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Digitale Demokratie Editorial Das demokratische Netz? Governance des digitalen Raumes: aktuelle netzpolitische Brennpunkte Digitale Politik und Partizipation: Möglichkeiten und Grenzen Beschleunigte Demokratie: Entscheidungsstress als Regelfall Die Piratenpartei als neue Akteurin im Parteiensystem Menschen und Maschinen. Wenn Unterschiede unsichtbar werden - Essay

Beschleunigte Demokratie: Entscheidungsstress als Regelfall

Karl-Rudolf Korte

/ 14 Minuten zu lesen

Ad-hoc-Entscheidungen werden immer häufiger notwendig oder eingefordert – über demoskopiegetriebene Verfahren ebenso wie durch Online-Abstimmungen und "Gefällt mir"-Klicks. Dies kann auch Auswirkungen auf die Qualität von Entscheidungen haben.

Einleitung

Zeit ist eine Chiffre der Freiheit. Das Kennzeichen einer digital beschleunigten Demokratie ist jedoch Zeitarmut. Spitzenakteure müssen zunehmend in Echtzeit handeln. Exekutives und legislatives Politikmanagement haben sich extrem dynamisiert, ohne strukturell über adäquate zusätzliche Ressourcen zu verfügen. Die repräsentative parlamentarische Demokratie aber ist tendenziell entschleunigt getaktet. Parlamente sollen durch sorgfältige Beratung nach drei Lesungen zu einem Ergebnis kommen. Doch beschleunigte Ad-hoc-Entscheidungen werden immer häufiger notwendig oder eingefordert - über populäre direkte und demoskopiegetriebene Verfahren ebenso wie mit Online-Abstimmungen und "Gefällt-mir"-Klicks, welche die Politik zunehmend antreiben. So dominiert mittlerweile das dezisionistische Prinzip, das primär das schnelle Entscheiden, das Regieren im Minutentakt zum Ziel hat. Digitale Formate sind dabei die neuen Taktgeber.

Auf die Zeitkrise des Politischen - entschleunigte Beratung auf der einen Seite und beschleunigte Entscheidung auf der anderen - muss Politik reagieren. Nur wer Zeit für Entscheidungen hat, kann über Optionen nachdenken. Zeitknappheit ist nicht nur ein schlechter Ratgeber, vielmehr leidet durch Rasanz in der Regel auch die Qualität der Entscheidungsfindung. Dies gilt im Hinblick auf fehlende Handlungsalternativen angesichts des Zeitdrucks, aber auch bezüglich der Transparenz der Entscheidungsvorbereitung. Die moderne Regierungsforschung kann zeigen, wie sich unter den Bedingungen der Beschleunigung die notwendige Balance zwischen Formalität und Informalität verschoben hat. Wenn Zeit fehlt, wird jede Vorbereitung von politischen Entscheidungen in Regierungszentralen von Informalität dominiert. Dadurch minimiert sich nicht nur die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Recherche, auch die Legitimität des Verfahrens ist bedroht. Entscheidungsvorgänge in der Politik müssen deshalb immer mit der Frage verknüpft werden, wer letztlich die Entscheidungen fällt, wer sie zu verantworten hat, wie transparent sie fallen. Insofern ist das Suchen nach Informalitätskulturen auch immer mit der zentrale Frage "who governs?" verbunden. Da digitale politische Prozesse (Stichwort E-Government ) extrem abhängig sind von denjenigen, welche die Software erarbeiten, stellen sich neue Machtfragen zur Legitimität von Entscheidungsprozessen.

