Einleitung
In den vergangenen Jahren lebten immer wieder Debatten auf, deren Kernaussagen sich häufig gegen gesellschaftlich schwächere Gruppen richteten und zum Teil menschenfeindliche Argumentationsmuster bargen. Es wurde von "Parasiten" gesprochen, vom "fehlenden gesellschaftlichen Nutzen" mancher Menschen, die den "Staat" und die "Gesellschaft" belasten würden, bis hin zu "spätrömischer Dekadenz", zu der die sozialen Sicherungssysteme einladen würden. Zu den wohl am intensivsten geführten Debatten dieser Art zählt diejenige um eine Buchveröffentlichung Thilo Sarrazins im August 2010. Sarrazin war von 2002 bis 2009 Finanzsenator in Berlin. Bis September 2010 gehörte er dem Vorstand der Deutschen Bundesbank an. Diese Ämter bekleidete er in genau dem Zeitraum, in dem die Banken- und Finanzkrise begann und ihren katastrophalen Verlauf nahm: Als Finanzsenator gehörte die Verwaltung von Staatsgeldern zu seinen Aufgaben; als Bundesbankvorstand hatte er unter anderem die Bankenaufsicht über das Kreditgeschäft der Institute. Zur Erinnerung: Die bis dato vorherrschende Geldpolitik ist eng mit den Risikogeschäften der privaten Institute verwoben. Bis heute hat die "öffentliche Hand" das Risiko der schwindelerregenden Verluste in Milliardenhöhe zu tragen; ihre Zahlungen gleichen vermasselte Geschäfte der Banken aus. Es sind die Lasten der Banken- und Finanzwelt unserer Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund betrachtet klingt Sarrazins Buchtitel hart, aber wahr: "Deutschland schafft sich ab."
Jedoch heißt es in dem Buch: "Umgekehrt verursachen migrantische Gruppen mit unterdurchschnittlicher Erwerbsbeteiligung und überdurchschnittlicher Transferabhängigkeit fiskalisch mehr Kosten als Nutzen."
Aber so etwas kann man nicht sagen. Mit solchen Argumenten macht man sich nicht gemein. Damit würde man den Spieß nur umdrehen. Damit begibt man sich auf das Niveau von Populisten. Solche Reden sind verletzend, unsachlich und reduzierend. Das ist kein Umgang. In der Tat, es würde unsachlich.
Aber ist diese Ebene wirklich ineffektiv? Birgt der Punkt, an dem die verbale Aggression narrativ umgekehrt wird, nicht auch eine Chance? Den Spieß umzudrehen, heißt nicht unbedingt, ernsthaft auf die "Anderen" loszugehen. Schon der Akt des Umdrehens, die Kopie einer schon erfolgten Handlung oder geäußerten Narration hat etwas Vorführendes. Sie löst zwei Bewusstseinsprozesse aus: Es ist nicht mehr zu übersehen, wie verletzend die imitierte Zuschreibung wirkt, und das geäußerte Problem wird so mit dem Zuweisenden in Zusammenhang gebracht. Beschreibungen wie "ohne Mehrwert" verweisen auf Wahrnehmungsmuster, die Menschen nach ihrem "Nutzen" einordnen und die mit "Nutznießertum" unweigerlich "Ausbeutung" assoziieren. Es entsteht eine "verwickelte Geschichte"
Emotionale Argumentation
Die Strategie der Spiegelung kann im Umgang mit allzu vereinfachenden medialen Debatten neue Möglichkeiten von Widerstand, aber auch von Einflussnahme eröffnen: Möglichkeiten eines "medialen Aktivismus". Hierbei handelt es sich um eine Strategie von Internetprojekten, die ich unter Media Art Activism zusammenfasse. Um vorherrschende mediale Diskurse zu durchbrechen, setzen sie ein, was ich "narrative Spiegelung"
Es gibt viele Erklärungen für solche Äußerungen. Allein der Einfluss von medialen Diskursen auf das Bewusstsein ist nicht zu unterschätzen. Danach übernehmen Individuen vorgegebene Narrative, ohne zu merken, wie ausgrenzend sie sind, und obwohl ihre "eigenen Reaktionen weniger brutal"
So konnte keine noch so logische Erklärung die meisten rechtskonservativen US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner während des Irak-Kriegs 2003 von der Annahme abbringen, Saddam Hussein verstecke Massenvernichtungswaffen. Ebenso wenig lässt sich einer einmal geschürten Angst vor einer Verarmung der Gesellschaft durch (migrantische) "Hartz IV"-Empfängerinnen und -Empfänger nur schwer mit Statistiken beikommen. Wie absurd der Sachverhalt auch sein mag, bei einmal übernommenen Vorurteilen bleiben rein rationale und sachliche Korrektive ohne die emotionale Verbindung wirkungsarm.
