Die Luft war klirrend kalt, als Vladislaw Ignatenko im Winter 2023 vor einem kleinen Tross aus Journalisten und Kameraleuten posierte. Während die Weltgemeinschaft sich weit entfernt im dauersommerlichen Dubai zur UN-Klimakonferenz traf, war der ukrainische Umweltstaatsanwalt für diesen Termin extra in eines der Dörfer im Süden der Region Cherson gereist. Um ihn herum wuselten etwa ein Dutzend Personen, ausgestattet mit Gummistiefeln, Spaten und Klemmbrettern, die damit beschäftigt waren, Erde in Plastiktüten zu verpacken und diese akribisch zu beschriften, um ihren Fund dann mit kleinen roten Fähnchen zu kartografieren. Der kahlen Landschaft, die farblich einer grün-bräunlichen Palette verblichener niederländischer Meister zu entspringen schien, verliehen die roten Punkte fast etwas Weihnachtliches.
Die vermeintliche Adventsstimmung war jedoch trügerisch. Im Untergrund schälten sich bereits skeletthaft die Konturen einer zerstörten Landschaft heraus, die noch Monate nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023 den Abdruck einer 18 Milliarden Kubikmeter starken Wasserwalze trug. Diese hatte nicht nur Häuser, Höfe und Getier, sondern auch Tausende Tonnen nicht explodierter Minen, Chemikalien, Abwasser und kontaminierter Schlammablagerungen gen Schwarzes Meer mit sich gerissen. Am Ende hatte sie die Lebensgrundlage zahlreicher Menschen vernichtet und großflächige Wald- und Naturschutzgebiete zerstört.
Auch wenn die Natur nicht wie in diesem Fall als Waffe (oder Geisel) eingesetzt wird, verändern militärische Aktivitäten unseren Planeten fundamental und dauerhaft. In Brand gesetzte Öltanks setzen Kohlendioxid und giftigen Rauch frei, Minen und als Kampfstoffe eingesetzte Chemikalien schädigen Felder, Wälder und Wildtiere. Derartige kriegsbedingte Zerstörungen sind in jüngerer Zeit nicht nur in der Ukraine zu beobachten, sondern ebenso im Jemen, im Sudan, im Libanon oder in den Palästinensergebieten. Während das genaue Ausmaß aktueller Konflikte sich erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten beziffern lässt, bezeugt die historische Perspektive schon jetzt den massiven Einfluss militärischer Aktivität auf den Planeten. Historische Schlachtfelder, militärische Liegenschaften, Produktionsstätten und Müllhalden sind stille Zeugen dessen, was vom Krieg auch im Frieden bleibt. Toxische Partikel von chemischen Kampfstoffen halten sich oft über Jahrzehnte oder – bedenkt man die Halbwertszeit radioaktiver Partikel – gar über Jahrhunderte oder Jahrtausende im Boden und Gestein.
Ob das Anthropozän nun als neue geologische Epoche offiziell anerkannt ist oder nicht: Als Analysezeitraum für das Zeitalter des Menschen ist es ohne Einbezug militärischer Akteure und Aktivitäten undenkbar. Doch bei der Diskussion um das Anthropozän und den Einfluss des Menschen auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse stehen meist vor allem zivile Aktivitäten und eine auf Ungleichheit und Ausbeutung basierende kapitalistische Ökonomie im Fokus.
„Von der Natur des Krieges“ im Anthropozän
Es liegt in der „Natur“ eines jeden Krieges,
Bis zu den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges war der spezifische militärisch-taktische Blick auf die natürlichen Gegebenheiten häufig kriegsentscheidend: Wie könnten sich Meerengen und Schluchten, Bergpässe und weite Ebenen zum eigenen Vorteil nutzen lassen? Schon Karl der Große erarbeitete sich an der Veroneser Klause, dem Ausfluss der Etsch in die norditalienische Ebene, einen entscheidenden Vorteil, indem er mit seinem Heer drumherum marschierte, nicht hindurch.
Heute noch mehr als zu Napoleons Zeiten beginnt die kriegsbedingte Umweltzerstörung in der Regel schon lange vor den eigentlichen Kampfhandlungen: an militärischen Produktionsstätten oder Truppenübungsplätzen, bei der Erprobung von Gerätschaft und der Ausbildung von Rekruten. Dabei greifen Streitkräfte immer auch in die zivile Landschaft und die Natur ein, etwa durch chemische Verschmutzung oder schlicht durch Lärm.
