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Wir Erdlinge Eine planetarische Perspektive auf die menschliche Geschichte

Dipesh Chakrabarty

/ 12 Minuten zu lesen

Der Begriff „Anthropozän“ hat zwei Leben: eines in den Erdsystemwissenschaften, eines in den Sozialwissenschaften. Auch wenn beide ganz unterschiedliche Herangehensweisen haben, verdeutlicht die planetarische Sichtweise doch eines: Wir sind Teil dieses Planeten.

Seitdem die Idee, die gegenwärtige geologische Epoche nach dem Menschen in „Anthropozän“ zu benennen, zu Beginn dieses Jahrhunderts in Umlauf gebracht wurde, ist sie immer umstritten geblieben. Dabei lassen sich die Fakten des menschlichen Einwirkens auf die Erde – und dessen atmosphärische Spuren durch den übermäßigen Verbrauch fossiler Brennstoffe – keinesfalls leugnen. Gleichwohl hat die International Subcommission on Quaternary Stratigraphy (Internationale Unterkommission für Quartärstratigrafie) im Frühjahr 2024 den Vorschlag ihrer Anthropocene Working Group abgelehnt, eine so benannte, in den 1950er Jahren beginnende neue Epoche offiziell in den geologischen Kalender aufzunehmen. Einige Mitglieder der Unterkommission hatten das Gefühl, es sei zu früh für eine Formalisierung, wohingegen andere der Auffassung waren, der Begriff könnte als informeller, aber zulässiger Begriff in der Geologie weiter verwendet werden. Die wissenschaftliche Debatte um die Anpassung des geologischen Kalenders läuft indes weiter, denn die Anthropozän-Arbeitsgruppe ist darum bemüht, ihre Argumentation mit neuen Befunden zu untermauern.

Debatten um das Anthropozän

Rufen wir uns die Geschichte des Begriffs „Anthropozän“ kurz in Erinnerung: Auf einer Konferenz von Erdsystemwissenschaftlern im Jahr 2000 in Mexiko wies der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen in einem Anfall von Frustration darauf hin, dass der Begriff „Holozän“ – also der Name des aktuellen geologischen Zeitalters, das vor etwa 11.700 Jahren mit dem Ende der jüngsten Eiszeit begann – für die Beschreibung der Gegenwart nicht mehr angemessen sei. Dieser gebe nicht den geringsten Hinweis darauf, in welchem Ausmaß der Mensch den Planeten in den zurückliegenden zweieinhalb Jahrhunderten beeinflusst habe. „Wir leben nicht mehr im Holozän“, soll es aus ihm herausgebrochen sein, „wir leben im, im ……im Anthropozän!“ Crutzen datierte dessen Anfang auf den Beginn der Industriellen Revolution, mit der der menschliche Verbrauch von Energie aus fossilen Brennstoffen wie Kohle, Öl und Erdgas massiv angestiegen war. Aus dem Munde eines so angesehenen Wissenschaftlers beflügelte das Wort die Fantasie seiner Kolleginnen und Kollegen, und so wurde 2009 die erwähnte interdisziplinäre Anthropozän-Arbeitsgruppe eingerichtet. Unter dem Vorsitz des Geologen Jan Zalasiewicz sollte sie untersuchen, ob es in den Schichten der Erde tatsächlich genügend Belege gibt, um den maßgeblichen geologischen Fachgremien eine Aktualisierung des geologischen Kalenders vorschlagen zu können und formell anerkennen zu lassen, dass der Planet die Schwelle des Holozäns überschritten hat und in ein Menschenzeitalter namens Anthropozän eingetreten ist.