Mögliche Gegenstrategien
Lassen sich die Empfängerinnen und Empfänger medial aufgeblasener Botschaften überhaupt von etwas Anderem überzeugen? Was also tun mit reduzierenden und oftmals rassistischen Narrativen? Eine Möglichkeit ist die positive Resignifikation von abgewerteten Begriffen. So wurden beispielsweise der Begriff "schwul" von der Schwulenbewegung in den 1980er Jahren oder der Begriff "Kanake" durch den Roman Feridun Zaimolus aus dem Jahr 1997 ("Abschaum. Die wahre Geschichte von Ertan Ongun") und der Vereinigung "Kanak Attak" umgedeutet, positiver besetzt. Dies könnte sich auch für den Begriff "Parasit" eignen. Die "Kommunikationsguerilla" der 1990er Jahre hat durch mediale Aktionen ideologiekritische Manifeste verbreitet. Auf die "Sarrazindebatte" folgte sehr bald die Internetpublikation "Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand",
Doch erst wenn das Denken mit dem Gefühl einhergeht, kommt es zur Einsicht, hieß es schon bei Sigmund Freud. Was bei populistischen, exkludierenden Parolen gehört wird, ist unter anderem die emotionale Zuspitzung, die subjektive Konstruktion einer Realität. Um ausgrenzenden Narrativen zu begegnen, plädiere ich daher dafür, als mögliche Interventionsebene auch die emotionale zu berücksichtigen, indem Gefühle kommuniziert werden.
Der Media Art Activism besitzt in der Strategie der "narrativen Spiegelung" genau diese Möglichkeit: Er argumentiert emotional und macht dadurch rationale Argumente über ausgrenzende Mechanismen spürbar, indem verletzende, unfaire narrative Überspitzungen vorgeführt werden. "Schmarotzer" ist eine solche Überspitzung. Natürlich wäre diese Zuschreibung auch bei einer gesellschaftlichen Gruppe wie Bankern und Co. reduzierend - und vor allem grob. Er überginge nicht nur eine lange Geschichte im Finanzwesen, in der schlecht gelegte Weichen unter einst vielleicht gut gemeinten Gründen entstanden. Eine solche Beleidigung wirkt auch respektlos und wenig interessiert am Dialog. Es putzt das Gegenüber herunter, ohne nach strukturellen Ursachen und Begründungen zu fragen. Der Begriff "Schmarotzer" wirkt also unkontrolliert.
Ausgesprochen von ranghohen Politikerinnen und Politikern oder Eliten der Finanzwelt ist das Wort jedoch nicht nur ein Ausrutscher: Das Joviale seiner Anwendung spielt auf die vorgegebene Kontrolle gegenüber dem "Anderen" an, als eine Art Anti-Political-Correctness. Das besitzt unweigerlich eine Qualität: die Selbstbestätigung der eigenen Position. Ähnliches führte auch der Politikprofessor Peter Grottian mit seinen organisierten Spaziergängen in Berlin-Steglitz vor. Er leitete Gruppen an Villen vorbei, in denen die verantwortlichen Entscheidungsträger der Banken wohnten, die während der Bankenkrise seit 2008 besonders große Verluste machten. Seine Führungen wurden zu einer "symbolischen Attacke", einem Ausleben von Gefühlen (wie Wut) als scheinbarer Gegensatz zu rationalen und "objektiven" Diskussionen. Die Bewohner der Villen werden höchstens heimlich durch die Gardine gelugt haben. Aber ohne Zweifel haben sie die Menschengruppe, die immer wieder auf sie zeigte, wahrgenommen. Das Verletzende solcher "Fingerzeighandlungen" führt auf eine neue Ebene: Mit einem emotionalen Argument A entsteht Raum für ein emotional aufgeladeneres B. Auch entspinnen sich dabei Verschwörungsfantasien und Vorstellungen, die "Anderen" könnten einen überrollen: "Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird. Wenn ich das erleben will, kann ich eine Urlaubsreise ins Morgenland buchen."
Trotzdem ist die Ebene, auf der eine solche Diskussion landet, keineswegs eine Sackgasse. Im Gegenteil: Jetzt würde sich eine neue Sachlichkeit anbieten. Eine, die nachfragt, woher diese Fantasien eigentlich kommen. Auf welches Wissen oder welches Verhalten führen sie zurück?
