den Antisemitismus zu "erklären", ist lang und unübersichtlich. Beliebt sind Ursprungserzählungen, in denen Aspekte aus der Geschichte des Judentums herausgegriffen und zu Ursachen erklärt werden. So wird etwa das Bild vom geldgierigen Juden auf die besondere Rolle von Juden im Finanzgeschäft zurückgeführt. Tatsächlich galt lange Zeit ein Verbot für Christen, Zinsen zu nehmen, und die wirtschaftlich notwendige Rolle der Kreditvergabe wurde von Juden übernommen. Nicht unplausibel, dass sich daran Geschichten knüpften wie die von Shakespeare im "Kaufmann von Venedig" dramatisierte des Shylock, der sich als Ersatz für einen nicht zurückgezahlten Kredit ein Stück Fleisch aus dem Leibe des säumigen Zahlers vertraglich verschreiben lässt. Aber, wie schon Sartre in seiner erwähnten Schrift über die "Judenfrage" anmerkte: Wieso richtet sich das Ressentiment nicht gegen Bankiers schlechthin, sondern gegen Juden (ganz gleich, ob sie im Bankgewerbe tätig sind oder nicht)?

Eine andere populäre Erklärung besteht in dem Hinweis, die Selbstbezeichnung als "auserwähltes Volk" habe gewissermaßen die Nachbarn der Juden und alle Welt seitdem verärgert. Nun ist es Brauch bei vielen Völkern, dass die Selbstbenennung synonym mit der Bezeichnung für "Mensch" ist, was noch nie zur Begründung für irgendwelche Kränkungsfeldzüge wurde. Zudem ist die Idee, ein Gott erwähle sich eine bestimmte Bevölkerung – eines Landes, einer Stadt, einer Sippe – zu seinen Günstlingen, antike ubiquitäre Gewohnheit. Die Unterstellung, eine solche Selbstbezeichnung (die es übrigens bei den Christen im Petrus-Brief genauso gibt) habe einen über Jahrtausende andauernden Hass beim Rest der Menschheit – denn Antisemitismus ist ja ein internationales Phänomen – ausgelöst, der in einem millionenfachen, systematisch betriebenen Massenmord gipfelte, ist vollkommen bizarr. Im Grunde läuft er auf den Versuch hinaus, am Antisemitismus den Juden die Schuld oder doch wenigstens eine Mitschuld zu geben, etwas wie: "Ja, man hat euch Schlimmes angetan, aber dass ihr euch ein auserwähltes Volk genannt habt, musste uns doch verdrießen."

Ein weiterer Erklärungsversuch liegt in dem Hinweis auf die Separierungstendenzen des Diaspora-Judentums. Die in der auf die Niederschlagung von Aufständen gegen die römische Besatzung und die Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.) folgenden Zeit in asiatische, afrikanische und europäische Länder geflohenen und emigrierten Juden hätten sich nie in die sie umgebenden Gesellschaften integriert und seien darum stets Fremde geblieben, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen – was insofern stimmt, als sowohl in christlichen wie muslimischen Ländern die Angehörigen anderer Religionen nicht integriert wurden. Dass die Pflege einer eigenen Religion, die aufgenötigte soziale Separierung in sogenannten Ghettos die verschiedenen Formen antijüdischen Furors zur Folge gehabt hätten, ist wiederum die Übernahme antisemitischer Legitimationsrhetorik als "Erklärung" (die Juden haben sich nicht anpassen wollen) und die Uminterpretation eines Teils der Verfolgung als Ursache ihrer selbst. Die Separierung ist ja Teil einer Misstrauens- und Überwachungsobsession, nicht deren Ursache, und in der Praxis ihre Verstärkung.