Die digitale Demokratie arbeitet nicht nur mit anderen Instrumenten als die analoge Politik, digitale Kontexte bedeuten eine neue formative Phase für das politische Gemeinwesen und speziell für das politische Entscheiden. Nicht nur Stile und Modi des demokratischen Entscheidens ändern sich, sondern eine neue politische Arena öffnet sich. Diese Arena bedingt Zeitläufe, die eine enorme Ereignisdichte mit sich bringen und seit einigen Jahren das Risiko zum Regelfall der Politik machen. Für die politischen Spitzenakteure kommen infolge dieser Veränderungen immer mehr Entscheidungen als purer Stresstest daher. Ohne Risikokompetenz droht den Akteuren das politische Aus. Wie könnte so eine Risikokompetenz unter digitalen Bedingungen aussehen? Die aktuelle Kaskade von Krisen stellt jede Regierung vor besondere Probleme. Denn im Zentrum steht dabei nicht nur die Bewältigung im Sinne einer Problemlösung in Zeiten entfesselter Dynamiken, vielmehr zeigt sich im Politikmanagement um das Primat der Politik ein Kampf um den Ort und die Verteilung politischer Entscheidungsmacht. Politische Akteure können sich aber durchaus auch in Zeiten des Gewissheitsschwundes strategische Potenziale erarbeiten, die ein nicht allein durch Zufälle und Inkrementalismus dominiertes Politikmanagement ermöglichen. Risikokompetenz wäre dabei das auszubauende Potenzial.

Parallel zu wachsenden Risiken entwickelt sich exponentiell politische Komplexität mit überraschenden Rückkopplungseffekten. Immer mehr Akteure arbeiten in immer stärker globalisierten Verhandlungsformaten ohne hierarchische Handlungskoordination an Lösungen von komplexen Problemen. Unter dem Druck der Ereignisdichte scheint sich ein neuer Rhythmus der Politik zu entwickeln. Für die politischen Entscheidungsträger werden auf vielen Ebenen Krisenreaktionskräfte wichtiger und bindender als Verträge. Wenn es serienmäßig zum Triumph des Unwahrscheinlichen über das Wahrscheinliche kommt, muss Politik stets das Überraschende erwarten, was sich heute häufig zunächst im digitalen Netz entwickelt. Der Zeitvorsprung des Internets ist uneinholbar. Was folgt daraus für das demokratische Entscheiden? Mit vier vorläufigen Antworten soll skizziert werden, wie daraus auch im digitalen Zeitalter mehr Demokratie erwachsen kann.

I. Erklärmacht: Strukturen vorgeben

Eine digitale Demokratie lebt mit neuen Spielregeln politischer Öffentlichkeit. Die Online-Öffentlichkeit ist strukturlos und nicht steuerbar. Die heutige Politik hat es mit einer sich herausbildenden Netzwerkgesellschaft zu tun, in der Interaktion in veränderten Formaten stattfindet. Kommunikative Schwärme bilden sich plötzlich und sind ohne erkennbare Anführer - ganz im Gegensatz zu politischen Bewegungen in Zeiten der analogen Demokratie. Kommunikation gehört zu einer zentralen Ressource des strategischen Regierens, Aufmerksamkeits- und Erwartungsmanagement ergänzen dabei idealtypisch die "Wort-Politik" der Spitzenakteure. "Netztauglichkeit" ist dabei inzwischen gleichbedeutend mit Kommunikationsfähigkeit. Wer sein Handeln nicht ausreichend erklärt, kann keine Gefolgschaft mobilisieren, auch keine spontane Assoziation der Netzgemeinde.

Doch mit wem soll was, wann, wie und in welchen Formaten kommuniziert werden, um zur Entscheidungsfindung zu kommen? In der digitalen Demokratie ist jede Vorstellung von gesteuerter Kommunikation anachronistisch - für eine kollektive Regierungsformation, die weiterhin mit Mehrheiten entscheiden möchte, aber essenziell. Das digitale Netz ist kommunikativ unberechenbar, dennoch muss eine politische Entscheidung kommuniziert werden, denn Sprachverlust bedeutet für die Regierenden auch immer Machtverlust. Wer die Begriffe setzt, erobert die Wirklichkeit. Sprachgewinn bedeutet Deutungshoheit. Wer diese Hoheit verliert oder gar nicht mehr anstrebt, kann keine politische Macht aufbauen. In der Regel fehlt es sowohl den Regierungszentralen als auch dem organisatorischen Apparat der Spitzenakteure an Ressourcen, um auch die neue Online-Öffentlichkeit ausreichend zu berücksichtigen. Im Bereich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsumfeldes hat ein Ressourcentransfer von analogen zu digitalen Medien gerade erst begonnen.

