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Das demokratische Netz?

Jan-Hinrik Schmidt

/ 14 Minuten zu lesen

Das Internet weckt häufig Hoffnungen auf eine Vitalisierung demokratischer Teilhabe, zuletzt bei den "Facebook-Revolutionen" in der arabischen Welt. Es wird diskutiert, inwiefern das Internet tatsächlich demokratisierend wirkt.

Einleitung

Im Vorfeld der G8-Tagung im Mai 2011 fand erstmals ein "eG8-Gipfel" statt, der sich mit der Rolle des Internets für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft befasste. Der Gastgeber, Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, begrüßte auf der begleitenden Webseite mit euphorischen Worten: "In nur wenigen Jahren hat das Internet die Träume der Philosophen der Aufklärung verwirklicht und unser gesammeltes Wissen dem größten nur denkbaren Publikum zugänglich gemacht. Demokratie und Menschenrechte wurden gestärkt, Staaten zu größerer Transparenz angehalten, und in einigen Ländern konnten unterdrückte Menschen ihre Stimmen erheben, um gemeinsam im Namen der Freiheit zu handeln." In den Ansprachen, unter anderem von Größen der Internetbranche wie Eric Schmidt (Google), Marc Zuckerberg (Facebook) oder Mitchell Baker (Mozilla Foundation), wurde zur Bestätigung immer wieder auf die Umwälzungen in Nordafrika verwiesen. War man nicht gerade erst Zeuge geworden, wie in Ägypten oder Tunesien digitale Informations- und Kommunikationstechnologien den sozialen Wandel nicht nur schleichend und schrittweise, sondern rasant und wahrhaft revolutionär vorantrieben?

Doch nicht alle Beobachter teilten die Euphorie. Angesichts der Redner und (wenigen) Rednerinnen, die überwiegend große Konzerne vertraten, fühlten sich journalistische Beobachter an "Kolonialherren des Internets" erinnert. Hinter der Rhetorik von Demokratisierung, Fortschritt und Transparenz stünde letztlich doch nur der Wunsch nach Kontrolle und Profit. Vor knapp 15 Jahren hatte John Perry Barlow in der berühmt gewordenen "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" noch proklamiert: "Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. (...) Wir haben Euch nicht eingeladen. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Hoheitsgebiete." 2011 hingegen twitterte Jeff Jarvis, als Journalistikprofessor und "public intellectual" einer der wenigen zivilgesellschaftlichen Vertreter auf der Veranstaltung: "At #eg8 I feel like a native American or African watching colonial powers sailing in to conquer our new land."

Der "eG8-Gipfel" und seine Rezeption werfen exemplarisch zentrale Fragen der gegenwärtigen Medienentwicklung auf: Welche Rolle spielen digitale vernetzte Medien für politisches Handeln und gesellschaftlichen Zusammenhalt? Inwieweit unterstützen sie Prozesse und Strukturen der Teilhabe, inwieweit schaffen und bestärken sie Ungleichheiten oder Ausgrenzung? Pointiert: Ist das Internet demokratisch? Diese Fragen sollen im Folgenden mit einem besonderen Fokus auf den gegenwärtig beobachtbaren Wandel von Öffentlichkeit diskutiert werden.

Von der Datenautobahn zum Social Web

Als sich das Internet in den frühen 1990er Jahren aus den akademischen und militärischen Kreisen hinaus gesellschaftlich verbreitete, standen seine Auswirkungen auf die Verbreitung von Informationen im Vordergrund. Die Metapher der "Datenautobahn" und noch stärker die englische Bezeichnung information superhighway drückten leitbildhaft aus, dass eine zentrale Infrastruktur der Informationsgesellschaft gestaltet werden wollte. Gleichzeitig waren die digitalen Medien aber auch schon früh mit Hoffnungen auf den Abbau von Informationsungleichheiten und eine Belebung demokratischer Diskurse verbunden. So hatten technikaffine Nutzergruppen aus der Friedens- oder Umweltbewegung bereits in den 1980er Jahren Computer-Mailboxen genutzt, um sich zu vernetzen. In den USA waren Werte und Leitbilder der Hippie- und Gegenkultur mit den neuen Medientechnologien zu einem "Techno-Utopianism" verschmolzen, in dessen Umfeld unter anderem auch die zitierte "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" entstand. Jeder könne, so die Vorstellung, zum Sender werden, Informationen und Meinungen mit anderen teilen und sich mit Gleichgesinnten vernetzen, sodass auch bislang marginalisierte Stimmen Gehör finden könnten.

