Einleitung
Sprechverbote in Deutschland? Das scheint auf den ersten Blick in einem freien, demokratischen Land undenkbar - ist doch Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Meinungsfreiheit garantiert, ein Grundpfeiler unserer Verfassung. Aber was ist mit Einschränkungen dieses Grundrechts, die gesellschaftliche Konventionen, scheinbar oder tatsächlich, mit sich bringen? Wie weit geht political correctness? Wie gehen wir mit Stammtischparolen und Populismus um? Welche Mechanismen lösen Ressentiments und tabuisierte Zonen im Kampf um Meinungsführerschaft in öffentlichen Debatten aus?
Etwas, über das man nicht sprechen darf, wird umgangssprachlich als Tabu bezeichnet. Tabus kommen in allen Gesellschaften vor.
Ursprünglich stammt der Ausdruck aus Polynesien. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts beobachtete der Weltumsegler James Cook in der Südsee Menschen, die bestimmte Dinge, Orte, Handlungen und Personen mieden und diese "tapu" nannten. Etymologisch hergeleitet und übersetzt bedeutet tabu soviel wie "sehr, unbedingt gemerkt".
Bereits vor fast 40 Jahren beschrieb die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann die sogenannte Schweigespirale. Sie beobachtete, dass viele Menschen ihre öffentliche Meinungsbildung davon abhängig machen, was sie für die Mehrheitsmeinung halten. Dieser schließen sie sich an, um gesellschaftliche Isolation zu vermeiden. Öffentliche Personen und führende (Massen-)Medien geben die Richtung des Diskurses vor. Die Spirale entsteht, wenn diejenigen, die vermuten, ihre Auffassung gerate in die Minderheit, sich zurückziehen und schweigen. Dadurch wirkt die andere Gruppe stärker und erscheint als Mehrheitsmeinung, ohne es vielleicht tatsächlich zu sein. Das hat zur Folge, dass unterlegene Themen in der Öffentlichkeit immer weniger vorkommen - was bis zur Entstehung eines Tabus führen kann.
Eine neue Qualität von Tabuisierungen in öffentlichen Debatten brachte Anfang der 1990er das Phänomen der political correctness. In den Vereinigten Staaten von Amerika entwickelt, war political correctness aus den "Neuen sozialen Bewegungen" der 1960er Jahre hervorgegangen, die für Frauen sowie ethnische und soziale Minderheiten eine Gleichstellung erreichen wollten. Dies sollte sich auch sprachlich widerspiegeln, indem Sprache für Verletzendes und Diskriminierendes sensibilisierte und Gleichheit betonte. Tatsächlich wurde durch diese Sprachkonvention der Ton der Diskussion moralischer, emotionaler - und bisweilen intoleranter.
Für die deutsche Debatte wies der Soziologe Sven Papcke darauf hin, dass das Stichwort political correctness eine Diskussion darüber entfacht habe, ob es so etwas gebe wie ein "Mobbing" der Meinungen.
Die Würde des Menschen als Maßstab
Um sozialethische Maßstäbe für Schranken und unausgesprochene Verbote in der öffentlichen Meinungsbildung zu finden, ist nach dem Wert und der Stellung des Menschen zu fragen. Arno Anzenbacher, Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik, sieht das besondere Kennzeichen des Menschen in dem Wert und der Würde "eines Menschen als Mensch".
Die ethische Anforderung deckt sich mit der Formulierung "Man sollte nichts sagen dürfen, was anderen Menschen das Recht auf eine Existenz in Würde abspricht" - wie Patrik Schwarz in einem "Zeit"-Artikel mit der Überschrift "Was man in Deutschland nicht sagen darf"
Einige Felder des öffentlichen Diskurses sind wegen ihrer emotionalen Aufladung besonders umstritten. Die Politikwissenschaftlerin Barbara Zehnpfennig unterscheidet zwischen zwei Problemkreisen, die dafür anfällig sind, verschwiegen oder verschleiert zu werden: Zum einen nennt sie die uneingeschränkte positive Bewertung der Gleichheit aller Menschen ein spezifisch demokratisches Vorurteil; zum anderen sei die negative Bewertung des Nationalen ein spezifisch deutsches Problem, das aus der nationalsozialistischen Vergangenheit resultiere.
