Einleitung
Seit sechs Jahren veröffentlicht das IT-Unternehmen IBM zum Jahresende eine Vorhersage über die fünf wesentlichen Technologietrends. In der jüngsten Vorhersage vom Dezember 2011 lautet Trend Nr. 3: "Gedankenlesen ist nicht länger Science Fiction."
Wenn diese Prognose zutrifft, dann werden Maschinen künftig durch Gedanken gesteuert, und es entfallen immer mehr Schnittstellen zwischen Mensch und Computer. Ebenso denkbar ist die Möglichkeit, miniaturisierte Maschinen direkt in den menschlichen Körper zu implantieren. Das amerikanische Unternehmen Applied Digital Solutions hat längst einen implantierbaren "Verichip" auf Basis der auf Radiofrequenztechnik aufsetzenden RFID-Technologie (Radio Frequency Identification Technology) entwickelt. Der Chip kann zum Beispiel in Herzschrittmachern eingebaut werden, um per Ferndiagnose zu überwachen, ob der Träger des Schrittmachers in Ohnmacht gefallen ist. Leicht lässt sich ein solcher Chip auch mit GPS-Technologie erweitern, also mit der Möglichkeit versehen, jederzeit den Aufenthaltsort und den Bewegungsradius eines Menschen oder eines Tieres nachzuvollziehen. Wir können also zukünftig nicht nur unsere Brille kontaktieren, um zu fragen "Wo steckst du bloß wieder?, und die Brille antwortet unmittelbar mit den detailgenauen Angaben ihres aktuellen Aufenthaltsorts. Wir könnten auch Haustiere, Kinder oder Partner mit Hilfe dieser Chiptechnologie in die ferngesteuerte Sicherungsverwahrung nehmen - eine Vision, die unter dem Begriff barcoding humans (Menschen mit einem Barcode versehen) bereits harsche Kritik hervorgerufen hat.
Seit Jahren forschen Wissenschaftler auch an der erweiterten Nutzung von Computer-Hirn-Schnittstellen, über die beispielsweise gelähmte Menschen dem Computer Befehle geben können. Die Verbindung von Mensch und Maschine erfolgt dabei über am Kopf angebrachte oder ins Gehirn implantierte Elektroden, die spezifische, einzelnen Körperbewegungen zugeordnete Signalmuster entschlüsseln und in Computersprache umsetzen. So lassen sich Computer oder auch künstliche Gliedmaßen allein per Gedanken steuern.
Algorithmisch personalisiertes Internet: Ich bin mein Profil
Zunächst hatte niemand so recht bemerkt, was es bedeutete, als Google Ende 2009 seinen Suchalgorithmus änderte und von der generalisierten auf die personalisierte Suche umstellte. Wer immer nun etwas im Internet sucht, bekommt individualisierte Ergebnisse. Dabei werden vorherige Suchanfragen mit den Daten, die ansonsten im Internet über die Nutzerinnen und Nutzer kursieren, kombiniert, ausgewertet, gewichtet und weiterverarbeitet. Jeder bekommt die Suchergebnisse aufgelistet, die am besten zu seinen bisherigen Präferenzen passen. So entsteht ein individuelles Profil eines jeden Menschen, das zum Ansprechpartner der Maschine wird.
Auf diesem Wege verschwindet sukzessive die unerwartete Entdeckung, die durch einen glücklichen Zufall möglich wird. Er wird schlicht aus der Netznutzung herausgerechnet. In der englischen Sprache werden diese menschlichen Zufallsentdeckungen serendipity genannt.
Serendipity tritt in unser Leben, wenn wir in einem Buchladen plötzlich ein Buch in der Hand haben, das durch seinen Umschlag unsere Aufmerksamkeit geweckt hat, wenn wir eine Zeitungsreportage anlesen und plötzlich gefesselt sind, in der Begegnung mit einem Menschen, in den wir uns verlieben, obwohl er nicht unseren Idealvorstellungen entspricht. Und serendipity liegt auch darin, dass wir unbekannten Themen begegnen, die uns zum Beispiel politisch aktiv werden lassen, weil es uns wichtig erscheint.