Im ökonomischen Boom der späten 1990er Jahre und dem darauf folgenden Zusammenbruch der new economy traten diese demokratisch-utopischen Ideale zwar etwas in den Hintergrund, um allerdings nur wenige Jahre später umso stärker wieder artikuliert zu werden. Im Begriff des "Web 2.0" bündelte sich die Vorstellung, das Internet habe eine neue Phase seiner Entwicklung erreicht. Technologische Innovationen und neue Plattformen wie Facebook und Google+, YouTube, Wikipedia oder Twitter versprechen nicht nur neue Geschäftsfelder und Erlösmodelle, sondern transportieren auch Vorstellungen von einem tiefgreifenden gesellschaftlich-kulturellen Wandel. Das Internet der Gegenwart ist kein reines Abruf- und Transaktionsmedium mehr, sondern bietet die Infrastruktur für "soziale Medien", die Partizipation und Teilhabe erleichtern. Es ist zum social web geworden.

Wandel von Öffentlichkeit

Wie aber ist dieser Medienwandel in Hinblick auf demokratische Prozesse und Strukturen einzuschätzen? Unbestritten ist zunächst, dass sich die sozialen Medien, wenngleich auf unterschiedlich hohem Niveau, in den vergangenen fünf Jahren im Alltag vieler Internetnutzer etabliert haben. Aus Sicht des Einzelnen senken sie die technischen Hürden, sich mit seinen eigenen Interessen, Meinungen oder Erlebnissen zu präsentieren und sich darüber mit anderen Menschen auszutauschen. Zudem stellen sie Werkzeuge und Mechanismen zur Verfügung, Informationen aller Art zu recherchieren, zu filtern, gemeinsam mit anderen zu bearbeiten und weiterzuverbreiten.

Auf dieser Grundlage bringen die sozialen Medien einen neuen Typ von Öffentlichkeit hervor, der sich als "persönliche Öffentlichkeit" bezeichnen und in verschiedener Hinsicht von den Öffentlichkeiten der publizistischen (Massen-)Medien abgrenzen lässt. Erstens werden Informationen in persönlichen Öffentlichkeiten vorrangig nach dem Kriterium der persönlichen Relevanz ausgewählt und miteinander geteilt, nicht nach den professionell-journalistischen Standards von Nachrichtenwert und gesellschaftlicher Relevanz. Zweitens adressieren Nutzerinnen und Nutzer ihr eigenes erweitertes soziales Netzwerk, das sich in den bestätigten Facebook-Kontakten oder den followers auf Twitter ausdrückt, nicht das unspezifische, verteilte und unbekannte Massenpublikum, das der professionelle Journalismus bedient. Drittens ist schließlich aufgrund der interaktiven Optionen, welche die meisten sozialen Medien bieten, die Kommunikation stärker auf den Modus "Konversation", also auf den wechselseitigen Austausch und Dialog ausgerichtet, als auf das eher einseitige Publizieren. Damit zusammenhängend sind in persönlichen Öffentlichkeiten auch Kommunikationsnormen wie "Authentizität" oder "Dialogbereitschaft" weit verbreitet und handlungsleitend.

