Im Februar 2014 veröffentlichte die britische Journalistin Reni Eddo-Lodge auf ihrem Blog einen Beitrag mit dem Titel "Why I’m No Longer Talking to White People About Race".
Zu genau dieser Gruppe gehöre ich. Ich bin weiß. Nachteile aufgrund meiner Hautfarbe oder Herkunft hatte ich in Europa nie. Diskriminierung – rassistische, sexistische, antisemitische, homophobe und auch behindertenfeindliche – habe ich zwar immer wieder beobachtet, aber nie am eigenen Leib erfahren müssen. Ich bin also kein Betroffener. Ebenso wenig bin ich jemand, der nicht akzeptiert, dass auch Deutschland ein Rassismusproblem hat, das weit über marodierende Nazibanden hinausgeht. Ich bin davon überzeugt, dass struktureller Rassismus in deutschen Behörden existiert. Ich sehe und höre, dass viele Menschen von vielen anderen Menschen noch lange nicht als gleichwertige Bürger dieses Landes akzeptiert werden, nur weil sie einen deutschen Pass haben. Und ich halte das Gerede von "Passdeutschen" und "echten Deutschen" nicht nur für diskriminierend, sondern auch für gesellschaftlichen Sprengstoff.
Ich bin davon überzeugt, dass die Realität in der Regel komplexer ist, als es ein paar zugespitzte Formulierungen abbilden können. Womit wir zurück bei Reni Eddo-Lodge wären. Sie ließ dem Titel ihres Blogbeitrags die Aussage folgen, dass dieser nicht auf alle weißen Menschen bezogen sei, sondern nur auf diejenigen, die sich weigerten, die Existenz von strukturellem Rassismus und seiner Symptome zu akzeptieren. Eddo-Lodge differenziert also durchaus. Doch was bleibt von ihren Gedanken wirklich hängen? Die Überschrift natürlich – der Rest geht in der weiteren Debatte häufig verloren, und zwar sowohl bei denen, die die Aussage im Kern unterstützen, als auch bei denjenigen, die sie fundamental ablehnen. Der Diskurs wird dann relativ schnell von radikalen Positionen dominiert. Für nachdenkliche Stimmen ist kaum noch Platz, ob die Autorin das nun will, oder nicht.
Monolithische Blöcke statt heterogene Erfahrungen
Auch in der deutschsprachigen Debatte zum Thema Rassismus ist die Tendenz zu Verkürzungen leider zu beobachten. "Für Rassismus gibt es unterschiedliche Definitionen", schreibt etwa die Journalistin Alice Hasters in ihrem Buch "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen". Unter anderem führt sie eine Definition des Historikers Ibram X. Kendi an, der formulierte, Rassismus sei "jegliche Vorstellung, die eine bestimmte ethnische Gruppe als einer anderen ethnischen Gruppe unterlegen oder überlegen betrachtet".
Das Problem daran ist einmal mehr, dass kein Platz mehr für die alltägliche Fehlbarkeit des Menschen vorgesehen ist. Wer etwas sagt oder tut, was man als rassistisch verstehen kann, ist in dieser Lesart automatisch Teil eines rassistischen Unterdrückungssystems. Im Zweifel auch, ohne davon etwas zu wissen. Darunter geht es nicht mehr. Dabei – auch da differenziert Eddo-Lodge wieder – müsste allen Wohlmeinenden daran gelegen sein, zu akzeptieren, "dass es einen Unterschied zwischen Unwissen und Bösartigkeit gibt – obwohl ersteres sich wie letzteres anfühlen (und dazu werden) kann".
Noch dazu ist die negative Eigenschaft, andere Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Aussehens zu diskriminieren, nicht allein weißen Menschen vorbehalten. Die Islamwissenschaftlerin und Journalistin Nabila Abdel Aziz etwa stellte in einem Beitrag im Bayerischen Rundfunk fest: "Abwertung und strukturelle Ausgrenzung von Schwarzen [ist] ein Problem, das auf der ganzen Welt existiert, in asiatischen und arabischen Ländern genauso wie in Europa."
Warum ich das hervorhebe? Ganz sicher nicht, um rassistisches Handeln durch weiße Menschen zu relativieren. Es geht vielmehr darum, deutlich zu machen, dass Rassismuserfahrungen sich durchaus unterscheiden können. Menschen mit Migrationsgeschichte sind höchstens abstrakt eine Gruppe mit ähnlichen Erfahrungen. Ein schwarzer Mann, eine türkischstämmige und eine asiatischstämmige Frau machen möglicherweise alle gleichermaßen rassistische Erfahrungen. Im Detail unterscheiden sich diese allerdings enorm. Wer glaubt, mit dem im deutschen Diskurs noch recht frischen Begriff "People of Color" aus allen nicht weißen Menschen einen monolithischen Block formen zu können, der im nächsten Schritt auch noch eine gemeinsame Sicht auf die Dinge entwickelt, bewegt sich in eine kollektivistische Sackgasse. Eine, wohlgemerkt, in der die Vereinigten Staaten, von wo die meisten dieser Debatten nach Europa herübergetragen werden, längst stecken. Vielleicht wäre jetzt der richtige Moment, einmal gemeinsam innezuhalten und sich bewusst zu machen, dass die Gesellschaftsstrukturen und die geschichtlichen Aufladungen sich dies- und jenseits des Atlantiks doch recht deutlich unterscheiden. Sonst wird sich kaum vermeiden lassen, dass unter dem Begriff "Colorism" bald die nächste Debatte
Gibt es Rassismus gegen Weiße?
