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Anthropozän Editorial Wir Erdlinge. Eine planetarische Perspektive auf die menschliche Geschichte – Essay Endstation oder Startpunkt Golden Spike? Die geologische Debatte um das Anthropozän Geschichtswissenschaft im Anthropozän Historischer Fallout. Zur Militärgeschichte des Anthropozäns Governance im Anthropozän

Geschichtswissenschaft im Anthropozän

Sandra Maß

/ 17 Minuten zu lesen

Verglichen mit den geologischen Zeitdimensionen erscheint die Zeit der Geschichtswissenschaft überschaubar. Beide systematisch zu verbinden, ist eine unrealistische Forderung – probieren sollte man es aber trotzdem. Hierfür steht der Ansatz der More-Than-Human History.

„Ein Gespenst geht um in Europa“ – der Satz ist uns vertraut – „das Gespenst des Anthropozäns“. Die inhaltliche Anpassung des ersten Satzes des „Kommunistischen Manifests“ aus dem Jahr 1848 an die heutigen Verhältnisse liegt nahe: „Alle Mächte der alten Geisteswissenschaften haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet …“ Doch schon an dieser Stelle beginnt die Übertragung zu hinken: Aufmerksamen Beobachtern ist vermutlich aufgefallen, dass keineswegs ein Bollwerk der Geisteswissenschaften gegen das Anthropozän entstanden ist, sondern dass neben der euphorischen Umarmung bestenfalls Zurückhaltung und Skepsis vorherrschen.

Dennoch: Eine Rhetorik der Revolution liegt in der Luft, wie so häufig bei dem Versuch, neue Ansätze in der Wissenschaft zu etablieren. So wurde im Rahmen der Debatte über das Anthropozän in den zwei zurückliegenden Jahrzehnten eine geisteswissenschaftliche Revolution ausgerufen und zum Abriss disziplinärer Klassenschranken aufgefordert, der Planet wurde dichotom in Täter und Opfer, besser: Profiteure und Verlierer eingeteilt. Zugleich wurden Verteidigungsreden für den Status quo und den geisteswissenschaftlichen Fokus auf den Menschen gehalten. Zu denken ist auch an die Barrikadenkämpfe der durchaus geisteswissenschaftlich geprägten Anthropocene Working Group mit dem Vatikan der Geologen, einer Unterkommission der Internationalen Kommission für Stratigrafie. Diese Auseinandersetzung über die Anerkennung des Anthropozäns als neue geologische Epoche fand Anfang 2024 ihren Höhepunkt und ihr vorläufiges Ende mit einer zehnjährigen Verbannung der Antragsteller. Geologisch gibt es das Anthropozän nun nicht, das unterstreicht einmal mehr seinen gespenstischen Charakter. Doch ist es sinnvoll, die Rolle des Anthropozäns in den Geisteswissenschaften als disziplinäre Revolution und als potenziellen Niedergang der alten epistemischen Ordnung zu begreifen?

Die Antwort fällt abwägend aus: Einerseits sind Zweifel am revolutionären Charakter des Anthropozäns angebracht, weil davon ausgegangen werden kann, dass es epistemische Unverträglichkeiten zwischen Disziplinen gibt. Dies wird im Folgenden in einem ersten Teil am Beispiel von Zeitkonzepten und der Zeitlichkeit der Natur illustriert. Andererseits liegt in vielen Konzepten der Anthropozändebatte – nicht im Anthropozän als Gegenstand, sondern in ihrem theoretischen Angebot – eine Chance für eine grundlegend neuartige Form der Geschichtsschreibung, die wir angesichts der sich verschärfenden Klimakrise nötig haben. Im zweiten Teil des Textes werde ich deshalb am Beispiel der More-Than-Human History einen Entwurf für eine „kontaminierte“ und relationale Geschichtsschreibung skizzieren, die über die üblichen Räume und Gegenstandsbereiche der bisherigen Geschichtswissenschaft hinausreicht. Das ist keine Revolution, aber ein Vorschlag für eine Ausdehnung unseres geschichts- und geisteswissenschaftlichen Gesichtsfeldes – mithin eine Aufkündigung der die Disziplin vormals begründenden Selbstdefinition. Ich verstehe dies als ein Plädoyer für das Augenmaß einer Stubenfliege mit einem Facettenauge, das in der Lage ist, die Vielfalt von Relationen in einem weiten Blickfeld auch an den Rändern scharf zu sehen. Dafür muss man nicht immer das noch nie Dagewesene denken, sondern es kann auch bedeuten, sich um die Entdeckung von marginalisierten Traditionen in den historisch arbeitenden Wissenschaften zu bemühen.