Freiheit versus Gleichheit: Der Umgang mit Minderheiten
Ausgangspunkt ist für Zehnpfennig die Spannung von Freiheit und Gleichheit in Demokratien. Rechtlich, vor dem Gesetz, sind alle Menschen gleich. Das Wahlrecht als elementares demokratisches Grundrecht gilt ebenfalls - von Altersbeschränkungen und der Staatsangehörigkeit abgesehen - für alle gleich. Kontroversen beginnen, wenn es um die Anerkennung der Unterschiede geht, die in der Individualität und der Freiheit der Menschen begründet sind. Wie kann trotz Differenzen, die auf Geschlecht, sozialer oder ethnischer Herkunft beruhen, ein gesellschaftlicher Ausgleich erreicht werden? Einer der Hauptstreitpunkte ist die Diskussion um Migration und Integration. Bei der vielerorts emotional geführten Debatte geht es oftmals weniger um den Inhalt, sondern vor allem um den Stil der Auseinandersetzung.
Zur Bewertung von Debatten ist ein ethisches Kriterium, dass keine beteiligte Gruppe und kein Thema ausgeschlossen werden dürfen, sondern alle in ihrer Betroffenheit einbezogen werden müssen. Sätze wie "Man wird ja noch sagen dürfen" deuten darauf hin, dass es Menschen gibt, die sich ausgegrenzt fühlen. Mögliche, als solche wahrgenommene Diskursverbote können auf mangelnde Aufmerksamkeit von Eliten für den Umfang eines Problems zurückzuführen sein. Daher sind sämtliche Befindlichkeiten ernst zu nehmen, innerhalb eines Diskussionsprozesses zu berücksichtigen und nicht von vornherein auszuschließen. Im Sinne einer Anwaltschaft für Benachteiligte, die sich weniger lautstark artikulieren können als eloquente Eliten, wäre ein Perspektivwechsel zugunsten Zurückgesetzter geboten.
Die Komplexität der Zusammenhänge, in denen es nicht immer leicht ist, die Wechselwirkung der verschiedenen auf den politischen Prozess wirkenden Kräfte in verständlicher Sprache darzustellen, darf keine Entschuldigung sein, mögliche Probleme nicht zu thematisieren. So zeigt eine religionssoziologische Studie der Universität Münster, dass wegen der mangelnden "ehrliche(n) und intensive(n) öffentliche(n) Debatte über Islam und Integration" Teile der deutschen Mehrheitsgesellschaft weniger tolerant gegenüber Muslimen seien als andere Europäer.
Es erfordert häufig Mut und Zivilcourage, auch unpopuläre oder gern verschwiegene Fakten gegen das vorherrschende Meinungsklima zu nennen und zu vertreten. Wenn von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft die Rede ist, sollte auch unaufgeregt über "Deutschenfeindlichkeit" bei Jugendlichen mit ausländischen Wurzeln gesprochen werden. Auch ein Hinweis auf die statistisch höhere Kriminalitätsrate innerhalb einzelner gesellschaftlicher Gruppen und die differenzierte Diskussion über ihre möglichen Ursachen dürfen nicht verpönt sein. Andernfalls werden dadurch möglicherweise selbst ernannte Tabubrecher gestärkt, in populistischer Weise die vermeintliche "Stimme des Volkes" zu erheben und öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen.
Gerade dann ist die Gefahr groß, dass es zu gefährlichen Verallgemeinerungen kommt, wie Thilo Sarrazins Einlassung, dass "Türken", statt sich um die Ausbildung ihrer Kinder zu kümmern, "ständig neue kleine Kopftuchmädchen" produzierten.
Tabuisierte Zonen werden nicht zuletzt durch Medien begünstigt, die politische Konflikte zuspitzen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Auf diese Weise können ursprünglich differenzierte Stellungnahmen einen neuen, vom Sprecher nicht beabsichtigten Ton erhalten.
Dies gilt auch für den Umgang mit anderen von Ungleichheit betroffenen Gruppen, seien es sozial Zurückgesetzte wie Hartz-IV-Empfänger und Menschen mit niedrigem Einkommen oder seien es Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung benachteiligt werden. Bei öffentlichen Debatten ist darauf zu achten, dass sie nicht in ihrer Würde beschädigt, als Gruppe diskriminiert und marginalisiert werden. Im Einzelnen gilt es daher, Gründe für die Benachteiligung zu analysieren, Bewusstsein für Diskriminierungen und soziale Ungerechtigkeiten zu schaffen und nach politischen Lösungen zu suchen.