Alle diese scheinbaren Erklärungen des Antisemitismus setzen als gegeben und nicht weiter erklärungsbedürftig voraus, was eigentlich erklärt werden soll: dass Juden eben verfolgt werden. Entweder liegt es an irgendeiner Eigenschaft, die einsehbarerweise alle anderen gegen sie aufbringt, oder es wird ein Moment aus der Geschichte der Verfolgung selbst genommen, das als Ursache der Verfolgung ausgegeben wird. Am Ende aller hilflosen Erklärungsversuche steht der Witz: "‚Die Juden sind unser Unglück!‘ ‚Nein, die Radfahrer!‘ ‚Wieso die Radfahrer?‘ ‚Wieso die Juden?‘"

Für Antisemiten ist der Antisemitismus eine Evidenz. Es war schon immer so, weil die Juden eben sind, wie sie sind, und das zeigt sich daran, dass wir Antisemiten sie immer schon gehasst haben. Das geht bis zu schauerlichen Lächerlichkeiten wie dem Satz, der in einer Gruppendiskussion des Frankfurter Instituts für Sozialforschung fiel, die Geschichte von den zur Schabbat-Feier geschlachteten Christenkindern könne nicht falsch sein, weil sich doch niemand sowas ausdenke. Die Juden werden zu Recht verfolgt, denn so böse können wir ja nicht sein, dass wir sie grundlos verfolgten. Sie hassen uns, sie wollen uns vernichten, darum müssen wir ihnen zuvorkommen. 1944 liest Victor Klemperer in der "Dresdner Zeitung": "Der Feind will uns ganz vernichten, von wahnwitzigen jüdischen Haßphantasien getrieben."

Die Versuche, die nationalsozialistische Diskriminierungs-, Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zu erklären, ohne sie als Kumulationspunkt einer zweitausend Jahre alten europäisch-christlichen Obsession zu verstehen, zeigen in besonderer Weise die Hilflosigkeit der Versuche, den Antisemitismus zu "erklären", indem man nach einer besonderen Ursache für ihn sucht. Alles Mögliche soll die europaweite Verfolgung und Ermordung der Juden gewesen sein – nur kein Hass auf die Juden. Sie sei – zum Beispiel – Bevölkerungspolitik gewesen, also die Idee großräumiger Neuordnung Europas nach ethnischen Gesichtspunkten. Gewiss gab es solche Raumplanungen, gewiss war die Umsiedlung von Juden von hier nach da Bestandteil dieser Planungen – aber die sich dann anschließende Frage, warum es denn allein die Juden gewesen waren, die man ghettoisiert und dann zu Millionen ermordet hatte, fällt dabei unter den Tisch, oder es wird etwas wie "Gewiss, der Antisemitismus spielt auch eine Rolle" nachgeschoben. Dass nicht-jüdische Deutsche von dem durch Deportationen freiwerdenden Wohnraum profitiert hätten – wer will das bestreiten? Aber die "Erklärung" eines millionenfachen Mordes wäre Wohnraumbeschaffung gewesen?

Bei solchen Erklärungsversuchen wird immer wieder übersehen, dass menschliches Handeln nicht säuberlich in Zweck und Mittel zerfällt. Gewiss ist ein Raubmord auch eine Geldbeschaffung, aber ein Mord ist nicht einfach ein Mittel zur Geldbeschaffung. Der Raubmörder wählt diese Tat (und keine andere), und sie hat verschiedene Aspekte, von denen die Geldbeschaffung einer ist. Welche anderen noch erwähnenswert sind, um ein komplettes Bild der Tat zu bekommen, versucht man vor Gericht zu klären, und ein Teil dieser Klärung kann ein psychologisches Gutachten sein – jedenfalls wird man der Lebensgeschichte dessen, der die Tat begangen hat, Aufmerksamkeit widmen. Menschen setzen sich nicht irgendwelche Zwecke nach individueller Präferenz und sichten dann vor dem inneren Auge die möglichen Mittel zu ihrer Erreichung – jedenfalls nicht in der nahezu unendlichen Spannweite des Möglichen. Was als "möglich" überhaupt in Erwägung gezogen wird, hängt von vielem ab, nicht zuletzt von gesellschaftlichen wie individuellen Normen und Wertmaßstäben.

