Wir leben im Anthropozän, in dem die Menschen selbst zu einer Naturgewalt geworden sind.
Die ökologische Frage ist unbequem. Die Menschen, die bisher einen westlichen Lebensstil im Überfluss genossen haben, werden diesen nicht mehr fortsetzen können. Sie wissen auch, dass sie ihr Leben ändern müssen. Deshalb wird die ökologische Frage inzwischen von vielen Menschen wider besseres Wissen schlicht geleugnet. Sie wollen ihren gewohnten Lebensstil um jeden Preis beibehalten, auch auf Kosten der Natur, auf Kosten ihrer Mitmenschen und auf Kosten der Zukunft der Menschheit: Neben uns und nach uns die Sintflut.
Ungeachtet dieser politisch prekären Entwicklung ist und bleibt es notwendig, unser Zusammenleben mit der Natur grundlegend neu zu gestalten: Welche Governance-Strukturen sind dafür im Anthropozän erforderlich?
Autonome Governance ökologischen Wissens
Angesichts der defensiven und aktiven Ignoranz, die derzeit der ökologischen Frage sozial, ökonomisch und politisch entgegenschlägt, müssen wir vor allem etwas erhalten, was in demokratischen Verfassungsstaaten bisher eine Selbstverständlichkeit war, es aber keineswegs mehr ist: die Freiheit der Wissenschaft und die Autonomie wissenschaftlicher Institutionen, die unabhängig forschen und ihre Forschungsergebnisse frei veröffentlichen können. Nur auf dieser Grundlage verfügt die Öffentlichkeit über wissenschaftlich fundierte ökologische Informationen und Konzepte, um die notwendigen Politiken des Anthropozäns überhaupt kritisch diskutieren zu können. Die Garantie einer anthropozänen „Governance von und durch Wissen“
Hier wird insbesondere eine politisch robuste, globale Vernetzung autonomer Wissensstrukturen notwendig. Denn die wissenschaftliche Freiheit und die institutionelle Autonomie der Naturwissenschaften und Environmental Humanities geraten auch in jenen Demokratien immer mehr unter Druck, die sich nach der Wahl von links- und vor allem rechtspopulistischen oder gar -extremistischen Parteien in autoritäre Staaten zu verwandeln drohen.
Erst auf der Grundlage dieser nicht mehr selbstverständlichen Freiheit der Wissenschaft und autonomer wissenschaftlicher Institutionen können sich die fünf Elemente anthropozäner Governance von der kommunalen und regionalen über die föderale und nationale bis zur supranationalen und globalen Ebene entfalten: erstens das konviviale Nachhaltigkeitsprinzip, zweitens die Entwicklung eines biodiversen Infrastrukturverständnisses, drittens die Ökologiepflichtigkeit des Eigentums, viertens die Rechte der Natur und fünftens das Recht auf Zukunft.
Konviviales Nachhaltigkeitsprinzip
Der erste Baustein anthropozäner Governance entwickelt unser Verständnis des Nachhaltigkeitsprinzips weiter: vom überkommenen dreidimensionalen Nachhaltigkeitsgrundsatz zum konvivialen Nachhaltigkeitsprinzip.
Seit dem Brundtland-Bericht „Our Common Future“ von 1987 hat sich der Nachhaltigkeitsgrundsatz zu einem Weltprinzip entwickelt: „Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“
Aus diesem Grund ist ein neues Verständnis von Nachhaltigkeit erforderlich, das als Grundprinzip anthropozäner Governance dienen kann. Hier bietet sich ein konviviales Verständnis des Nachhaltigkeitsprinzips an. Dieses kann unmittelbar an das „Konvivialistische Manifest“ anknüpfen. Dessen Verfasserinnen und Verfasser, ein internationales Netzwerk aus Wissenschaftlerinnen, Journalisten, Künstlerinnen und anderen, treten dafür ein, dass die Menschen nicht nur miteinander, sondern auch mit der Natur gut zusammenleben (Lateinisch: convivere).
Es gibt heute bereits Rechtsvorschriften, die diesem Grundgedanken Rechnung tragen. Ein Beispiel dafür findet sich im Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG): Natur und Landschaft sind aufgrund ihres eigenen Werts und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen so zu schützen, dass erstens die biologische Vielfalt, zweitens die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts einschließlich seiner Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter und drittens die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft dauerhaft gesichert sind (Paragraf 1 Absatz 1 BNatSchG). In dieser Regelung kommt ein konviviales Grundverständnis zum Ausdruck. Es erkennt zunächst den (regenerativen) Eigenwert der Natur an, um sodann die Abhängigkeit der Menschen von der Natur zu reflektieren.
Dies legt ein neues, zweidimensionales Verständnis des konvivialen Nachhaltigkeitsprinzips nahe:
Biodiverse Infrastruktur
Der zweite Baustein anthropozäner Governance entwickelt ein neues, biodiverses Infrastrukturverständnis.