Wenn jenseits seiner erdwissenschaftlichen Herkunft etwas für den umkämpften Begriff des Anthropozäns spricht, dann ist es, dass er die schädlichen Auswirkungen menschlicher Aktivitäten, durch die der Mensch seine eigene Existenz gefährdet, drastisch verdeutlicht. Es meldeten sich jedoch viele Sozialwissenschaftler mit Widerspruch, kaum dass der Begriff in ihr Feld vorgedrungen war: Anthropos (griechisch: Mensch), machten sie geltend, beziehe sich auf die gesamte Menschheit – doch warum sollten alle Menschen für den Klimawandel und die Erderwärmung verantwortlich gemacht werden, wenn lediglich ein Bruchteil der Menschheit sie verursacht hätten? Sie wiesen darauf hin, dass es in Sachen Anthropozän kein kollektives „Wir“ gebe und schlugen alternative Bezeichnungen vor, von denen „Kapitalozän“ die bekannteste ist.

So kam es, dass der Begriff „Anthropozän“ zwei Leben hat, die beide von Debatten geprägt sind. Das erste ist jenes unter Stratigrafen und Vertretern verwandter Disziplinen, denen es anhand technischer und naturwissenschaftlicher Kriterien um die Suche und Beurteilung von Belegen in Gesteinsschichten geht. Die Diskussion unter ihnen ist kein moralisch-politisches Unterfangen; mit dem Begriff soll nicht entschieden werden, welche Teile der Menschheit für die Erderwärmung und die damit verbundenen Probleme verantwortlich sind. Diese Frage geht über die Aufgabe hinaus, die sich die Anthropozän-Arbeitsgruppe gestellt hat – auch wenn ihren Mitgliedern natürlich bekannt ist, dass die Verantwortung für die Erderwärmung „differenziert“ zu betrachten ist: Spätestens als der Weltklimarat nach der UN-Konferenz in Rio 1992 dazu überging, die Treibhausgasemissionen pro Kopf anzugeben, zeigte sich eindeutig, dass die reichen Länder und Schichten in historischer Perspektive weitaus mehr zur Erderwärmung beigetragen haben als die ärmeren.

Das zweite Leben führt der Anthropozän-Begriff in den Sozialwissenschaften, wo es die erwähnten moralisch-politischen Einwände gegen ihn gibt, weil er mit seinem Blick auf die gesamte Menschheit das System aus Privilegien, Ungleichheiten und Ausschlüssen verschleiere. Kurz gesagt: Für Stratigrafen ist die Benennung der gegenwärtigen geologischen Epoche keine moralische Frage; für viele Sozialwissenschaftler jedoch sehr wohl. Es handelt sich also um zwei grundverschiedene Herangehensweisen.

Die sozialwissenschaftliche Kritik am Anthropozän-Begriff hat dem Streit um Klimagerechtigkeit neuen Auftrieb gegeben. Denn es stimmt, dass menschliche Unterschiede – in Bezug auf Klasse, Geschlecht, „Rasse“ und so weiter – in allen Diskussionen über die historische Verantwortung für Treibhausgasemissionen von großer analytischer Relevanz sind. Reiche Nationen und reiche Menschen verursachen nun mal die meisten Emissionen. Es waren zwei indische Gelehrte, Anil Agarwal und Sunita Narain, die unter anderem mit der Streitschrift „Globale Erwärmung in einer ungleichen Welt“ den sogenannten Erdgipfel in Rio 1992 dazu brachten, die Minderungsziele für Treibhausgasemissionen in der Klimarahmenkonvention nach Ländern zu differenzieren – die entwickelten Länder sollten demnach mit gutem Beispiel vorangehen. Die Geschichte des Kolonialismus mitzudenken und eine bestimmte „Dritte Welt“-Position einzunehmen, waren aus dieser Perspektive wichtige Strategien im Kampf um den „Kohlenstoffraum“, den die entwickelte Welt den ärmeren und ehemals kolonisierten Nationen schulde, damit diese sich ebenfalls entwickeln könnten. Agarwal und Narain vertraten damit zweifellos eine postkoloniale Position, die sich aber nicht grundsätzlich gegen Entwicklung als solche richtete.

