Nationalstaaten und die internationale Staatengemeinschaft sind rechtlich verpflichtet, Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu gewähren. Auch die postkoloniale Perspektive hält an der Bedeutung der Menschenrechte weltweit fest, um Menschen gegen mächtige Interessen – von Staaten und Individuen, aber auch von Unternehmen und Banken – im Globalen Norden wie im Globalen Süden zu schützen. Allerdings ist die postkoloniale Kritik zugleich einer Machtkritik verpflichtet. Sie hinterfragt also auch die Art und Weise, wie Menschenrechte mitunter zur Machtausübung einiger auf Kosten anderer eingesetzt werden. Und sie interessiert sich dafür, inwiefern rechtliche Regelungen, Normen und Doktrinen, die das Völkerrecht inklusive seiner Menschenrechtsnormen prägen, zu Unterwerfung und Fremdherrschaft politischer oder wirtschaftlicher Art führen. Als Machtkritik prangert sie weltweite Ungleichheiten an, es geht ihr insofern um Missstände, die „den größten Teil der Welt“ charakterisieren. Das Postkoloniale ist also nicht eine ausschließlich geografische Kategorie, sondern vor allem eine machtkritische, die auch die Frage der Menschenrechte umfasst.
Diese postkoloniale Perspektive auf Menschenrechte erwächst aus der Analyse, dass das koloniale Erbe und die Interessen von Großmächten die Funktionsweise des internationalen Rechts nach wie vor strukturieren. Gleichwohl setzen die sozialen, ökonomischen und indigenen Bewegungen und Aktivist*innen des Globalen Südens weiterhin ihre Hoffnung in die Menschenrechte – und fordern, das emanzipatorische Potenzial dieser Rechte auch tatsächlich auszuschöpfen. Die „postkoloniale Frage“ lautet also: Wie können Menschenrechte genutzt werden, um auch den Interessen der Vulnerablen und Marginalisierten, insbesondere der Menschen des Globalen Südens, gerecht zu werden? Und wie können die Menschenrechte aus der Perspektive des Globalen Südens verstanden werden?
Postkoloniale Perspektive
Die Vorläufer der modernen Menschenrechte werden häufig in der US-amerikanischen und französischen Revolution verortet, deren Prinzipien nach dem Zweiten Weltkrieg und den Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte sowie dem Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte universale Geltung und Verbindlichkeit erhielten. Gegen dieses „westlich“ zentrierte Narrativ, das eben vor allem westliche Ereignisse und Errungenschaften in den Vordergrund stellt, ohne etwa die Verbrechen des Kolonialismus zu thematisieren, wendet sich die postkoloniale Kritik. Stattdessen wird danach gefragt, wie Menschenrechte tatsächlich universelle Geltung finden können.
Für die postkoloniale Kritik der Menschenrechte ist daher erstens eine historische Betrachtung von Menschenrechten relevant, die nicht nur Ereignisse in Europa und Nordamerika registriert. Die „Entdeckung“ Amerikas, die Ausbreitung des europäischen Imperialismus über Asien und Afrika, die beiden Weltkriege, die Ausgestaltung der Mandats- und Treuhandsysteme als Fremdherrschaft, die Phase der Entkolonialisierung, die Öl- und Schuldenkrisen der 1970er Jahre, die Etablierung des Neoliberalismus in den 1980er und 1990er Jahren und der lange „Krieg gegen den Terror“ – all dies sind Ereignisse, die postkoloniale Kritik als Machtkritik geformt haben, und zwar nicht nur bezogen auf westlich-europäische Herrschaft, sondern zum Beispiel auch mit Bezug auf das chinesische Kaiserreich oder den sowjetisch-russischen Kolonialismus. Diese erweiterte historische Betrachtung erlaubt auch eine Auseinandersetzung darüber, wie internationale Normen und institutionelle Praktiken zu bestimmten Zeiten mithilfe bestimmter Akteure – Staaten, Unternehmen, internationale Gerichte, aber auch soziale Bewegungen, Indigene und Menschenrechtsaktivist*innen – entstanden sind und sich entwickelt haben. Damit weicht die postkoloniale Perspektive ab von einem formalistischen Blick auf Menschenrechte, nach dem diese einzig durch Staaten entwickelt werden. Vielmehr bezieht sie sich auf subalterne Personen, Ideen und Geschichten – Positionen, die nicht hegemonial und dominant sind und über keinen Macht- und Militärapparat verfügen, um Menschenrechte durchzusetzen.