Lassen Sie mich das an einem bewusst krass konstruierten Beispiel verdeutlichen. Ein Mensch schlägt einem anderen mit einem Hammer den Schädel ein. Als Begründung für sein Handeln gibt er an, er habe eine Fliege auf der Stirn des anderen töten wollen. Wir würden nicht sagen, er habe zu einem ungewöhnlichen Mittel gegriffen, ebenso wenig wie wir sagen würden, jemand, der sagt, 2 mal 2 sei 324, habe sich verrechnet. Wer sagt, 2 mal 2 sei gleich 324, tut irgendetwas Merkwürdiges, jedenfalls teilt er uns nicht das Ergebnis eines Rechenvorgangs mit. Wer einem Menschen den Schädel mit einem Hammer einschlägt, tötet damit auch dann, wenn dabei eine Fliege ums Leben kommt, nicht in erster Linie eine Fliege, und der Rest ist irgendwie dabei "passiert".

Der Mord an Millionen von Menschen, die Juden waren, ist nicht wegen irgendeines damit verfolgten anderen Zieles unternommen worden, sondern er wurde unternommen, weil man diesen Mord wollte – und es gab alle möglichen Dinge, die in seinem Vollzug miterledigt wurden. Man verschaffte sich Haare für Matratzen, schmolz Zahngold ein, Topf & Söhne verkaufte Krematorien, IG Farben plante, einen Großbetrieb in Auschwitz zu errichten, nicht-jüdische Deutsche und Österreicher zogen in leere Wohnungen ein und kauften billig "Judenmöbel", die auch so hießen. Das war ein (sollen wir es so nennen?) Kollateralnutzen. Aber all das war keine "Ursache", nichts, was zur "Erklärung" herangezogen werden könnte. Natürlich fiel bei den antijüdischen Pogromen, die sich in West- und Osteuropa über die Jahrhunderte immer wieder ereigneten, Plündergut an, gewiss haben manche an den Pogromen teilgenommen, weil es für sie "etwas zu holen" gab, aber nicht deswegen ist es zu diesen Pogromen gekommen.

So, wie in der langen Geschichte antijüdischer Verfolgungspraxis sich alle möglichen Zusatzzwecke wie Raub, Plünderungen etc. angliedern, können sich auch alle möglichen sonstigen weltanschaulichen Versatzstücke angliedern. So gibt es einen antikommunistischen Antisemitismus, einen antikapitalistischen, einen damit verbundenen antiamerikanischen, einen Antisemitismus, der die Juden als Anhänger einer rückständigen, verbohrten Religion ansieht, wie einen Antisemitismus, der die Juden als Protagonisten einer seelenlosen Moderne versteht. Es gibt rechten und linken, religiösen wie areligiösen Antisemitismus, es gibt Antisemitismus in Ländern, in denen Juden leben, und Antisemitismus in Ländern, in denen keine Juden leben. Man warf den Juden vor, assimilierungsfeindlich zu sein, und man warf ihnen vor, sich durch Assimilation unkenntlich zu machen. Juden seien intelligent, aber nicht produktiv intellektuell, sondern zersetzend, sie seien in den Künsten erfolgreich, aber nicht musisch, und wenn sie in den Künsten reüssierten, sei es auf falsche, nämlich jüdische, also im Grunde antikünstlerische Weise. Und immer wieder seien die Juden hier und da überrepräsentiert. Lassen Sie mich noch einmal Sartre anführen: Wenn man in Frankreich darauf käme, die Bretonen seien, sagen wir mal: unter der Ärzteschaft besonders stark zahlenmäßig vertreten, würde man stolz auf die Bretonen sein. Bei den Juden ist das doch "irgendwie" ein Problem.

Wer sind "die Antisemiten"?

Es liegt an der Geschichte des Antisemitismus selbst, dass es keinen Sinn hat, nach Erklärungen zu suchen, die ihn jenseits seiner Beharrlichkeit, seiner in der Geschichte herausgebildeten Adaptions- und Integrationsfähigkeit auf irgendetwas "zurückführen". Gewiss hat seine Geschichte einen Anfang, aber der Anfang begründet nichts, außer dass er etwas in Gang gesetzt hat, das seine eigene Überlebensfähigkeit aus sich selbst gewonnen hat. Hier berührt sich der Antisemitismus mit seiner Legitimationsrhetorik mit der Analyse des Antisemitismus, die Abschied nimmt von der Suche nach dem, "was es nun endlich erklärt". Die Legitimationsrhetorik des Antisemitismus kommt am Ende immer auf sich selbst zurück, die Analyse des Antisemitismus auch. Bei einer so langen Erfolgsgeschichte können wir uns doch nicht irren, an den Juden muss doch etwas sein, sagt der Antisemit; und die Antwort kann nur sein: Bei einer so langen barbarischen Geschichte muss doch etwas an den Antisemiten dran sein. Die Geschichte des Antisemitismus ist die Geschichte der Antisemiten.