Insbesondere mit der Industrialisierung des Krieges, epochal festgemacht am Ersten Weltkrieg, erhielt der ökologische Fußabdruck des Krieges eine neue Qualität. In Kriegsgebieten und an Militärstützpunkten wurden seither große Mengen gefährlicher Stoffe freigesetzt. Chemische Verbindungen wie Chlor, Phosgen oder Senfgas verlängerten die Wirkung ballistischer militärischer Interaktionen. Einmal in die Luft gelangt, schädigten die Kampfstoffe auch Ökosysteme und Menschen, die weit vom eigentlichen Kampfgeschehen entfernt waren. Seit dem Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg war es überlebenswichtig, nicht nur die Gasmaske schnell zur Hand zu haben, sondern auch zu wissen, aus welcher Richtung der Wind wehte.
Die Möglichkeit der Kernspaltung von angereichertem Uran vergrößerte den ökologischen Fußabdruck des Militärs nochmals bedeutend, wurde er jetzt doch potenziell über Jahrtausende haltbar.
Den Krieg im Frieden entsorgen
Die Idee vom Anthropozän als Zeitalter des Menschen stört traditionelle Vorstellungen von historischer Zeitlichkeit. Üblicherweise sind diese an politischen Wahlzyklen oder menschlichen Generationen ausgerichtet – nun werden ihnen Halbwerts- und Verwesungszeiten von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden an die Seite gestellt.
In der Tat ist das, was vom Krieg übrig bleibt, seit dem Ersten Weltkrieg ein anhaltendes Problem. 1945 beschlagnahmten die Alliierten allein auf dem Gebiet des untergegangenen „Dritten Reiches“ mehr als 300.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe.
So wurde auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs an einer Strategie gearbeitet, die Hinterlassenschaften des Krieges zu entsorgen. Zunächst schienen die Weltmeere mit ihrer enormen Größe und ihrer Undurchsichtigkeit eine geeignete Lösung zu bieten, um die veralteten Kampfstoffe nicht nur außer Reichweite zu bringen, sondern auch unauffindbar zu machen. Die Verklappung auf See hatte schon in den 1920er Jahren Schule gemacht.
1946 startete das US-Militär die geheime Operation „Davy Jones’ Locker“ („Davy Jones’ Spind“ – ein unter Seeleuten verbreiteter Ausdruck für den Meeresgrund als letzte Ruhestätte) und schuf damit eine neue Version des mythischen Seemannsgrabs.
Natürliche und menschengemachte Grenzen
Der militärhistorische Blick auf das Anthropozän schafft nicht nur ein Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeitlichkeiten, sondern schärft auch den Blick für das Thema Grenzen. Die vielzitierten Grenzen des Wachstums, planetare Grenzen oder entsprechende Kipppunkte sind in der Debatte um das Anthropozän beziehungsweise um den menschlichen Einfluss auf den Planeten zentral. Über die damit zusammenhängende Frage nach notwendigen Einschränkungen und Grenzziehungen wird mitunter zwar sehr leidenschaftlich, bislang aber weitgehend ergebnislos gestritten.
Während es in der Diskussion im zivilen Bereich um das Setzen geeigneter Schwellenwerte und Indikatoren geht, liefert die Militärgeschichte bereits interessante Beispiele erfolgreicher Selbstbeschränkung. Neben der erwähnten London Dumping Convention von 1972 ist etwa die sogenannte ENMOD-Konvention zu nennen, die 1976 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Ihr Name ist abgeleitet von Environmental Modification: Das Übereinkommen verbietet den kriegerischen Einsatz umweltverändernder Techniken. Noch zu Beginn des Kalten Krieges hatten Wissenschaftler im Westen wie im Osten verschiedene Möglichkeiten zur Maximierung menschlicher Opferzahlen durch die Bewaffnung von Mutter Natur erforscht. Sie erstellten Studien über jahrhundertealte Krankheiten, um zu verstehen, wie man Pandemien erzeugt, experimentierten mit Wettermodifikationen und eruierten Möglichkeiten, nukleare Abfälle als Waffen zur großflächigen Verseuchung einzusetzen. Auf dem Höhepunkt des Koreakrieges schlug etwa der US-amerikanische Kongressabgeordnete Al Gore Sr. vor, radioaktive Abfälle entlang der Grenze zwischen Nord- und Südkorea zu deponieren.