Wie kann man dennoch rasch und angemessen kommunizieren? Wie kann man politisch erklären, was zu tun ist? Die Politik kann in der aktuellen Phase kollektiver Erwartungsverluste und Entwertungserfahrungen ein Erklär-Vakuum ausfüllen: Beispielsweise könnten entlang von Parteiprogrammatiken oder Koalitionsvereinbarungen normativ aufgeladene Begründungsketten als strukturierte Antworten entwickelt werden. Wer am überzeugendsten erklärt - online und offline gleichermaßen -, kann Mehrheiten organisieren. Erklärmacht mittels solcher Rahmungen (frames) ist eine wichtige kommunikative Macht. Mit derartigen Orientierungsstrukturen kann man sich bewusst von anderen unterscheiden. Wer nicht tagespolitisch beliebig, sondern mit einem nachvollziehbaren politischen Kompass argumentieren möchte, der muss seine jeweiligen politischen Problemlösungen auch ideell verankern und kommunizieren.

Erklärmacht ist nicht mit Wissen zu verwechseln. Doch Entscheidungszumutungen sind politisch gestaltbar, wenn versucht wird, diese erklärend zu begründen, als ein Angebot zur Komplexitätsreduktion. Nicht die Vorhersehbarkeit der Entscheidungsfolgen ist dabei relevant, denn Komplexität und Nichtwissen lassen nur bedingt Antworten zu. Aber in unsicheren Zeiten können sich Sicherheiten nur entwickeln, wenn mit der Erklärung auch Zugehörigkeiten sichtbar werden. Stabile Deutungs- und normative Sinnperspektiven sind strategische Reaktionen auf den Umgang mit Gewissheitsschwund. Die jeweilige Deutung bietet eine Struktur, die im strukturlosen Netz einen Gegenpol setzen kann.

II. Zaudern, um zu entschleunigen: Langsamkeit als Strategie

Eine systematische Entschleunigung von politischen Prozessen ist kein genereller Ausweg aus den komplexen Entscheidungszumutungen. Moderne politische Systeme und Gesellschaften können sich nur erhalten und stabil bleiben, wenn sie permanent wachsen und schneller werden: "Sie stabilisieren und reproduzieren sich dynamisch." Entscheidungsgesellschaften können den Status quo nur wahren, wenn sie sich dauernd verändern. Dennoch helfen attentistische Formate: Langsamkeit kann, im Sinne bewusst retardierender Momente von diskursiv angelegten parlamentarischen Verfahren, nicht nur die Legitimation von Entscheidungen erhöhen. Bessere temporale Voraussetzungen bieten auch die Chance, zu guten - problemlösenden - Entscheidungen zu gelangen. Wer einen politischen Steuerungsanspruch in einem extrem dynamischen Umfeld formuliert, muss auf Entschleunigung setzen.