Fossiles Wachstum

30 Jahre später hat sich die Lage verkompliziert. Mit dem Aufstieg Chinas und Indiens zu globalen Wirtschaftsmächten und Großemittenten sind der Globale Norden und der Globale Süden durchlässiger geworden: Jedes Land im Norden hat etwas vom Süden in sich und umgekehrt. Zugleich haben sich die Ungleichheiten im Kapitalismus verstärkt, obgleich die globale Mittelschicht deutlich gewachsen ist. Der exponentielle Anstieg des menschlichen Konsums, der Bevölkerungsgröße, des fossilen Brennstoffverbrauchs, der Treibhausgasemissionen und der Erwärmung des Planeten seit den 1950er Jahren hat manche Historiker und Naturwissenschaftler dazu veranlasst, diese Phase der menschlichen Geschichte als „Große Beschleunigung“ zu bezeichnen.

Eine zeitgemäße Theorie des Kapitalozäns hätte zu berücksichtigen, dass sich auch Nationen und Klassen außerhalb des Westens am historischen Wettlauf um die fossil angetriebene Modernisierung beteiligt haben, trotz eines Mahatma Gandhi und anderer Kritiker der modernen energiefressenden Zivilisationsmodelle. Japan ist hierfür ein historisches Paradebeispiel: Es hat sich industrialisiert, ohne je kolonisiert worden zu sein. Oder man denke an Deng Xiaopings Modernisierung Chinas in den späten 1970er Jahren, die erfolgte, nachdem der Club of Rome 1972 seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ vorgelegt hatte. Deng beschloss 1978, dass die einzige Möglichkeit, Millionen von Chinesen aus der Armut zu holen, in der Entwicklung irgendeiner Art von Kapitalismus bestand. Ab den 1990er Jahren schlug Indien denselben Weg ein. In Betrachtungen des Kapitalozäns müsste also auch vorkommen, wie sehr die ambitionierten aufstrebenden Mittelschichten in den Entwicklungs- und Schwellenländern mittlerweile in das verstrickt sind, was wir globalen Kapitalismus nennen. In einer von Ungleichheit und Urbanisierung geprägten Welt, in der ein konsumorientierter Lebensstil als erstrebenswert gilt, ist die Größe der globalen Mittelschicht von einer Milliarde Menschen im Jahr 1986 auf inzwischen rund 3,5 Milliarden angewachsen.

In „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“ erzähle ich die Geschichte ärmerer Menschen in Neu-Delhi, die sich scheinbar paradox verhalten, wenn sie billige Klimaanlagen kaufen, die ihrerseits schlecht für das Klima sind. Bezeichnenderweise hat Indien 2016 bei internationalen Verhandlungen in Ruanda über die schrittweise Ausmusterung veralteter Klimaanlagen hart darum gefeilscht, zu denjenigen Ländern zu gehören, die so spät und so langsam wie möglich einen Austausch vornehmen müssen. Klimaanlagen sind in Indien sehr beliebt, denn fast alle Städte werden zu Hitzeinseln. Arme Menschen legen daher mitunter ihr Geld zusammen, um eine Klimaanlage für einen gemeinsam genutzten Raum zu kaufen. Wenn man diese Menschen fragt, erzählen sie, dass sie dank der Klimaanlage zum ersten Mal nachts gut geschlafen hätten, dass sich ihr Wohlbefinden erhöht habe, dass ihre Kinder in der Schule besser abschnitten, was ihnen den Zugang zu höherer Bildung ermögliche. Es wird schnell klar, was der Besitz einer Klimaanlage für diese Menschen bedeutet. Dabei gehen diejenigen, denen die Anschaffung gelungen ist, eindeutig einen Kompromiss ein: Tatsächlich heizen sie Neu-Delhi noch mehr auf, aber sie spekulieren darauf, dass ihre Kinder in dem Augenblick, in dem die Stadt unbewohnbar wird, so gut ausgebildet sind, dass sie woandershin gehen können. Deshalb ist der Wettlauf um den Aufstieg in die Mittelschicht für sie auch ein Wettlauf gegen die Erderwärmung, der sie durch Mobilität und Migration zu entkommen versuchen. Das mag nicht gut für die Welt sein, aber es geschieht.