Ausgangspunkt

Der Ausgangspunkt für die Ausrufung einer neuen geologischen Epoche war die wissenschaftliche Durchsetzung des erdsystemwissenschaftlichen Paradigmas, dass der Einfluss des Menschen auf den Planeten in vielen Bereichen deutlich messbar ist. Neben Plattentektonik, Erosion, Vulkanausbrüchen und Meteoriteneinschlägen als bekannte Ursachen für Veränderungen im Erdsystem ist ein neuer Akteur hinzugekommen: der Mensch. Da alle Sphären des Erdsystems – etwa Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre – über sogenannte Stoffflüsse miteinander verbunden sind, hat der Einfluss des Menschen auf eine Sphäre auch Effekte auf die anderen. Im Zentrum der geisteswissenschaftlichen Anthropozändebatte steht die grundlegende Annahme, dass es keinen separaten Raum der „Natur“ gibt, der „von außen“ menschlich beeinflusst wird, sondern vielmehr eine Verflechtung zwischen allen Sphären.

Die Geschichtswissenschaften werden unter den Bedingungen der sich verschärfenden Klimakrise deutlich herausgefordert: in der Forschung, in der Lehrerausbildung, in der öffentlichen Vermittlung. Wir sollten besser jetzt damit anfangen, uns darüber Gedanken zu machen, welche Funktionen die Geschichtswissenschaft in Zukunft übernehmen soll. Historikerinnen und Historiker sind traditionell zögerlich, wenn es um Zukunftsaussagen geht, in jüngerer Zeit aber scheint die Zurückhaltung zu weichen. „What does it mean to be a historian on a planet on fire?“, fragten kanadische Historiker 2021. Andere wie Julia Adeney Thomas, Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz, Dipesh Chakrabarty und Frank Uekötter suchen nach einem neuen narrativen Stil, der die Unterteilung der Geschichtsschreibung in klar abgegrenzte Bereiche überwindet, sie suchen nach neuen Methoden und auch nach neuen Quellen. Ein Konsens besteht dabei in der Ablehnung dichotomer Natur-Kultur-Vorstellungen, in der Anerkennung der Notwendigkeit, naturwissenschaftliche Forschungen stärker in die geisteswissenschaftlichen Perspektiven zu integrieren sowie im Bemühen um Pluralisierung von Zeitstrukturen in Geschichtsnarrativen.

Von der Zeitlichkeit der Natur

Im 19. Jahrhundert definierte sich die Geschichtswissenschaft vor allem über Abgrenzung: gegenüber den Natur- und Sozialwissenschaften, gegenüber den Ingenieuren und anderen Technikern sowie gegenüber Ethnologen und Anthropologen. So entstand eine hegemoniale Definition einer Disziplin, die den Tätigkeitsbereich von Historikern eng skizzierte: erstens sei die menschliche Geschichte zu untersuchen, die sich in materiellen und schriftlichen Überresten dokumentieren ließe; zweitens, so viele Historiker des 19. Jahrhunderts, sollte die Historiografie als nationale Wissenschaft zuvorderst dem Staat und der Nation dienen. Mit dieser Fokussierung ging häufig die Exklusion von nichtschriftlichen Kulturen und Naturphänomenen einher. Die Konzentration auf das schriftliche, in staatlichen Archiven verwahrte Dokument diente der Abgrenzung von anderen, neu entstehenden Disziplinen. Zudem verfestigte sich damit das eurozentrische Narrativ von der Geschichtslosigkeit oraler Gesellschaften, und die Überreste der Natur – Fossilien, Skelette, Gestein, aber auch zunehmend Wetter- und Klimadaten – fanden nur bedingt Eingang in das Quellenkorpus der universitär verankerten Historiker.