Auch in Regierungsstilen könnte sich das ausdrücken. Ließe sich das Vortasten der Regierungen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel im Umgang mit einigen Krisen möglicherweise so einordnen? Oft warteten die Kanzlerin und ihr jeweiliger Ressortminister ab und begegneten dem Alltag der Krise mit kleinteiligem Vielfaltsmanagement. So eine forcierte Passivität mit Lerneffekten könnte sich am Ende der jeweiligen Entscheidungskette als Macht erhaltende Taktik herausstellen. Das präsidentielle, überparteiliche Zaudern der Bundesregierungen wirkt wie eine Auszeit für einen historischen Möglichkeitssinn und könnte als Methode interpretiert werden. Es handelte sich also keinesfalls um Nichtstun; die substanzielle Langsamkeit stellt in komplexen, unsicheren Zeiten ein Machtreservoir dar. Zaudern, um zu entschleunigen, kann eine Komponente von Risikokompetenz sein - auch wenn diese Strategie mit Blick auf den eigenen Machterhalt hochriskant ist. Digitale Demokratien kann man nicht ausbremsen, aber bewusst verlangsamen, um potenzielle Handlungskorridore zu nutzen.

III. Neue Entscheidungsqualität: Reversibilität und Teilhabe

Wenn Risiko zum Regelfall wird, könnte dies auch Konsequenzen auf die Strukturen zur Entscheidungsfindung haben. Netzwerke, die generell einfacher und schneller online zu bilden sind als offline, minimieren Unsicherheitsfaktoren und Wissenslücken. Sie reduzieren jedoch nicht die Quellen der Unsicherheit. Sie geben dem einzelnen Akteur Sicherheit und können die Einschätzung der Konsequenzen in positiver, aber auch in negativer Hinsicht beeinflussen. Zukunftsfähigkeit könnte somit darin bestehen, grundsätzlich lernend, fehlerfreundlich und stets reversibel zu handeln. Die Qualität von Entscheidungsprozessen kann sich dadurch verbessern, weil auch die Fehlerfreundlichkeit von Entscheidungen kommuniziert werden müsste. Auch dies ist online besser zu organisieren als offline.

Die Qualität von Entscheidungen kann aber nicht nur durch neue Strukturen angereichert werden. Vielmehr ändert sich in digitalen Demokratien das Konzept von Partizipation. Die ergebnisorientierte Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger im Sinne einer modernen, rückgekoppelten Beteiligung sichert langfristig die Legitimität von Entscheidungen. "Schwarmintelligenz" kann sowohl zur Informationsgewinnung als auch zur Entscheidungsvorbereitung genutzt werden. Mit institutioneller Phantasie kann zudem die Verzahnung parlamentarischer und außerparlamentarischer Online-Prozesse gelingen. Modell könnten hier repräsentativ zusammengesetzte Bürgerkammern sein, die mit einer Reaktionsverpflichtung für die Parlamente ausgestattet sein könnten. Bürgerpartizipation als Gesellschaftsberatung könnte so in einem neuen Format getestet werden, das seinen Ursprung im digitalen Vorfeld hätte. Die repräsentative Demokratie würde auf diese Weise neue Akzeptanz erhalten. Zudem steigt die Qualität von Entscheidungen, wenn nicht nur über Wissen, sondern auch über Partizipation und Teilhabe neue Akteure mit "Expertise von unten" eingebunden werden.

Digitale Prozesse erleichtern die Chance auf Einbindung und Anhörung neuer politischer Akteure. Die Entscheidungszumutungen werden durch die Rückkehr des Plebiszitären, wenn sich unterschiedliche Kreise in differenzierten Formaten darin wiederfinden, für alle Beteiligten "erträglicher". Die diskursive Rückbindung an Öffentlichkeiten dient somit der Feinjustierung plebiszitärer Bedürfnisse. Risikokompetenz würde mithin bedeuten, prozessuale Logiken bzw. unterschiedliche Entscheidungsarenen (öffentliche, parlamentarische oder verhandlungsdemokratische), die solche plebiszitären Kontexte einbeziehen, miteinander zu verkoppeln. Studien belegen, dass Online-Teilhabe in politischen Prozessen in der Regel ein ähnliches bürgerliches Klientel anspricht, wie traditionelle Offline-Partizipationsformate wie Wahlen und Abstimmungen. Insofern werden sich quantitativ nicht mehr Bürger aktiv einbringen, aber Entscheidungen können potenziell auf breiterer und auch anders gelagerter legitimatorischer Basis gefällt werden. Die Einbindung neuartiger Partizipationsbewegungen kann die repräsentative Demokratie durch clevere Ergänzungen stabilisieren. Das Regieren und Opponieren wird dadurch weder effizienter noch effektiver, aber die Qualität des Parlamentarisch-Repräsentativen könnte gewinnen.