Publizistische Medienangebote verlieren durch das Aufkommen der sozialen Medien nicht zwangsläufig an Bedeutung. Nach wie vor sind sie es, die nach etablierten Kriterien sowie institutionell gesichert und auf Dauer gestellt das gesellschaftlich als relevant Erachtete auswählen und verteilen. Die Konversationen in den persönlichen Öffentlichkeiten machen allerdings die Anschlusskommunikation des Publikums sichtbar, die auf journalistisch gesetzte Themen folgt und eine wichtige Rolle für Meinungsbildung und gesellschaftliche Einordnung dieser Themen spielt. Nutzerinnen und Nutzer können sich so zu politischen Fragen positionieren und ihrem erweiterten sozialen Netzwerk die eigene Haltung signalisieren, sich in Diskussionen einbringen und unter Umständen auch andere Menschen aktivieren. Zudem können professionelle politische Akteure, zum Beispiel politische Parteien oder Nichtregierungsorganisationen, die journalistische Vermittlung ihrer Anliegen zumindest insoweit umgehen, wie sie selbst Kommunikationsangebote für ihre Zielgruppen machen.

Persönliche Öffentlichkeiten sind daher zwar ein wesentlicher, aber nicht der einzige Bestandteil von "integrierter Netzwerköffentlichkeit", zu der zahlreiche professionelle wie nicht-professionelle Kommunikatoren mit ganz unterschiedlicher Reichweite beitragen. Noch stärker als bislang zeigt sich, dass im Internet die Trennung zwischen "Sender" und "Empfänger", die für die massenmediale Kommunikation zentral ist, verschwimmen kann. In persönlichen Öffentlichkeiten ist man beides: Man teilt seinem eigenen erweiterten Netzwerk mit, was man gerade für relevant hält, und empfängt gleichzeitig das, was das Netzwerk für mitteilenswert hält. Diese Neuigkeiten nehmen die Gestalt von streams oder feeds an, von dynamischen, ständig aktualisierten Informationsflüssen, aus denen man wiederum einzelne Inhalte aufgreifen und weiterverbreiten, kommentieren oder empfehlen kann.

Facebook-Revolution?

Welche Rolle diese Strukturen und Mechanismen onlinebasierter Öffentlichkeit für die politische Kommunikation spielen, wurde im "Arabischen Frühling" besonders deutlich - so sehr, dass die Umstürze in Tunesien und Ägypten sowie Massendemonstrationen und soziale Unruhen in einer Reihe weiterer arabischer Staaten auch als "Facebook-Revolution" bezeichnet wurden. Dass Medientechnologien eine wichtige Rolle für den Ablauf politischer Proteste spielen, ist zwar nicht neu: Das sich entwickelnde Zeitungswesen, aber auch Flugblätter und Karikaturen waren entscheidende Träger von Öffentlichkeit für die Französische Revolution. Bei der iranischen Revolution von 1979 spielten Transistorradios und Kassettenrekorder eine wichtige Rolle, um die Predigten und Aufrufe der Mullahs zu verbreiten. Inzwischen haben sich die Werkzeuge, um politische Forderungen zu verbreiten, Gleichgesinnte zu mobilisieren und Aktivitäten zu koordinieren, aber ganz offensichtlich weiterentwickelt.

Die hohe Verbreitung von Mobiltelefonen und digitalen Kameras sorgte dafür, dass Bilder von Demonstrationen oder Übergriffen aufgezeichnet werden konnten, und die sozialen Medien halfen dabei, diese Informationen nahezu in Echtzeit zu verbreiten. Die Schneeballeffekte, die in den vernetzten Öffentlichkeiten zum Tragen kommen, erhöhten die Reichweite der Bilder und Aufrufe - auch weil Fernsehsender wie CNN oder Al-Jazeera auf die nutzergenerierten Inhalte zurückgriffen und in ihre eigene Berichterstattung einbanden. Die Protestöffentlichkeit wurde transnational: Auch in Deutschland konnte jeder, der wollte, die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder dem Platz des 7. November in Tunis buchstäblich live verfolgen und sich unter Umständen sogar selbst als Multiplikator fühlen, zum Beispiel durch das Weiterleiten von Informationen zum Umgehen von Internetsperren. Diese Form der politischen Teilhabe auch über Grenzen hinweg war in der Tat neu.

