In der bundesrepublikanischen Verfassungsgeschichte ist kein Wort im Grundgesetz so kontrovers diskutiert worden wie das der "Rasse". Die Forderung, den Begriff aus dem Grundgesetz zu streichen oder ihn zu ersetzen, kam im parlamentarischen Kontext, in Fachkreisen und mit vereinzelter Unterstützung aus der Zivilgesellschaft immer wieder auf. Aktuell wird sie insbesondere von den Grünen, der SPD, der Linken und der FDP erhoben.
Eine Erweiterung des Kreises der Verfassungsinterpret*innen ist aus demokratietheoretischer Perspektive zu begrüßen. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob eine Streichung oder Ersetzung des Wortes den Errungenschaften der Menschenrechte und der sonst so hoch angesehenen Verfassungsdogmatik gerecht wird. Bei vielen, auch juristischen Stimmen, die dies befürworten, scheinen diese Aspekte kaum eine Rolle zu spielen. Wie gut gemeint sie auch sei: Antidiskriminierungsrechtlich und rassismustheoretisch ist diese Forderung fahrlässig, besorgniserregend und gar reaktionär.
Rechtsbegriff gegen Rassismus
Die Debatte dreht sich nicht um die Frage, ob der Schutzbereich des in Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz (GG) enthaltenen Verbots einer Benachteiligung aufgrund von Rasse erweitert oder eingeschränkt werden soll. Vielmehr handelt es sich um eine Forderung, die eine Streichung oder einen Ersatz des Begriffs als eine redaktionelle Verbesserung des Grundgesetzes aufführt und damit eine sprachliche Vollendung des Antidiskriminierungsrechts vortäuscht.
Dieser Forderung liegt die Theorie zugrunde, nach der Sprache Wirklichkeiten erzeuge.
Der Antirassediskurs überträgt diese Sprechakttheorie auf den Rassebegriff. Die Erwähnung von "Rasse" im Grundgesetz rufe die Idee hervor, dass Grundrechtsträger*innen eine biologische Rasse haben (müssten), wodurch der längst widerlegten Theorie der Existenz von Menschenrassen Vorschub geleistet werde. Dieses Argument mag zwar zunächst einleuchten, erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als trügerisch. Es missachtet die Mehrschichtigkeit des Rechts und verkennt den Entstehungskontext des Grundgesetzes. Die Forderung berücksichtigt zudem nicht, dass Rechtsbegriffe erst durch eine Interpretationsleistung ihre Bedeutung, ihren Inhalt und ihre Vitalität erlangen. Sie können in der Rechtsanwendung demnach nicht nach Belieben ausgelegt werden. Das Grundgesetz ist nur die Grundlage, die durch die Rechtsdogmatik mit Leben gefüllt wird. Daher wäre es in der Debatte nur folgerichtig, die Rechtswissenschaft und (wenigstens) die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ernst zu nehmen. Mehr noch, die Forderung geht von der Prämisse aus, dass Gesetzestexte eindeutig formuliert und naturwissenschaftlich begründet sein müssen. Bereits die Erwähnung von "Gott" im ersten Satz der Präambel des Grundgesetzes zeigt jedoch, dass dieses keiner naturwissenschaftlichen Logik folgen muss: Die Existenz eines Gottes ist weder verifiziert noch falsifiziert.
Die Forderung nach der Streichung des Rassebegriffs verspricht eine Signalwirkung und Steuerung der Rechtssprache. Der juristischen Sprache wird dabei auf sehr suggestive beziehungsweise spekulative Weise Wirkmächtigkeit zugeschrieben. Dabei wird das Recht als ein statisches und geschlossenes Sprachsystem gesehen. Gerade juristische Auslegungsmethoden knüpfen aber an ein dynamisches Verständnis von Rechtstexten an.
