Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Governance im Anthropozän | Anthropozän | bpb.de

Anthropozän Editorial Wir Erdlinge. Eine planetarische Perspektive auf die menschliche Geschichte – Essay Endstation oder Startpunkt Golden Spike? Die geologische Debatte um das Anthropozän Geschichtswissenschaft im Anthropozän Historischer Fallout. Zur Militärgeschichte des Anthropozäns Governance im Anthropozän

Governance im Anthropozän

Jens Kersten

/ 15 Minuten zu lesen

Um unser Zusammenleben mit der Natur neu zu gestalten, müssen fünf Elemente zur Entfaltung kommen: das konviviale Nachhaltigkeitsprinzip, ein biodiverses Infrastrukturverständnis, die Ökologiepflichtigkeit des Eigentums, die Rechte der Natur und das Recht auf Zukunft.

Wir leben im Anthropozän, in dem die Menschen selbst zu einer Naturgewalt geworden sind. Zwar haben die Geowissenschaften das Anthropozän nicht formal als neues Erdzeitalter anerkannt, doch das hat an der menschengemachten Naturentwicklung nichts geändert. Der westliche Lebensstil und die kapitalistische Wirtschaftsordnung konsumieren, verändern und zerstören die Natur. Artensterben, Klimakatastrophe und Globalvermüllung sind die Folgen. Durch sie wird die Zukunft der Menschheit gefährdet. Die Globalisierung des westlichen Lebensstils und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung hat die ökologische Frage für die Menschen noch weiter zugespitzt: Konsum oder Zukunft?

Die ökologische Frage ist unbequem. Die Menschen, die bisher einen westlichen Lebensstil im Überfluss genossen haben, werden diesen nicht mehr fortsetzen können. Sie wissen auch, dass sie ihr Leben ändern müssen. Deshalb wird die ökologische Frage inzwischen von vielen Menschen wider besseres Wissen schlicht geleugnet. Sie wollen ihren gewohnten Lebensstil um jeden Preis beibehalten, auch auf Kosten der Natur, auf Kosten ihrer Mitmenschen und auf Kosten der Zukunft der Menschheit: Neben uns und nach uns die Sintflut. Populistische und extremistische, autoritäre und totalitäre Politikerinnen und Politiker, Parteien und Regierungen haben hieraus ein politisches Geschäftsmodell entwickelt. Sie verleugnen das Artensterben, die Klimakatastrophe und die Globalvermüllung. Damit bieten sie den Bürgerinnen und Bürgern in den westlichen Demokratien die Möglichkeit, die ökologische Frage schlicht „abzuwählen“: Aus den Augen, aus dem Sinn. Selbst Politikerinnen und Politiker, Parteien und Regierungen, die sich bisher um die Natur gesorgt haben, werden von dieser Entwicklung erfasst. Wer heute die ökologische Frage im politischen Raum anspricht, setzt sich der Gefahr aus, schon bald als „verhasst“ zu gelten. Die defensive und aktive Ignoranz der ökologischen Frage schlägt sich in einem antiökologischen Radikalismus nieder. So ist aus der ökologischen Frage nicht nur eine (neue) soziale, sondern längst auch eine demokratische Frage geworden.

Ungeachtet dieser politisch prekären Entwicklung ist und bleibt es notwendig, unser Zusammenleben mit der Natur grundlegend neu zu gestalten: Welche Governance-Strukturen sind dafür im Anthropozän erforderlich?

Autonome Governance ökologischen Wissens

Angesichts der defensiven und aktiven Ignoranz, die derzeit der ökologischen Frage sozial, ökonomisch und politisch entgegenschlägt, müssen wir vor allem etwas erhalten, was in demokratischen Verfassungsstaaten bisher eine Selbstverständlichkeit war, es aber keineswegs mehr ist: die Freiheit der Wissenschaft und die Autonomie wissenschaftlicher Institutionen, die unabhängig forschen und ihre Forschungsergebnisse frei veröffentlichen können. Nur auf dieser Grundlage verfügt die Öffentlichkeit über wissenschaftlich fundierte ökologische Informationen und Konzepte, um die notwendigen Politiken des Anthropozäns überhaupt kritisch diskutieren zu können. Die Garantie einer anthropozänen „Governance von und durch Wissen“ in den Naturwissenschaften, aber auch in den Environmental Humanities, ist die zentrale und kritische Voraussetzung des Lebens und der Politik im Anthropozän.