IV. Robuste Parteien: flexibel und krisenfest

Die Parteien sind die Begleiter des Wandels. In einem weitgehend ortlos gewordenen politischen Online-Raum könnten auch sie Orte des Politischen bieten, sind sie doch lernende Organisationen mit hoher Anpassungsfähigkeit. Alle Prozesse der herkömmlichen Machtgenerierung bedürfen im digitalen Kontext der Ergänzung. Dabei machen es die Bürger den Parteien nicht einfach, (stellvertretend für sie) an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Der Anteil der Nicht- und Wechselwähler hat dramatisch zugenommen, immer häufiger ändern Bürger spontan und unkalkulierbar ihre politischen Meinungen. Wie können Parteien unter diesen Umständen der auch digital angetriebenen Volatilität verlässlich mit Stimmen kalkulieren? In ihren strategischen Zentren verfügen die Parteien vielfach bereits über Risikokompetenz. Dabei sind sie einem doppelten Komplexitätsfeld ausgeliefert: intern im Hinblick auf schwer steuer- und kalkulierbare, lose verkoppelte Anarchien und extern hinsichtlich der keineswegs linearen Dynamiken auf dem Wähler- und Koalitionsmarkt. Um Legitimität zu generieren, öffnen sie sich inzwischen verstärkt auch Nichtmitgliedern.

Auch ein Koalitionsmarkt ist entstanden, auf dem die Parteien agieren müssen. Bunte Koalitionsmuster kennzeichnen die Vielfalt von Mehrheitsfraktionen in deutschen Parlamenten. Die Parteien zeigen sich insofern sehr beweglich, wenn es darum geht, aus dem Wählerauftrag am Wahltag eine Regierungsmehrheit zu bilden - und so dauerhaft Große Koalitionen zu verhindern. Die Wahlbürger erkennen in den ehemals großen Volksparteien immer weniger liebgewonnene, mitte-zentrierte Angebote. Die Erosion der Volksparteien ist somit auch Ausdruck einer Repräsentationslücke.

Was die einen an Themenhoheit verlieren, gewinnen die anderen. So zeigt sich einmal mehr, wie das Parteiensystem als ein System kommunizierender Röhren lebendig geblieben ist. Das belegt auch die Parlamentarisierung der Piratenpartei als neue digitale Bewegung. Im Zentrum steht dabei weniger die Genese eines neuen Politikfeldes unter dem Schlagwort "Netzpolitik", als vielmehr eine Online-Interpretation sämtlicher politischer Prozesse. Nicht das Instrument oder die Nutzung des Internets ist dabei von Bedeutung, sondern die Haltung der Nutzerinnen und Nutzer gegenüber einem gesellschaftlichen Grundkonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit.

Wer aus einem online-bestimmten Lebensraum kommt, der verändert die Deutung von politischen Themen, der wählt eine andere Perspektive von Betroffenheit, und der nimmt politische Relevanz anders wahr. Die Piraten stellen einen Sinnzusammenhang zwischen Lebenswelt und Politik her. Das macht sie attraktiv. Wenn das Bild der kommunizierenden Röhren weiterhin Bestand hat, werden andere politische Strömungen auch bald versuchen, diese digitale Lebensweltperspektive aufzunehmen. Ob das authentisch wirkt, kann man jetzt noch nicht beurteilen. Aber ganz sicher wird eine online geprägte Generation auch langfristig ihre jeweiligen Pendants im Parteiensystem suchen und wählen.

