„Ein Gespenst geht um in Europa“ – der Satz ist uns vertraut – „das Gespenst des Anthropozäns“. Die inhaltliche Anpassung des ersten Satzes des „Kommunistischen Manifests“ aus dem Jahr 1848 an die heutigen Verhältnisse liegt nahe: „Alle Mächte der alten Geisteswissenschaften haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet …“
Dennoch: Eine Rhetorik der Revolution liegt in der Luft, wie so häufig bei dem Versuch, neue Ansätze in der Wissenschaft zu etablieren. So wurde im Rahmen der Debatte über das Anthropozän in den zwei zurückliegenden Jahrzehnten eine geisteswissenschaftliche Revolution ausgerufen und zum Abriss disziplinärer Klassenschranken aufgefordert, der Planet wurde dichotom in Täter und Opfer, besser: Profiteure und Verlierer eingeteilt. Zugleich wurden Verteidigungsreden für den Status quo und den geisteswissenschaftlichen Fokus auf den Menschen gehalten. Zu denken ist auch an die Barrikadenkämpfe der durchaus geisteswissenschaftlich geprägten Anthropocene Working Group mit dem Vatikan der Geologen, einer Unterkommission der Internationalen Kommission für Stratigrafie. Diese Auseinandersetzung über die Anerkennung des Anthropozäns als neue geologische Epoche fand Anfang 2024 ihren Höhepunkt und ihr vorläufiges Ende mit einer zehnjährigen Verbannung der Antragsteller. Geologisch gibt es das Anthropozän nun nicht, das unterstreicht einmal mehr seinen gespenstischen Charakter. Doch ist es sinnvoll, die Rolle des Anthropozäns in den Geisteswissenschaften als disziplinäre Revolution und als potenziellen Niedergang der alten epistemischen Ordnung zu begreifen?
Die Antwort fällt abwägend aus: Einerseits sind Zweifel am revolutionären Charakter des Anthropozäns angebracht, weil davon ausgegangen werden kann, dass es epistemische Unverträglichkeiten zwischen Disziplinen gibt. Dies wird im Folgenden in einem ersten Teil am Beispiel von Zeitkonzepten und der Zeitlichkeit der Natur illustriert. Andererseits liegt in vielen Konzepten der Anthropozändebatte – nicht im Anthropozän als Gegenstand, sondern in ihrem theoretischen Angebot – eine Chance für eine grundlegend neuartige Form der Geschichtsschreibung, die wir angesichts der sich verschärfenden Klimakrise nötig haben. Im zweiten Teil des Textes werde ich deshalb am Beispiel der More-Than-Human History einen Entwurf für eine „kontaminierte“ und relationale Geschichtsschreibung skizzieren, die über die üblichen Räume und Gegenstandsbereiche der bisherigen Geschichtswissenschaft hinausreicht. Das ist keine Revolution, aber ein Vorschlag für eine Ausdehnung unseres geschichts- und geisteswissenschaftlichen Gesichtsfeldes – mithin eine Aufkündigung der die Disziplin vormals begründenden Selbstdefinition. Ich verstehe dies als ein Plädoyer für das Augenmaß einer Stubenfliege mit einem Facettenauge, das in der Lage ist, die Vielfalt von Relationen in einem weiten Blickfeld auch an den Rändern scharf zu sehen. Dafür muss man nicht immer das noch nie Dagewesene denken, sondern es kann auch bedeuten, sich um die Entdeckung von marginalisierten Traditionen in den historisch arbeitenden Wissenschaften zu bemühen.
Ausgangspunkt
Der Ausgangspunkt für die Ausrufung einer neuen geologischen Epoche war die wissenschaftliche Durchsetzung des erdsystemwissenschaftlichen Paradigmas, dass der Einfluss des Menschen auf den Planeten in vielen Bereichen deutlich messbar ist. Neben Plattentektonik, Erosion, Vulkanausbrüchen und Meteoriteneinschlägen als bekannte Ursachen für Veränderungen im Erdsystem ist ein neuer Akteur hinzugekommen: der Mensch. Da alle Sphären des Erdsystems – etwa Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre – über sogenannte Stoffflüsse miteinander verbunden sind, hat der Einfluss des Menschen auf eine Sphäre auch Effekte auf die anderen.