Hier wird insbesondere eine politisch robuste, globale Vernetzung autonomer Wissensstrukturen notwendig. Denn die wissenschaftliche Freiheit und die institutionelle Autonomie der Naturwissenschaften und Environmental Humanities geraten auch in jenen Demokratien immer mehr unter Druck, die sich nach der Wahl von links- und vor allem rechtspopulistischen oder gar -extremistischen Parteien in autoritäre Staaten zu verwandeln drohen. Diese Parteien und Staaten sehen sich bereits durch eine wissensbasierte Wettervorhersage gestört. Entsprechend richten sie ihre Forschungsförderung aus: Für die wissenschaftliche Erforschung der ökologischen Frage werden keine Mittel mehr zur Verfügung gestellt, Universitäten und Akademien geraten unter politischen Druck. Deshalb kann allein eine internationale Vernetzung von naturwissenschaftlichem Wissen und Environmental Humanities gewährleisten, dass ökologisches Wissen global zur Verfügung steht – selbst wenn populistische und extremistische, autoritäre und totalitäre Politikerinnen und Politiker, Parteien und Regierungen es zu „Fake News“ erklären, um ihren eigenen antiökologischen Legitimationsanspruch zu begründen und zu sichern.

Erst auf der Grundlage dieser nicht mehr selbstverständlichen Freiheit der Wissenschaft und autonomer wissenschaftlicher Institutionen können sich die fünf Elemente anthropozäner Governance von der kommunalen und regionalen über die föderale und nationale bis zur supranationalen und globalen Ebene entfalten: erstens das konviviale Nachhaltigkeitsprinzip, zweitens die Entwicklung eines biodiversen Infrastrukturverständnisses, drittens die Ökologiepflichtigkeit des Eigentums, viertens die Rechte der Natur und fünftens das Recht auf Zukunft.

Konviviales Nachhaltigkeitsprinzip

Der erste Baustein anthropozäner Governance entwickelt unser Verständnis des Nachhaltigkeitsprinzips weiter: vom überkommenen dreidimensionalen Nachhaltigkeitsgrundsatz zum konvivialen Nachhaltigkeitsprinzip.

Seit dem Brundtland-Bericht „Our Common Future“ von 1987 hat sich der Nachhaltigkeitsgrundsatz zu einem Weltprinzip entwickelt: „Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“ Doch aus zwei Gründen hat das Nachhaltigkeitsprinzip im Anthropozän seine normative Steuerungskraft verloren: Erstens ist sein Schutzgut die nachhaltige Entwicklung und nicht die Natur. Zweitens hat sich ein dreidimensionales Nachhaltigkeitsverständnis durchgesetzt, das auf einen Ausgleich der konfligierenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Interessen ausgerichtet ist. Dabei genügt es, dass sich die Entwicklung insgesamt als nachhaltig darstellt. So kann eine Verschlechterung der ökologischen oder der sozialen Entwicklung durch eine Verbesserung der ökonomischen Entwicklung „ausgeglichen“ werden. Dies eröffnet die Möglichkeit, soziale oder ökologische Belange zugunsten von ökonomischen Interessen „wegzuwägen“ und das Abwägungsergebnis gleichwohl als „nachhaltig“ zu qualifizieren. Mit diesem Verständnis des Nachhaltigkeitsgrundsatzes lassen sich jedoch die Herausforderungen des Anthropozäns (längst) nicht (mehr) konstruktiv annehmen.