Das personalisierte Internet kann zwar - noch - keine Gedanken lesen, aber es führt zu einem Ergebnis, das dem nahekommt. Wenn die den Netznutzerinnen und -nutzern präsentierten Informationen und Empfehlungen weitgehend auf einem individualisierten Profil beruhen, dann kommt es zu immer weniger Zufallsbegegnungen, dann wird die Welt zu einem Hohlspiegel unserer individuellen Vorstellungen, Wünsche und Präferenzen, und wir leiden irgendwann unter "Weltkurzsichtigkeit".
Diese Personalisierung in der Vernetzung hat Vorteile. Sie macht das Leben einfacher, erleichtert den Menschen die Nutzung ihrer bevorzugten Angebote - die Vollendung der Individualisierung mit digitalen Mitteln. Wenn es dabei um die richtige Joghurt- oder Brillenmarke geht, mag es zu verschmerzen sein, dass die zufällige Auswahl eines anderen Produktes im Zuge der Personalisierung immer unwahrscheinlicher wird. Wenn es dagegen um politische Informationen geht, ist Skepsis angebracht. Klickt man bei Facebook beispielsweise über einen gewissen Zeitraum nur Status-Updates von Politikern einer bestimmten Partei an, so rechnet der Algorithmus dieses Verhalten in Präferenz um und zeigt die entsprechenden Meldungen auch immer häufiger, während die von Vertretern anderer politischer Richtungen seltener bis gar nicht mehr berücksichtigt werden. Wer über die dahinter liegenden Mechanismen Bescheid weiß, kann aktiv nach alternativen Informationen suchen. Wer sie nicht kennt, kann dem Glauben verfallen, es gäbe in seiner Lebenswelt nur noch eine politische Farbe. So kann eine "Schweigespirale 2.0"
Grenzenlose Veröffentlichung des Lebens: Du siehst mein Profil
Im Internet werden nicht nur unsere Profile, unsere persönlichen Daten und technischen Lebensverhältnisse vernetzt, sie werden auch sichtbar gemacht. Das Prinzip hat sich nicht verändert, seit 1991 mit der "Trojan Coffee Cam" die erste Webcam an der Universität Cambridge online ging. Sie zeigte den Füllstand der einzigen Kaffeemaschine im Bereich des Computerlabors und ersparte Wissenschaftlern in weit entfernten Winkeln des Labors vergebliche Wege zum Kaffeenachschub.
Bei Facebook kann man sein Leben von der Geburt bis zum Tod neuerdings in der timeline dokumentieren. Wenn diese sich so entwickelt, wie das Unternehmen es plant, dokumentiert sie künftig schlicht alles, was alle tun. Dazu müssen die Nutzerinnen und Nutzer gar nicht mehr durchgängig selbst aktiv werden. Unsere Aufenthaltsorte und Tätigkeiten werden nicht mehr nur durch unsere eigenhändig eingestellten Informationen und Fotos nachgeführt, sondern auch halbautomatisch mithilfe von Apps, die mitzeichnen, welche Musik wir hören, welche Filme wir schauen, was wir gerade lesen, um unsere "Freunde" daran teilhaben zu lassen. Die timeline setzt damit um, was der Informatiker und Künstler David Gelernter als unsere digitale Zukunft entwirft: den lifestream, in dem alle je verfügbaren Informationen gesammelt und zu einem stetigen Strom der Daten, Bilder, Videos zusammengefasst werden.
Für das menschliche Leben gilt der alte Satz über das Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Ich bin nicht nur das digitale Abbild meiner selbst, und sei das noch so sekundengenau dokumentiert. Deshalb ist schon die Annahme des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg problematisch, wir könnten künftig unser ganzes Leben auf einer Seite dokumentieren. Das würde bedeuten, unsere digitalen Abbilder als unser Selbst zu begreifen. Die unbekannte Seite eines Menschen? Die gibt es nicht mehr, wenn sie nicht im lifestream aufscheint. Ich bin mein digitales Profil.
Die Phasen unseres Lebens, die wir nicht gerne dokumentiert hätten, werden ganz sicher in der timeline verzeichnet sein. Selbst wenn wir sorgsam darauf geachtet haben, keine Informationen über unsere Ausschweifungen bei Facebook zu posten, andere werden schon dafür Sorge tragen, dass es geschieht. Soziale Netzwerke sind transitiv. Wenn A mit B und B mit C verbunden sind, dann ist in der Regel auch A mit C verbunden.