Es waren vor allem die Bilder vollkommen entlaubter Kraterlandschaften aus Vietnam, die schließlich dazu führten, dass der Einsatz der Natur als Waffe verboten wurde. Zehn Jahre lang, zwischen 1961 und 1971, hatte die US-Luftwaffe fast 20.000 Sprüheinsätze über Südvietnam und entlang des Ho-Chi-Minh-Pfads in Laos und Kambodscha geflogen. Sie setzte dabei etwa 20 Millionen Liter an Herbiziden frei, das berüchtigtste darunter Agent Orange, das eine bis zu 50-fach höhere Konzentration an Dioxinen enthielt, als für die Abtötung von Pflanzen im Garten empfohlen wurde. Die dahinterstehende Logik des US-Militärs: Wenn der Vietkong das Gelände nutzte, um sich zu verstecken und vom Landbau zu leben, würden die Entlaubung der Bäume und die Zerstörung der Ernten unweigerlich zum Sieg führen. Unter anderem gegen diese Art der Kriegführung gingen Angehörige der 68er-Generation weltweit auf die Straße. Senator Robert F. Kennedy, ein prominenter Gegner des Vietnamkriegs, bemühte in seinem Protest die berühmten Worte eines britannischen Heerführers aus dem ersten Jahrhundert nach Christus: „Sie schufen eine Wüste und nannten es Frieden.“
Nach einem komplizierten Aushandlungsprozess reichten die USA und die Sowjetunion schließlich im August 1975 bei den Vereinten Nationen eine gemeinsame Vorlage für eine Konvention über das Verbot militärischer oder sonstiger feindlicher Techniken zur Veränderung der Umwelt ein. Drei Jahre später trat das Umweltkriegsübereinkommen in Kraft. Die ENMOD-Konvention ist eine einzigartige Verknüpfung von Umweltrecht und internationalem Völkerrecht und dient der Ukraine heute als Grundlage ihres Vorstoßes, Russland des Ökozids anzuklagen.
Die Militärgeschichte des Anthropozäns zeigt nicht nur, dass die Menschheit sich selbst Grenzen setzen kann (und sollte), sondern auch, dass militärischen Akteuren vielleicht schon früher als anderen bewusst wurde, dass die Natur eigenen Logiken folgt. Verdeutlichen lässt sich dies an der Geschichte von „Camp Century“, einer US-amerikanischen Militärbasis im „ewigen Eis“ Grönlands. Hier entstand 1959, etwa 1.200 Kilometer vom Nordpol entfernt, eine Stadt unter dem Eis, die eher einem James-Bond-Film als der Realität entsprungen zu sein schien. 1960 wurde sie der amerikanischen Öffentlichkeit als „Symbol des unaufhörlichen Kampfes des Menschen, seine Umwelt zu erobern“ vorgestellt, mit dem die technologische Überlegenheit der USA und des American Way of Life demonstriert werde.
Allerdings machte das Eis die Pläne zunichte, noch bevor das „Project Iceworm“ beginnen konnte. Der Gletscher bewegte sich stärker als angenommen. Tunnel und Kavernen verbogen sich, ihre Decken drohten einzustürzen. Schon zwei Jahre nach Eröffnung der Militärbasis hatte sich die Decke über dem Kernreaktortunnel um anderthalb Meter gesenkt. Zunächst kämpften die Soldaten noch gegen die sich bewegenden Eismassen an und schaufelten monatlich mehr als 120 Tonnen Schnee und Eis beiseite. Doch der Gletscher blieb unbeeindruckt; 1964 wurde der Atomreaktor aus Sicherheitsgründen abgebaut, 1967 gab das US-Militär „Camp Century“ endgültig auf. Rund 240.000 Liter Abwasser, 200.000 Liter Dieseltreibstoff und 9.200 Tonnen Gebäudeteile, Schienenreste und andere feste Überreste der Anlagen wurden im Eis zurückgelassen. Ebenfalls im Eis eingeschlossen blieb eine unbekannte Menge schwach radioaktiver Abfälle, größtenteils in Form von verseuchtem Kühlwasser aus dem Reaktor. Noch sind diese toxischen Überreste unter einer Eisschicht vergraben. Doch infolge der klimawandelbedingten Erderhitzung beginnt auch diese Region im Norden Grönlands allmählich aufzutauen.
Militärische Altlasten als Umweltkulturerbe
Lecke Container, versenkte chemische Kampfstoffe, die wieder auftauchen, oder militärisches Geheimwissen, das von der Eisschmelze wieder freigelegt wird – all diese Beispiele fügen sich zusammen zu einer ambivalenten Geschichte der Unmöglichkeit. Und vielleicht ist dies die wichtigste Lehre einer militärhistorischen Perspektive auf das Anthropozän: Krieg, in den Frieden verlängert durch die Narben einer bombenzerfurchten, chemikaliengetränkten Landschaft, lässt sich nicht entsorgen. Selbst abgetragenes kontaminiertes Erdreich kann nach einem chemischen „Waschvorgang“ nicht sortenrein zurückgeführt werden. Etwas bleibt immer, manchmal auch für immer.