Nicht nur die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, sondern auch andere europäische Historiker machten unmissverständlich klar, dass Gegenstände, die keine schriftliche Überlieferung gefunden hatten, in den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften, der Naturgeschichte oder anderer Geisteswissenschaften fallen sollten. Die vermeintliche „Gesetzmäßigkeit“ des zyklischen Wandels der Natur, so Johann Gustav Droysen in seiner „Historik“, sei keine Geschichte, das „Seiende“ der Natur sei „nur Material; in seinen individuellen Erscheinungen ist es uns verschlossen, unverständlich, gleichgültig“. Eine derart rigide Position war in den weiteren Kreisen der Geschichtswissenschaft jedoch nicht unumstritten. Schon immer gab es Minderheitenpositionen, die auf der (manchmal determinierenden) Bedeutung der Geografie, der Archäologie und der Naturwissenschaften für die Geschichte beharrten, etwa der britische Historiker Hereford Brooke George.

Nicht aus der Position einer Minderheit, sondern als einer der erfolgreichsten Historiker des 20. Jahrhunderts formulierte Fernand Braudel seine Kritik: Er wollte die Geschichte der Natur, der Landschaften und der Gezeiten nicht allein den Geografen oder Naturwissenschaftlern überlassen. Den ersten Band seiner Geschichte des Mittelmeeres aus dem Jahr 1949 widmete er dem „Menschen in seinen Beziehungen zum umgebenden Milieu; eine träge dahinfließende Geschichte, die nur langsame Wandlungen kennt, in der die Dinge beharrlich wiederkehren und die Kreisläufe immer wieder neu beginnen“. Die natürlichen Bedingungen und Landschaften, Flora und Fauna veränderten sich nach Braudel zwar zumeist zyklisch, hätten aber in seiner Geschichte ihren Platz, und das nicht nur als Bühne für die menschliche Geschichte. Deutlich war auch bei Braudel, dass er die Zeitstrukturen von Menschen anders fasste als die der „natürlichen Bedingungen“. Als Gewährsmann für eine neue Geschichtsschreibung kann er jedoch nur bedingt dienen. Warum?

Schaut man auf die geologischen, geografischen und ökologischen Faktoren, die die Erdsystemwissenschaften in der Anthropozändebatte als Belege für die Beschleunigung des planetarischen Wandels anführen, sieht der Blick auf die „träge dahinfließende Geschichte“ anders aus: Die Zeitlichkeit der Natur scheint sich verändert zu haben. Sie hat sich beschleunigt. Insbesondere ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird für zahlreiche erdsystemische Trends eine „Große Beschleunigung“ (Great Acceleration) verzeichnet – die interessanterweise auch für zahlreiche sozioökonomische Trends zu beobachten ist (Abbildungen Seite 14 und 15 in der PDF-Version). Damit lässt sich die Natur weder als Bühne menschlicher Gesellschaften noch als fast unbewegliche Materie fassen, sondern erscheint als ein unter Druck gesetzter Akteur, der in Zukunft die Handlungsmöglichkeiten der Menschheit noch stärker bestimmen wird. Die in den vergangenen Jahrhunderten erworbene oder zumindest behauptete technische Hoheit der Menschheit über die Natur kehrt sich demnach teilweise um, da sich auch unter dem Einfluss der tipping points die menschliche Kontrolle über die natürliche Umgebung auflösen wird.

Was bedeutet die wiederentdeckte Dominanz der beschleunigten, nicht mehr nur zyklischen Natur für die Geschichtswissenschaften? Kehrt sich die Verzeitlichung der Wissenschaften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der sogenannten Sattelzeit, wieder um, die die Exklusion der Natur aus den Geschichtswissenschaften begründete? Rückt „die Natur“ wieder in das Blickfeld von Historikern? Ich denke ja, aber damit sind auch Probleme verbunden.

Geologische Zeiteinteilung

Dipesh Chakrabarty fragte schon früh, wie sich der geologische beziehungsweise planetarische Zeithorizont (als Zeit des Universums) zum menschlichen Zeithorizont verhalte, und schlug vor, die Zeithorizonte der Geschichtswissenschaft in geologischer Richtung zu erweitern. Dies wirft eine Reihe von praktischen und theoretischen Problemen auf, die ich im Folgenden erörtern möchte. Konzentrieren wir uns für einen Moment auf die Kombination zweier Zeiten, der geologischen und der menschlichen, unter Ausschluss der von Reinhart Koselleck und Achim Landwehr betonten Multitemporalität. Was ist geologische Zeit, wie wird die Geological Time Scale gemessen? In der Geologie wird die Zeit des Universums hierarchisch in Äon, Ära, Periode, Epoche und Alter eingeteilt. Die Zeitspannen werden immer feiner und reichen von mehreren Hundert Millionen Jahren bei einem Äon bis zu Tausenden von Jahren im Falle eines Alters. Die Länge der Zeiteinheiten kann jedoch stark variieren; die jeweiligen Zeiteinheiten folgen linear aufeinander.