"Der Jude" ist eine Erfindung des Antisemiten, aber gibt es "den Antisemiten"? Schon wenn man die Führungsriege des sich selbst so genannt habenden "Dritten Reichs" betrachtet, sieht man nicht unbedeutende Unterschiede. Hitler war ein fanatischer Antisemit – womit ich meine: Der Hass auf die Juden war für ihn ein Lebensthema, ohne ihn wäre er in der NSDAP vielleicht nur ein Thema unter anderen gewesen, ohne Hitler keine Shoah. Göring war an solchen Fragen weniger interessiert, für ihn war die Politik Mittel zu Ruhm, Prunk und Macht. Als allerdings nach den "Kristallnacht" genannten Pogromen des Jahres 1938 über neue Maßnahmen gegen Juden nachgedacht wurde, tat er sich durch fürchterlich gutgelaunte Vorschläge hervor. Ähnlich wird man in der gesamten deutschen und österreichischen Bevölkerung differenzieren können: Eine recht kleine Gruppe sind radikale Antisemiten, die nahezu zwanghaft auf dieses Thema zu sprechen kommen, nicht unähnlich Paranoikern, die nicht davon ablassen können, darüber nachzudenken, was ihre Verfolger im Schilde führen – und andere von der Realität ihrer Phantasien zu überzeugen versuchen. Eine große Gruppe, vielleicht die Mehrheit, man könnte sie mit einem gewissen Zögern "normale Antisemiten" nennen, haben die Wahrnehmungs- und Denkmuster des antijüdischen christlichen Abendlandes übernommen, gehen davon aus, dass es etwas wie ein "jüdisches Problem" gibt, und können, wenn man sie fragt, auf eine etwas unkonzentriert-fahrige Weise darüber Auskunft geben. Man könnte sie als "antisemitische Schläfer" bezeichnen. Wenn die radikale Minderheit den Ton angibt, stimmen sie ein, bereitwillig die einen, eher zögernd die anderen. Eine Minderheit gibt es schließlich, die ausdrücklich keine Antisemiten sind, bewusst sich fernhalten von judenfeindlichem Geschwätz und Aktionen gegen Juden. Ob sie einfach beiseite gehen oder ihr Nicht-Mittun demonstrativ inszenieren, hängt vielleicht nur vom individuellen Mut ab.

Man hat oft betont, dass die Wähler der NSDAP "nicht alle Antisemiten" gewesen wären, und das ist richtig, wenn man unter "Antisemiten" nur jene versteht, die ich "radikale Antisemiten" genannt hatte. Man muss aber bedenken, dass alle die, die keine radikalen Antisemiten waren, aber die NSDAP wählten, aus was für Gründen auch immer eine Partei wählten, die eine Gruppe ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Diskriminierung, Verfolgung und Mord bedrohte. Angesprochen darauf hätten die meisten von ihnen etwas gesagt wie "So redet man eben" oder "Das ist doch nicht so gemeint", oder was man eben so sagt, wenn man die eigene geheime Billigung als Gleichgültigkeit kaschieren möchte.

Die Frage, die heutzutage gern gestellt wird, ob jemand "ein Antisemit sei" oder nicht, ist keine vernünftige Frage. Es geht nicht darum, zu beurteilen, ob etwas "schon" oder "noch nicht" antisemitisch sei, und im einen Fall zu verurteilen, im anderen mit Nachsicht zu behandeln. Ich habe Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" einen "antisemitischen Affektsturm" genannt, damit aber nicht Martin Walser einen Antisemiten. Dadurch, dass ich ihn keinen Antisemiten genannt habe, wird aber der Roman, der voller antisemitischer Ressentiments steckt, um keinen Deut weniger widerlich.

