Rassismus und Rechtsextremismus sind integrale Bestandteile des vereinigten Deutschlands. Das zeigen unter anderem die Pogrome der 1990er Jahre, die Mordserie der Terrororganisation NSU, wiederkehrende Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte oder Hunderte Todesopfer rechtsextremer Gewalt in den vergangenen drei Jahrzehnten
Auch wenn Rassismus und Rechtsextremismus überproportional Personen mit Migrationsbiografien als Zielscheibe haben, ist es bei der Frage nach dem Umgang mit dieser Bedrohung sinnvoll, postmigrantische Perspektiven einzubringen, die Rassismus nicht ausschließlich mit Migrationsabwehr, Feindlichkeit gegenüber Geflüchteten oder Analysekategorien wie "Ausländer-" und "Fremdenfeindlichkeit" gleichsetzen. Während Letztere als Begriffe der deutschen Debatten "zuweilen dazu bei[tragen], rassistische Normalität zu de-thematisieren und gesellschaftlicher Kritik zu entziehen",
Dieser Beitrag geht in einem ersten Schritt auf historische und zeitgenössische Definitionen und breitere Adaptationen des Begriffs "Rassismus" ein. In einem zweiten Schritt werden konzeptionelle Schwierigkeiten aufgezeigt. Abschließend wird diskutiert, warum in einer Gesellschaft, die sich zunehmend pluralisiert, und in der etablierte binäre Trennlinien unscharf werden, rassistische Konstruktionen immer noch so stark an migrantische Zugehörigkeitsordnungen geknüpft sind, und wie dies überwunden werden kann.
Historische und zeitgenössische Einordnung
Viele Jahre wurde der Begriff "Rassismus" vor allem als ein Vorurteil oder als individuelle, abwertende Einstellung gegenüber anderen Personen aufgrund ihrer Hautfarbe gedeutet. Er verknüpfte sich über Kolonialdiskurse und die Geschichte der Versklavung Schwarzer Menschen aus Afrika mit einer biologistischen Determination, die jahrhundertelang wirkmächtig war und bis heute ist. Der Kolonialismus nutzte das Konzept der Rassifizierung zur Klassifizierung, um Sklaverei, Ausbeutung, Herrschaft und Gewalt gegen nicht Weiße Völker mittels einer biologischen Herabsetzung zu legitimieren. Da es nicht zum christlichen Ethos und zur Grundlage der Aufklärung passte, nach der Entwicklung universeller Menschenrechte andere Geschöpfe Gottes beziehungsweise potenziell "Gleiche" zu misshandeln, wurden "Legitimationslegenden" geschaffen, die nicht Weiße als eigene, niedrigere "Rasse" konstruierten, beschrieben und katalogisierten, deren Behandlung nicht analog zu Weißen erfolgen müsste.
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts weitete sich die Perspektive auf Rassismus von individuellen, explizit abwertenden Einstellungen auf eher implizite Vorurteile und Prozesse, Diskurse und subtilere Ausschließungsprozesse aus,
Rassismus gilt heute als eine hierarchisierende Bewertung sozialer Gruppen, die für diese Gruppen nicht nur affektive, sondern auch politische, gesellschaftliche, gesundheitliche und wirtschaftliche Konsequenzen hat und systematische Ausschlüsse aus Positionen, die gesellschaftliche Strukturen verändern könnten, produziert. Im Kern ist Rassismus somit eine Dominanzstruktur,
Rassismus als Ordnungssystem
Es reicht daher nicht aus, rassistische Einstellungen oder individuelle Betroffenheit zu ächten. Es sollte vielmehr anerkannt werden, dass Rassismus als System sowohl intentional als auch nicht-intentional auf einer institutionellen und strukturellen Ebene über Generationen wirkt, Personen und Gruppen benachteiligt, sie aus zentralen gesellschaftlichen Prozessen und Positionen ausschließt, ihnen Zugang zu wichtigen Gütern und Ressourcen wie zum Beispiel Bildung, Arbeit und Gesundheit verwehrt – und sie im schlimmsten Fall sogar tötet. Laut dem Soziologen Stuart Hall werden die Mechanismen des institutionellen Rassismus in den Organisationstrukturen "auf informellen und unausgesprochenen Wegen durch ihre Routinen und täglichen Verfahren als ein unzerstörbarer Teil des institutionellen Habitus weitergegeben. Diese Art von Rassismus wird Routine, gewohnt, selbstverständlich."