Aus diesem Grund ist ein neues Verständnis von Nachhaltigkeit erforderlich, das als Grundprinzip anthropozäner Governance dienen kann. Hier bietet sich ein konviviales Verständnis des Nachhaltigkeitsprinzips an. Dieses kann unmittelbar an das „Konvivialistische Manifest“ anknüpfen. Dessen Verfasserinnen und Verfasser, ein internationales Netzwerk aus Wissenschaftlerinnen, Journalisten, Künstlerinnen und anderen, treten dafür ein, dass die Menschen nicht nur miteinander, sondern auch mit der Natur gut zusammenleben (Lateinisch: convivere). Dementsprechend geht es beim konvivialen Nachhaltigkeitsprinzip um ein konstruktives und zukunftsoffenes Zusammenleben von Mensch und Natur.

Es gibt heute bereits Rechtsvorschriften, die diesem Grundgedanken Rechnung tragen. Ein Beispiel dafür findet sich im Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG): Natur und Landschaft sind aufgrund ihres eigenen Werts und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen so zu schützen, dass erstens die biologische Vielfalt, zweitens die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts einschließlich seiner Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter und drittens die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft dauerhaft gesichert sind (Paragraf 1 Absatz 1 BNatSchG). In dieser Regelung kommt ein konviviales Grundverständnis zum Ausdruck. Es erkennt zunächst den (regenerativen) Eigenwert der Natur an, um sodann die Abhängigkeit der Menschen von der Natur zu reflektieren.

Dies legt ein neues, zweidimensionales Verständnis des konvivialen Nachhaltigkeitsprinzips nahe: Die erste Dimension dieses Prinzips bildet der Schutz des Eigenwerts der Natur. Die ökologische Integrität, Funktion und Entfaltung der Natur sind deshalb um ihrer selbst willen zu schützen. Die zweite Dimension des konvivialen Nachhaltigkeitsprinzips beschreibt, bewertet und gestaltet die Abhängigkeit der Menschen von der Natur. Dies erfolgt auf der Grundlage des konvivialen Gegenseitigkeitsprinzips, das auf die Bestimmung eines angemessenen Verhältnisses zwischen den ökologischen Leistungen der Natur an den Menschen und den menschlichen Gegenleistungen an die Natur ausgerichtet ist. Ich werde darauf zurückkommen, wenn es um die Ausgestaltung der ökologischen Eigentumsordnung und der (Eigentums-)Rechte der Natur geht.

Biodiverse Infrastruktur

Der zweite Baustein anthropozäner Governance entwickelt ein neues, biodiverses Infrastrukturverständnis.

Es ist das Erbe der industriellen Moderne, dass wir unter Infrastrukturen vor allem soziale und technische Einrichtungen verstehen: Bildung, Energie, Gesundheit, Kommunikation, Verkehr, Wohnen sowie Wasserversorgung und Abfallentsorgung. Wir begreifen diese Infrastrukturen als Teil unserer Daseinsvorsorge, in der wir uns individuell und gesellschaftlich entfalten. Doch im Anthropozän greift diese soziale und technische Vorstellung von Infrastruktur zu kurz. Sie blendet die Natur vollkommen aus. Die Natur und vor allem die Biodiversität sind für unsere individuelle und gesellschaftliche Selbstentfaltung jedoch mindestens ebenso wichtig wie die sozialen und technischen Infrastrukturen, in denen wir leben. Deshalb ist bereits seit den 1980er Jahren von einer „Biotop-Infrastruktur“ (Hubert Markl), von der „grüne[n] Infrastruktur der Natur“ (Christian Schwägerl) und von der „ökologischen Infrastruktur“ (Christof Mauch) die Rede. Heute spricht der deutsche Gesetzgeber wie selbstverständlich von einer „umweltbezogenen Daseinsvorsorge“ (Paragraf 2 Absatz 1 Nummer 2 Umweltinformationsgesetz). Die Schweiz hat ein Konzept der „ökologischen Infrastruktur“ entwickelt, und in der Europäischen Union wird mit der Strategie der „Grünen Infrastruktur“ eine „Aufwertung des europäischen Naturkapitals“ verfolgt.