Die Geschichtswissenschaften werden unter den Bedingungen der sich verschärfenden Klimakrise deutlich herausgefordert: in der Forschung, in der Lehrerausbildung, in der öffentlichen Vermittlung. Wir sollten besser jetzt damit anfangen, uns darüber Gedanken zu machen, welche Funktionen die Geschichtswissenschaft in Zukunft übernehmen soll. Historikerinnen und Historiker sind traditionell zögerlich, wenn es um Zukunftsaussagen geht, in jüngerer Zeit aber scheint die Zurückhaltung zu weichen. „What does it mean to be a historian on a planet on fire?“, fragten kanadische Historiker 2021.
Von der Zeitlichkeit der Natur
Im 19. Jahrhundert definierte sich die Geschichtswissenschaft vor allem über Abgrenzung: gegenüber den Natur- und Sozialwissenschaften, gegenüber den Ingenieuren und anderen Technikern sowie gegenüber Ethnologen und Anthropologen. So entstand eine hegemoniale Definition einer Disziplin, die den Tätigkeitsbereich von Historikern eng skizzierte: erstens sei die menschliche Geschichte zu untersuchen, die sich in materiellen und schriftlichen Überresten dokumentieren ließe; zweitens, so viele Historiker des 19. Jahrhunderts, sollte die Historiografie als nationale Wissenschaft zuvorderst dem Staat und der Nation dienen. Mit dieser Fokussierung ging häufig die Exklusion von nichtschriftlichen Kulturen und Naturphänomenen einher. Die Konzentration auf das schriftliche, in staatlichen Archiven verwahrte Dokument diente der Abgrenzung von anderen, neu entstehenden Disziplinen. Zudem verfestigte sich damit das eurozentrische Narrativ von der Geschichtslosigkeit oraler Gesellschaften, und die Überreste der Natur – Fossilien, Skelette, Gestein, aber auch zunehmend Wetter- und Klimadaten – fanden nur bedingt Eingang in das Quellenkorpus der universitär verankerten Historiker.
Nicht nur die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, sondern auch andere europäische Historiker machten unmissverständlich klar, dass Gegenstände, die keine schriftliche Überlieferung gefunden hatten, in den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften, der Naturgeschichte oder anderer Geisteswissenschaften fallen sollten. Die vermeintliche „Gesetzmäßigkeit“ des zyklischen Wandels der Natur, so Johann Gustav Droysen in seiner „Historik“, sei keine Geschichte, das „Seiende“ der Natur sei „nur Material; in seinen individuellen Erscheinungen ist es uns verschlossen, unverständlich, gleichgültig“.
Nicht aus der Position einer Minderheit, sondern als einer der erfolgreichsten Historiker des 20. Jahrhunderts formulierte Fernand Braudel seine Kritik: Er wollte die Geschichte der Natur, der Landschaften und der Gezeiten nicht allein den Geografen oder Naturwissenschaftlern überlassen. Den ersten Band seiner Geschichte des Mittelmeeres aus dem Jahr 1949 widmete er dem „Menschen in seinen Beziehungen zum umgebenden Milieu; eine träge dahinfließende Geschichte, die nur langsame Wandlungen kennt, in der die Dinge beharrlich wiederkehren und die Kreisläufe immer wieder neu beginnen“.
Schaut man auf die geologischen, geografischen und ökologischen Faktoren, die die Erdsystemwissenschaften in der Anthropozändebatte als Belege für die Beschleunigung des planetarischen Wandels anführen, sieht der Blick auf die „träge dahinfließende Geschichte“ anders aus: Die Zeitlichkeit der Natur scheint sich verändert zu haben. Sie hat sich beschleunigt. Insbesondere ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird für zahlreiche erdsystemische Trends eine „Große Beschleunigung“ (Great Acceleration) verzeichnet – die interessanterweise auch für zahlreiche sozioökonomische Trends zu beobachten ist (Abbildungen Seite 14 und 15 in der PDF-Version).
Was bedeutet die wiederentdeckte Dominanz der beschleunigten, nicht mehr nur zyklischen Natur für die Geschichtswissenschaften? Kehrt sich die Verzeitlichung der Wissenschaften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der sogenannten Sattelzeit, wieder um, die die Exklusion der Natur aus den Geschichtswissenschaften begründete?
Geologische Zeiteinteilung
Dipesh Chakrabarty fragte schon früh, wie sich der geologische beziehungsweise planetarische Zeithorizont (als Zeit des Universums) zum menschlichen Zeithorizont verhalte, und schlug vor, die Zeithorizonte der Geschichtswissenschaft in geologischer Richtung zu erweitern.