Eine mögliche Antwort wäre: Die deutschen Siedlerinnen und Siedler in Polen, Galizien oder Rumänien sowie einigen Teilen Russlands haben ihre eigenen Kirchen gebaut und die deutsche Sprache über Jahrhunderte gepflegt. Sie haben sich nach den heutigen Standards wenig in die jeweilige "Leitkultur" integriert; ganz zu schweigen von der Zeit der Deutschen als Kolonialmacht in Afrika um das Jahr 1900. Damals wurden die dortigen Bewohnerinnen und Bewohner enteignet, militärisch unterdrückt, ausgebeutet - und viele auch ermordet.
Verwicklungen hinter den Emotionen
Dies wäre die zweite Ebene, die sich durch die narrative Spiegelung als emotionale Argumentation eröffnet: das Aufzeigen der gegenseitigen Verwicklungen. Zuschreibungen ("ohne Mehrwert") stünden nicht mehr allein mit denjenigen, denen sie gelten ("Hartz-IV"-Empfänger oder Migranten). In der Umkehrung des reduzierenden Narrativs auf ihre "Schöpfer" - also diejenigen, welche die oftmals stereotypen Zuschreibungen in die Öffentlichkeit tragen und dort vertreten - entsteht ein Konfliktzusammenhang. Diesen aufzudröseln wird zur Aufgabe der Außen- oder Umstehenden, wobei man nicht unbedingt tief in die Details gehen oder exakte Begründungszusammenhänge herleiten muss. Es reicht, sich den Gedanken (und Emotionen) auszusetzen, die durch die narrative Spiegelung freigesetzt werden.
Indem das Stereotyp umgekehrt wird, tritt eine Bewusstseinsänderung in Gang, ein Denkprozess, der Außenstehende in der Mischung aus Argument und Gefühl zum Nachdenken zwingen kann. Man beginnt mitzuempfinden, nachzuvollziehen und - vor allem - eine Verbindung herzustellen. Denn wie im Bereich der Symboltheorie sagt das Zeichen weitaus mehr über den Bezeichnenden aus als über das, was es eigentlich bezeichnet.
Wie ließe sich also eine solche Spiegelung auf die Debatten über "Parasiten" übertragen? Vielleicht sind ja sogar die, die solche grobe, herablassende Narrative produzieren, diejenigen mit dem "Komplex"? Wenn jemand so hart mit anderen umgeht, dann wahrscheinlich auch mit sich selbst. Immerhin reden Menschen, die Kontrolle oder Missstände als von "außen gemacht" erleben, mehr von Strafen gegenüber sich oder anderen.
Solche autoritären Einstellungen können eng verbunden sein mit Vorurteilen. In Theodor W. Adornos Studie über den "Autoritären Charakter" wird beschrieben, wie Oben- und Untenskalen in der Wahrnehmung so tief verinnerlicht sind, dass bei solchen Menschen Prozesse, die ein gegenseitiges Aufeinandereingehen ermöglichen, komplett unterbleiben.
Gleichzeitig drücken ethnozentrische Wahrnehmungen (ähnlich wie Vorurteile) häufig Selbstschutzmechanismen aus, die mit viel Energie aufgebaut wurden. Plötzlich meint ein "deutscher" Gemüsehändler, sich gegen seine "türkische" Konkurrenz auf der Ebene seiner biologischen Herkunft aufwerten zu können. Und vielleicht begibt man sich mit dieser Art des Fingerzeigs auf Einwanderinnen und Einwandern unbewusst in eine Unkostenkonkurrenz vor dem Staat? Die Angst vor einem Verlust oder einer Dekonstruktion rassistischer Stereotype kann sogar in einem psychischen Zusammenbruch enden.
Auch wenn an dieser Stelle mit der Studie über den "Autoritären Charakter" von 1950 argumentiert wird, soll die Debatte über Einwanderung nicht pathologisiert werden. Die Ergebnisse der Studie über autoritäre Persönlichkeitsstrukturen und ihre Verbindungen zu ethnozentrischen Einstellungen, die vielleicht bis dato nie wieder in dieser Tiefe untersucht wurden, soll nur als Denkanstoß fungieren. Zudem hat der Verweis auf die Studie Adornos eine symbolische Qualität, die nicht aufgelöst werden soll: In einem Bewusstseinsprozess, der, angestoßen durch die Spiegelung von Narrativen, das Zeichen auf den Bezeichnenden zurückführt, ist auch die Vergangenheit wichtig. "Rassentheorien" über die Intelligenz und die Psyche von Migrantinnen und Migranten erinnern an eine Zeit in der deutschen Geschichte, in der auf ähnliche Orientierungshilfen zurückgegriffen wurde. Die Wahnvorstellungen, der damit einhergehende Verfolgungswahn, die daraus umgesetzte Verfolgung der "Anderen" und der Holocaust sind bekannt.