Mangelnde Bereitschaft, sich mit Themen intensiv auseinanderzusetzen und alle Aspekte zur Geltung zu bringen, sollte man jedoch nicht voreilig mit einem Tabu in Verbindung bringen. Stattdessen ist der Hinweis auf verschwiegene Bereiche der öffentlichen Diskussion eher als Aufforderung zu betrachten, die zurückgedrängten Facetten einer Diskussion ans Licht zu holen.
Die Wirkung der deutschen Vergangenheit
Das zweite, oft tabuisierte Thema betrifft die deutsche Vergangenheit. Seit der Gründung der Bundesrepublik gilt zu Recht der Grundkonsens, nationalsozialistisches Gedankengut und die damit verbundenen Verbrechen zu ächten.
Dies spiegelte sich etwa in der Walser-Bubis-Debatte 1998 wider, die sich auch um die Frage einer deutschen "Normalität" drehte. Schon 1985 meinte der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis während der Debatte um Rainer Werner Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod": "Normal ist, wenn wir wieder über Juden schimpfen dürfen." Damals wandte er sich gegen falsche Tabus: "Normal ist, wenn ich den Juden nicht ein Tabu-Mäntelchen überhänge. Normal ist, wenn ich einen jüdischen Verbrecher als Verbrecher bezeichne. Was nicht sein darf, ist, anonym Antisemitismus zu erzeugen, und dann sagen: Das ist ein Zeichen der Normalität. Das darf ich nicht."
Die Schwierigkeit einer solchen "Normalität" drückt sich auch in der öffentlichen Debatte des deutschen Verhältnisses zu Israel aus. Es herrscht kein Zweifel, dass die besondere Verantwortung für Israel zur Staatsräson deutscher Außenpolitik gehört. Es besteht selbst in Israel in breiten Bevölkerungsschichten die Auffassung, dass sich auch Deutsche kritisch zu einzelnen Aspekten äußern dürften, die etwa auf die israelische Siedlungspolitik zurückgehen. Gerade hier ist das "Tabu" als Warnung zu begreifen, sorgfältig zu sprechen und zu handeln, Rücksicht auf Empfindungen anderer zu nehmen und Grenzen nicht zu überschreiten. Dabei ist Israel nach Kriterien zu beurteilen, die auch für alle anderen Staaten gelten.
Durch einen gewollten, manchmal aber sachlich unangebrachten Bezug zum Nationalsozialismus können Themen einer rationalen Erörterung entzogen werden wie Auslandseinsätze der Bundeswehr, Ausländerpolitik und nationale Identität oder auch medizinische Forschung etwa bei der Präimplantationsdiagnostik unter dem Stichwort "Menschenzüchtung". Auch auf die Vokabel "Bevölkerungspolitik" fiel bis vor einigen Jahren ein dunkler Schatten.
Das Beispiel der deutschen Debatte um die Thesen des australischen Philosophen und Ethikers Peter Singer zeigt, dass in Deutschland die Diskussion um Lebensrecht, Personalität und "Euthanasie" mit besonderer Sorgfalt geführt werden muss. Singer stellt das Lebensrecht in einen Zusammenhang mit dem aktuellen Selbstbewusstsein der Menschen und spricht es menschlichen Embryonen, Neugeborenen, Schwerstbehinderten und Komatösen unter bestimmten Voraussetzungen ab. Damit bricht er mit dem Konsens über den nur Menschen zukommenden Personbegriff, wie ihn das Grundgesetz mit der Menschenwürde beschreibt.
Wahrung der Intimsphäre
Im Bereich der Lebensethik gibt es viele Felder, die von Tabus umgeben sind wie etwa der (eigene) Tod. Das Sprechen über ihn fällt schwer, oft wird er verdrängt. Dies spiegelt sich auch in der Diskussion um Organtransplantationen wider.