Die Internationale Chronostratigrafische Tabelle (Abbildung Seite 24/25 in der PDF-Version) veranschaulicht die geologischen Zeitdimensionen, die etwa 4,6 Milliarden Jahre umfasst. Das menschliche Leben macht in diesen Zeitskalen nur einen winzigen Anteil aus. Die Begründungen für die Ablösung einer Zeiteinheit und den Beginn einer neuen sind standardisiert; sie werden jedoch intensiv diskutiert und mitunter korrigiert. Grundlage der Geologischen Zeitskala ist die Chrono- und Geostratigrafie, wobei die zeitlichen Übergänge aus der Bestimmung der Fossilvorkommen, der Gesteinskunde und der Magnetfeldanalyse abgeleitet werden. Unterstützt wird die stratigrafische Konstruktion durch radiometrische Datierungen, das heißt die Messung von stofflichen Zerfallsprozessen. Die Bestimmung eines Global Stratotype Section and Point (GSSP), symbolisiert durch einen Goldenen Nagel (Golden Spike), ist für den Wechsel einer geologischen Zeiteinheit von entscheidender Bedeutung. Der Sedimentaufschluss zeigt in der Regel einen sogenannten Fußpunkt, eine fossile oder klimatische Grenze, die die chronostratigrafische Einheit bestimmt, wenn dieser Fußpunkt global nachgewiesen werden kann.

Geschichtswissenschaftliche Zeiteinteilung

Aus verschiedenen Gründen ergeben sich Spannungen zum Zeitbegriff der Geschichtswissenschaft und zu ihrem Umgang mit Zeiteinteilungen. Während die Geologie ihre lineare Zeitklassifikation anhand fest definierter Faktoren vornimmt, plädieren Historikerinnen und Historiker für globale Differenz und Heterogenität vormals angenommener homogener, von Europa ausgehender zeitlicher Entwicklungspfade – sei es die Modernisierung, die Industrialisierung, die Liberalisierung oder die Globalisierung. Verglichen mit den geologischen Zeitdimensionen von mehreren Milliarden Jahren erscheint die Zeit der Geschichtswissenschaft zudem eher überschaubar; sie umfasst nur die 5.500 Jahre, für die schriftliche Zeugnisse überliefert sind, und reicht in Ausnahmefällen bis zur archäologischen Erschließung ur- und frühgeschichtlicher Lebensformen. Historiker verwenden auch keine Golden Spikes für Epocheneinteilungen und benötigen keine globale Synchronizität. Vielmehr versuchen sie, retrospektiv auf der Basis heterogener Daten Argumente für einen substanziellen Wandel historischer Gesellschaften zu finden, deren Epochenübergänge entweder als fließend oder überlappend beschrieben und nur im Einzelfall kalendarisch fixiert werden. Die Epoche als klar definierte Zeitspanne zwischen zwei fixierten historischen Ereignissen wird in der Geschichtswissenschaft generell kritisch betrachtet.

Wir sind es gewohnt, die Vergangenheit der europäischen Geschichte in Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und Neuzeit einzuteilen. In den zurückliegenden Jahren wurde diese Art der Einteilung vergangener Zeiten jedoch kritisch analysiert, und im Anschluss an Reinhart Koselleck wurden multitemporale und multidirektionale Zeitregime entdeckt, die gegen die Kohärenz einer Epoche oder einer anderen Einheit sprechen. Zeitkonzepte und Zeiteinteilungen variieren regional, sind abhängig vom Gegenstand und folgen nicht einer Richtung. Achim Landwehr hat für die historische An- und Abwesenheit unterschiedlicher Zeitlichkeiten den Begriff der „Chronoferenz“ vorgeschlagen. Er bezeichnet das Neben- und Durcheinander verschiedener kultureller, physikalischer und geologischer Zeiten. Aus der Notwendigkeit, diese komplexe Gemengelage aus unterschiedlichen Zeithorizonten zu analysieren, ergibt sich eine deutliche Absage an die Forderung, die menschliche und die geologische Zeit zusammenzuführen. Probieren sollte man es aber trotzdem: Zu Beginn wird es wohl dort am besten gelingen, wo der Untersuchungsgegenstand – etwa Kohle, Plutonium, Vulkane, Erdbeben – von sich aus über den menschlichen Zeithorizont hinausreicht. Ob sich auch die Geschichte der gymnasialen Mädchenbildung mit geologischen Zeithorizonten sinnvoll erweitern lässt, bleibt allerdings abzuwarten. So viel zu meinen Bedenken gegenüber simplifizierenden Vorstellungen einer transdisziplinären Zusammenschau geologischer und menschlicher Zeiten.