Wer nur noch Gruppen und Herrschaftsstrukturen sieht, muss fast zwangsläufig zu dem Schluss kommen: "Rassismus gegen Weiße gibt es nicht". Dieser Satz erlebte in der Hochzeit der Debatte in den USA, nachdem ein Polizist den Afroamerikaner George Floyd bei einem Einsatz getötet hatte, eine überraschende Konjunktur. Vom "Tagesspiegel"
Anstatt nun auch an dieser Stelle die Diskussion zu vertiefen, ob diese Aussage denn nun richtig oder falsch ist – ich halte sie für Letzteres –, bietet es sich an, darüber nachzudenken, welchen Nutzen der Streit in diesem Fall überhaupt haben kann. Was lässt sich mit der Debatte zum Positiven wenden? Mir fällt auch nach langem Nachdenken nichts ein. Vielmehr kommt mir der Streit wie ein Aufeinanderprallen verschiedener Denkschulen vor, die sich zumindest in einer Sache einig sind: Wer die Deutungshoheit über Begrifflichkeiten für sich gewinnt, gewinnt am Ende auch die Debatte. Was dabei allerdings nicht berücksichtigt wird: In einer Demokratie kommt man nicht weit, wenn man Debatten unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit ausficht. Genau das tut man aber, wenn man die Debatten selbst so sehr verengt, dass sich für einen Großteil der Gesellschaft keine Anknüpfungspunkte mehr in deren Lebensrealität findet.
Der Streit darum, ob es sich bei abwertendem Verhalten gegenüber weißen Menschen nun um Rassismus handelt oder "nur" um Diskriminierung ist genau so eine Debatte. Denn selbst wenn sich – was utopisch klingt – am Ende alle Expertinnen und Experten auf eine Sichtweise verständigen könnten, hielte diese akademische Definition noch lange keine Lösungsansätze für das bereit, was Menschen unterschiedlichster Hautfarben in diesem Land passiert. Ist eine Diskriminierung plötzlich weniger schmerzhaft, nur weil sie als nicht rassistisch angesehen wird? Ich glaube nicht.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich sind nicht weiße Menschen in diesem Land deutlich häufiger von diskriminierenden Worten und Handlungen betroffen als weiße Menschen. Wer das zu relativieren versucht, indem er oder sie reflexartig auf jede Schilderung von erlebtem Rassismus mit einem "Aber es gibt auch Rassismus gegen Weiße" antwortet, will eine wichtige Debatte beenden. Entweder, weil sie ihm unangenehm ist, oder aus einem rassistischen Weltbild heraus. Die kluge Antwort darauf kann allerdings nicht sein, selbst zu relativieren und auf Differenzierung zu verzichten. Die Debatte darüber, ob es Rassismus gegen Weiße überhaupt geben kann, steht sinnbildlich für diesen Fehler.
Gefährliche Unterkomplexität
Dreht man diesen Diskurs nun noch ein Stück weiter, wird es noch dazu gefährlich. Im Juli 2020 konzipierte und moderierte ich für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit eine fünfteilige Reihe von Webtalks mit dem Titel "Rassismus in Deutschland im Fokus". Schon vor der Abschlussveranstaltung dieser Reihe gab es in den Sozialen Medien Vorwürfe, das Podium sei wieder einmal typisch dafür, was herauskomme, "wenn weiße Menschen eine Gesprächsrunde zum Thema Rassismus zusammenstellen". Denn: "Drei Nicht-Betroffene und ein Betroffener sollen über Rassismus reden", war ein Kommentator überzeugt. Nun ist solche Kritik erst einmal zulässig. Und in manchen Fällen bewirkt sie tatsächlich etwas. Man denke nur an die Kritik an der Besetzung einer Sendung von Sandra Maischberger zum Thema rassistische Polizeigewalt, für die zunächst keinerlei Betroffene als Gäste eingeplant waren. Erst als Reaktion auf heftigen öffentlichen Druck wurde noch die afroamerikanische Germanistikprofessorin Priscilla Layne eingeladen.
Im Fall der von mir konzipierten Reihe zeigt die Kritik allerdings eher, wie schmal der Grat ist, auf dem diese an sich notwendige Debatte gerade wandelt. Denn es ist wahr – nur einer der Teilnehmer an der beschriebenen Diskussionsrunde hatte eine durch seine Hautfarbe und seinen Namen offensichtliche Migrationsgeschichte. Ein weiterer Diskutant allerdings war zwar weiß. Aber er war Jude und hatte aufgrund seiner Erfahrungen in diesem Land einiges zur Debatte beizutragen.