Trotz einer größeren Offenheit gegenüber früheren Jahrzehnten, über Sexualität und Intimes zu sprechen und öffentlich in den Medien darzustellen, gelten die Privat- und Intimsphäre vielen weiterhin als tabu. Neben der Sexualität betrifft dies schambesetzte Krankheiten, die sozial ausgrenzend erlebt werden können. Das Spektrum reicht von Alkoholismus über Inkontinenz bis zu jeglicher Art von psychischer Störung.
Wie zwiespältig ein Outing, ein Heraustreten aus dem geschützten Bereich, sein kann, zeigt der Theologe Klaus Hock am Beispiel einer HIV-infizierten Frau. Nachdem sie von ihrer Infektion berichtet hatte, begannen die Kollegen sie zu mobben.
Andererseits kann ein Tabubruch zum Schutz körperlicher und psychischer Integrität beitragen, wie der jüngste Skandal um Sexualverbrechen an Kindern und Jugendlichen zeigt. Erst nachdem es, oft lange nach den Ereignissen, für die betroffenen Opfer möglich war, Übergriffe von Vertrauenspersonen auszusprechen und dafür Gehör zu finden, konnten die Fälle von sexualisierter Gewalt überhaupt wahrgenommen werden. Erst durch diesen Tabubruch und den Willen, genau hinzuschauen und sich den Vorwürfen zu stellen, ist Aufklärung und in der Folge Prävention und Schutz von Kindern möglich. Der Schutz der Privatsphäre kann kein Vorwand sein, Verletzungen von Menschenrechten nicht wahrzunehmen und nicht darüber zu sprechen.
Fazit
Tabus - Bereiche, über die nicht gesprochen wird - lassen sich auch in offenen Gesellschaften beobachten. Dabei können Tabus in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedliche Ausprägungen haben. Bürgerliche Milieus haben andere Toleranzschwellen als manche Jugendliche oder anonyme Internetforen und Blogs. Ein Überschreiten von Grenzen ist zu beobachten, wenn Menschen bloßgestellt werden oder Gewalt verherrlicht wird. Tabus und Gebote, die Schranken setzen, sind ambivalent. Es gibt Kernbestände von Normen und Verhaltensweisen in einer Gesellschaft, die nicht verhandelbar sind. Sie können Einzelne und Gruppen in ihrer Privatsphäre schützen und vor Herabsetzung und Beleidigung bewahren. Menschenverachtende oder die Menschenwürde verleugnende Äußerungen und Handlungen gehören zurückgewiesen.
Eine andere Frage ist die Aussparung von Themenfeldern. Hier kann ein Tabu zum Hemmnis in der Debatte werden und sachgerechte öffentliche Auseinandersetzungen blockieren. In einer immer komplexer werdenden Welt ist es für den Einzelnen schwierig, sich in verschiedenen Sach- und Politikgebieten ein angemessenes sachgerechtes Urteil zu bilden. Daher sind Eliten gefordert, komplizierte Zusammenhänge in einer verständlichen Form darzustellen und allen Beteiligten die Möglichkeit zu geben, an der öffentlichen Debatte teilzunehmen. Schon um selbsternannten, oft populistischen Tabubrechern keine Chance zu geben, darf es kein Verschweigen oder Unterdrücken von Meinungen geben. Diesen Anspruch meint auch der Sozialethiker Martin Honecker, wenn er aufgrund einer biblischen, auf das Evangelium zurückgehenden Analyse schreibt: "Von der evangelischen Freiheit her kann es (...) a priori und grundsätzlich keine Tabus geben."
Der Sinn von Tabus lässt sich nicht allgemein festlegen. Ihre Rechtfertigung hängt von ihrem Nutzen für das Zusammenleben ab. Menschen handeln dann ethisch, wenn sie sich durch ein grundsätzliches Wohlwollen und rücksichtsvolles Reden und Handeln gegenüber ihren Mitmenschen auszeichnen und bestrebt sind, zum Wohle der Gesellschaft und zu ihrem Zusammenhalt beizutragen. Werden diese Regeln befolgt, dürfte die Frage, ob "riskante" Themen in der Öffentlichkeit als Tabus zu bezeichnen sind, obsolet werden. Man sollte alles sagen können und dürfen. Wichtig ist jedoch zu bedenken, in welchem Ton und an welchem Ort gesprochen wird.