Es ist das Erbe der industriellen Moderne, dass wir unter Infrastrukturen vor allem soziale und technische Einrichtungen verstehen: Bildung, Energie, Gesundheit, Kommunikation, Verkehr, Wohnen sowie Wasserversorgung und Abfallentsorgung. Wir begreifen diese Infrastrukturen als Teil unserer Daseinsvorsorge, in der wir uns individuell und gesellschaftlich entfalten. Doch im Anthropozän greift diese soziale und technische Vorstellung von Infrastruktur zu kurz. Sie blendet die Natur vollkommen aus. Die Natur und vor allem die Biodiversität sind für unsere individuelle und gesellschaftliche Selbstentfaltung jedoch mindestens ebenso wichtig wie die sozialen und technischen Infrastrukturen, in denen wir leben. Deshalb ist bereits seit den 1980er Jahren von einer „Biotop-Infrastruktur“ (Hubert Markl), von der „grüne[n] Infrastruktur der Natur“ (Christian Schwägerl) und von der „ökologischen Infrastruktur“ (Christof Mauch) die Rede.
Dieses Verständnis der Entwicklung von ökologischen Infrastrukturen lässt sich verallgemeinern:
Ökologiepflichtigkeit des Eigentums
Der dritte Baustein anthropozäner Governance gewährleistet die „Ökologiepflichtigkeit“
Die Eigentumsgarantie ist in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung das zentrale Grundrecht, das die ökonomische Produktion und den konsumistischen Lebensstil der Menschen ermöglicht. Es bildet damit zugleich die Grundlage für die Veränderung, Ausbeutung und Zerstörung der Natur. Der wichtigste Grundsatz dieser anthropozentrischen Eigentumsordnung lautet: Natur hat man zu haben! Menschen können sich die Natur umsonst aneignen, um sie im kapitalistischen Produktions- und Konsumprozess zu verändern, auszubeuten und zu zerstören. Und weil es eine zentrale Funktion des Eigentumsrechts ist, die Voraussetzungen und Bedingungen seiner Entstehung individuell und gesellschaftlich, ökonomisch und politisch auszublenden, wird der ökologische Mehrwert, der in unserem gesamten Eigentum steckt, schlicht unsichtbar. Hier wird ein Grundsatz als individuelles Recht umgesetzt, dessen ökologisch desaströse Bedeutung wir bereits eingangs kennengelernt haben: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Deshalb ist es eine der zentralen Aufgaben anthropozäner Governance, die Ökologiepflichtigkeit des Eigentums zu gewährleisten. Das Eigentum der einzelnen Menschen und vor allem der Wirtschaft muss auf der Basis des konvivialen Nachhaltigkeitsprinzips ökologisch verfasst werden. Das ist im Rahmen der bestehenden verfassungsrechtlichen Garantien des Eigentums problemlos möglich. Dies zeigt ein Blick in das Grundgesetz (GG): Das Recht am Eigentum wird als ein Grundrecht garantiert (Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 GG). Es kann und muss aber inhaltlich ausgestaltet und beschränkt werden (Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG). Denn „Eigentum verpflichtet“ (Artikel 14 Absatz 2 Satz 1 GG). Es soll nicht allein dem Eigennutz, sondern muss zugleich auch dem Allgemeinwohl dienen (Artikel 14 Absatz 2 Satz 2 GG).
Dies bedeutet, dass im Anthropozän auf der Grundlage des konvivialen Nachhaltigkeitsprinzips eine vierdimensionale Eigentumsordnung geschaffen werden kann: Erstens werden besonders wichtige ökologische Bereiche aus der Eigentumsordnung ausgenommen, um sie besonders zu schützen, wie dies beispielweise heute bereits beim Grundwasser der Fall ist (Paragraf 4 Absatz 2 Wasserhaushaltsgesetz). Zweitens wird Eigentum inhaltlich so gestaltet und drittens so beschränkt, dass es sich organisch in die anthropozäne Gesellschaftsordnung einfügt, die dem konvivialen Nachhaltigkeitsprinzip verpflichtet ist. Und viertens ist mit den Rechten der Natur auch die Eigentumsfähigkeit der Natur anzuerkennen.
Die anthropozäne Antwort auf die ökologische Krise unserer eigentumsfixierten Gesellschaftsordnung liegt also keineswegs in der Abschaffung des Eigentums. Vielmehr bildet das Eigentum heute eine gesellschaftlich so weit verbreitete Grundstruktur, dass seine konsequent ökologische Gestaltung zugleich zu einer ökologischen Transformation unserer Gesellschaft führt. Mit der Um- und Durchsetzung der Ökologiepflichtigkeit des Eigentums macht die Governance des Anthropozäns aus der ökologischen Not des Eigentums eine ökologische Tugend des Eigentums. Der ökologische Mehrwert wird im Eigentum einer konvivialen Gesellschaftsordnung also unmittelbar sichtbar.
Rechte der Natur
Der vierte Baustein anthropozäner Governance erkennt die Rechte der Natur an.