In einem ersten Schritt werden Menschen beziehungsweise Menschengruppen aufgrund von Merkmalen, die je nach historischem Kontext unterschiedlich gewählt werden können, als homogene Gruppen dargestellt und eingeteilt.
In einem zweiten Schritt – oftmals als Rassifizierung bezeichnet
In einem dritten Schritt findet schließlich eine Hierarchisierung
Die Sozialpsychologin Birgit Rommelspacher konstatierte 2004, dass es bei der "Markierung von Unterschieden" entscheidend sei, dass "die Gruppen aufgrund willkürlich gewählter Kriterien gebildet werden (…), und dass mit diesen Einteilungen eine bestimmte Zielsetzung verfolgt wird".
Kultur als rassifizierter Bedeutungsträger
Neben dem nach wie vor virulenten – aber zumindest öffentlich geächteten – biologistischen Rassismus, bei dem angebliche menschliche Eigenschaften im Körper lokalisiert und als erblich betrachtet werden, lässt sich in der internationalen Forschung in den vergangenen Jahrzehnten durchweg ein Trend zur Kulturalisierung von Rassismus beobachten.
Anhand der genannten Bedeutungsträger wird also sozialen Gruppen ein Set an vermeintlichen Eigenschaften und Mentalitäten zugewiesen, die als nicht oder wenig veränderbar betrachtet werden und mit denen Individuen auf bloße Exemplare vermeintlich homogener Gruppen reduziert und als "Andere" betrachtet und behandelt werden dürften – mit allen Konsequenzen, die dies für ihren Ausschluss aus gesellschaftlichen, strukturellen und institutionellen Zusammenhängen hat.
Es ist wichtig diese Transformation(en) sichtbar zu machen, weil sie auf den relationalen und adaptiven Charakter von Rassismus hinweisen, darauf also, dass es sich hier nicht um "überkommenes Denken" handelt, sondern um eine Form der Machtausübung, die mit anderen Dimensionen gesellschaftlicher Beziehungen, zum Beispiel Sexismus oder Klassismus, interagiert.
Unterscheidung von Diskriminierung und Rassismus
Eine Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund (tatsächlicher oder zugeschriebener) individueller oder gruppenspezifischer Bedeutungsträger, die zu Benachteiligung, Schaden oder Unrecht führt, ist Diskriminierung.
Rassismus kann also entweder als eine Unterkategorie von Diskriminierung oder als eine Intersektion an der Schnittstelle zwischen Diskriminierung (als Handlung) und sozialer Ungleichheit (als Folge) gedeutet werden. Rassismus wäre dann gewissermaßen als übergeordnete Variable zu analysieren, die eine symbolische, diskursive und affektive Dimension als Verstärker hinzuaddiert. Rassismus an der Schnittstelle von Diskriminierung und sozialer Ungleichheit ist auch dadurch gekennzeichnet, dass im Falle von sozialem Aufstieg symbolische Hierarchien aufrechterhalten werden können. So wurde Barack Obama auch als Präsident der USA als Schwarzer Mensch rassistisch herabgewürdigt. Auch Homophobie, Klassismus und Sexismus können als Unterkategorien von Diskriminierung gelten, die ebenfalls hierarchisierenden und machterhaltenden Systemfunktionen unterliegen, genauso wie sie als übergeordnete Variable soziale Ungleichheiten verstärken können. Insofern hängen die in der angelsächsischen Diskriminierungs- und Rassismusforschung entwickelten Kategorien race, class und gender als Differenzmarker und Systemträger analytisch untrennbar zusammen.
Wer ist von Rassismus betroffen?
Rassismus ist also ein gesellschaftliches Ordnungsphänomen, das sich an den jeweiligen historischen Kontext anpassen und weiterentwickeln kann, womit es über Jahre hinweg – jedoch auch zeitgleich – unterschiedliche Formen von Rassismus geben kann.