Eine postkoloniale Kritik der Menschenrechte beschäftigt sich zweitens immer auch damit, koloniale Elemente im derzeitigen Völkerrecht herauszuarbeiten, die zur Unterwerfung und Unterdrückung der Völker des Globalen Südens geführt haben und immer noch führen. Sie hinterfragt das europäische Narrativ der vermeintlichen Neutralität und Universalität der Menschenrechte und verweist darauf, dass Menschenrechte und Völkerrecht auch aus den Erfahrungen von Kolonialismus, Sklaverei und Krieg entstanden sind, ohne dieses dunkle Vermächtnis in Gänze abschütteln zu können. Das Völkerrecht ist auch auf Kosten kolonisierter Nationen und indigener Gemeinschaften entstanden; und bis heute werden diese Menschen und Orte in der globalen Politik an den Rand gedrängt oder ausgegrenzt.
Eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte der Menschenrechte offenbart oft hierarchisierte, manchmal sogar rassifizierte Rechtspraktiken und ihre verheerenden Folgen für den Globalen Süden bis heute. Dabei herrscht häufig das Verständnis vor, dass die Entkolonialisierung abgeschlossen sei, dass Rasse als rechtliche Kategorie und die von ihr unterstützte „zivilisatorische Mission“ als unglückliche Merkmale des 19. Jahrhunderts längst aus dem System verbannt worden seien. Zu dieser Auseinandersetzung gehört auch die Frage, wie Menschenrechte international normiert und instrumentalisiert werden, beispielsweise, um Staaten und Gesellschaften als zivilisiert oder unzivilisiert, entwickelt oder unterentwickelt, souverän oder okkupiert zu klassifizieren. Wenn im Namen von Menschen- oder Frauenrechten, Demokratie und Rechtsstaat oder Entwicklung und Humanitarismus militärische Interventionen gerechtfertigt werden, die selbst massive Menschenrechtsverletzungen mit sich bringen und Staaten und Gesellschaften auf lange Zeit vom „Westen“ abhängig machen, dann bleibt das emanzipatorische Potenzial und der Gleichheitsanspruch der Menschenrechte unausgeschöpft.
Die postkoloniale Perspektive betont drittens, dass der Globale Süden nicht nur Adressat von Menschenrechten ist, sondern selbst eine reiche Tradition an Menschenrechten hat, die allerdings zu selten anerkannt wird. Bei der Formulierung von Menschenrechten wird oft verdrängt, dass sich diese aus verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen speisen, die auch von nicht-westlichen Gesellschaften geprägt wurden und die universelle Bedeutung für alle Menschen gewinnen können. Wenn Menschenrechte nicht nur eine westliche Idee sein sollen, müssen sie auch mit Erfahrungen und Einsichten anderer Gesellschaften gefüllt werden. Zu solch neuen Perspektiven auf Menschenrechte gehören beispielsweise das Recht auf Entwicklung, das Recht auf Ernährung oder auch die UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, die aber zum Beispiel von der deutschen Regierung noch immer für weitgehend unverbindlich gehalten wird.
Die postkoloniale Kritik untersucht schließlich viertens das Verhältnis zwischen Menschenrechten und politischer Ökonomie. Zwar versteht auch sie Menschenrechte zunächst in ihrer Schutzfunktion für eine Person gegenüber einem Staat, aber für sie ist menschenrechtlich beispielsweise auch relevant, wenn Regelungen des internationalen Handels- und Investitionsrechts von Menschenrechtsverpflichtungen ausgenommen werden, die enorme Auswirkungen auf das tägliche Leben der Menschen im Globalen Süden (aber auch im Globalen Norden) haben. Postkoloniale Kritik betont die verheerenden Konsequenzen der wirtschaftlichen Ausgestaltung der Globalisierung und zeigt, dass die derzeit geltenden Menschenrechtsnormen ein System der politischen Ökonomie begünstigen, das massive Umweltschäden verursacht und zu anhaltender Verelendung führt.