Ein neues Kapitel

Ich habe die Eigenschaft des Antisemitismus erwähnt, sich an nahezu beliebige politische oder weltanschauliche Denkweisen anzuschließen. Seiner diesbezüglichen Erfolgsgeschichte ist jüngst ein neues Kapitel hinzugefügt worden, das des "Postkolonialismus". Der politisch aktivistische Postkolonialismus lässt sich so verstehen, wie der Philosoph Odo Marquard die 68er-Bewegung verstand, als "nachgeholten Ungehorsam". Eine neue Generation bezieht ihre Identität aus der radikalen Kritik der Fehler und Verbrechen einer voraufgegangenen – im Falle der 68er der Vätergeneration, im Falle des Postkolonialismus der Ur- und Ururgroßvätergenerationen. In beiden Fällen wurde die politische Gegenwartswirklichkeit als Bemäntelung des Fortwirkens, ja Fortexistierens der Vergangenheit interpretiert, und zwar in mancher Hinsicht zweifellos zu Recht.

Was uns hier interessieren muss, ist das Folgende: Sowohl bei den "68ern" wie bei den "Postkolonialen" hat der Antisemitismus auf erschreckende Weise, sagen wir: angedockt. Im ersteren Fall wurde die Rolle des genozidalen Antisemitismus im Nationalsozialismus im Namen einer marxistischen, auf eine Theorie der Klassenverhältnisse reduzierten Auffassung von "Faschismus" marginalisiert. So, wie man meinte, die Judenverfolgung habe vom Klassenkampf ablenken wollen, war man der Auffassung, die Thematisierung des (damals noch nicht so genannten) Holocaust lenke von den gegenwärtigen politischen/klassenkämpferischen Aufgaben ab. Wie die Behauptung, man thematisiere den Mord an sechs Millionen Juden zu sehr, zu einer neuen Art von unmittelbar antijüdischer Rhetorik führte, zeigt etwa die Rede von den "vergessenen Opfern des Nationalsozialismus", womit zunächst die unbestreitbare Tatsache gemeint war, dass lange Zeit die Verfolgung von Sinti und Roma, Homosexuellen, sogenannten Asozialen und anderen Gruppen nicht thematisiert worden war. Aber anstatt die Gründe dafür in gegenwärtigen, weiterhin vorhandenen Ressentiments zu suchen, wurde die Bemühung um historische Sichtbarmachung dieser Verfolgungsgeschichten begleitet von der teils diffusen, teil explizit vorgetragenen Ansicht, das internationale Judentum habe sich, dank geschickter Lobbyarbeit, gewissermaßen vorgedrängt.

Ein zugegebenermaßen besonders krasses Beispiel für das Bestreben, die Bedeutung der antijüdischen Verfolgungsgeschichte zu bagatellisieren, indem man die kolonialen Verbrechen gegen sie ausspielt, ist Jacques Vergès, der Verteidiger des SS-Mörders Klaus Barbie. Vergès zog seine Strategie vor Gericht als Kolonialismuskritik auf und argumentierte, der Nationalsozialismus sei gleichsam das kleinere Übel und angesichts der kolonialen Verbrechen vernachlässigenswert. Ein weiteres Beispiel ist der Deutsche Dieter Kunzelmann, Mitglied der "Kommune I", später kurzzeitig in einem militärischen Ausbildungscamp der Fatah, in den 1980er Jahren Abgeordneter der Alternativen Liste in der Berliner Bürgerschaft, der den Brandanschlag auf ein jüdisches Altersheim 1970 als "antizionistische Tat" bezeichnete und ein Jahr zuvor in einem offenen Brief schrieb, die bundesrepublikanische Linke leide an einem "Judenknax": "Wenn wir endlich gelernt haben, die faschistische Ideologie ‚Zionismus‘ zu begreifen, werden wir nicht mehr zögern, unseren simplen Philosemitismus zu ersetzen durch eindeutige Solidarität mit der AL FATAH, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von Gestern und Heute und seine Folgen aufgenommen hat." Die Folge des "Dritten Reiches von Gestern" im Nahen Osten war offensichtlich Israel und das "Dritte Reich von Heute" ebenfalls. Das einzusehen verhindere die deutsche Fixierung auf die Shoah – heute formuliert man denselben Gedanken so: "Free Palestine from German Guilt". Die "Solidarität" mit der Fatah ist heute durch die mit der Hamas ersetzt worden – zögerlich nach dem Massenmord vom 7. Oktober 2023, zunehmend offensiver in den Wochen danach.