Damit zeigt sich einmal mehr, wie sich Machtressourcen unter den Bedingungen einer Netzwerkgesellschaft ändern. Digitale Politik erfordert ein neues Design der Macht. Nicht mehr ein herkömmliches Umfeld von Besitz stellt die neue Machtwährung dar, sondern eher ein potenzieller Zugang. Zugänge - online wie offline, materiell wie ideell - eröffnen Optionen. Wer bleibt als Partei zukunftsfähig, indem er neue Zugänge anbietet?

Professionelle Wählerparteien leiden auch am permanenten Kommunikationsstress, der sich in der digitalen Demokratie verstärkt hat. Alles was sie tun, ist unter Echtzeitbedingungen sogleich öffentlich. Parteipolitische Führung, die sich nun auch neuen Beteiligungsformaten von Nichtmitgliedern stellen will, gerät unter zusätzlichen Partizipations- und Leistungsdruck, was erneut institutionelles Lernen erfordert. Trotz berechtigter Detailkritik stehen Parteien für die modernste Form politischer Willensbildung in repräsentativen Demokratien. Wer sollte stellvertretend für sie an freien Wahlen teilnehmen? Welche anderen repräsentativen Gruppen wären gleichermaßen politisch legitimiert, um Entscheidungen für uns zu treffen? Wie könnten wir ohne Parteien politische Teilhabe fair organisieren, die nicht nur spontane Betroffenheit widerspiegelt? Wo könnte auch zukünftig ein Ort für politische Kommunikation in einem digitalen Medienumfeld bestehen, wenn nicht bei den Parteien? Insofern bleibt es eine zentrale Herausforderung, die Parteiendemokratie zu stärken, um mit Entscheidungszumutungen adäquat umzugehen. Die Parteien bleiben Mittler und Transmissionsriemen beim Komplexitätsmanagement von Entscheidungen, gerade unter digitalen Bedingungen.

Fazit: Entscheidungen in der digitalen Demokratie

Eine digital beschleunigte, komplexe Demokratie setzt die handelnden Akteure unter Entscheidungsstress. Die entschleunigt getaktete, parlamentarische Demokratie erscheint überfordert. Wenn zudem das Risiko zum Regelfall bei politischen Entscheidungen wird, hat dies Konsequenzen für den Modus des demokratischen Entscheidens. In Zeiten des Gewissheitsschwundes wachsen die Entscheidungszumutungen für den politischen Akteur, aber auch für die Regierungsformation insgesamt. Die neue formative Phase des politischen Entscheidens steht unter dem permanenten Druck wachsender Komplexität, zunehmender Unsicherheit, potenziell steigendem Nichtwissen, dynamischen Zeitbeschleunigungen und exponentiellen Risikoerwartungen. Strategische Auswege für den Umgang mit den Entscheidungszumutungen können die skizzierten Komponenten einer politischen Risikokompetenz darstellen: Erklärmacht einsetzen, um strukturierte Orientierung zu bieten; Zaudern, um zu entschleunigen; die Qualität der Entscheidungen anreichern und robuste Parteien als Mittler von komplexen Entscheidungen stärken. Das sind erste Bausteine, welche Strukturen, Prozesse und Stile des Entscheidens in digitalen Zeiten beschreiben. Sie sind gleichzeitig auch ein Versuch, Zeitreichtum und politische Macht für dafür legitimierte Akteure zurückzuerobern. Denn nur wer Zeit hat, kann in einer Demokratie auch frei bleiben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Eine Zeitkrise des Politischen, 10.1.2011, online: www.regierungsforschung.de/dx/public/
    article.html?id=142 (16.1.2012); Paul Nolte, Von der repräsentativen zur multiplen Demokratie, in: APuZ, (2011) 1-2, S. 5-12. Grundsätzlich zur Zeitthematik vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2008.