Dieses Verständnis der Entwicklung von ökologischen Infrastrukturen lässt sich verallgemeinern: Gegenstand der „ökologischen Daseinsvorsorge“ ist die Biodiversität. Denn mit der Vielfalt innerhalb der Arten, der Vielfalt der Arten und der Vielfalt der Ökosysteme ist sie die umfassendste ökologische Repräsentation der Natur, die wir kennen. Die biodiverse Infrastruktur bildet die Grundlage des Lebens aller Arten einschließlich des Menschen im Anthropozän. Dem Menschen kommt in dieser biodiversen Infrastruktur eine Doppelstellung zu: Zum einen leben wir in ihr als eine Art unter vielen. Zum anderen sind wir die Art, die aufgrund ihres Lebensstils diese biodiverse Infrastruktur am meisten gefährdet. Wir haben deshalb eine besondere Verantwortung für die Bewahrung und Entfaltung der biodiversen Infrastruktur auf der Grundlage des konvivialen Nachhaltigkeitsprinzips. Dies verlangt beispielsweise, dass wir als Ausdruck der ökologischen Daseinsvorsorge ein biodiverses Konzept kritischer Infrastrukturen entwickeln, um diese effektiv zu schützen.

Ökologiepflichtigkeit des Eigentums

Der dritte Baustein anthropozäner Governance gewährleistet die „Ökologiepflichtigkeit“ des Eigentums.

Die Eigentumsgarantie ist in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung das zentrale Grundrecht, das die ökonomische Produktion und den konsumistischen Lebensstil der Menschen ermöglicht. Es bildet damit zugleich die Grundlage für die Veränderung, Ausbeutung und Zerstörung der Natur. Der wichtigste Grundsatz dieser anthropozentrischen Eigentumsordnung lautet: Natur hat man zu haben! Menschen können sich die Natur umsonst aneignen, um sie im kapitalistischen Produktions- und Konsumprozess zu verändern, auszubeuten und zu zerstören. Und weil es eine zentrale Funktion des Eigentumsrechts ist, die Voraussetzungen und Bedingungen seiner Entstehung individuell und gesellschaftlich, ökonomisch und politisch auszublenden, wird der ökologische Mehrwert, der in unserem gesamten Eigentum steckt, schlicht unsichtbar. Hier wird ein Grundsatz als individuelles Recht umgesetzt, dessen ökologisch desaströse Bedeutung wir bereits eingangs kennengelernt haben: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Deshalb ist es eine der zentralen Aufgaben anthropozäner Governance, die Ökologiepflichtigkeit des Eigentums zu gewährleisten. Das Eigentum der einzelnen Menschen und vor allem der Wirtschaft muss auf der Basis des konvivialen Nachhaltigkeitsprinzips ökologisch verfasst werden. Das ist im Rahmen der bestehenden verfassungsrechtlichen Garantien des Eigentums problemlos möglich. Dies zeigt ein Blick in das Grundgesetz (GG): Das Recht am Eigentum wird als ein Grundrecht garantiert (Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 GG). Es kann und muss aber inhaltlich ausgestaltet und beschränkt werden (Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG). Denn „Eigentum verpflichtet“ (Artikel 14 Absatz 2 Satz 1 GG). Es soll nicht allein dem Eigennutz, sondern muss zugleich auch dem Allgemeinwohl dienen (Artikel 14 Absatz 2 Satz 2 GG).

Dies bedeutet, dass im Anthropozän auf der Grundlage des konvivialen Nachhaltigkeitsprinzips eine vierdimensionale Eigentumsordnung geschaffen werden kann: Erstens werden besonders wichtige ökologische Bereiche aus der Eigentumsordnung ausgenommen, um sie besonders zu schützen, wie dies beispielweise heute bereits beim Grundwasser der Fall ist (Paragraf 4 Absatz 2 Wasserhaushaltsgesetz). Zweitens wird Eigentum inhaltlich so gestaltet und drittens so beschränkt, dass es sich organisch in die anthropozäne Gesellschaftsordnung einfügt, die dem konvivialen Nachhaltigkeitsprinzip verpflichtet ist. Und viertens ist mit den Rechten der Natur auch die Eigentumsfähigkeit der Natur anzuerkennen. So erhalten insbesondere Ökosysteme – als zentrale Faktoren der biodiversen Infrastruktur – die Fähigkeit, ihre Integrität selbst effektiv zu schützen und zugleich über ihre Ökosystemleistungen wirtschaftlich zu verfügen. Ich werde im Rahmen der Diskussion der Rechte der Natur sogleich darauf zurückkommen.