In der Regel verschwinden Altlasten rasch aus dem öffentlichen Gedächtnis – meist, weil sie willentlich oder unwillentlich unsichtbar gemacht werden. Noch so manche „Lösung“ der Kriegsentsorgung ist ein lokales Geheimnis, und immer wieder ist der Kampfmittelräumdienst gefragt, Verdachtsfälle zu überprüfen. Nach erfolgter Sanierung verliert sich dann der öffentliche Papiernachweis, auch wenn Experten die Spuren in der Landschaft noch lange lesen können. Ein historischer Blick hilft dabei, die langen Prozesse zu erkunden, wie Altlasten entstanden sind, wie sie wahrgenommen wurden und wie spätere Generationen damit umgingen, sie problematisierten oder versuchten, sie abzumildern oder gar zu beheben.
Die Wahner Heide, eine Landschaft zwischen Köln und Bonn, ist ein Beispiel einer geglückten Zusammenführung von Altlast-Sanierung und -Historisierung. Ab 1817 als preußischer Truppenübungsplatz genutzt, wurde das Gebiet nach wechselnder Besetzung von 1951 bis 2004 von belgischen NATO-Truppen genutzt. Obgleich in militärischer Verwendung, wurde das Gelände bereits 1931 zum Naturschutzgebiet erklärt. Nach Abzug der Militärs erklärte die Bundesregierung das Gebiet 2006 zum Nationalen Naturerbe und gab die Heide für die zivile Öffentlichkeit frei. Gelegen zwischen der Autobahn 3 und dem Flughafen Köln-Bonn ist die Wahner Heide heute ein Naturschutzgebiet, das aufgrund seiner Verzahnung von Sandheide mit Sümpfen, Heidemooren und Bruchwäldern, offenen Dünenlandschaften in Nachbarschaft zu Tümpeln, Teichen und Feuchtwiesen mit Blütenmeeren aus Arnika und Orchideen in Europa einzigartig ist. Ironischerweise ist es gerade der jahrzehntelangen militärischen Nutzung geschuldet, dass das Gebiet seinen Heidecharakter mit großflächigen Offenlandbereichen behalten hat, baulichen Begehrlichkeiten aus Köln und der damaligen Hauptstadt Bonn trotzen konnte und so einer ganzen Reihe seltener Arten Zuflucht bieten konnte. Heute sind dort mehr als 700 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten heimisch, die auf der Roten Liste der gefährdeten Arten stehen.
Gleichzeitig betreibt die Deutsche Bundesstiftung Umwelt, die das Gebiet zusammen mit einer Bürgerinitiative verwaltet, keine geschichtsvergessene Naturschutzpolitik. Die Wanderwege sind gesäumt mit Hinweisen, die an die Überreste aus 200 Jahren militärischer Präsenz unter den Füßen der Spaziergänger erinnern – nicht ganz unähnlich den roten Fähnchen zu Füßen des ukrainischen Umweltstaatsanwalts in Cherson. An vier musealen Standorten können Besucher die wandlungsreiche Geschichte des Gebiets nachvollziehen und ihre eigene Präsenz auf dem stellenweise noch immer kontaminierten Gebiet einordnen. Ein Besuch der Wahner Heide ist gelebte Ambivalenz – und eine mögliche Antwort auf die Frage, wie mit dem, was vom Krieg bleibt, umgegangen werden kann.
Als Umweltkulturerbe verstandene Altlasten könnten gar noch mehr leisten: Künstlerische Interventionen zum Thema Krieg und Überreste, Citizen-Science-Projekte, Stadtgespräche oder geführte Wanderungen, die das Leben mit toxischen Überresten thematisieren, sind weitere Möglichkeiten, um die Ambivalenz des Gebiets noch stärker in den Fokus zu rücken und die Frage auszuloten, was es heißt, auf einem dauerhaft kontaminierten Planeten zu leben. Militärische Liegenschaften, ehemalige Schlachtfelder oder Truppenübungsplätze repräsentieren eine der größten Herausforderungen der ökologischen Transformation. Gleichzeitig symbolisieren sie auch großes Potenzial, wenn wir sie eben nicht nur als Altlast verstehen – wenn wir nicht nur darauf aus sind, sie zu sanieren und zu sichern, sondern sie auch wahrnehmen als Mahnmal unbequemer Wahrheiten, die nicht nur die Entstehung, sondern auch das Leben im Anthropozän ganz grundsätzlich charakterisieren.