Einleitung
Angesichts der Bedeutung von Tieren für die menschliche Gesellschaft scheint es verwunderlich, dass dieses Verhältnis bisher innerhalb der Sozialwissenschaften kaum reflektiert wurde. Dabei hat jeder Mensch individuelle oder kollektive Beziehungen zu Tieren. In fast jedem dritten deutschen Haushalt lebt ein sogenanntes Haustier;
Erst in den vergangenen Jahren nahm die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Mensch-Tier-Verhältnis, beeinflusst durch gesellschaftliche Debatten über den ethischen und sozialen Status von Tieren, zu, und es entwickelte sich das Forschungsfeld der Human-Animal Studies (HAS).
In der Soziologie wurden Tiere bisher weitgehend ausgeblendet, was sich unter anderem anhand des Selbstverständnisses der Soziologie als Humanwissenschaft, welche die Tiere der "Natur" zuordnet,
Die Ausklammerung der Tiere aus der Soziologie ist ferner nicht plausibel, da Tiere innerhalb der gesellschaftlichen Symbol-, Wert- und Ordnungssysteme, in der Ökonomie und der Sprache, bei der Entwicklung menschlicher Identität sowie als Interaktionspartner eine zentrale Rolle spielen und somit zweifelsfrei Teil des Sozialen sind. Mit dem gestiegenen Forschungsinteresse beginnt sich das Feld der sozialwissenschaftlichen HAS auch in Deutschland zu institutionalisieren: An der Universität Hamburg wurde 2010 mit der Group for Society and Animals Studies (GSA) die erste soziologische Forschungsgruppe zum Thema gegründet. 2011 erschien ein erster Sammelband mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt des Chimaira-Arbeitskreises für Human-Animal Studies und 2012 werden darüber hinaus zwei weitere soziologische Sammelbände publiziert.
Darüber hinaus werden regelmäßig internationale Tagungen abgehalten. Die Zahl der Publikationen und Dissertationen im Fachgebiet steigt stetig an, und es hat sich bereits in mehrere untergliederte Forschungsschwerpunkte differenziert. Dennoch haben HAS noch nicht den Status einer allgemein anerkannten Disziplin in den Sozialwissenschaften erlangt.
Aktueller Forschungsstand
Obwohl Human-Animal Studies akademisch gesehen insbesondere in Deutschland eine junge Disziplin sind, haben sich bereits einige dominante Forschungsschwerpunkte herausgebildet, die wir im Folgenden mit ihren Ansätzen und zentralen Werken beschreiben. Auch wenn der Fokus nachfolgend auf das deutschsprachige Forschungsfeld - ergänzt durch relevante englischsprachige Arbeiten - begrenzt wird, kann die Übersicht natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
Forschungsschwerpunkt "Soziale Konstruktion des Tieres".
Bei diesem Forschungsschwerpunkt werden gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse mittels theoretischer Ansätze der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, insbesondere der sozialen Konstruktion des Anderen, untersucht und es wird analysiert, wie und wozu das Bild "des Tieres" sowie damit einhergehende Identitätskonzepte sozial hergestellt werden. Es wird gezeigt, wie die Aufstellung natürlich erscheinender Gegensatzpaare, wie "Kultur-Natur", "Geist-Instinkt" oder "Essen-Fressen" und die Zuschreibung der jeweils "negativen" Attribute zu den Tieren eine fundamentale Trennlinie zwischen Menschen und Tieren zieht und so "das Tier" als grundsätzlich Anderes bestimmt.
Die sozialen Konstruktionsprozesse setzen sich fort in der Schaffung spezifischer Tierbilder, in denen verschiedene Tierarten nach ihrer Nutzbarkeit für menschliche Zwecke in vermeintlich homogene Untergruppen eingeteilt werden: So ist im alltäglichen Sprachgebrauch von "Haustieren", "Nutztieren", "Zootieren" oder "Versuchstieren" die Rede. Die Zuordnung tierlicher Individuen zu einer dieser Gruppen bestimmt dabei, welche Art von Behandlung für sie als gesellschaftlich legitim angesehen wird. Aus dem Blickwinkel der sozialen Konstruktion des Anderen wird hier insbesondere analysiert, wie die in postindustriellen Gesellschaften vorfindlichen Ambivalenzen innerhalb von Mensch-Tier-Verhältnissen erklärbar sind. So geht es beispielsweise um die Frage, wie sich emotionale Hinwendung zu "Haustieren" und Anerkennung ihrer Subjektivität beziehungsweise "Personalisierungstendenzen"
Forschungsschwerpunkt "Tiere in sozialen Interaktionen".
Ein zentraler Versuch, die Mensch-Tier-Beziehung auf Handlungs- und Interaktionsebene soziologisch-theoretisch zu fassen, wurde von Theodor Geiger unternommen.
Auch die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway analysiert das Zusammenleben zwischen Menschen und Tieren, speziell mit Hunden.
Forschungsschwerpunkt "Das Mensch-Tier-Verhältnis als Herrschafts- und Gewaltverhältnis".
Ein weiterer Schwerpunkt der Analysen der Gesellschaft-Tier-Verhältnisse betrachtet diejenigen Bereiche, die sich durch Herrschafts-, Gewalt- oder Ausbeutungsstrukturen kennzeichnen. Zurückgegriffen wird in diesem Zusammenhang auf verschiedene soziologische Ansätze zu Gewalt und Herrschaft und es wird deren Anwendbarkeit geprüft, etwa auf die Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx,
David Nibert verwendet den Begriff des Unterdrückungsverhältnisses und legt hierfür eine historisch-materialistische Theorie vor.