Die anthropozäne Antwort auf die ökologische Krise unserer eigentumsfixierten Gesellschaftsordnung liegt also keineswegs in der Abschaffung des Eigentums. Vielmehr bildet das Eigentum heute eine gesellschaftlich so weit verbreitete Grundstruktur, dass seine konsequent ökologische Gestaltung zugleich zu einer ökologischen Transformation unserer Gesellschaft führt. Mit der Um- und Durchsetzung der Ökologiepflichtigkeit des Eigentums macht die Governance des Anthropozäns aus der ökologischen Not des Eigentums eine ökologische Tugend des Eigentums. Der ökologische Mehrwert wird im Eigentum einer konvivialen Gesellschaftsordnung also unmittelbar sichtbar.

Rechte der Natur

Der vierte Baustein anthropozäner Governance erkennt die Rechte der Natur an.

Im Anthropozän genügt es nicht, die Natur „nur“ durch ökologische Staatszielbestimmungen zu bewahren, wie es beispielsweise das Grundgesetz tut: Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung (Artikel 20a GG). Staatszielbestimmungen wie diese schützen die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen allein „objektiv-rechtlich“. Das heißt: Allein der Staat entscheidet über die Reichweite des ökologischen Schutzes. Und dies bedeutet: Weder die Bürgerinnen und Bürger noch die Natur verfügen über subjektive Rechte, um den Staat anzuhalten, seinen ökologischen Verfassungspflichten tatsächlich nachzukommen. Die ökologische Verfassung des Grundgesetzes ist folglich statisch und ineffektiv.

Demgegenüber dynamisiert sich der Schutz der Natur, wenn nicht nur ökologische Rechte der Bürgerinnen und Bürger, sondern vor allem auch die Rechte der Natur anerkannt werden. Denn mit subjektiven Rechten verfügen insbesondere ökologische Personen über die Möglichkeit, die Rechtsordnung im eigenen Interesse in Bewegung zu setzen. Mit der Anerkennung der Rechte von ökologischen Personen schafft anthropozäne Governance also ökologische Rechtskonflikte, durch die sich die Natur effektiv selbst schützen und damit die Rechtsordnung insgesamt ökologisch weiterentwickeln kann. Aus diesem Grund sind die Rechte der Natur ein unverzichtbarer Baustein anthropozäner Governance.

Ecuador hat für die Anerkennung und Umsetzung der Rechte der Natur eine internationale Vorreiterrolle übernommen. Die ecuadorianische Verfassung erkennt die Natur (Pacha Mama) als Rechtssubjekt an und spricht ihr Rechte zu. Dabei entfaltet insbesondere die Regelung des Artikels 71 der Verfassung von Ecuador programmatische Bedeutung: Die Natur hat das Recht auf umfassende Achtung ihrer Existenz und auf Erhaltung und Erneuerung ihrer Lebenszyklen, ihrer Struktur und Funktionen sowie ihrer evolutionären Prozesse. Alle Personen, Gemeinschaften, Völker und Nationen können sich an staatliche Stellen wenden, um die Rechte der Natur durchzusetzen. Der Staat soll für natürliche und juristische Personen und Gemeinschaften Anreize setzen, um die Natur zu schützen und den Respekt für alle Elemente zu fördern, die ein Ökosystem umfasst.