Es ist der Zugang zu Energie – bisher hauptsächlich in Gestalt von fossilen Brennstoffen –, der immer mehr Menschen (kurzfristiges) Wohlbefinden und eine immer höhere Lebenserwartung ermöglicht. Eines Tages, nach viel Unglück und Leid, lässt sich die Menschheit vielleicht davon überzeugen, vollständig auf erneuerbare Energien umzusteigen – denn es ist tatsächlich viel schwieriger, sich vorzustellen, dass ein Mensch freiwillig darauf verzichtet, weiterhin zu den hochenergetischen Zivilisationsmodellen beizutragen.

Globale und planetarische Perspektive verbinden

Ein Problem der bisherigen Debatte „Anthropozän versus Kapitalozän“ ist, dass die Frage weitestgehend als Entweder-oder-Entscheidung formuliert wird: entweder Anthropozän oder Kapitalozän. Einige dekoloniale Argumentationen – so hilfreich sie auch sind, wenn es darum geht, auf die Allgegenwart des Rassismus in der Moderne hinzuweisen – treiben die Polemik gar noch ein Stück weiter: entweder „eine Milliarde Schwarze Anthropozäne oder keines“!

Man bedenke jedoch Folgendes: Selbst wenn man der Auffassung ist, dass der rassialisierte Kapitalismus die Ursache aller Umweltprobleme ist, denen wir auf der ganzen Welt gegenüberstehen, muss man, um das Ausmaß dieser Probleme tatsächlich zu erfassen, über die politische Ökonomie und die üblichen sozialwissenschaftlichen Kategorien hinausgehen und sich Wissen über die Erdsystemwissenschaften aneignen, über die Geschichte der Evolution und der Massenaussterben auf dem Planeten, über die Bedeutsamkeit der Biodiversität für alle Lebensformen, über den Menschen als minoritäre Lebensform und darüber, wie das Zusammenspiel von Geologie und Biologie diesen Planeten für einfaches und komplexes Leben bewohnbar gemacht hat. Mit anderen Worten: Es geht um deep history, also Tiefenhistorie.

Unabhängig davon, ob man es Kapitalozän, Anthropozän oder sonst wie nennt: Dank der Erdsystemwissenschaften steht außer Frage, dass die Menschheit – die in sich zweifellos differenziert zu betrachten ist – durch das Anwachsen der konsumierenden Klassen, durch ihre Technologien und Institutionen, zu einer planetarischen Kraft geworden ist, die in uralte Erdsystemprozesse eingreift. Nach menschlichen Maßstäben sind zum Beispiel die Zyklen der Eiszeiten sehr lang. Und manche Gelehrte behaupten, dass wir die nächste mögliche Eiszeit für Tausende oder gar Zehntausende Jahre abgewehrt haben. Das heißt, dass die theoretischen Werkzeuge, mit denen wir den Kapitalismus analysieren und kritisieren, durch Werkzeuge ergänzt werden müssen, die aus der Erdsystemwissenschaft, der Evolutionsbiologie, der Physik und der Chemie stammen. So, wie der Philosoph Frantz Fanon schrieb, dass jeder marxistische Begriff weiter gefasst werden sollte, wenn man ihn auf koloniale Fragen anwende, muss man heute sein Wissen in puncto kritische Gesellschaftstheorie weiter fassen, um eine Verbindung zu dem herzustellen, was uns die Erdsystemwissenschaften lehren. Es gilt, unsere üblichen kritischen Fragen in den Geistes- und Sozialwissenschaften auf diese Zeiten abzustimmen, in denen das Menschliche und das Nichtmenschliche – der Planet ist ein ausgesprochen großes Beispiel für Letzteres – unbedingt zusammen zu betrachten sind. So muss die berühmte Frage der postkolonialen Denkerin Gayatri Chakravorty Spivak „Kann die Subalterne sprechen?“, die sie bejahte, möglicherweise wie folgt angepasst werden: „Kann die Subalterne sprechen, wenn sie nicht menschlich ist?“ Die Antwort könnte durchaus anders ausfallen.

