Einleitung
Im Vorfeld der G8-Tagung im Mai 2011 fand erstmals ein "eG8-Gipfel" statt, der sich mit der Rolle des Internets für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft befasste. Der Gastgeber, Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, begrüßte auf der begleitenden Webseite mit euphorischen Worten: "In nur wenigen Jahren hat das Internet die Träume der Philosophen der Aufklärung verwirklicht und unser gesammeltes Wissen dem größten nur denkbaren Publikum zugänglich gemacht. Demokratie und Menschenrechte wurden gestärkt, Staaten zu größerer Transparenz angehalten, und in einigen Ländern konnten unterdrückte Menschen ihre Stimmen erheben, um gemeinsam im Namen der Freiheit zu handeln."
Doch nicht alle Beobachter teilten die Euphorie. Angesichts der Redner und (wenigen) Rednerinnen, die überwiegend große Konzerne vertraten, fühlten sich journalistische Beobachter an "Kolonialherren des Internets"
Der "eG8-Gipfel" und seine Rezeption werfen exemplarisch zentrale Fragen der gegenwärtigen Medienentwicklung auf: Welche Rolle spielen digitale vernetzte Medien für politisches Handeln und gesellschaftlichen Zusammenhalt? Inwieweit unterstützen sie Prozesse und Strukturen der Teilhabe, inwieweit schaffen und bestärken sie Ungleichheiten oder Ausgrenzung? Pointiert: Ist das Internet demokratisch? Diese Fragen sollen im Folgenden mit einem besonderen Fokus auf den gegenwärtig beobachtbaren Wandel von Öffentlichkeit diskutiert werden.
Von der Datenautobahn zum Social Web
Als sich das Internet in den frühen 1990er Jahren aus den akademischen und militärischen Kreisen hinaus gesellschaftlich verbreitete, standen seine Auswirkungen auf die Verbreitung von Informationen im Vordergrund. Die Metapher der "Datenautobahn" und noch stärker die englische Bezeichnung information superhighway drückten leitbildhaft aus, dass eine zentrale Infrastruktur der Informationsgesellschaft gestaltet werden wollte. Gleichzeitig waren die digitalen Medien aber auch schon früh mit Hoffnungen auf den Abbau von Informationsungleichheiten und eine Belebung demokratischer Diskurse verbunden. So hatten technikaffine Nutzergruppen aus der Friedens- oder Umweltbewegung bereits in den 1980er Jahren Computer-Mailboxen genutzt, um sich zu vernetzen.
Im ökonomischen Boom der späten 1990er Jahre und dem darauf folgenden Zusammenbruch der new economy traten diese demokratisch-utopischen Ideale zwar etwas in den Hintergrund, um allerdings nur wenige Jahre später umso stärker wieder artikuliert zu werden. Im Begriff des "Web 2.0" bündelte sich die Vorstellung, das Internet habe eine neue Phase seiner Entwicklung erreicht.
Wandel von Öffentlichkeit
Wie aber ist dieser Medienwandel in Hinblick auf demokratische Prozesse und Strukturen einzuschätzen? Unbestritten ist zunächst, dass sich die sozialen Medien, wenngleich auf unterschiedlich hohem Niveau, in den vergangenen fünf Jahren im Alltag vieler Internetnutzer etabliert haben.
Auf dieser Grundlage bringen die sozialen Medien einen neuen Typ von Öffentlichkeit hervor, der sich als "persönliche Öffentlichkeit" bezeichnen und in verschiedener Hinsicht von den Öffentlichkeiten der publizistischen (Massen-)Medien abgrenzen lässt.
Publizistische Medienangebote verlieren durch das Aufkommen der sozialen Medien nicht zwangsläufig an Bedeutung. Nach wie vor sind sie es, die nach etablierten Kriterien sowie institutionell gesichert und auf Dauer gestellt das gesellschaftlich als relevant Erachtete auswählen und verteilen.
Persönliche Öffentlichkeiten sind daher zwar ein wesentlicher, aber nicht der einzige Bestandteil von "integrierter Netzwerköffentlichkeit", zu der zahlreiche professionelle wie nicht-professionelle Kommunikatoren mit ganz unterschiedlicher Reichweite beitragen.
Facebook-Revolution?
Welche Rolle diese Strukturen und Mechanismen onlinebasierter Öffentlichkeit für die politische Kommunikation spielen, wurde im "Arabischen Frühling" besonders deutlich - so sehr, dass die Umstürze in Tunesien und Ägypten sowie Massendemonstrationen und soziale Unruhen in einer Reihe weiterer arabischer Staaten auch als "Facebook-Revolution" bezeichnet wurden.
Die hohe Verbreitung von Mobiltelefonen und digitalen Kameras sorgte dafür, dass Bilder von Demonstrationen oder Übergriffen aufgezeichnet werden konnten, und die sozialen Medien halfen dabei, diese Informationen nahezu in Echtzeit zu verbreiten. Die Schneeballeffekte, die in den vernetzten Öffentlichkeiten zum Tragen kommen, erhöhten die Reichweite der Bilder und Aufrufe - auch weil Fernsehsender wie CNN oder Al-Jazeera auf die nutzergenerierten Inhalte zurückgriffen und in ihre eigene Berichterstattung einbanden.
Doch rechtfertigt dies, von einer "Internet-Revolution" zu sprechen? Oder allgemeiner gefragt: Sind die Ereignisse in der arabischen Welt Beleg dafür, dass das Internet tatsächlich demokratisch, gar demokratisierend ist und die Auffassung von Wael Ghonim, einem ägyptischen Internet-Aktivisten (und Google-Manager) zutrifft: "If you want to liberate a society, just give them the Internet"?