Einen weiteren Schwerpunkt stellt die Analyse sozialer Bedingungen, Mechanismen, Denkformen und Praktiken dar, die eine Gewaltherrschaft über Tiere - etwa durch unterschiedliche Rationalisierungs-, Normalisierungs- und Distanzierungsstrategien - (re)pro-duzieren.
Während die zuvor dargestellten Arbeiten sich theoretisch-allgemein dem Phänomen der institutionellen Gewalt gegen Tiere widmen, befassen sich andere Arbeiten mit deren empirischer Untersuchung. Es wurde untersucht, wie verschiedene Gewaltverhältnisse jeweils durch eine bestimmte soziale Konstruktion der Tiere legitimiert werden und welche Umgangsstrategien die menschlichen Akteure bei einer gewaltförmigen Interaktion jeweils wählen. Dazu gehören unter anderem die Bereiche der Vivisektion, der agrarökonomischen "Tierproduktion" und der Jagd.
Ein weiterer Teil der Arbeiten lässt sich einem intersektionalen Paradigma
Forschungsschwerpunkt "Wandel gesellschaftlicher Mensch-Tier-Verhältnisse".
Hier wird untersucht, wie sich die Muster des gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisses über die Zeit wandeln. Zentrale Beiträge wurden hierzu von Wiedenmann geleistet, der derartige Muster und die ihnen zugrunde liegenden Semantiken in ihrer historischen Veränderung wissenssoziologisch analysiert und dabei auch Verbindungen zu zivilisationstheoretischen Ansätzen herstellt.
In einer weiteren Forschungsrichtung dieses Schwerpunkts werden soziale Bewegungen erforscht, die auf den Wandel gesellschaftlicher Mensch-Tier-Verhältnisse abzielen. Im Vordergrund stehen dabei die Typisierung derartiger Bewegungen, ihre Entstehung und Entwicklung, ihre theoretische Fundierung, ihre Methoden und die Reaktionen ihrer Opponenten. Weiter geht es um ihren Beitrag zum Wandel des Gesellschaft-Tier-Verhältnisses.
Die Bewegungen lassen sich demnach in zwei unterschiedliche Strömungen unterteilen, in die Tierschutzbewegung (TSB), deren Ziel die Minderung von Tierleid durch Reformierung tiernutzender Praktiken und Industrien ist, und in die Tierrechts-/befreiungsbewegung (TRBB), deren Ziel die Abschaffung tiernutzender Praktiken und Industrien ist.
Ein weiterer Aspekt der Erforschung von TSBs und TRBBs ist deren ideologische beziehungsweise theoretische Fundierung. Hier sind Arbeiten von Lyle Munro und Lawrence Finsen/Susan Finsen zu nennen, die mittels Interviews und New Social Movement- und Resource Mobilization-Theorien philosophische, (öko)feministische und ökologische Argumentationsfiguren herausarbeiten.
Während Strategien der TRBB meist das gesamte Spektrum gesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure adressieren, richten sich die Strategien von TSB oft an die Politik mit der Forderung, (wirksamere) Tierschutzgesetze zu erlassen. Erin Evans arbeitete in einer komparativen Studie heraus, wie kulturelle Faktoren, institutionelle Arrangements und ungeplante Ereignisse im Zusammenspiel mit der Bewegungsarbeit des Frame-Bridgings
Resümee und Perspektiven der Human-Animal Studies
Human-Animal Studies sind ein aufstrebendes Forschungsgebiet, dessen akademische Etablierung insbesondere im deutschsprachigen Raum noch in den ersten Zügen liegt. Dennoch wurde bereits eine nennenswerte Zahl wissenschaftlicher Forschungen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten zum gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnis geleistet und publiziert. Wie bei einem jungen Forschungsgebiet nicht anders zu erwarten, gibt es jedoch noch viele Forschungslücken, die insbesondere auch die Sozialwissenschaften betreffen.
So mangelt es bisher aus unserer Sicht an empirischer Forschung, mit deren Hilfe die bisherigen theoretischen Ansätze überprüft und weiterentwickelt werden können. Zum Beispiel ist trotz einiger theoretischer oder empirischer Vorarbeiten zu den jeweiligen Faktoren das systematische Zusammenwirken zwischen institutionellen Konstellationen, gesellschaftlichen Akteuren, kulturellen Leitbildern und sozialen Mechanismen im gesellschaftliche Mensch-"Nutztier"-Verhältnis des gegenwärtigen Deutschlands weitgehend unerforscht.
Weiterhin verspricht eine Erforschung von spezifischen Ambivalenzen als Ausgangspunkt für gesellschaftlichen Wandel von Mensch-Tier-Verhältnissen Aufschluss über dessen Richtung, Dynamiken und konstitutive Elemente. Auch eine Einbeziehung einer historischen oder internationalen Vergleichsdimension sowie transnationaler Rahmenbedingungen erscheint für eine tiefergehende Analyse gesellschaftlicher Mensch-Tier-Verhältnisse geboten.
Natürlich können dies nur unvollständige Beispiele und Hinweise für weitere Forschungen darstellen, denn das potenzielle Forschungsfeld der HAS ist vielfältig, genau wie es die menschlichen Beziehungen zu Tieren und die gesellschaftlichen Bedeutungen von Tieren sind.