Doch rechtfertigt dies, von einer "Internet-Revolution" zu sprechen? Oder allgemeiner gefragt: Sind die Ereignisse in der arabischen Welt Beleg dafür, dass das Internet tatsächlich demokratisch, gar demokratisierend ist und die Auffassung von Wael Ghonim, einem ägyptischen Internet-Aktivisten (und Google-Manager) zutrifft: "If you want to liberate a society, just give them the Internet"? Die Antwort muss nüchterner und differenzierter ausfallen. Das Internet und die sozialen Medien können schwerlich als Ursache der Proteste angesehen werden - diese sind vielmehr in Faktoren wie hoher Jugendarbeitslosigkeit, grassierender Korruption oder steigenden Lebenshaltungskosten zu suchen, die in den verschiedenen arabischen Staaten jeweils eigene Gemengelagen ergaben.

Zudem ist das Internet nur Teil einer umfassenderen und komplexeren Medienlandschaft. So war in Ägypten beispielsweise das Fernsehen eine wichtige Informationsquelle, wenngleich mit ganz unterschiedlichen Ausrichtungen: Die staatlichen und privat kontrollierten Fernsehstationen versuchten die Lage herunterzuspielen, während der transnationale Sender Al-Jazeera, vor allem durch Rückgriff auf die sozialen Medien, im wörtlichen Sinn ein "Kontrastprogramm" bot. Hinzu trat die interpersonale Kommunikation über Mobiltelefone und SMS, die allerdings ähnlich wie die Internetkommunikation immer auch die Gefahr der Überwachung und Kontrolle birgt. So kappte die ägyptische Regierung in einem verzweifelten Versuch, die Oberhand über die Kommunikationsströme zu gewinnen, sowohl einen Großteil der Internetzugänge als auch der Mobilfunknetzwerke. Der Fokus auf die vorgeblich "revolutionären Medieninnovationen" ist somit problematisch, weil dadurch verborgen bleibt, inwieweit gesellschaftlich-kulturelle Strukturen in den arabischen Staaten durch eher schrittweise und langfristige Entwicklungen geprägt und verändert werden, bei denen neue und alte Medien koexistieren.

Mediennutzung im Kontext

Über den sicherlich anschaulichen und aufschlussreichen Fall des "Arabischen Frühlings" hinaus lässt sich eine Reihe von weiteren Argumenten finden, die gegen die schlichte und technikdeterministische Annahme sprechen, das Internet sei per se ein demokratisierendes Medium. Es profitieren eben nicht nur demokratische Stimmen oder emanzipativ-aufklärerische Gegenöffentlichkeiten von niedrigeren Publikations- und Distributionshürden. Auch politisch radikale, undemokratische Standpunkte und Inhalte können leichter verbreitet werden, weil "gerade Verbreiter von Hate Speech, also von menschenverachtenden Äußerungen und Hetze, (...) durch das Internet überproportional gewinnen" und so "besonders vom Wegfall des Gatekeeping profitieren".

Zivilgesellschaftliche Reaktion auf diese Aktivitäten sind beispielsweise Projekte wie "no-nazi.net" oder "hass-im-netz.info". Sie dokumentieren die Online-Aktivitäten rechtsextremer Parteien und Gruppierungen und klären über Strategien und Maßnahmen auf, mit denen diskriminierenden Inhalten auf Plattformen wie Facebook oder YouTube begegnet werden kann.

Darüber hinaus prägt die Einbettung in bereits existierende institutionelle oder organisatorische Strukturen. Schon innerhalb einer Gesellschaft, noch viel mehr im grenzüberschreitenden Vergleich, finden sich unterschiedliche politische Akteure, darunter Parteien, lokale Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen oder auch lockere Ad-hoc-Netzwerke von Aktivistinnen und Aktivisten, die sich der digitalen Medien für politische Zwecke bedienen. Sie verfolgen dabei jeweils eigene Ziele und Interessen, besitzen eigene institutionalisierte Formen der Koordination und Abstimmung von Handeln sowie des Austragens von Konflikten, und verfügen nicht zuletzt auch über unterschiedliche personelle oder finanzielle Ressourcen. In diesen Rahmen werden die jeweils neuen Medien eingepasst - ob sie an die Seite oder an die Stelle anderer Werkzeuge und Technologien treten, ist aber nicht von vornherein ausgemacht.