Das Diskutieren unterschiedlicher Ausformungen von Rassismus kann zu sehr kontroversen Debatten führen, da der Methode der Analogie unterstellt wird, sie würde nivellieren und Gleichsetzungen beabsichtigen. So führt zum Beispiel der Vergleich zwischen Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit wiederholt zu hitzigen Debatten. Aber auch ein Subsummieren von Antisemitismus unter den Begriff des Rassismus wird infrage gestellt – hier vor allem mit dem Argument, Rassismus sei ein Herabschauen auf Gruppen, während Antisemitismus die Unterstellung einer Überlegenheit der Jüdinnen und Juden umfasse.
Die Methode der Analogie dient jedoch vor allem als Vergleich, um Ähnlichkeiten ebenso wie Unterschiede explizit herauszuarbeiten. Selbstverständlich muss klar sein, dass Antisemitismus, Anti-Schwarzer Rassismus oder Muslimfeindlichkeit sich in ihren historischen Erfahrungen und Auswirkungen unterscheiden, dass es den Holocaust in seiner Dimension, Kalkulation und Organisation nicht noch einmal gegeben hat, und dass die Erforschung von Antisemitismus daher spezifisches historisches Wissen und Analysetools braucht. Auch ist es zentral, anzuerkennen, dass Anti-Schwarzer Rassismus und Sklaverei durch eine Geschichte der Gewalt und jahrhundertelange Oppression gekennzeichnet sind, in die auch jüdische und muslimische Händler verwickelt waren. Heißt das aber, dass ein Vergleich von Kolonialrassismus mit Antisemitismus oder mit aktueller Muslimfeindlichkeit und eine Subsummierung dieser Gewaltpraxen unter eine gemeinsame Oberkategorie Diskriminierung oder als spezifische Unterart des Rassismus Täterschaften ignoriere oder den Holocaust relativiere?
Es ist der relationale Charakter von Rassismus, der es ermöglicht, "das Andere" jederzeit in Reaktion auf spezifische historisch-politische Konstellationen erzeugen zu können: Während der koloniale Anti-Schwarze Rassismus beispielsweise Schwarze Menschen als "das Andere" konstruierte, um damit ökonomische und politische Ausbeutung vor dem Hintergrund der aufkommenden Menschenrechte vermeintlich zu legitimieren, werden in aktuellen Debatten Muslim*innen als "das Andere" vor allem im Hinblick auf Migrationsabwehrdiskurse und die vermeintliche Unvereinbarkeit gegensätzlicher Kulturen konstruiert. Daher plädiert Stuart Hall in diesem Zusammenhang dafür, von "historisch-spezifisch[en] Rassismen" zu sprechen.
Rassismus und Migrationsfragen
Forderungen, Rassismus in einer postmigrantischen Gesellschaft von einer Migrationsverknüpfung zu lösen, um systemische Verankerungen und historische Kontinuitäten in den Blick zu rücken,
Sind analytisch daher die Kategorien "Ausländer-" und "Fremdenfeindlichkeit" demografisch nachvollziehbar, würde es dennoch Sinn machen, sie als eine spezifische Ausformung dem Rassismusbegriff zu unterstellen. In Deutschland leben über elf Millionen Ausländer*innen, also Menschen, die ausschließlich eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Alle aus rassistischen Motiven getöteten Opfer des NSU waren Ausländer, und alle Opfer in Hanau waren Menschen mit Migrationshintergrund – die meisten von ihnen waren selbst eingewandert. Rassismus findet also auch aufgrund von Neuankunft statt – gründend im Argument des "Rechts der Etablierten", nach dem Hinzukommenden nicht die gleichen Rechte in der Gesellschaft zustünden.
Rassismus ist also gerade in Deutschland stark mit Fragen von Migration und mit sich verändernden Integrationsvorstellungen verbunden und richtet sich gegen Menschen, die als Migrant*innen oder Geflüchtete eingewandert sind und als Muslim*innen, Afrikaner*innen oder Südländer*innen rassifiziert, abgewertet, angegriffen oder sogar getötet werden. Insofern ist die Verknüpfung von Rassismusforschung mit einer kritischen Migrations- und Integrationsforschung naheliegend, solange es in Deutschland keine etablierte Rassismusforschung gibt, die auch quantitative Forschungszugänge zur systematischen Erfassung von Ausmaß, Ursachen und Folgen von individuellem, strukturellem und institutionellem Rassismus leisten kann.