Es wäre sinnvoll, die Frage nach der Zeit der Natur als Fortsetzung einer bereits Jahrhunderte andauernden Auseinandersetzung über die Natur zu verstehen. Kollektiv geteilte, eindeutige und unwidersprochene Positionen hat es dabei nie gegeben, eher „fortlaufende Kontroversen“ über die Definition, Rolle und Funktion der Natur. Diese Kontroversen haben bis heute wahrnehmbare Folgen, die sich vor allem in der universitären Forschungslandschaft abbilden. Die institutionelle Dominanz sicherte sich zuerst die menschenzentrierte Diplomatie- und Politikgeschichte als „Königsweg“ der Geschichtswissenschaft. Politikgeschichte wurde zum Synonym für die allgemeine Geschichte. Sicherlich hat diese in den vergangenen Jahren teils erhebliche Wandlungsprozesse erlebt, die Zuständigkeit für die Natur dabei aber weiterhin anderen Disziplinen oder Teildisziplinen wie der Umweltgeschichte überlassen. In dieser Institutionalisierung liegt vermutlich das größte Hindernis einer neuen Geschichtsschreibung, das nur mit gezielten Eingriffen in die historiografische Plattentektonik abgebaut werden kann. Die Normalisierung umwelthistorischer Perspektiven steht noch aus.

More-Than-Human History: Kontaminationen und Relationen

Im Folgenden skizziere ich meine Vision einer zu entwickelnden Geschichtsschreibung, die den engen Fokus auf die menschliche Geschichte aufgibt und Relationalität zum Ausgangspunkt einer „unreinen“, also kontaminierten, und planetarischen Geschichtsschreibung macht. Mir geht es dabei um einen experimentellen Zugriff, der potenziell auf alle Gegenstandsbereiche und historischen Zeiten anwendbar ist. Dies ließe sich sehr kurz fassen, wenn man sich die Rückkehr der Natur in die Geschichtsschreibung allein als Addition vorstellt: Nach Arbeitern und Frauen würden wir nun auch Tiere, Flüsse und Gebirge als Gegenstände und möglicherweise gar als historische Subjekte integrieren, so wie es Braudel vorgeschlagen hat. Das ist aber nicht gemeint. Es geht vielmehr darum, den menschlichen Akteur als Produkt von Beziehungen und Interaktionen (Relationen) mit anderen Spezies, Organismen und Techniken, etwa Künstlicher Intelligenz, zu verstehen und zu analysieren.

Dafür steht die Bezeichnung More-Than-Human History – ein Zugang zur Vergangenheit, der unter anderem von der Anthropozändebatte inspiriert ist. Als Sammelbegriff vereint dieser Zugang die Human-Animal-Studies, die Multi-Species-Anthropology, den Posthumanismus, die Science and Technology Studies und andere mehr. In allen hierunter versammelten Ansätzen steht die Zentralität des menschlichen Akteurs zur Disposition und wird zugunsten einer Analyse von Verflechtungen zwischen Menschen, Tieren, Technik, Pflanzen und anderen Organismen ersetzt. In einer dekonstruktivistisch-materialistischen Wendung wird der Mensch zum Resultat seiner Verflechtungen.