Schließlich hat das Folgen für den menschlichen Selbstentwurf, für unsere Identität. Mark Zuckerberg hat in einem Interview einen gleichsam programmatischen wie verräterischen Satz gesagt: "Du hast eine Identität", betonte er, "zwei Identitäten zu haben, zeugt von einem Mangel an Integrität".
Der Philosoph Jeremy Bentham hat die Idee einer weitreichenden, selbstorganisierten Überwachung durch Öffentlichkeit in seinem Konstrukt des "Panopticons" bereits im 18. Jahrhundert entwickelt.
Es geht also um weit mehr als um neue pragmatische Herausforderungen im Umgang mit Persönlichem. Eine Ahnung davon vermittelt IBM in seiner Technologievorausschau mit der zweiten Innovation: "Du wirst nie wieder ein Passwort brauchen."
Mensch als Hybrid: Technik und Geist, Maschine und Körper
Es ist der ewige Wunsch, menschlichen Geist in die Maschine zu transferieren, der in Zeiten der digitalen Vernetzung und künstlichen Intelligenz neue Nahrung bekommt.
Aus zahlreichen Romanen und Filmen kennen wir die Entwürfe der Menschmaschinen oder Maschinenmenschen, die als "Cyborgs" und "Replikanten" die Welt bevölkern.
In seiner Abhandlung zum "Chinesischen Zimmer" hat der Philosoph John R. Searle das Problem zu lösen versucht.
Searle hat mit seiner Argumentation für den zugrunde liegenden Versuchsansatz Recht. Aber er verkennt, dass wir längst mit einem anderen Problem konfrontiert sind - dem der schwindenden Unterscheidbarkeit von menschlicher und maschineller Intelligenz. Schon der Schachmeister Gary Kasparov verlor 1997 gegen den IBM-Schachcomputer "Deep Blue" und gab während des Spiels mehrfach an, Zeichen von menschlicher Intelligenz im Computer wiederzuerkennen, "signs of mind in the machine".
Unbeobachtbarkeit des Unterscheidbaren
Die wachsende Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine in ihrer Intelligenz- und Kommunikationsleistung hat schon den Computerpionier Joseph Weizenbaum nachhaltig beeindruckt - und so geschockt, dass er sich schließlich aus der Forschung zurückzog.
Wenn Technologie für den Menschen nicht bloß "Instrumentarium der Daseinssicherung und elementaren Bedürfnisbefriedigung" ist, sondern vielmehr "Thema und Signatur seiner Selbstdeutung und Selbstverwirklichung",
Solche Erfahrungen machen ansatzweise schon heute Menschen, bei denen über einen "Hirnschrittmacher" die Linderung der Symptome einer Parkinsonerkrankung ermöglicht werden kann. Sie erleben sich sozusagen zwischen zwei Bewusstseinszuständen, zwischen denen sie hin- und herschalten können. Ist der Schrittmacher eingeschaltet, geht das Zittern zurück, aber der Patient leidet unter Sprachstörungen und einer veränderten Stimmlage. Ist er ausgeschaltet, zittert der Patient, aber hört sich vollkommen normal sprechen. Während der Zeit, "in denen wir das Gerät abgeschaltet hatten, war mir, als ob in meinem Kopf ein PC eingeschaltet wurde, dessen Brummen und Klicken mir verhießen, daß mein Gehirn arbeitete".
In der zunehmenden Hybridisierung des Menschen durch die Verbindung von Maschine und Körper, Technik und Geist liegt also ein Prozess versteckt, den wir als den Verlust der Unterscheidbarkeit beschreiben können. Wo Computer immer schneller und leistungsfähiger werden, ist es nicht mehr länger die tatsächliche Nachbildung menschlicher Intelligenz in der Maschine, die entscheidend ist. Vielmehr wird der Unterschied zwischen menschlicher und Maschinenintelligenz für den Menschen unbeobachtbar. Und damit ist er faktisch nicht mehr existent. Der Computer muss also nicht menschengleich werden. Es reicht, wenn er uns so erscheint.