In der postmigrantischen Gesellschaft geht es dabei um Aushandlungsprozesse, die nach erfolgter und weiterhin erfolgender Migration einsetzen, wenn allgemein feststeht, dass eine fortschreitende Pluralisierung nicht aufgehalten werden kann. Die Positionierung zu Migration und Pluralität bildet aktuell eine fast ideologische, bipolare Konfliktlinie, die sich in Pro- und Anti-Pluralität und Pro- und Anti-Zuwanderung politisch abbilden lässt. Tatsächlich wird anhand von postmigrantischen Perspektiven versucht, den Blick dafür zu schärfen, dass es nicht "die Migration" oder "der Migrant’" ist, die Angstkonstruktionen und den zunehmenden Rassismus verursachen. Es ist die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft, die abgewehrt wird. Dies ist mit einer Ordnungslogik verbunden, die in europäischen Gesellschaften vor allem mit Homogenität begründet wird, weswegen Pluralisierung für viele Menschen Unordnung symbolisiert. Eine Pluralisierung von Geschlechterpositionen, sexuellen Identitäten, Klassenhabitus und sogar Nationalitäten, lässt eine zunehmende Abwehr von natio-ethno-kulturellen (Mehrfach-)Zugehörigkeiten an der Figur des Migranten durchexerzieren.
Zugleich muss bewusst sein: Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft dreht sich nur an der Oberfläche um Migration – tatsächlich geht es um die Aushandlung von Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe, die als umkämpfte Güter auch von Migrant*innen, ihren Nachkommen sowie anderen zu lange marginalisierten Gruppen beansprucht werden. An Aufstieg, Emanzipation, Teilhabeansprüchen und Sichtbarkeit dieser marginalisierten Gruppen polarisieren sich die Gesellschaften Europas. Dialektisch wird die rassistische Platzierung vor allem an Migrant*innen und ihren Nachkommen argumentiert, die – als Außenseiter – jene Anerkennung von den Etablierten einfordern, die auf Basis des deutschen Grundgesetzes normativ versprochen aber empirisch nicht gewährt wird. Zugleich gilt weiterhin die Gleichheit neben der Freiheit als zentrales Versprechen der modernen Demokratien, die sich auf Pluralität und Parität als Grundsätze berufen. Dieses normative Paradoxon heizt den Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft weiter an.
Ausblick
Wenn Gleichheit in modernen Gesellschaften als Norm der Demokratie definiert wird, gleichzeitig jedoch festgestellt wird, dass dieses Versprechen eine Repräsentation und Teilhabe marginalisierter Gruppen zur Folge haben müsse, dann kann der Effekt entstehen, dass die Aufstiege der Minderheiten zulasten etablierter Gruppen gehen und Positionen und Privilegien in der Dominanzgesellschaft infrage gestellt werden. Soziale Hierarchien werden allerdings nicht kampflos aufgegeben. Sie werden verteidigt und müssen daher "legitimiert" werden, da ansonsten eine kognitive Dissonanz entsteht, die sich krisenhaft auf die Gesellschaft auswirkt. Eine Möglichkeit der Auflösung kognitiver Dissonanz ist die Normsenkung. Durch Rassismus wird versucht, "die Tatsache der Ungleichbehandlung von Menschen ‚rational‘ zu erklären (…), obgleich die Gesellschaft von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen ausgeht".
Das Versprechen, das in Deutschland unter Artikel 3 des Grundgesetzes als Gleichheitsgrundsatz gegeben ist, muss in dem im März 2020 neu geschaffenen Kabinettsausschuss der Bundesregierung gegen Rassismus und Rechtsextremismus daher nicht nur offensiv eingeklagt, sondern auch mit Zielmargen hinterlegt werden. So wie Fridays for Future ein visionäres Klimaziel vorgegeben haben, müsste ein Anti-Rassismuspakt mit Gleichstellungszielen bis 2030 formuliert werden, an dem sich die zukünftigen Regierungen messen und monitoren lassen müssen.