Ein Diskurs, der als Antwort auf Rassismus selbst wieder die Bewertung von ethnischer Zugehörigkeit auf Basis von Augenschein propagiert, ist gefährlich, auch wenn der zitierte Kommentator dies sicherlich nicht beabsichtigt hat.
Wut als schlechter Ratgeber
Natürlich kann ich die Wut verstehen, die viele Menschen spüren, die immer und immer wieder rassistisch motiviert angegriffen, beleidigt oder anderweitig diskriminiert werden. Es ist eines der Dinge, das uns Menschen ausmacht: Wir können uns bis zu einem gewissen Maße in andere hineinversetzen, Empathie spüren, Gefühle verstehen. Und zwar auch dann, wenn wir selbst nie in derselben Situation waren. Ich kann auch als jeweils Nichtbetroffener verstehen, dass eine Vergewaltigung mehr als ein körperliches Trauma ist, oder dass Eltern, die ein Kind verlieren, durch die Hölle gehen. Ich muss mit niemandem die Narben auf der Seele teilen, um zu verstehen, dass sie schmerzen.
Doch auch wenn ich all das verstehe: Wut ist kein guter Ratgeber. Wer wütend auf eine als rassistisch empfundene Mehrheitsgesellschaft ist, mag davon träumen, "die Weißen" einmal ihre eigene Medizin kosten zu lassen. Doch wie sähe eine solche Gesellschaft in Zukunft aus? Und vor allem: Wäre sie dann lebenswerter als die heutige? Ich glaube nicht. Vielleicht hilft es, sich ab und an die Überlegungen des Soziologen Aladin El-Mafaalani vor Augen zu halten, der in seinem Buch "Das Integrationsparadox" schreibt, "dass das Glas noch nie so voll oder so wenig leer (…) wie gegenwärtig" war.
Hinter viele grundsätzliche Erkenntnisse, die der liberalen und offenen Gesellschaft zugrunde liegen, gibt es für die Mehrheit der Menschen in Deutschland längst kein Zurück mehr. Das gilt für die "Ehe für alle" ebenso wie für die Feststellung, dass Deutsch natürlich auch sein kann, wer einen türkischen oder arabischen Nachnamen hat und wessen Eltern ihre Wurzeln auf anderen Kontinenten haben. Das gilt aber auch für manche sprachliche Entwicklung. In meiner Jugend in der westdeutschen Provinz waren Redewendungen wie etwa "Feiern bis zur Vergasung" oder Sprüche nach dem Motto, die Welt wäre ein N-Dorf, gängig und wurden kaum problematisiert. Heute hört man diese Sätze nur noch von sehr alten Menschen. Oder eben von Menschen mit einem eindeutig antisemitischen oder rassistischen Weltbild. Der Großteil der deutschen Gesellschaft ist längst klüger. Darüber sollten auch gerade in den Sozialen Netzwerken immer wieder getätigte homo- oder transphobe Äußerungen oder ein übertriebenes Nachbohren à la "Wo kommst Du wirklich her?" nicht mehr hinwegtäuschen.
Umso mehr wird nun um die Details des Umgangs miteinander gestritten. Das ist an sich gut. Nur sollte man dabei eben erstens nicht vergessen, was schon erreicht wurde, und zweitens, dass die nächsten Schritte nicht erfolgreich gegangen werden können, wenn diejenigen, die ein gemeinsames Ziel teilen – nämlich eine möglichst diskriminierungsfreie Gesellschaft –, sich in Schützengräben zurückziehen, die entlang ihrer ethnischen Zugehörigkeit verlaufen, und sich gegenseitig verbal die Köpfe einschlagen.
Ich beanspruche als Weißer in diesem Land keine Sonderrechte. Ich will, dass in Deutschland lebende Ausländer, Deutsche mit Migrationsgeschichte und Deutsche ohne Migrationsgeschichte neugierig aufeinander sind, miteinander ins Gespräch kommen, sich aber auf keinen Fall gegenseitig aufgrund ihrer Geschichte oder ihres Aussehens herabwürdigen. Ich beanspruche nicht, mit meinem Blick für alle weißen Menschen in diesem Land zu sprechen. Ich spreche nur für mich selbst, auch wenn ich aus vielen Gesprächen weiß, dass zumindest viele der Menschen, mit denen ich persönlich zu tun habe, dies ähnlich oder genauso sehen. Was ich aber beanspruche, ist ein Platz an dem Tisch, an dem die wichtigen gesellschaftlichen Diskussionen geführt und die Leitplanken für die Gesellschaft, in der auch meine Kinder aufwachsen werden, definiert werden. Und zwar auch dann, wenn ich nicht direkt Betroffener von Diskriminierung bin. Das ist kein weißes Privilegiendenken, sondern vielmehr eine Selbstverständlichkeit in einer liberalen Demokratie, die sich selbst ernst nimmt.