Insgesamt will die postkoloniale Kritik zeigen, dass mit der derzeitigen Ausgestaltung des internationalen Menschenrechtssystems Ungleichheiten verstärkt werden, anstatt darauf hinzuwirken, die Kontrolle über die eigenen Ressourcen wiederzuerlangen und den Nutzen für die lokalen Gesellschaften zu maximieren. Wichtig aber ist: Die postkoloniale Kritik als machtkritische Position richtet sich nicht ausschließlich gegen westliche Staaten, sondern zunehmend auch gegen Staaten des Globalen Südens selbst – insbesondere gegen solche, die illegitime und menschenrechtsverletzende Herrschaftsmuster aufrechterhalten.
„Responsibility to Protect“
Ein Beispiel, wie vor dem Hintergrund des Menschenrechtsschutzes neue rechtliche Instrumente geschaffen werden, die aus postkolonialer Sicht im Verdacht stehen, koloniale Muster wiederzubeleben und dem Menschenrechtsschutz zuwiderzulaufen, ist das Instrument der „Responsibility to Protect“ (R2P), das politische und/oder militärische Interventionen in Ländern mit massiven Menschenrechtsverletzungen ermöglichen soll. Aus der Beschäftigung mit Kriegen und Genoziden wie denen im ehemaligen Jugoslawien (Bosnien) oder Ruanda erwuchsen Argumente für humanitäre Interventionen, obwohl diese Praxis keine ausdrückliche Rechtfertigung in der UN-Charta findet.
Die Vereinten Nationen verstanden R2P als „entstehende Norm“, die die Unterstützung von Staaten beim Aufbau von Kapazitäten zum Schutz ihrer Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Ziel hatte und als Hilfe für Staaten gedacht war, die wegen massiver Krisen und Konflikte auseinanderzubrechen drohten. Eingesetzt wurde das Instrument bisher im Sudan (2006), in Kenia (2007), der Elfenbeinküste (2011), Libyen (2011), der Zentralafrikanischen Republik (2013), der Demokratischen Republik Kongo (2013) und Mali (2013). Zu den besonders kontroversen Fällen gehört Libyen: Die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates genehmigte Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta zum Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen und ermächtigte die Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen zu ergreifen. Zudem wurden mit ihr eine Flugverbotszone über dem libyschen Luftraum eingerichtet sowie ein Waffenembargo verhängt. Nach Verabschiedung der Resolution begann die Nato mit einer umfassenden Militärintervention, was auf Kritik insbesondere der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) traf. Diese warfen der westlichen Militärallianz vor, R2P zu nutzen, um einen Regimewechsel herbeizuführen. Tatsächlich unterstützten die Nato-Staaten offen jene Rebellen, die gegen die damalige Regierung Muammar al-Gaddafis kämpften. Heute warnt die Unabhängige Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu Libyen vor einer sich immer weiter verschlechternden Menschenrechtslage im Land; aus ihrer Sicht gibt es Grund zu der Annahme, dass eine Vielzahl von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von staatlichen Sicherheitskräften und bewaffneten Milizen begangen werden, die damals mit Nato-Unterstützung an die Macht kamen.
Die Kritik, dass es bei R2P nicht um Menschenrechtsschutz gehe, sondern um das Forcieren von Regimewechseln, wird durch die postkoloniale Perspektive gestützt. Unter anderem deshalb kam R2P beispielsweise in Syrien nicht zur Anwendung: Trotz der verheerenden Menschenrechtslage bestand weitverbreitet Skepsis darüber, ob die USA und ihre militärischen Partner R2P nur zum Schutz der Zivilbevölkerung anwenden würden – oder ob es ihnen auch um die Gestaltung der zukünftigen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung gehen würde. Zwar wurde R2P danach noch in anderen Fällen angewandt – zum Teil auch mit Unterstützung der BRICS-Staaten –, nichtsdestotrotz scheint sich die Idee des „Menschenrechtsschutzes durch Militärinterventionen“ mehr und mehr überlebt zu haben.