  2. Vgl. Martin Florack/Timo Grunden (Hrsg.), Regierungszentralen. Organisation, Steuerung und Politikformulierung zwischen Formalität und Informalität, Wiesbaden 2011.

  3. Vgl. Martin Florack/Timo Grunden/Karl-Rudolf Korte, Kein Governance ohne Government, in: Stephan Bröchler/Julia von Blumenthal (Hrsg.), Regierungskanzleien im politischen Prozess, Wiesbaden 2011, S. 181-202.

  4. Vgl. Stephan Bröchler, E-Government im Bundeskanzleramt, in: M. Florack/T. Grunden (Anm. 2), S. 185-200; siehe auch den Beitrag von Daniel Roleff in dieser Ausgabe.

  5. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Spurensuche nach Informalität. Vom leisen Verschwinden der Untersuchungsobjekte, in: Zeitschrift für Politikberatung, 4 (2011) 3, S. 119-122.

  6. Vgl. Joseph Vogl, Was wir jetzt lernen müssen, in: Die Zeit vom 14.4.2011, S. 37f.

  7. Vgl. Charles E. Lindblom, The Science of Muddling Through, in: Public Administration Review, 19 (1959) 2, S. 79-88.

  8. Hier gilt der Bezug auf die sozialwissenschaftlichen Fundamente des Kompetenzbegriffs: Max Weber, Noam Chomsky und die pragmatisch-funktionale Tradition der amerikanischen Psychologie. Vgl. Eckhard Klieme/Johannes Hartig, Kompetenzkonzepte in den Sozialwissenschaften und im erziehungswissenschaftlichen Diskurs, in: Kompetenzdiagnostik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 8/2007, Wiesbaden 2008, S. 11-29.

  9. Vgl. Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 121-171; Sandra Mitchell, Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen, Frankfurt/M. 2008.

  10. Vgl. Arthur Benz/Nicolai Dose, Governance. Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches Konzept?, in: dies. (Hrsg.), Governance. Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2010, S. 13-36, hier: S. 22f.; Nico Grasselt/Karl-Rudolf Korte, Führung in Politik und Wirtschaft, Wiesbaden 2007.

  11. Vgl. Karl-Rudolf Korte/Manuel Fröhlich, Politik und Regieren in Deutschland, Paderborn-Stuttgart 20093, S. 360-369.

  12. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Kommunikation und Entscheidungsfindung von Regierungen, in: Ulrich Sarcinelli/Jens Tenscher (Hrsg.), Politikherstellung und Politikdarstellung, Köln 2008, S. 20-43; Ulrich Sarcinelli, Politische Kommunikation in Deutschland, Wiesbaden 2011; M. Florack/T. Grunden (Anm. 2). Grundlegend: Klaus Kamps, Politisches Kommunikationsmanagement, Wiesbaden 2007.

  13. Vgl. K.-R. Korte/M. Fröhlich (Anm. 11), S. 271-316.

  14. Vgl. Stefanie Delhees et al. (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Reformkommunikation, Baden-Baden 2008.

  15. Vgl. Johanna Klatt/Franz Walter, Politik und Gesellschaft am Ende der zweiten Großen Koalition und was folgt?, in: Felix Butzlaff et al. (Hrsg.), Patt oder Gezeitenwechsel?, Wiesbaden 2009, S. 295-322, hier: S. 316-322.

  16. Vgl. Nikolaos Zahariadis, Ambiguity and Choice in Public Policy, Washington, DC 2003, S. 15-18.

  17. Vgl. Maarten Hajer, Politics as design, Amsterdam 2000, S. 263-288.

  18. Hartmut Rosa, Ändere doch wieder mal dein Leben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.7.2011.

  19. Vgl. U. Schimank (Anm. 9), S. 429.

  20. Vgl. ders., Nur noch Coping: Eine Skizze postheroischer Politik, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 21 (2011) 3 (i.E.).