Das Hauptproblem des Antirassediskurses bleibt jedoch verfassungsdogmatischer Natur. Durch die Fixierung auf den Begriff wird übersehen, dass Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 GG nicht isoliert von Rasse spricht, sondern vielmehr das Verbot der Benachteiligung aufgrund dieser Zuschreibung regelt. Rasse und ethnische Herkunft sind Diskriminierungsgründe, die – zusammen mit Religion und Geschlecht – in nahezu allen verfassungs-, völker- und europarechtlichen Antidiskriminierungsrechtsregimen gegenwärtig sind. Seinen Eingang in das Antidiskriminierungsrecht fand der Rassebegriff 1949 durch das Grundgesetz und 1950 durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Ethnische Herkunft wurde in dem 1965 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) als Diskriminierungsmerkmal festgeschrieben. Heute ist das Diskriminierungsverbot fester Bestandteil des Europarechts. Auch wenn der Rassebegriff aus dem Grundgesetz verschwinden würde,
Das Diskriminierungsverbot aufgrund von Rasse ist die Konkretisierung der unantastbaren Menschenwürde, die die Abkehr vom Nationalsozialismus festschreibt. Die Verfassungsdogmatik verbietet es, diese enge Verbindung auszuklammern. Das Bundesverfassungsgericht fasste dies 2017 wie folgt zusammen: "Menschenwürde ist egalitär, sie gründet ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht."
Genau hierin liegt auch der Unterschied zwischen dem Unrechtsbegriff der Nürnberger Rassengesetze und dem Gleichheitsbegriff des Grundgesetzes. Während die Nürnberger Rassengesetze ein Beispiel für Rassismus im und durch Recht sind, bildet der Rassebegriff des Grundgesetzes im Tatbestand des Diskriminierungsverbots das Herzstück eines postnationalsozialistischen Rechts gegen Rassismus. Das Wort "Rasse" ist dabei kein böses Relikt des Nationalsozialismus, sondern ein notwendiges Anknüpfungsmerkmal im Streit gegen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus.
Rasse als soziales Konstrukt
Dass Rasse im Alltag wirkt, liegt nicht an ihrem Sprachgebrauch, sondern im Konzept der Rasse selbst. Zu diesem Ergebnis kommt der Soziologe Stuart Hall, der Rasse (race) als diskursives Konstrukt versteht. Hall zufolge gehöre diese zu jenen Leitideen, die die großen Klassifikationssysteme der Differenz organisieren, die in der menschlichen Gesellschaft wirksam sind.
Nicht nur Polizist*innen, sondern wir alle sind in unserem Alltag ständig in rassische und ethnische Praktiken involviert, sobald wir Menschen als Schwarz, jüdisch, kurdisch, arabisch oder als Roma sehen. Unsere Körper sind Bedeutungsträger von Rasse, die jedoch nicht nur bei Fremdzuschreibungen aufrechterhalten wird, sondern auch bei Selbstidentifikationen. Black Lives Matter, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland sowie die Initiative Schwarze Frauen in Deutschland sind Beispiele dafür, dass rassische Identifikationen auch durch die betroffenen Gruppen im emanzipatorischen Sinne vollzogen werden können. "Schwarz" hat längst einen Bedeutungswandel erfahren. Hier wird deutlich, dass Rasse eine allgegenwärtige soziale Kategorie ist und nicht jeder Bezug auf diese auch rassistisch sein muss.
Stuart Halls Bezeichnung weist auch auf die gleitende Eigenschaft von Rasse hin. Der Gedankengang von Rasse kann auch in Ethnizität, Religion und Nation auftreten, sodass auch diese Kategorien Momente der Essenzialisierung und Naturalisierung vorweisen können. Im gegenwärtigen Antirassediskurs kommen diese Aspekte zu kurz, wodurch es überzeugender erscheinen mag, Rasse zu einem Kategorienfehler zu stilisieren, der mit einer Streichung eines Wortes beseitigt werden könne.