Erst diese Kontextbedingungen können erklären, warum sich bestimmte Online-Strategien oder Praktiken nicht für jeden Einsatzzweck eignen. Exemplarisch lässt sich dies am ersten Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama im Jahr 2008 zeigen. Er beruhte in hohem Maße darauf, mit Hilfe von innovativen digitalen Plattformen lokale Unterstützernetzwerke aufzubauen (indem Gleichgesinnte in Städten oder Bezirken zusammengebracht wurden), deren Basisarbeit vor Ort zu unterstützen (indem Wahlkampfmaterial und Argumentationshilfen, aber auch Adressen noch unentschlossener Wählerinnen und Wähler für Hausbesuche zur Verfügung gestellt wurden) und nicht zuletzt bis dato ungekannte Summen an (Klein-)Spenden einzuwerben.

Im Bundestagswahlkampf 2009 ließ sich nur wenig Vergleichbares beobachten. Dies lag aber nicht an der Unwilligkeit oder mangelnden Internetaffinität der Wahlkämpfer, sondern vielmehr daran, dass vergleichbare Unterstützernetzwerke hierzulande bereits (manche würden sagen: noch) existieren. Die Ortsvereine oder Bezirksgruppen der Parteien bündeln und organisieren das Engagement der Basis, nicht zuletzt weil sie auch zwischen den Wahlkämpfen aktiv sind. Die Mitgliedsbeiträge sorgen in Kombination mit der staatlichen Parteienfinanzierung dafür, dass Parteien und ihre Kandidaten nicht im gleichen Maße darauf angewiesen sind, jeden Wahlkampf von Grund auf neu durch Spenden zu finanzieren. Schärfere Datenschutzregelungen verhindern schließlich, dass ähnlich umfangreiche und intransparente Datenbanken über potenzielle Wählerinnen und Wähler wie in den USA angelegt werden, die zum Beispiel Informationen über Konsumgewohnheiten mit Wahlverhalten kombinieren.

Neue Macht

In einem ganz wesentlichen Punkt steht die Debatte über die Folgen der digitalen Medien für demokratische Teilhabe erst am Anfang: Begreift man die sozialen Medien als Kommunikationsraum, in dem sich vernetzte Öffentlichkeiten formieren, muss auch über die Teilhabe an dessen Gestaltung nachgedacht werden. Bislang sind vor allem die Plattformbetreiber und Softwareentwickler die Architekten der neuen Kommunikationsräume. Sie programmieren den Software-Code und damit die Optionen und Restriktionen, die den Nutzerinnen und Nutzern für Austausch und Partizipation zur Verfügung stehen. Sie kanalisieren das Nutzerhandeln, wenngleich sie es nicht völlig determinieren.

Die Kontrolle über die Gestaltung digitaler Medientechnologien hat potenziell weitreichende Folgen. Filter- und Aggregationsalgorithmen können in den Dienst von Überwachung oder Zensur gestellt werden, wie der belarussische Publizist Evgeny Morozov den "Cyber-Optimisten" entgegenhält. Und der Aktivist und Autor Eli Pariser hat unlängst darauf hingewiesen, dass die immer ausgefeilteren Methoden der personalisierten Auswahl von Informationen zwar Orientierung in der Fülle verfügbarer Daten und Nachrichten bieten, aber auch zu filter bubbles führen könnten. Eine solche fragmentierte Öffentlichkeit, in der jeder seine eigene "Informationsblase" besäße und es immer weniger gemeinsam geteilte Wissensbestände gäbe, böte keine geeignete Grundlage mehr für gesellschaftliche Integration.