Dies ist jedoch nur eine Form des Umkehreffektes. Die Zuweisung eines Komplexes an denjenigen, der ein Problem artikuliert, egal, in welchem Tonfall, ist nicht immer fair. Viel wichtiger - und wohl in jedem narrativen Spiegeleffekt erkennbar - sind die gegenseitigen Verwicklungen beziehungsweise der Konfliktzusammenhang, die auf diese Weise hergestellt und herausgestellt werden: Durch die performative Umkehrung des Narrativs drängt sich den Beobachtern dieser Diskurse die "andere" Seite der "sauber polierten Zuspitzung" ins Bewusstsein.
Abwertungen betreffen nicht alle "Fremden". In lange währenden Unterdrückungsmechanismen werden bestimmte Gruppen durch Stereotype aus der Wahrnehmung und daher generellen Akzeptanz ausgegrenzt, um deren Ausbeutung zu verschleiern. In den meisten Diskussionen über den "gesellschaftlichen Nutzen" von Migrantinnen und Migranten geht es daher kaum um Zahlen, Aufrechnungen oder Nachweise. Das Wissen um die Geschichte der anderen Seite ist oftmals uralt und längst dargelegt: Migrationsströme sind auch im Zusammenhang des jahrhundertealten Kolonialismus des "Westens" (sei es Europas oder der USA) in der "Dritten", mitunter auch in den Ländern der "Zweiten" Welt zu sehen: Viele Menschen müssen migrieren, weil ihnen das Leben in ihren Ländern fast unmöglich wurde.
Die Fantasie einer möglichen Dominanz durch die "Anderen" speist sich daher oftmals auch aus dem Phänomen, das in der postkolonialen Theorie "der Blick der abwesenden Person"
Emotionale Einsichten
Die narrative Spiegelung trägt dazu bei, die größeren Zusammenhänge anzudeuten, den andauernden Zerfall der Öffentlichkeit in Teilöffentlichkeiten
Die emotionale Zuspitzung zeigt den Frust gegenüber Wahrnehmungsrastern, welche die Menschen und ihre individuellen persönlichen, politischen oder finanziellen Gründe zu migrieren über Leistung und Nützlichkeit klassifizieren. Vorgeführt - und damit überführt - zwingt der Begriff zum kurzzeitigen Mitempfinden, das in denselben emotionalen Effekt münden kann wie anfangs beschrieben: "Gut, dass es mal jemand sagt." Die narrative Spiegelung des Media Art Activism verbindet diese Narrative immer auch mit Praxis und Performation.
Wie kann die Debatte über Einwanderung in Deutschland effektiv gespiegelt werden? Ein Vorschlag könnte sein, denjenigen, die Sanktionen für "Integrationsverweigerer" fordern, selbst "Integrationskurse" anzubieten. Menschen, welche die Einwanderinnen und Einwanderer an die Interessen und Strukturen der gesellschaftlichen Mehrheit erinnern möchten, könnten darüber diskutieren, was ihre jeweils eigene "Gruppe" von dieser "Mehrheit" unterscheidet. Sie könnten lernen, was sie ändern müssen, um einen Beitrag für die Allgemeinheit zu leisten. Dabei müsste es sich ebenfalls um einen "Kurs" handeln, bei dem jedes Versäumnis mit Strafen geahndet wird.
Die folgende Liste umfasst erste Vorschläge für Leitfragen für eine narrative Spiegelung im Zusammenhang mit den Diskussionen um den "ökonomischen Nutzen" mancher gesellschaftlicher Gruppen:
Welche Kosten verursachen diejenigen für die Gesellschaft, welche als die "am höchsten belasteten" Steuerzahler gelten?
Worauf gründet sich eine Einstellung, die das Zehnfache an Gehalt im Gegensatz zu einem deutschen Mittelstand für sich beansprucht?
Worauf gründen sich Ängste und Fantasien gegenüber Einwanderinnen und Einwanderern (oder auch "Hartz-IV"-Empfängerinnen und "Hartz-IV"-Empfängern)?
Wie werden in Deutschland Armutsgrenzen berechnet?
Lassen sich Unterdrückungsstrukturen über spezifische rassistische Vorurteile klassifizieren? Wann und für welche anderen Gruppen wurden Stereotype wie "Schmarotzer" oder "Parasit" schon angewendet?
Ist es vertretbar, dass Mitglieder einer gesellschaftlich starken Gruppe gesellschaftlich schwächere Menschen öffentlich kritisieren, einen groben Tonfall anwenden, ohne dabei wirklich ein Gespräch mit den Kritisierten zu initiieren?