Die Figur des „Holobionten“, mit der in der Biologie ein Organismus bezeichnet wird, der in einer engen Symbiose mit vielen anderen Organismen lebt, wird im Anthropozändiskurs genutzt, um eine übergreifende Perspektive auf Symbiosen und Verflechtungsgefüge auf den Punkt zu bringen. Damit wird, so der Evolutionsbiologe Scott Gilbert, die ursprünglich auf die Pflanzenbiologie beschränkte Bedeutung des Begriffs „Holobiont“ deutlich überschritten. Gilbert versteht das Konzept als einen Angriff auf gängige Formen, Individualität zu definieren, sei es über körperliche Abgeschlossenheit, genetische Eindeutigkeit oder die Besonderheit des Immunsystems. Viel Platz für ökologische Romantik ist hier nicht: Die Corona-Pandemie hat uns unlängst gezeigt, wie tödlich symbiotische Beziehungen zwischen verschiedenen Organismen sein können.

Die Untersuchung dieser Verflechtung von Symbiosen, Kontaminationen und Relationen aber kann ein Ausgangspunkt für eine neue Form der Geschichtsschreibung sein. Dafür ist nicht nur die geschilderte zeitliche Ausdehnung vonnöten, sondern auch eine räumliche Erweiterung des geschichtswissenschaftlichen Radius. In ihrem Versuch, das „planetare Denken“ zu entwerfen, haben die Politikwissenschaftler Frederic Hanusch und Claus Leggewie die Bedeutung von Relationen hervorgehoben: „Eine planetare Perspektive einzunehmen, heißt dann von vornherein: die Relationierung (In-Beziehung-Setzung, von engl. ‚relational‘) menschlicher Existenz im Universum und die Relativierung der vorherrschenden anthropozentrischen Sichtweise.“ Diese Vorstellung integriert alle Erdsphären und beschränkt sich nicht auf die Analyse der Biosphäre, also der belebten Räume der Erde. Das Planetarische erstrecke „sich räumlich vom Erdkern bis in den interplanetaren Raum (…), zeitlich von der Nanosekunde bis zur geologischen Tiefenzeit (…) und materiell vom Elementarteilchen bis zur dunklen Materie im Weltraum“.

Relationen stehen im Zentrum einer solchen planetarischen Perspektive, die sich damit räumlich, zeitlich und materiell deutlich vom üblichen Kosmos der Globalgeschichte unterscheidet. Der zentrale Begriff der Relation ist auch keineswegs so zu verstehen, wie die connections der Globalisierungs- und Globalgeschichte mit ihrem Fokus auf menschengemachte, häufig technisch und ökonomisch manifestierte Netzwerke, die seit einigen Jahren selbstkritisch hinterfragt und relativiert werden. Relationen lenken den Blick auf das Dazwischen, auf den Raum zwischen zwei oder mehr Einheiten, seien es Menschen, Artefakte oder Organismen, die erst durch die Verbindung miteinander ihren Charakter erhalten.

Wenn ich vorschlage, eine relationale Geschichtswissenschaft in Form einer kontaminierten Geschichtsschreibung zu entwickeln, so zielt das zum einen auf die Disziplin der Geschichtswissenschaft als soziale Ordnung, zum anderen auf den zeitlichen und räumlichen Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft. Den Begriff der Kontamination adverbial zu verwenden, um eine spezifische Form der geschichtswissenschaftlichen Betrachtungsweise vorzuschlagen, mag aufgrund seiner negativen Konnotation irritieren, verweist seine biologische und medizinische Bedeutung doch auf den Eintrag und die Verunreinigung durch unerwünschte Stoffe wie Schadstoffe oder Pathogene. Historisch dominierte aus hygienischen und moralischen Gründen zwischen dem Menschen und Schmutz beziehungsweise Kontamination ein Distanzverhältnis. Schmutz diente zudem der rassistischen Degradierung des jeweils „Anderen“. Die Metapher der Kontamination bietet sich jedoch an, weil sie relational ist und zugleich eine Assoziationskette von Gegenbegriffen wie „Reinheit“ oder „Ordnung“ evoziert. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist Kontamination eine mächtige und vielseitige Metapher, die Grenzen überschreitet, Ordnungen stört und Glaubenssysteme aufbricht.