Ausgehend von Ecuador hat sich ein internationaler Trend zur Anerkennung der Rechte der Natur entwickelt. So verfügt die Natur – insbesondere Tiere, Flüsse oder Ökosysteme – beispielsweise in Argentinien, Bangladesch, Bolivien, Indien, Kolumbien, Neuseeland und in den USA über Rechte. Spanien hat als erstes europäisches Land der Salzwasserlagune Mar Menor Rechtspersönlichkeit zuerkannt und ihr das Recht auf „Schutz, Erhaltung, Pflege und gegebenenfalls Wiederherstellung durch die Regierungen und die Anwohner:innen“ eingeräumt. In Deutschland hat das Landgericht Erfurt in zwei aufsehenerregenden und zugleich umstrittenen Urteilen vom 2. August und 17. Oktober 2024 die Eigenrechte der Natur unter Bezugnahme auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) anerkannt. Das Landgericht hat die Rechte ökologischer Personen – der Natur und einzelner Ökosysteme – aus dem Recht auf Leben (Artikel 2 GRC) und dem Recht auf Unversehrtheit (Artikel 3 GRC) in Verbindung mit der grundrechtlichen Gewährleistung des Umweltschutzes (Artikel 37 GRC) hergeleitet. In einem nächsten Schritt wäre es wichtig, die Rechte der Natur im Grundgesetz zu verankern und in einem ökologischen Gesetzbuch im Einzelnen auszugestalten. Insofern könnten zunächst einzelne Ökosysteme (zum Beispiel Berge, Flüsse und Landschaften) als ökologische Personen anerkannt und ihre Vertretung durch spezifische Mandatserteilung, Naturschutzverbände sowie Bürgerinnen und Bürger geregelt werden. Auf der Grundlage erster Erfahrungen mit diesen Regelungen wäre eine weitere Ausgestaltung der Rechte der Natur angezeigt, etwa mit Blick auf die Regelung der Rechte von Tieren und charismatischen Pflanzen.

Die Anerkennung der Rechte der Natur soll nicht allein deren Integrität effektiv schützen. Sie ergänzt vielmehr auch das soeben vorgestellte Verständnis ökologischen Eigentums in einer biodiversen Infrastruktur der anthropozänen Gesellschaft: Als ökologische Personen verfügen insbesondere Ökosysteme auch über ein Recht auf Eigentum an ihren Ökosystemleistungen, die sie an Menschen verkaufen können, um die Erlöse wiederum in sich selbst, ökologische Projekte oder die Ökologisierung der Industrie zu investieren. Dabei sorgt das konviviale Nachhaltigkeitsprinzip dafür, dass im Rahmen dieser ökologischen Kreislaufwirtschaft der ökologische Eigenwert der Natur gewahrt wird. Auf diese Weise ist ökologischer Raubbau in der anthropozänen Gesellschaft ausgeschlossen.

Recht auf Zukunft

Der fünfte Baustein anthropozäner Governance gewährleistet das „Recht auf Zukunft“.

Die menschliche Gesellschaft ist auf ihre gegenwärtigen Interessen fixiert. Das kapitalistische Wirtschaftssystem fokussiert auf kurzfristige Gewinnchancen. Demokratische Regierungssysteme entwickeln aufgrund der Wahlperioden eine politische Kurzsichtigkeit, wenn es um eine verantwortungsvolle Gestaltung der Zukunft geht. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Klima-Beschluss vom 24. März 2021 das „Recht auf intertemporale Freiheitssicherung“ (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20a GG) anerkannt. Mit der verfassungsrechtlichen „Entdeckung“ dieses Rechts reagierten die Karlsruher Richterinnen und Richter auf die laufende Klimakatastrophe: Die heute sozial, politisch und wirtschaftlich vorherrschenden Generationen müssen sich angesichts eines begrenzten CO2-Budgets in ihrer Freiheit beschränken, um den jetzt jungen Menschen und damit zugleich künftigen Generationen nicht jede Freiheitsentfaltung zu rauben. Dieses „Recht auf Zukunft“ ist im Rahmen anthropozäner Governance weiter auszudifferenzieren. Denn es geht mit Blick auf die Umsetzung konvivialer Nachhaltigkeit in der anthropozänen Gesellschaft nicht allein um die Gewährleistung künftiger Freiheit, sondern auch um die Garantie künftiger Gleichheit und künftiger Teilhabe.