Zudem ist das Internet nur Teil einer umfassenderen und komplexeren Medienlandschaft. So war in Ägypten beispielsweise das Fernsehen eine wichtige Informationsquelle, wenngleich mit ganz unterschiedlichen Ausrichtungen: Die staatlichen und privat kontrollierten Fernsehstationen versuchten die Lage herunterzuspielen, während der transnationale Sender Al-Jazeera, vor allem durch Rückgriff auf die sozialen Medien, im wörtlichen Sinn ein "Kontrastprogramm" bot.
Mediennutzung im Kontext
Über den sicherlich anschaulichen und aufschlussreichen Fall des "Arabischen Frühlings" hinaus lässt sich eine Reihe von weiteren Argumenten finden, die gegen die schlichte und technikdeterministische Annahme sprechen, das Internet sei per se ein demokratisierendes Medium. Es profitieren eben nicht nur demokratische Stimmen oder emanzipativ-aufklärerische Gegenöffentlichkeiten von niedrigeren Publikations- und Distributionshürden. Auch politisch radikale, undemokratische Standpunkte und Inhalte können leichter verbreitet werden, weil "gerade Verbreiter von Hate Speech, also von menschenverachtenden Äußerungen und Hetze, (...) durch das Internet überproportional gewinnen" und so "besonders vom Wegfall des Gatekeeping profitieren".
Zivilgesellschaftliche Reaktion auf diese Aktivitäten sind beispielsweise Projekte wie "no-nazi.net" oder "hass-im-netz.info". Sie dokumentieren die Online-Aktivitäten rechtsextremer Parteien und Gruppierungen und klären über Strategien und Maßnahmen auf, mit denen diskriminierenden Inhalten auf Plattformen wie Facebook oder YouTube begegnet werden kann.
Darüber hinaus prägt die Einbettung in bereits existierende institutionelle oder organisatorische Strukturen. Schon innerhalb einer Gesellschaft, noch viel mehr im grenzüberschreitenden Vergleich, finden sich unterschiedliche politische Akteure, darunter Parteien, lokale Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen oder auch lockere Ad-hoc-Netzwerke von Aktivistinnen und Aktivisten, die sich der digitalen Medien für politische Zwecke bedienen. Sie verfolgen dabei jeweils eigene Ziele und Interessen, besitzen eigene institutionalisierte Formen der Koordination und Abstimmung von Handeln sowie des Austragens von Konflikten, und verfügen nicht zuletzt auch über unterschiedliche personelle oder finanzielle Ressourcen. In diesen Rahmen werden die jeweils neuen Medien eingepasst - ob sie an die Seite oder an die Stelle anderer Werkzeuge und Technologien treten, ist aber nicht von vornherein ausgemacht.
Erst diese Kontextbedingungen können erklären, warum sich bestimmte Online-Strategien oder Praktiken nicht für jeden Einsatzzweck eignen. Exemplarisch lässt sich dies am ersten Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama im Jahr 2008 zeigen.
Im Bundestagswahlkampf 2009 ließ sich nur wenig Vergleichbares beobachten.
Neue Macht
In einem ganz wesentlichen Punkt steht die Debatte über die Folgen der digitalen Medien für demokratische Teilhabe erst am Anfang: Begreift man die sozialen Medien als Kommunikationsraum, in dem sich vernetzte Öffentlichkeiten formieren, muss auch über die Teilhabe an dessen Gestaltung nachgedacht werden. Bislang sind vor allem die Plattformbetreiber und Softwareentwickler die Architekten der neuen Kommunikationsräume. Sie programmieren den Software-Code und damit die Optionen und Restriktionen, die den Nutzerinnen und Nutzern für Austausch und Partizipation zur Verfügung stehen. Sie kanalisieren das Nutzerhandeln, wenngleich sie es nicht völlig determinieren.
Die Kontrolle über die Gestaltung digitaler Medientechnologien hat potenziell weitreichende Folgen. Filter- und Aggregationsalgorithmen können in den Dienst von Überwachung oder Zensur gestellt werden, wie der belarussische Publizist Evgeny Morozov den "Cyber-Optimisten" entgegenhält.
Die Frage nach Teilhabe und Gestaltung der sozialen Medien ist aber auch deswegen so drängend, weil es sich um Infrastrukturen für gesellschaftliche Öffentlichkeit, aber eben nicht um öffentliche Infrastrukturen handelt. Mit Ausnahme der Wikipedia sind die dominierenden Plattformen des social web im Besitz von Unternehmen und Konzernen, die wiederum ein Interesse daran haben, möglichst umfassende Informationen über ihre Nutzerinnen und Nutzer zu sammeln. Ihre Geschäftsmodelle beruhen vielfach darauf, gegenüber Werbetreibenden die Daten oder Aktivitäten der Nutzenden zu vermarkten. Für Letztere ist die Partizipation an vielen Diensten und Plattformen deswegen in der Regel freiwillig und kostenfrei, doch oft sind das Ausmaß und die Verwendung der gesammelten Daten nicht transparent und den Nutzerinnen und Nutzern nicht bewusst. Pointiert formuliert: "Wenn man nicht dafür zahlt, ist man selbst das Produkt."
Es ist offen, inwiefern eine gesellschaftliche Mehrheit auf Dauer damit einverstanden sein wird, dass an solch zentraler Stelle von Mediennutzung nicht nur eine Einschränkung ihrer informationellen Selbstbestimmung droht, sondern auch eine Machtfülle entsteht, der keine ausreichende demokratische Legitimierung und Kontrolle entgegensteht. Wirklich demokratisch kann das Netz daher nur sein, wenn auch die Gestaltung der zugrundeliegenden Technologien offen für Mitbestimmung und Teilhabe ist.