Mir steht keine additive Anhäufung immer weiter ausdifferenzierter thematischer und theoretischer Spezialisierungen vor Augen, sondern eine Verunreinigung abgeschlossener Betrachtungsweisen und eine Perforation institutionell und theoretisch gezogener Grenzen. Dabei geht es nicht darum, mit dieser Denkrichtung ein festes theoretisches und methodisches Instrumentarium zu etablieren und eine „neue Kirche“ zu begründen, sondern sie als einen kontinuierlichen Prozess des kontaminierenden Denkens im Raum zu verstehen. Die Anthropozändebatte dient hierbei als intellektuelles Dach, unter dem die Sozial- und Kulturgeschichte des Menschen mit der Geschichte der belebten und unbelebten Natur enger zusammenrückt. Inspiriert von Anna L. Tsings Annahme, dass Kontamination eine Form der Kollaboration ist, eine „Verwandlung durch Begegnung“, erscheint es mir sinnvoll, den historischen Blick entsprechend zu erweitern. Es sind folgerichtig auch andere Akteure in diesen Sphären zu identifizieren und in ihrer Relationalität zu historisieren: die atlantische Umwälzzirkulation, die Korallenriffe, das derzeit noch im Eis festgesetzte Methan oder die Organismen der Tiefsee.

Zum Schluss ein Anfang

Eine kontaminierte Geschichtsschreibung im Anthropozän verbindet multitemporale Perspektiven, Multi-Spezies-Gefüge und naturkulturelle Grenzräume mit den verschiedenen Sphären des Planeten. Während Geologen eine neue Erdepoche diagnostizieren, sollten Historiker Geschichten über Relationen und Kontaminationen in planetarischer Dimension erzählen, ohne ihre Geschichten in neuen Metanarrativen wie jenem von dem Anthropozän zu versenken. Zu hoffen ist, dass in einem relationalen Multi-Fokus-Ansatz mehr Potenzial steckt, als allein die bereits aufgeworfene umwelthistorische Frage zu beantworten, wie sich das Anthropozän entwickelt hat.

All dies ist keine Theorie der Geschichtswissenschaft im Anthropozän. Vielmehr handelt es sich um den Versuch einer Rationalisierung angesichts multipler Bedrohungen durch die verschiedenen Auswirkungen der Klimakrise – etwas, das Achim Landwehr „Bearbeitungs- und Beschreibungsformen für das Ungewisse“ genannt hat. Wissen und Forschung werden sich den planetarischen Herausforderungen stellen müssen, die sich aus dem Klimawandel der Gegenwart und der nahen Zukunft ergeben. Nur das Wissen um die Vergangenheit ermöglicht vernunftgeleitete Entscheidungen in der Gegenwart. Insofern ist Geschichte eine Ressource für die Zukunft. Denn Veränderung und Verbesserung der Verhältnisse sind ohne den Bezug auf die Vergangenheit nicht denkbar. Ob das ausreicht, werden wir sehen. Die Geschichtswissenschaft hat nichts zu verlieren als ihre Ketten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Original: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Czar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.“ Karl Marx/Friedrich Engels, Das Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848, S. 3.

  2. Dieser Beitrag basiert auf meiner Monografie: Sandra Maß, Zukünftige Vergangenheiten. Geschichte schreiben im Anthropozän, Göttingen 2024.

  3. Zur Einführung siehe Tim Lenton, Earth System Science. A Very Short Introduction, Oxford 2016; zur Diskussion über Geschichtswissenschaft und Erdsystemwissenschaft siehe Deborah R. Coen/Fredrik Albritton Jonsson, Between History and Earth System Science, in: Isis 2/2022, S. 407–416.

  4. Edward Dunsworth/Daniel Macfarlane, Historians Confront the Climate Emergency: Introduction, 14.9.2021, Externer Link: https://niche-canada.org/2021/09/14/historians-confront-the-climate-emergency-introduction.

  5. Vgl. Julia Adeney Thomas, Introduction. The Growing Anthropocene Consensus, in: dies. (Hrsg.), Altered Earth. Getting the Anthropocene Right, Cambridge 2022, S. 1–18; Christophe Bonneuil/Jean-Baptiste Fressoz, The Shock of the Anthropocene. The Earth, History and Us, London–New York 2016; Dipesh Chakrabarty, The Climate of History in a Planetary Age, Chicago 2021; Frank Uekötter, Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt, Bonn 2021.

  6. Johann Gustav Droysen, Historik. Historisch-kritische Ausgabe von Peter Leyh und Horst Walter Blanke, Bd. 1: Grundriß der Historik, Stuttgart 1977, S. 476.

  7. Vgl. die Beispiele in Alan R.H. Baker, Geography and History. Bridging the Divide, Cambridge 2003.

  8. Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 1, Vorwort, Frankfurt/M. 20012 (französische Originalausgabe 1949), S. 20.