Es gibt ein weiteres Merkmal, das die historischen Perspektiven, die sich aus den Erdsystemwissenschaften gewinnen lassen, von anderen unterscheidet. In den Sozialwissenschaften, einschließlich des Marxismus, bezieht sich jedes Problem letztendlich auf die menschliche Welterfahrung und die Aussichten auf eine gerechtere menschliche Gesellschaft – der Mensch steht im Mittelpunkt der Analyse. Wenn man sich in die Erdsystemwissenschaft einliest, wird Geschichte zu deep history. Wenn Erdsystemwissenschaftler die Beschaffenheit der Erdatmosphäre erklären – die in der Lage ist, den Sauerstoffgehalt auf einem bestimmten Niveau zu halten, sodass die Wälder nicht in Rauch aufgehen und auf Sauerstoff angewiesene Geschöpfe nicht ersticken –, so sprechen sie davon, dass es sich um die moderne beziehungsweise die jüngste Atmosphäre dieses Planeten handelt. Für jemanden wie mich, dessen Profession üblicherweise in Jahrhunderten denkt, ist es ziemlich verblüffend, wenn man auf die Frage „Okay, wie jung ist denn jung?“ die Antwort erhält: 375 Millionen Jahre! Das Wissen, dass die „moderne“ Luft des Planeten 375 Millionen Jahre alt ist und an sich nichts mit dem Menschen zu tun hat, lässt uns erkennen, dass die Luft, die wir einatmen und ohne die wir nicht existieren könnten, nicht unbedingt mit Blick auf die Menschen geschaffen oder erhalten wurde.

Dies ist eine ganz andere Perspektive auf die menschliche Geschichte als jene, die uns die Geschichte des globalen Kapitals gewährt. Bei dem, was wir gemeinhin als „global“ bezeichnen, geht es darum, wie Menschengruppen im Streben nach Profit, Land und Macht andere Menschengruppen kolonisiert, versklavt und beherrscht und dabei Kommunikations-, Verkehrs- und Überlebenstechnologien entwickelt haben, um eine vernetzte kapitalistische Welt zu erschaffen. Diese Art von Globalität hat eine etwa 500-jährige Geschichte, die mit der europäischen Expansion begann. Die Erdsystemwissenschaften hingegen erzählen die Geschichte des Erdsystems, das heißt des lebenserhaltenden Systems des Planeten, dessen Geschichte Millionen, ja Milliarden von Jahren umfasst.

Es ist die Idee des Anthropozäns, die mich wirklich zum Nachdenken über den Klimawandel gebracht hat – der Gedanke einer nach uns benannten geologischen Epoche. „Sind wir wirklich so groß?“, fragte ich mich erstaunt. Wie gesagt, es ist viel über den Begriff diskutiert worden. Aber die Menge der Belege, die die Anthropocene Working Group zusammengetragen hat, um das menschliche Einwirken auf den Planeten zu dokumentieren, ist nicht wegzudiskutieren. Dieses Beweismaterial zeigt, dass wir Teil dieses Planeten sind – Erdlinge. Deshalb müssen wir intensiver darüber nachdenken, wie der Planet funktioniert. Wir debattieren darüber, ob wir technisch in geo- und biochemische Prozesse auf dem Planeten eingreifen sollten, ob wir entschleunigen und degrowth betreiben sollten. Das Planetarische ist eine Perspektive, die uns Menschen heute zugänglich ist, wenn wir durch diese Fragen unseren Weg in die Zukunft denken.