Internationales Völkerstrafrecht
Menschenrechte und Menschenrechtsverbrechen werden seit 2002 zunehmend auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verhandelt. Der IStGH ist befugt, Einzelpersonen wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Ihm gingen internationale Ad-hoc-Tribunale wie das Internationale Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), das Internationale Straftribunal für Ruanda (ICTR) oder auch das von den Vereinten Nationen gestützte Rote-Khmer-Tribunal in Kambodscha voraus. Der IStGH soll als ständiges Gericht Menschenrechtsverbrechen weltweit ahnden können, wenn dies von der jeweiligen nationalen Gerichtsbarkeit verweigert wird.
Allerdings: Bis 2023 hat der Internationale Strafgerichtshof 51 Personen angeklagt, von denen die meisten entweder schwarz und/oder arabisch-afrikanisch und muslimisch waren, was ihm die Kritik eingebracht hat, in seiner Auswahl der Fälle von Menschenrechtsverbrechen rassistisch zu agieren. Diskurse über „afrikanische Warlords“ oder „barbarische Muslime“ haben, so die Kritiker, dazu geführt, dass „schwarze Schuld“ am Internationalen Strafgerichtshof in den Vordergrund gerückt ist, während „weiße Schuld“ minimiert wurde. Als ein „selektives politisches Instrument“ habe es der Gerichtshof bisher versäumt, diese postkoloniale Kritik zu adressieren. Die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen in Afrika und anderen Teilen des Globalen Südens durch den IStGH habe „absichtlich (…) das riesige Ausmaß (…) internationaler Verbrechen in anderen Teilen der Welt verdeckt“. Argumentiert wird auch, dass der vermeintliche Einsatz für Menschenrechte durch eine internationale Strafrechtsordnung die weltweiten Ungleichheiten und Asymmetrien in Bezug auf Macht und Reichtum aufrechterhalte, wenn er nicht sogar ein Mittel zur fortgesetzten Unterwerfung sei: Westliche Großmächte kämen hier nur als Beschützer von Menschenrechten und als Vollstrecker von Gerechtigkeit vor, nicht aber als Täter von Menschenrechtsverletzungen. Koloniale und imperiale Vermächtnisse gedeihen so weiter, weil nicht zuletzt politischer und finanzieller Druck westlicher Staaten darüber entscheidet, in welchen Teilen der Welt Menschenrechtsverbrechen ignoriert und in welchen sie geahndet werden. Damit wird nicht nur eine Kultur der Straflosigkeit vor allem für westliche Staaten aufrechterhalten, sondern auch die internationale Rechtsordnung insgesamt gefährdet. Individuen und Institutionen aus dem Globalen Norden fühlen sich dazu berufen, in Ländern des Globalen Südens Entwicklungs-, Aufklärungs- oder Hilfsarbeit zum Thema Menschenrechte zu leisten, übergehen dabei aber ihr eigenes Zutun zu diesen Menschenrechtsverletzungen. Die Untätigkeit des IStGH in Bezug auf Menschenrechtsverbrechen während der Kriege im Irak und in Afghanistan ist hier nur ein Beispiel von vielen. Zwar hat der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, mittlerweile angekündigt, die zuvor ausgesetzte Untersuchung zu Afghanistan wieder aufzunehmen, allerdings unter einem Vorbehalt: Die Untersuchung werde sich nicht auf das Verhalten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, einschließlich der von den USA unterstützten früheren afghanischen Regierung, erstrecken, obwohl diese wohl Verbrechen begangen haben, die direkt in die Zuständigkeit des Gerichts fallen. Stattdessen werde man sich ausschließlich auf Verbrechen konzentrieren, die von den Taliban und dem Islamischen Staat Khorasan (IS-K) begangen wurden. Es ist diese Form der doppelten Standards im Bereich der Menschenrechte, die von der postkolonialen Kritik besonders angeprangert wird.