Deshalb muss neben das Recht auf intertemporale Freiheitssicherung ein Recht auf intertemporale Gleichheitssicherung und ein Recht auf intertemporale Teilhabesicherung treten. Das Recht auf intertemporale Gleichheitssicherung ist dabei als ein individuelles Gleichheitsrecht zu verstehen, das die gerechte Verteilung von knappen Gütern über die Zeit sichert. Es findet seine Rechtsgrundlage im Allgemeinen Gleichheitssatz (Artikel 3 Absatz 1 GG) in Verbindung mit dem ökologischen Staatsziel (Artikel 20a GG) und ist auf eine nachhaltige und generationengerechte Ressourcenpolitik gerichtet (etwa mit Blick auf Bodenschätze). Das Recht auf intertemporale Teilhabesicherung ist auch ein individuelles Teilhaberecht, das eine angemessene Partizipation an der biodiversen Infrastruktur über die Zeit garantiert. Es findet seine Rechtsgrundlage in der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 GG) und ebenfalls im Allgemeinen Gleichheitssatz in Verbindung mit der ökologischen Staatszielbestimmung und zielt insbesondere darauf, dass auch junge Menschen und künftige Generationen in einer biodiversen Welt leben können.

Ökologischer Idealismus oder Materialismus?

Diese Bausteine anthropozäner Governance verdeutlichen zweierlei: Zum einen ist ein grundlegender ökologischer Wandel unserer Gesellschafts-, Wirtschafts- und Verfassungsordnung notwendig, wenn wir die Herausforderungen des Anthropozäns konstruktiv annehmen wollen. Zum anderen sind die Bausteine, die wir im Rahmen einer verantwortungsvollen Governance im Anthropozän brauchen, in ihrer rechtlichen Grundstruktur bereits bekannt: Nachhaltigkeit, Infrastrukturen, Eigentum und Rechte. Wir müssen sie nur konvivial denken und ökologisch ausgestalten. Das konviviale Nachhaltigkeitsprinzip, die biodiversen Infrastrukturen, die Ökologiepflichtigkeit des Eigentums, die Rechte der Natur und das Recht auf Zukunft sind dabei nicht nur abstrakte Gebote eines ökologischen Idealismus, sondern (auch) konkreter Ausdruck eines ökologischen Materialismus: Wenn wir unseren naturkonsumierenden und naturzerstörenden Lebensstil, der zu dem exponentiellen Artensterben, der fortschreitenden Klimakatastrophe und in die globale Vermüllung geführt hat, nicht ändern, steht nur eines fest: Die Natur wird nicht mit uns verhandeln – und ein „Zurück zur Natur“ wird dann für uns Menschen zu einer noch katastrophaleren Realität.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Paul J. Crutzen, Geology of Mankind, in: Nature 415/2002, S. 23.

  2. Vgl. Christian Schwägerl, Keine Epoche für die Menschheit, 6.3.2024, Externer Link: http://www.spektrum.de/news/2210153.

  3. Vgl. Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben, München 20183.

  4. Gunnar Folke Schuppert/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, Baden-Baden 2008.

  5. Vgl. hierzu und zum Folgenden Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, Berlin 20182, S. 25ff., S. 43ff.

  6. Vgl. hierzu und zum Folgenden Jens Kersten, Konviviale Nachhaltigkeit. Begriff – Konzept – Dogmatik, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 9/2024, S. 614–620.

  7. World Commission on Environment and Development, Our Common Future, Oxford 1987, S. 42.

  8. Vgl. Sigrid Boysen, Die postkoloniale Konstellation. Natürliche Ressourcen und das Völkerrecht der Moderne, Tübingen 2021, S. 89.

  9. Vgl. Die konvivialistische Internationale, Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-neoliberale Welt, Bielefeld 2020.