Im Anthropozän genügt es nicht, die Natur „nur“ durch ökologische Staatszielbestimmungen zu bewahren, wie es beispielsweise das Grundgesetz tut: Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung (Artikel 20a GG). Staatszielbestimmungen wie diese schützen die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen allein „objektiv-rechtlich“. Das heißt: Allein der Staat entscheidet über die Reichweite des ökologischen Schutzes. Und dies bedeutet: Weder die Bürgerinnen und Bürger noch die Natur verfügen über subjektive Rechte, um den Staat anzuhalten, seinen ökologischen Verfassungspflichten tatsächlich nachzukommen. Die ökologische Verfassung des Grundgesetzes ist folglich statisch und ineffektiv.
Demgegenüber dynamisiert sich der Schutz der Natur, wenn nicht nur ökologische Rechte der Bürgerinnen und Bürger, sondern vor allem auch die Rechte der Natur anerkannt werden. Denn mit subjektiven Rechten verfügen insbesondere ökologische Personen über die Möglichkeit, die Rechtsordnung im eigenen Interesse in Bewegung zu setzen.
Ecuador hat für die Anerkennung und Umsetzung der Rechte der Natur eine internationale Vorreiterrolle übernommen.
Ausgehend von Ecuador hat sich ein internationaler Trend zur Anerkennung der Rechte der Natur entwickelt. So verfügt die Natur – insbesondere Tiere, Flüsse oder Ökosysteme – beispielsweise in Argentinien, Bangladesch, Bolivien, Indien, Kolumbien, Neuseeland und in den USA über Rechte.
Die Anerkennung der Rechte der Natur soll nicht allein deren Integrität effektiv schützen.
Recht auf Zukunft
Der fünfte Baustein anthropozäner Governance gewährleistet das „Recht auf Zukunft“.
Die menschliche Gesellschaft ist auf ihre gegenwärtigen Interessen fixiert. Das kapitalistische Wirtschaftssystem fokussiert auf kurzfristige Gewinnchancen. Demokratische Regierungssysteme entwickeln aufgrund der Wahlperioden eine politische Kurzsichtigkeit, wenn es um eine verantwortungsvolle Gestaltung der Zukunft geht. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Klima-Beschluss vom 24. März 2021 das „Recht auf intertemporale Freiheitssicherung“ (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20a GG) anerkannt.
Deshalb muss neben das Recht auf intertemporale Freiheitssicherung ein Recht auf intertemporale Gleichheitssicherung und ein Recht auf intertemporale Teilhabesicherung treten. Das Recht auf intertemporale Gleichheitssicherung ist dabei als ein individuelles Gleichheitsrecht zu verstehen, das die gerechte Verteilung von knappen Gütern über die Zeit sichert. Es findet seine Rechtsgrundlage im Allgemeinen Gleichheitssatz (Artikel 3 Absatz 1 GG) in Verbindung mit dem ökologischen Staatsziel (Artikel 20a GG) und ist auf eine nachhaltige und generationengerechte Ressourcenpolitik gerichtet (etwa mit Blick auf Bodenschätze). Das Recht auf intertemporale Teilhabesicherung ist auch ein individuelles Teilhaberecht, das eine angemessene Partizipation an der biodiversen Infrastruktur über die Zeit garantiert. Es findet seine Rechtsgrundlage in der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 GG) und ebenfalls im Allgemeinen Gleichheitssatz in Verbindung mit der ökologischen Staatszielbestimmung und zielt insbesondere darauf, dass auch junge Menschen und künftige Generationen in einer biodiversen Welt leben können.
Ökologischer Idealismus oder Materialismus?
Diese Bausteine anthropozäner Governance verdeutlichen zweierlei: Zum einen ist ein grundlegender ökologischer Wandel unserer Gesellschafts-, Wirtschafts- und Verfassungsordnung notwendig, wenn wir die Herausforderungen des Anthropozäns konstruktiv annehmen wollen. Zum anderen sind die Bausteine, die wir im Rahmen einer verantwortungsvollen Governance im Anthropozän brauchen, in ihrer rechtlichen Grundstruktur bereits bekannt: Nachhaltigkeit, Infrastrukturen, Eigentum und Rechte. Wir müssen sie nur konvivial denken und ökologisch ausgestalten. Das konviviale Nachhaltigkeitsprinzip, die biodiversen Infrastrukturen, die Ökologiepflichtigkeit des Eigentums, die Rechte der Natur und das Recht auf Zukunft sind dabei nicht nur abstrakte Gebote eines ökologischen Idealismus, sondern (auch) konkreter Ausdruck eines ökologischen Materialismus: Wenn wir unseren naturkonsumierenden und naturzerstörenden Lebensstil, der zu dem exponentiellen Artensterben, der fortschreitenden Klimakatastrophe und in die globale Vermüllung geführt hat, nicht ändern, steht nur eines fest: Die Natur wird nicht mit uns verhandeln – und ein „Zurück zur Natur“ wird dann für uns Menschen zu einer noch katastrophaleren Realität.