Die Frage nach Teilhabe und Gestaltung der sozialen Medien ist aber auch deswegen so drängend, weil es sich um Infrastrukturen für gesellschaftliche Öffentlichkeit, aber eben nicht um öffentliche Infrastrukturen handelt. Mit Ausnahme der Wikipedia sind die dominierenden Plattformen des social web im Besitz von Unternehmen und Konzernen, die wiederum ein Interesse daran haben, möglichst umfassende Informationen über ihre Nutzerinnen und Nutzer zu sammeln. Ihre Geschäftsmodelle beruhen vielfach darauf, gegenüber Werbetreibenden die Daten oder Aktivitäten der Nutzenden zu vermarkten. Für Letztere ist die Partizipation an vielen Diensten und Plattformen deswegen in der Regel freiwillig und kostenfrei, doch oft sind das Ausmaß und die Verwendung der gesammelten Daten nicht transparent und den Nutzerinnen und Nutzern nicht bewusst. Pointiert formuliert: "Wenn man nicht dafür zahlt, ist man selbst das Produkt."

Es ist offen, inwiefern eine gesellschaftliche Mehrheit auf Dauer damit einverstanden sein wird, dass an solch zentraler Stelle von Mediennutzung nicht nur eine Einschränkung ihrer informationellen Selbstbestimmung droht, sondern auch eine Machtfülle entsteht, der keine ausreichende demokratische Legitimierung und Kontrolle entgegensteht. Wirklich demokratisch kann das Netz daher nur sein, wenn auch die Gestaltung der zugrundeliegenden Technologien offen für Mitbestimmung und Teilhabe ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eigene Übersetzung; englisches Original unter www.eg8forum.com/en/speeches/editorial (4.1. 2012).

  2. Kai Biermann, Die Kolonialherren des Internets, 26.5.2011, online: www.zeit.de/digital/internet/2011-05/eg8-internet-sarkozy (4.1.2012).

  3. John Perry Barlow, Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, 29.2.1996, online: www.heise.de/tp/artikel/1/1028/1.html (4.1.2012).

  4. Online: twitter.com/#!/jeffjarvis/status/
    73284867168800769 (4.1.2012).

  5. Vgl. Gabriele Hoofacker, Aufstieg und Niedergang einer Non-Profit-Community 1987 - 1997 - 2007. Ein Beitrag zur Archäologie der Wissensgesellschaft, in: Johannes Raabe/Rudolf Stöber/Anna M. Theis-Berglmair/Kristina Wied (Hrsg.), Medien und Kommunikation in der Wissensgesellschaft, Konstanz, S. 282-293.

  6. Vgl. Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago 2006.

  7. Beispielhaft für eine frühe "cyberoptimistische Position" stehen Roza Tsagarousianou/Damian Tambini/Cathy Bryan (eds.), Cyberdemocracy. Technology, cities and civic networks, London-New York 1998.

  8. Vgl. Tim O'Reilly, What is Web 2.0. Design patterns and business models for the next generation of software, 30.9.2005, online: www.oreilly.com/web2/archive/what-is-web-20.html (4.1.2012).

  9. Ausführlicher dargestellt bei Jan Schmidt, Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0, Konstanz 2009, S. 13ff.

  10. Vgl. Stefan Münker, Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0, Frankfurt/M. 2009.

  11. Vgl. zum Beispiel die jährlich vorgestellten Befunde der ARD/ZDF-Onlinestudie unter www.ard-zdf-onlinestudie.de.

  12. Vgl. zum Folgenden ausführlich und mit zahlreichen Quellen J. Schmidt (Anm. 9), S. 107ff.

  13. Vgl. Otfried Jarren, Massenmedien als Intermediäre. Zur anhaltenden Relevanz der Massenmedien für die öffentliche Kommunikation, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, 56 (2008) 3-4, S. 329-346.

  14. Vgl. Ulrike Wagner/Peter Gerlicher/Niels Brüggen, Partizipation im und mit dem Social Web - Herausforderungen für die politische Bildung, München 2011.

  15. Vgl. Christoph Neuberger, Internet, Journalismus und Öffentlichkeit. Analyse des Medienumbruchs, in: ders./Christian Nuernbergk/Melanie Rischke (Hrsg.), Journalismus im Internet: Profession - Partizipation - Technisierung, Wiesbaden 2009, S. 19-105.