  9. Vgl. Will Steffen et al., The Trajectory of the Anthropocene. The Great Acceleration, in: The Anthropocene Review 1/2015, S. 81–98.

  10. Vgl. Alexander Demandt, Natur- und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 1–4/1983, S. 59–78; Reinhart Koselleck, Geschichte, in: Otto Brunner et al. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593–717; David Schulz, Die Natur der Geschichte. Die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit und die Geschichtskonzeptionen zwischen Aufklärung und Moderne, Berlin–Boston 2020.

  11. Vgl. Chakrabarty (Anm. 5). Siehe auch den Beitrag von Chakrabarty in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  12. Vgl. Jan Zalasiewicz et al. (Hrsg.), The Anthropocene as a Unit of Time. A Guide to the Scientific Evidence and Current Debate, Cambridge 2019.

  13. Vgl. Grégory Quenet, The Anthropocene and the Time of the Historians, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales – English Edition 2/2017, S. 165–197, hier S. 173; Jürgen Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Berichte und Abhandlungen, Bd. 10, Berlin 2006, S. 45–64.

  14. Vgl. Hannes Bergthaller/Eva Horn, Anthropozän zur Einführung, Hamburg 2019, S. 199.

  15. Vgl. Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt/M. 2016.

  16. Vgl. Christian Mehr, Kultur- als Naturgeschichte. Opposition oder Komplementarität zur politischen Geschichtsschreibung 1850–1890?, Berlin 2009, S. 13.

  17. Vgl. Emily O’Gorman/Andrea Gaynor, More-Than-Human Histories, in: Environmental History 4/2020, S. 593–895; Marek Tamm/Zoltán B. Simon, More-Than-Human History. Philosophy of History at the Time of the Anthropocene, in: Jouni-Matti Kuukkanen (Hrsg.), Philosophy of History. Twenty-First-Century Perspectives, London u.a. 2021, S. 198–215.

  18. Vgl. Eben Kirksey/Stefan Helmreich, The Emergence of Multispecies Ethnography, in: Cultural Anthropology 4/2010, S. 545–576.

  19. Vgl. Scott F. Gilbert, Holobiont by Birth. Multilineage Individuals as the Concretion of Cooperative Processes, in: Anna L. Tsing et al. (Hrsg.), Arts of Living on a Damaged Planet: Ghosts and Monsters of the Anthropocene, Minneapolis–London 2017, S. 73–89.

  20. Frederic Hanusch et al., Planetar denken. Ein Einstieg, Bielefeld 2021, S. 24.

  21. Vgl. Roland Wenzlhuemer, Connections in Global History, in: Comparativ 2/2019, S. 106–121; zu den feinen Unterschieden unter anderem zwischen connections und relations in der Anthropologie vgl. Marilyn Strathern, Relations, in: Felix Stein (Hrsg.), The Open Encyclopedia of Anthropology, 30.5.2018, Externer Link: http://doi.org/10.29164/18relations.

  22. Zu Kontamination als Modus historischen Wandels vgl. Anna L. Tsing, Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin 2018.

  23. Vgl. Ben Campkin/Rosie Cox, Introduction. Materialities and Metaphors of Dirt and Cleanliness, in: dies. (Hrsg.), Dirt. New Geographies of Cleanliness and Contamination, London–New York 2007, S. 1–8, hier S. 2.

  24. Vgl. ebd., S. 4. Campkin/Cox hier in Anlehnung an die Sozialanthropologin Mary Douglas, die bereits 1966 in „Purity und Danger“ Reinheit und Verunreinigungen als Teile eines sozialen Ordnungssystems analysierte (auf Deutsch: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985).

  25. Vgl. Andrea Westermann/Sabine Höhler, Writing History in the Anthropocene. Scaling, Accountability, and Accumulation, in: Geschichte und Gesellschaft 4/2020, S. 579–605, hier S. 581.

  26. Tsing (Anm. 22), S. 46.

  27. Vgl. Franz Mauelshagen, „Anthropozän“. Plädoyer für eine Klimageschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1/2012, S. 131–137, hier S. 135.

  28. Achim Landwehr, Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2019, S. 18.

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ist Professorin für transnationale Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt erschien von ihr "Zukünftige Vergangenheiten. Geschichte schreiben im Anthropozän" (Wallstein 2024).