Die Internationale Chronostratigrafische Tabelle (Abbildung Seite 24/25 in der PDF-Version) veranschaulicht die geologischen Zeitdimensionen, die etwa 4,6 Milliarden Jahre umfasst. Das menschliche Leben macht in diesen Zeitskalen nur einen winzigen Anteil aus. Die Begründungen für die Ablösung einer Zeiteinheit und den Beginn einer neuen sind standardisiert; sie werden jedoch intensiv diskutiert und mitunter korrigiert. Grundlage der Geologischen Zeitskala ist die Chrono- und Geostratigrafie, wobei die zeitlichen Übergänge aus der Bestimmung der Fossilvorkommen, der Gesteinskunde und der Magnetfeldanalyse abgeleitet werden. Unterstützt wird die stratigrafische Konstruktion durch radiometrische Datierungen, das heißt die Messung von stofflichen Zerfallsprozessen. Die Bestimmung eines Global Stratotype Section and Point (GSSP), symbolisiert durch einen Goldenen Nagel (Golden Spike), ist für den Wechsel einer geologischen Zeiteinheit von entscheidender Bedeutung.
Geschichtswissenschaftliche Zeiteinteilung
Aus verschiedenen Gründen ergeben sich Spannungen zum Zeitbegriff der Geschichtswissenschaft und zu ihrem Umgang mit Zeiteinteilungen. Während die Geologie ihre lineare Zeitklassifikation anhand fest definierter Faktoren vornimmt, plädieren Historikerinnen und Historiker für globale Differenz und Heterogenität vormals angenommener homogener, von Europa ausgehender zeitlicher Entwicklungspfade – sei es die Modernisierung, die Industrialisierung, die Liberalisierung oder die Globalisierung.
Wir sind es gewohnt, die Vergangenheit der europäischen Geschichte in Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und Neuzeit einzuteilen. In den zurückliegenden Jahren wurde diese Art der Einteilung vergangener Zeiten jedoch kritisch analysiert, und im Anschluss an Reinhart Koselleck wurden multitemporale und multidirektionale Zeitregime entdeckt, die gegen die Kohärenz einer Epoche oder einer anderen Einheit sprechen. Zeitkonzepte und Zeiteinteilungen variieren regional, sind abhängig vom Gegenstand und folgen nicht einer Richtung. Achim Landwehr hat für die historische An- und Abwesenheit unterschiedlicher Zeitlichkeiten den Begriff der „Chronoferenz“ vorgeschlagen. Er bezeichnet das Neben- und Durcheinander verschiedener kultureller, physikalischer und geologischer Zeiten.
Es wäre sinnvoll, die Frage nach der Zeit der Natur als Fortsetzung einer bereits Jahrhunderte andauernden Auseinandersetzung über die Natur zu verstehen. Kollektiv geteilte, eindeutige und unwidersprochene Positionen hat es dabei nie gegeben, eher „fortlaufende Kontroversen“ über die Definition, Rolle und Funktion der Natur.
More-Than-Human History: Kontaminationen und Relationen
Im Folgenden skizziere ich meine Vision einer zu entwickelnden Geschichtsschreibung, die den engen Fokus auf die menschliche Geschichte aufgibt und Relationalität zum Ausgangspunkt einer „unreinen“, also kontaminierten, und planetarischen Geschichtsschreibung macht. Mir geht es dabei um einen experimentellen Zugriff, der potenziell auf alle Gegenstandsbereiche und historischen Zeiten anwendbar ist. Dies ließe sich sehr kurz fassen, wenn man sich die Rückkehr der Natur in die Geschichtsschreibung allein als Addition vorstellt: Nach Arbeitern und Frauen würden wir nun auch Tiere, Flüsse und Gebirge als Gegenstände und möglicherweise gar als historische Subjekte integrieren, so wie es Braudel vorgeschlagen hat. Das ist aber nicht gemeint. Es geht vielmehr darum, den menschlichen Akteur als Produkt von Beziehungen und Interaktionen (Relationen) mit anderen Spezies, Organismen und Techniken, etwa Künstlicher Intelligenz, zu verstehen und zu analysieren.
Dafür steht die Bezeichnung More-Than-Human History – ein Zugang zur Vergangenheit, der unter anderem von der Anthropozändebatte inspiriert ist.