  16. So bspw. bei Thomas Apolte/Marie Möller, Die Kinder der Facebook-Revolution, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.2.2011, online: www.faz.net/aktuell/politik/arabische-welt/staaten-im-umbruch-die-kinder-der-facebook-revolution-1592378.html (4.1.2012). Bereits 2009 waren die Proteste nach der Präsidentschaftswahl in Iran als "Twitter-Revolution" bezeichnet worden: Iran's Twitter Revolution, in: The Washington Times vom 16.6.2009, online: www.washingtontimes.com/news/2009/jun/
    16/irans-twitter-revolution (4.1.2012).

  17. Vgl. Lance Morrow, The Dynamics of Revolution, in: Time vom 12.3.1979.

  18. Vgl. Adrienne Russell, Extra-National Information Flows, Social Media, and the 2011 Egyptian Uprising, in: International Journal of Communication, 5 (2011), S. 1238-1247, online: www.ijoc.org/ojs/index.php/ijoc/article/
    view/93/630 (4.1.2012).

  19. Zit. nach: Albrecht Hofheinz, Nextopia? Beyond Revolution 2.0, in: International Journal of Communication, 5 (2011), S. 1417-1434, online: www.ijoc.org/ojs/index.php/ijoc/article/
    view/1186/629 (4.1.2012).

  20. Vgl. die Länderstudien und Analysen im Dossier "Arabischer Frühling" der Bundeszentrale für politische Bildung, online: www.bpb.de/XLPYYY (4.1.2012), sowie in APuZ, (2011) 39, "Arabische Zeitenwende", online: www.bpb.de/AECUIJ (4.1.2012).

  21. Vgl. Eike M. Rinke/Maria Röder, Media Ecologies, Communication Culture, and Temporal-Spatial Unfolding: Three Components in a Communication Model of the Egyptian Regime Change, in: International Journal of Communication, 5 (2011), S. 1273-1285, online: www.ijoc.org/ojs/index.php/ijoc/article/
    view/1173/603 (4.1.2012).

  22. Vgl. ebd., S. 1281f. Die Strategien der tunesischen Regierung zur Medienkontrolle schildert Ben Wagner, "I have understood You": The Co-evolution of Expression and Control on the Internet, Television and Mobile Phones During the Jasmine Revolution in Tunisia, in: International Journal of Communication, 5 (2011), S. 1295-1302, online: www.ijoc.org/ojs/index.php/ijoc/article/
    view/1174/606 (4.1.2012).

  23. Vgl. A. Hofheinz (Anm. 19); speziell für den Iran beispielhaft auch Annabelle Sreberny/Gholam Khiabany, Blogistan. Politik und Internet im Iran, Hamburg 2011.

  24. Daniel Müller, Lunatic Fringe Goes Mainstream? Keine Gatekeeping-Macht für Niemand, dafür Hate Speech für Alle - zum Islamhasser-Blog Politically Incorrect, in: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, 8 (2008) 2, S. 109-126, hier: S. 114.

  25. Vgl. Christoph Bieber, Politik Digital. Online zum Wähler, Salzhemmendorf 2010.

  26. Vgl. Eva Johanna Schweitzer/Steffen Albrecht (Hrsg.), Das Internet im Wahlkampf. Analysen zur Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011.

  27. Vgl. Daniel Kreiss/Philip N. Howard, New Challenges to Political Privacy: Lessons from the First U.S. Presidential Race in the Web 2.0 Era, in: International Journal of Communication, 4 (2010), S. 1032-1050, online: www.ijoc.org/ojs/index.php/ijoc/article/
    view/870/473 (4.1.2012).

  28. Vgl. Evgeny Morozov, The Net Delusion. The Dark Side of Freedom, New York 2010.

  29. Vgl. Eli Pariser, Filter Bubble. What the Internet is hiding from you, London 2011.

  30. Das Originalzitat stammt ursprünglich aus einer online geführten Diskussion und hat sich rasch als Diagnose verbreitet; vgl. online: www.metafilter.com/95152/Userdriven-discontent#3256046 (4.1.2012).

Dr. rer. pol., geb. 1972; Wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung Hamburg, Warburgstraße 8/10, 20354 Hamburg. E-Mail Link: j.schmidt@hans-bredow-institut.de