  21. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Präsidentielles Zaudern. Der Regierungsstil von Angela Merkel in der Großen Koalition, in: Sebastian Bukow/Wenke Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, Wiesbaden 2010, S. 102-122.

  22. Vgl. Joseph Vogl, Über das Zaudern, Berlin 2007.

  23. Vgl. Werner Jann/Kai Wegrich, Governance und Verwaltungspolitik, in: A. Benz/N. Dose (Anm. 10), S. 175-200, hier: S. 187ff.; Jörn Knobloch, Politiknetzwerke und das Geheimnis, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 21 (2011) 1, S. 5-32.

  24. Vgl. Harald Welzer, Was Sie sofort tun können: Zehn Empfehlungen, 27.12.2010, online: www.faz.net (6.1.2012); Carl Friedrich von Weizsäcker/Ernst Ulrich von Weizsäcker, Fehlerfreundlichkeit, in: Klaus Kornwachs (Hrsg.), Offenheit, Zeitlichkeit, Komplexität, Frankfurt/M. 1984, S. 167-201.

  25. Vgl. grundsätzlich dazu Ray Hebestreit, Partizipation in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden (i.E.).

  26. Selbstverständlich muss immer auch gleichermaßen mit "Schwarmdummheit" gerechnet werden.

  27. Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Politische Partizipation in Deutschland, Gütersloh 2011.

  28. So Claus Leggewie/Harald Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, Frankfurt/M. 2009, S. 138-149; Ulrich von Alemann/Christoph Strünck, Die Weite des politischen Vorraumes. Partizipation in der Parteiendemokratie, in: Klaus Kamps (Hrsg.), Elektronische Demokratie? Perspektiven politischer Partizipation, Opladen 2009, S. 21-38.

  29. Vgl. Friedbert Rüb, Policy-Analyse unter den Bedingungen von Kontingenz, in: Katrin Toens/Frank Janning (Hrsg.), Die Zukunft der Policy-Forschung, Wiesbaden 2009, S. 88-111, hier: S. 102-105; K.-R. Korte/M. Fröhlich (Anm. 11), S. 230-240.

  30. Vgl. Armin Schäfer, Der Nichtwähler als Durchschnittsbürger, in: Evelyn Bytzek/Sigrid Roßteutscher (Hrsg.), Der unbekannte Wähler?, Frankfurt/M.-New York 2011, S. 133-156.

  31. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Lob des Opportunismus, in: Die Zeit vom 14.7.2011.

  32. Vgl. Elmar Wiesendahl, Der Organisationswandel politischer Parteien. Organisatons- und wandlungstheoretische Grundlagen, in: Uwe Jun/Benjamin Höhne (Hrsg.), Parteien als fragmentierte Organisationen, Opladen-Farmington Hills 2010, S. 35-65; Elmar Wiesendahl, Rationalitätsgrenzen politischer Strategie, in: Joachim Raschke/Ralf Tils (Hrsg.), Strategie in der Politikwissenschaft, Wiesbaden 2010, S. 21-44, hier: S. 35f.

  33. Vgl. Timo Grunden/Karl-Rudolf Korte, Gesellschaftsberatung in der Parteiendemokratie, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Wie Politik von Bürgern lernen kann, Gütersloh 2011, S. 62-96, hier: S. 84-89.

  34. Vgl. Uwe Jun, Politische Parteien als fragmentierte Organisationen im Wandel, in: ders./B. Höhne (Anm. 32), S. 11-34, hier: S. 28-32.

  35. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Die Bundestagswahl 2009. Konturen des Neuen, in: ders. (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2009. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Wiesbaden 2010, S. 9-34.

  36. Zur Piratenpartei vgl. den Beitrag von Christoph Bieber in dieser Ausgabe.

Dr. rer. pol. habil., Dr. phil, geb. 1958; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance, Lotharstraße 53, 47057 Duisburg. E-Mail Link: krkorte@uni-duisburg-essen.de