Die Figur des „Holobionten“, mit der in der Biologie ein Organismus bezeichnet wird, der in einer engen Symbiose mit vielen anderen Organismen lebt, wird im Anthropozändiskurs genutzt, um eine übergreifende Perspektive auf Symbiosen und Verflechtungsgefüge auf den Punkt zu bringen. Damit wird, so der Evolutionsbiologe Scott Gilbert, die ursprünglich auf die Pflanzenbiologie beschränkte Bedeutung des Begriffs „Holobiont“ deutlich überschritten. Gilbert versteht das Konzept als einen Angriff auf gängige Formen, Individualität zu definieren, sei es über körperliche Abgeschlossenheit, genetische Eindeutigkeit oder die Besonderheit des Immunsystems.
Die Untersuchung dieser Verflechtung von Symbiosen, Kontaminationen und Relationen aber kann ein Ausgangspunkt für eine neue Form der Geschichtsschreibung sein. Dafür ist nicht nur die geschilderte zeitliche Ausdehnung vonnöten, sondern auch eine räumliche Erweiterung des geschichtswissenschaftlichen Radius. In ihrem Versuch, das „planetare Denken“ zu entwerfen, haben die Politikwissenschaftler Frederic Hanusch und Claus Leggewie die Bedeutung von Relationen hervorgehoben: „Eine planetare Perspektive einzunehmen, heißt dann von vornherein: die Relationierung (In-Beziehung-Setzung, von engl. ‚relational‘) menschlicher Existenz im Universum und die Relativierung der vorherrschenden anthropozentrischen Sichtweise.“ Diese Vorstellung integriert alle Erdsphären und beschränkt sich nicht auf die Analyse der Biosphäre, also der belebten Räume der Erde. Das Planetarische erstrecke „sich räumlich vom Erdkern bis in den interplanetaren Raum (…), zeitlich von der Nanosekunde bis zur geologischen Tiefenzeit (…) und materiell vom Elementarteilchen bis zur dunklen Materie im Weltraum“.
Relationen stehen im Zentrum einer solchen planetarischen Perspektive, die sich damit räumlich, zeitlich und materiell deutlich vom üblichen Kosmos der Globalgeschichte unterscheidet. Der zentrale Begriff der Relation ist auch keineswegs so zu verstehen, wie die connections der Globalisierungs- und Globalgeschichte mit ihrem Fokus auf menschengemachte, häufig technisch und ökonomisch manifestierte Netzwerke, die seit einigen Jahren selbstkritisch hinterfragt und relativiert werden.
Wenn ich vorschlage, eine relationale Geschichtswissenschaft in Form einer kontaminierten Geschichtsschreibung zu entwickeln, so zielt das zum einen auf die Disziplin der Geschichtswissenschaft als soziale Ordnung, zum anderen auf den zeitlichen und räumlichen Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft.
Mir steht keine additive Anhäufung immer weiter ausdifferenzierter thematischer und theoretischer Spezialisierungen vor Augen, sondern eine Verunreinigung abgeschlossener Betrachtungsweisen und eine Perforation institutionell und theoretisch gezogener Grenzen. Dabei geht es nicht darum, mit dieser Denkrichtung ein festes theoretisches und methodisches Instrumentarium zu etablieren und eine „neue Kirche“ zu begründen, sondern sie als einen kontinuierlichen Prozess des kontaminierenden Denkens im Raum zu verstehen. Die Anthropozändebatte dient hierbei als intellektuelles Dach, unter dem die Sozial- und Kulturgeschichte des Menschen mit der Geschichte der belebten und unbelebten Natur enger zusammenrückt.
Zum Schluss ein Anfang
Eine kontaminierte Geschichtsschreibung im Anthropozän verbindet multitemporale Perspektiven, Multi-Spezies-Gefüge und naturkulturelle Grenzräume mit den verschiedenen Sphären des Planeten. Während Geologen eine neue Erdepoche diagnostizieren, sollten Historiker Geschichten über Relationen und Kontaminationen in planetarischer Dimension erzählen, ohne ihre Geschichten in neuen Metanarrativen wie jenem von dem Anthropozän zu versenken. Zu hoffen ist, dass in einem relationalen Multi-Fokus-Ansatz mehr Potenzial steckt, als allein die bereits aufgeworfene umwelthistorische Frage zu beantworten, wie sich das Anthropozän entwickelt hat.
All dies ist keine Theorie der Geschichtswissenschaft im Anthropozän. Vielmehr handelt es sich um den Versuch einer Rationalisierung angesichts multipler Bedrohungen durch die verschiedenen Auswirkungen der Klimakrise – etwas, das Achim Landwehr „Bearbeitungs- und Beschreibungsformen für das Ungewisse“ genannt hat.