Die planetarische Perspektive provinzialisiert die menschliche. Dabei geht es auch um eine Dezentrierung des Menschen. Die Geschichte des Planeten erinnert uns daran, dass wir eine minoritäre Lebensform sind: Zahlenmäßig bilden Mikroben die Mehrheit der Lebensformen auf der Erde. Und diese anderen Lebensformen – wie Bakterien oder das Phytoplankton in den Meeren –, die wir normalerweise als minderwertig betrachten, halten das Haus des Lebens lebendig. Wenn man sich das Leben als mehrstöckiges Gebäude vorstellt, kümmern sich die Geschöpfe unten um dessen Betrieb; wir leben in der obersten Etage und denken nicht an sie. Wir sind eine dominante Minderheit, die dem lebenserhaltenden System des Planeten die Lebensfähigkeit nimmt.

Der Homo sapiens hat beinahe 300.000 Jahre benötigt, um eine Population von einer Milliarde zu erreichen. Im Jahr 1900 waren wir 1,6 Milliarden. Bis zum Jahr 2000 haben wir es auf sechs Milliarden gebracht. Heute sind wir acht, bald werden es neun, zehn oder wie viele auch immer sein. Die zurückliegenden 75 Jahre waren eine Phase nie dagewesenen menschlichen Gedeihens. Es gab und gibt zwar Massenarmut, Ungerechtigkeit und Ungleichheit, aber auch steigenden Massenkonsum. China hat Millionen aus der Armut geholt, ebenso Indien, wenn auch in geringerem Umfang. Heute präsentiert der Planet uns die Rechnung dafür. Meine Hoffnung ist, dass wir aus unseren Fehlern lernen – schließlich ist der Mensch eine lernfähige Spezies. Es ist an der Zeit, dass wir uns von den energiefressenden, ressourcenplündernden, lebenszerstörenden und ungerechten Visionen des guten Lebens lossagen, die privilegierte Menschen in den vergangenen Jahrzehnten vorgelebt haben.

Aus dem Englischen von Christine Pries, Frankfurt/M.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. die Schilderung von Christian Schwägerl, Anthropocene. On the Substance of a New Idea, 8.7.2015, Externer Link: http://www.triplepundit.com/story/2015/anthropocene-substance-new-idea/33746.

  2. Vgl. Andreas Malm/Alf Hornborg, A Geology of Mankind? A Critique of the Anthropocene Narrative, in: The Anthropocene Review 1/2014, S. 62–69; Andreas Malm, Fossil Capital. The Rise of Steam Power and the Roots of Global Warming, London 2016; Jason W. Moore, Capitalism in the Web of Life: Ecology and the Accumulation of Capital, London 2015 (dt. Ausgabe: Berlin 2020).

  3. Vgl. Jan Zalasiewicz et al., The Meaning of the Anthropocene: Why It Matters Even Without a Formal Geological Definition, 26.8.2024, Externer Link: http://www.nature.com/articles/d41586-024-02712-y.

  4. Anil Agarwal/Sunita Narain, Global Warming in an Unequal World: A Case of Environmental Colonialism, Neu Delhi 1991 (dt. Ausgabe: Herrsching 1992).

  5. Vgl. Dipesh Chakrabarty, The Climate of History in a Planetary Age, Chicago 2021 (dt. Ausgabe: Berlin 2022), Kapitel 4.

  6. Vgl. Kathryn Yusoff, A Billion Black Anthropocenes or None, Minneapolis 2018.

  7. Vgl. Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Paris 1961 (dt. Ausgabe: Frankfurt/M. 1966).

  8. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hrsg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana–Chicago 1988, S. 271–313.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Dipesh Chakrabarty für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Lawrence A. Kimpton Distinguished Service Professor für Geschichte an der University of Chicago. Auf Deutsch erschien zuletzt von ihm "Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter" (Suhrkamp, 2022).