Menschenrechte und Wirtschaft
Eine postkoloniale Kritik der Menschenrechte setzt sich auch mit den Kräften der Globalisierung und der neoliberalen politischen Ökonomie auseinander, vor allem in den Bereichen Umwelt, Handel, Finanzen und Investitionen. Das gilt insbesondere dort, wo Menschenrechtsfragen in internationalen Handels- und Investitionsregelungen ausgeklammert werden. Aus der Sicht postkolonialer Wissenschaftler*innen bleibt das internationale Recht im westlichen „Rassenkapitalismus“ (racial capitalism) verwurzelt, also in einer systematischen Ausbeutung nicht-weißer Personen durch Unternehmen im Globalen Norden sowie zunehmend auch des Globalen Südens. Einerseits herrsche im internationalen Recht eine „rassistische Skepsis“ vor, ob nicht-weiße Gesellschaften überhaupt gleichberechtigt in die globale Wirtschafts- und Rechtsordnung integriert werden könnten; andererseits werde Inklusion in die globale Wirtschaft als wünschenswert und möglich angesehen, wenn sie sich der kapitalistischen Moderne und ihren zum Teil erniedrigenden und entmenschlichenden Arbeitsweisen füge.
Kritik richtet sich auch an den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO). Das Recht der WTO zum Beispiel spiegelt einige der wichtigsten Interessen der schwächeren Länder des Globalen Südens nicht wider, auch wenn dort grundsätzlich ökonomisch und politisch schwächere Länder gegen mächtige Staaten im Rahmen des WTO-Streitbeilegungssystems vorgehen können. Das System der bilateralen Investitionsverträge etwa ist in mehrfacher Hinsicht unausgewogen. Da faktisch einer Vielzahl von Ländern des Globalen Südens die Ressourcen fehlen, um ein ökonomisches Gleichgewicht aufzubauen, werden die auf dem Papier vorhandenen Rechte in der Praxis nur selten ausgeübt. Darüber hinaus geben bilaterale Investitionsabkommen Unternehmen zwar die Möglichkeit, Staaten nach internationalem Recht zu verklagen. Sie erlauben es jedoch nicht, Unternehmen nach internationalem Recht zu verklagen, selbst wenn diese in Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren.
Menschenrechtsaktivist*innen im Globalen Süden kommen daher immer mehr zu dem Schluss, dass sie gegen die Handels- und Investitionsregeln, wie sie vor allem von westlichen Staaten vertreten werden, kaum etwas ausrichten können. Politiken und Praktiken, die früher mit Intervention und Imperialismus verbunden waren, haben sich aus dieser Perspektive reproduziert; die vermeintlich „neue Weltordnung“ führt weiterhin zu Unterordnungsverhältnissen, und es werden lediglich neue Argumente vorgebracht, um die alten imperialen Praktiken der Intervention zu rechtfertigen. Der unzureichende Umgang mit Menschenrechtsverletzungen durch große Unternehmen trifft aber nicht nur den Globalen Süden, sondern wird mittlerweile auch im Globalen Norden als Problem wahrgenommen.
Postkoloniale Hoffnungen
Menschenrechte versprechen Schutz vor Autokratie, Diskriminierung und Unterdrückung ganzer Bevölkerungen und auch Schutz für religiöse, ethnische und sexuelle Minderheiten. Trotz der gewichtigen und anhaltenden Kritik, dass Menschenrechte mitunter zum Spielball mächtiger Staaten und Wirtschaftsinteressen werden, bleiben sie für viele soziale Bewegungen des Globalen Südens wichtige Instrumentarien gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft. Deswegen nehmen sowohl die Weiterentwicklung von Menschenrechten als auch die Kritik an ihnen im postkolonialen Denken einen so großen Raum ein. Menschenrechte bleiben damit ein gewichtiges Instrument, um sich sowohl vor der Entrechtung durch westliche Interessen als auch durch postkoloniale Staaten selbst zu schützen. Dazu gehören daher auch Überlegungen, wie Menschenrechte weiterentwickelt werden können, damit nicht nur den marginalisierten Stimmen des Globalen Südens mehr Gehör verschafft werden kann, sondern auch den Stimmen innerhalb des Globalen Südens, etwa Frauen, Indigenen oder Mitgliedern der LGBTIQ*-Community. Auch die postkoloniale Kritik hält an der universellen Geltung der Menschenrechte fest. Nur weigert sie sich, einzig die westlichen Narrative als universelle Standards zu akzeptieren. Die Anfechtung der Position des Westens als „Fundament und Hauptakteur der internationalen Ordnung, der Moral und des Wissens“ öffnet die Tür für die Erkundung der Handlungsfähigkeit anderer Regionen. Das ist es, worum es der postkolonialen Perspektive vor allem geht.