Ähnlich falsch wie die Frage, ob etwas oder jemand "schon" oder kein Antisemit "sei", ist die Frage, ob "Israelkritik" "bereits" Antisemitismus sei oder "ab wann" sie es sei. Sieht man einmal vom merkwürdigen Ausdruck "Israelkritik" ab, in dem doch immer der Zweifel an der Berechtigung der Existenz des Staates Israel mitschwingt, so geht es auch hier nicht um die Frage der so oder so beschaffenen Rubrizierung, sondern um die Frage, welcher Argumentationsmuster sich eine bestimmte politische Agitation bedient, welche Affekte sie stimuliert. Wer die Hamas eine "Befreiungsorganisation" nennt, wo von den angeblichen Befreiungskämpfern selbst nicht von Befreiung, sondern von Zerstörung die Rede ist, verleugnet oder verbreitet Lügen über das, was sie nach eigenem Bekunden ist: eine Organisation, deren Feind das internationale Judentum ist. Wer den Massenmord der Hamas im Oktober 2023 mit nachdenklichen Vokabeln weichzeichnen möchte, der zeigt vor aller Welt, dass es ihm – wie der Hamas – darum geht, dass es einen jüdischen Staat, der sich gegen die, die seine Zerstörung und die Ermordung und Vertreibung seiner Bevölkerung planen, verteidigen kann, nicht geben soll. Sie gehen dabei so weit, dass sie sich solidarisch erklären mit einer religiös fanatischen Mörderbande, die alle Ideale bekämpft, die von ihnen doch sonst hochgehalten werden, und die sich im Oktober gezeigt hat als das, was sie von Anfang an war: fanatische, antisemitische, misogyne, homophobe Mörder aus Spaß an der Sache, die aus diesem Geiste eine religiöse Tyrannei errichten wollen.

Dass es hierzulande Menschen gibt, die sich für Vertreterinnen oder Vertreter humaner Ideale halten und doch solche Sympathien hegen, ist leider nicht erklärungsbedürftig. Dahinter steckt nichts, es ist bloß die Fortsetzung der langlebigsten, längst nicht mehr nur abendländischen Obsession, die so bösartig und verrückt ist, weil es in ihr einen Konsens gibt, so bösartig und verrückt könne man doch nicht ohne Grund sein. Es gibt das: gern in schlechter Gesellschaft sein. Es gibt Leute, die nicht trotz, sondern wegen ihrer Vulgarität und offensichtlichen Gefährlichkeit zu Anführern gewählt werden. Man erklärt sich nicht solidarisch mit einer Mörderbande, wenn man nicht ihre Mordaktionen billigt. Freud nannte es "Unbehagen in der Kultur", sagen wir: Unbehagen an der Kultur, oder: lustvolle Selbstbarbarisierung. Der Antisemitismus ist ein Angebot, Mitglied einer internationalen Ressentimentgemeinschaft zu sein, ungetadelt und ungehemmt bösartig zu sein und die Schranken der Zivilisation einzureißen.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version eines Vortrags, den der Autor am 15. Januar 2024 an der Universität für angewandte Kunst in Wien gehalten hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Theodor W. Adorno, "Die autoritäre Persönlichkeit", in: ders., Vorträge 1949–1968, Frankfurt/M. 2019, S. 259 (Adorno zitiert aus dem Protokoll 34 des "Gruppenexperiments").

  2. Zit. nach Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 430.

  3. Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Ein antisemitischer Affektsturm. Über Martin Walsers "Tod eines Kritikers", in: ders., Schriften zur Literatur, Bd. 3, München 2015, S. 383–394.

  4. Zit. nach Ronen Steinke, Terror gegen Juden, Berlin 2020, S. 68.

ist Professor für Neuere deutsche Literatur sowie Gründer und Vorstand der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, der Arno Schmidt Stiftung und Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Zivilisationstheorie und die Geschichte der menschlichen Destruktivität.