  10. Vgl. Kersten (Anm. 6), S. 617f.

  11. Hubert Markl, Natur als Kulturaufgabe. Über die Beziehung des Menschen zur lebendigen Natur, Stuttgart 1991, S. 317; Christian Schwägerl, Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Wie wir heute die Welt von morgen schaffen, München 2012, S. 126; Christof Mauch, Mensch und Umwelt, Nachhaltigkeit aus historischer Perspektive, München 2014, S. 68.

  12. Vgl. Bundesamt für Umwelt, Ökologische Infrastruktur, 8.11.2024, Externer Link: http://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/biodiversitaet/oekologische-infrastruktur.html.

  13. Vgl. Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission, COM(2013) 249 final, 6.5.2013. Für Deutschland vgl. Bundesamt für Naturschutz, Bundeskonzept Grüne Infrastruktur, Bonn 2017, Externer Link: http://www.bfn.de/bundeskonzept-gruene-infrastruktur.

  14. Vgl. hierzu und zum Folgenden Jens Kersten, Die Verfassung öffentlicher Güter, Baden-Baden 2023, S. 138ff.

  15. Jörg Leimbacher, Die Rechte der Natur, Basel–Frankfurt/M. 1988, S. 268ff.

  16. Vgl. hierzu und zum Folgenden Jens Kersten, Das ökologische Grundgesetz, München 2022, S. 92ff.

  17. Vgl. Tilo Wesche, Die Rechte der Natur. Vom nachhaltigen Eigentum, Frankfurt/M. 2023.

  18. Vgl. hierzu und zum Folgenden Jens Kersten, Natur als Rechtssubjekt. Für eine ökologische Revolution des Rechts, in: APuZ 11/2020, S. 27–32.

  19. Vgl. Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Tübingen 1905, S. 51, S. 56f.

  20. Vgl. hierzu und zum Folgenden Andreas Gutmann, Hybride Rechtssubjekte. Die Rechte der „Natur oder Pacha Mama“ in der ecuadorianischen Verfassung von 2008, Baden-Baden 2021.

  21. Vgl. Andreas Gutmann, Der globale Trend zu Rechten der Natur: Entsteht ein dekoloniales und ökologisches Recht von unten?, in: Frank Adloff/Tanja Busse (Hrsg.), Welche Rechte braucht die Natur? Wege aus dem Artensterben, Frankfurt/M.–New York 2021, S. 133–146.

  22. Helen Arling, Wo, wie und warum Ökosysteme klagen, 5.9.2023, Externer Link: http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/rechte-der-natur-umweltschutz-naturschutz-rechtssubjekt-oekologie-verfassung.

  23. Vgl. Landgericht Erfurt, Urteil vom 2.8.2024 – 8 O 1373/21, Beck-Rechtsprechung 2024, 19541, Rn. 23–33; Landgericht Erfurt, Urteil vom 17.10.2024 – 8 O 836/22, Beck-Rechtsprechung 2024, 28189, Rn. 22–84. Siehe auch Tilo Wesche, Fremdes Eigentum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 26.10.2024, S. 14; kritisch dazu Christian Calliess, Hat die Natur eigene Rechte?, in: FAZ, 14.11.2024, S. 7.

  24. Zu den unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Ausgestaltungsmöglichkeiten vgl. Kersten (Anm. 16), S. 104ff.

  25. Vgl. hierzu und zum Folgenden Wesche (Anm. 17), S. 141ff.

  26. Constanze Janda, Sozialstaat for Future. Der Klima-Beschluss des BVerfG und seine Bedeutung für die Sozialgesetzgebung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 5/2021, S. 149–153, hier S. 153.

  27. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 24.3.2021 – 1 BVR 2656/18, 78, 96, 288/20, BVerfGE 157, 30, Rn. 122, 183.

  28. Vgl. hierzu und zum Folgenden Jens Kersten/Elisabeth Kaupp, Die Verfassung einer prospektiven Gesellschaft. Wie zukunftsoffen ist das Grundgesetz?, in: Juristische Schulung 6/2022, S. 473–482, hier S. 478.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jens Kersten für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München.