Halls Theorieansatz zeigt nicht nur die Hartnäckigkeit der "biologischen Spuren"
Wer einschlägige Beispiele für das verhängnisvolle Dreieck zwischen Rasse, Ethnizität und Nation und deren biologistische Verdichtungen sucht, braucht erst gar nicht in Stuart Halls Gedankenwelt zu suchen. Man wird auch im Grundgesetz fündig. So geht Artikel 116 Absatz 1 GG davon aus, dass Deutsche*r im Sinne des Grundgesetzes ist, "wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat". Hier wird deutlich, dass dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht ein Konzept des "ethnisch Deutschen" mit zugrunde liegt, das mit der aus dem Rassekonzept übertragenen Naturalisierung deckungsgleich ist. Es verwundert daher, dass die Forderung nach der Streichung von "Rasse", die ihre Überzeugungskraft aus der Annahme zu schöpfen sucht, dass dieser Begriff einen unzulänglichen Biologismus fördere, nicht auch die Regelung nach "Statusdeutschen" in Artikel 116 Absatz 1 GG ins Visier nimmt. Allein den Rassebegriff als vergiftet und antiquiert abzustempeln und zu verwerfen, weil er biologistische Konnotationen habe, aber gleichzeitig das Abstammungsprinzip im Grundgesetz nicht zu thematisieren, wirkt nicht glaubwürdig.
Solange diese Widersprüche, die Mehrschichtigkeit, die juristische Komplexität und die soziale Ambivalenz des Konzepts der Rasse nicht zur Sprache kommen, muss jeder Versuch, den Begriff streichen oder ersetzen zu wollen, als kontraproduktive Symbolpolitik zurückgewiesen werden.
Mangel an Interdisziplinarität
Wo ein interdisziplinärer Austausch augenscheinlich stattfindet, ist dennoch eine Asymmetrie zu beobachten. Im Antirassediskurs gibt es bisher kein Zeichen dafür, dass die Humangenetik, die Linguistik, die Ethnologie und die Soziologie sich für rechtswissenschaftliche und verfassungsdogmatische Erkenntnisse aufgeschlossen zeigen. Fraglich erscheint es etwa, wenn deutsche Genetiker ohne einen interdisziplinären Dialog den "Nichtgebrauch des Begriffes Rasse" in den Wissenschaften fordern.
Auch die Erkenntnisse der Rassismusforschung kommen im Antirassediskurs zu kurz. Zwar kann die historische Tabuisierung von Rasse nachvollziehbar sein, im Kontext von wissenschaftlichen Analysen sollte sie aber nicht verschwinden. Für die Analyse von Rassismus ist "Rasse" im Sinne einer sozialen und performativen Kategorie (noch) hoch relevant, weil die Begrifflichkeit ein hohes Erklärungspotenzial in sich birgt. Dabei soll und muss nicht auf weitere Kategorien verzichtet werden. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, welche Funktion und Bedeutung Merkmale wie Rasse und ethnische Herkunft im Rahmen des Antidiskriminierungsrechts erlangen. Zudem muss eine Auseinandersetzung mit Rasse im Sinne von Intersektionalität auch andere Diskriminierungsmerkmale einbeziehen.
Um ein weiteres Missverständnis anzusprechen: Nicht Rasse produziert Rassismus, sondern Rassismus perpetuiert Rasse. Rasse ist eine Auswirkung von Rassismus, das Ergebnis von Rassifizierungen in einem rassistischen Kontext und hat wiederum Auswirkungen auf das Leben, den Körper, den Alltag und die Identität. Daher kann in einer zutiefst rassialisierten Gesellschaft das "Jenseits-von-Rasse-Denken", also das postkategoriale Denken, nur utopisch erscheinen. Solange Rassismus existiert, kann und sollte der Begriff "Rasse" nicht obsolet sein.
In der deutschsprachigen Rassismusforschung ist der Begriff zugegebenermaßen unterbeleuchtet. Der analytische Unterschied zwischen Rasse und Rassismus kommt kaum zur Geltung. Zwischen beiden liegen Nuancen, die es uns verbieten, jeden Bezug auf Rasse als Rassismus abzustempeln oder Rassismus nur an Rasse festzumachen. Rasse ist mehr als Rassismus: Sie ist ein Ordnungsprinzip. In der internationalen Forschung ist es kein Zufall, dass es Bezeichnungen wie racial contract, racial knowledge, racial power gibt und nicht bloß das Wort racist. Wer in Deutschland gegen den Rassebegriff ist, hat in den vergangenen Jahrzehnten entweder die internationale Fachliteratur übersehen beziehungsweise ignoriert oder entscheidet sich bewusst für einen deutschen Provinzialismus. Vielleicht gar beides.