Einleitung
Die gegenwärtig amtierende Bundesregierung hat bislang zwei außenpolitisch gewichtige Entscheidungen getroffen. Diese Entscheidungen als "wegweisend" zu bezeichnen, wäre freilich problematisch. Eine ist die Stimmenthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 17. März 2011 bei der Resolution 1973. Sie autorisierte militärische Maßnahmen zum Schutze der libyschen Zivilbevölkerung vor dem Regime von Muammar Gaddafi. Unter dem Strich blieb nach dieser Entscheidung bei Deutschlands Partnern und Verbündeten vor allem Verwirrung: Deutschland war zum "unsicheren Kantonisten" geworden. Die andere betraf die finanzielle Hilfe für Griechenland. Als die Verschuldungskrise in Griechenland Ende des Jahres 2009 erstmals aufbrach, weigerte sich die deutsche Außenpolitik zunächst, dies als Problem europäischer Solidarität zu betrachten. An dieser Position hielt sie bis ins Frühjahr 2010 fest.
Die Enthaltung im Weltsicherheitsrat und die Verweigerung deutscher Mitwirkung an der Nato-Intervention zur Umsetzung der Resolution 1973 hatten kaum nennenswerte Folgen. Die außen- und sicherheitspolitische Marginalisierung Deutschlands kontrastiert zudem deutlich mit der dramatischen Aufwertung des Gewichts Deutschlands innerhalb der EU. In den Bemühungen um Eindämmung und Überwindung der Verschuldungskrise dominierte Berlin immer deutlicher die gemeinsamen Entscheidungen und wurde so zum "Hegemon wider Willen"
Die deutsche Außen-, Sicherheits- und Europapolitik klaffen also in ihrer Wertigkeit wie in ihrer inhaltlichen Ausrichtung deutlich auseinander. Im Folgenden werden die Entscheidungsprozesse nachgezeichnet, die zu beiden Weichenstellungen führten, und dabei die wichtigsten Akteure und Motive identifiziert. Die hier zu untersuchenden Entscheidungen lassen sich analytisch am besten mit der Metapher und dem Instrumentarium des Two-level-game-Ansatzes erfassen.
Handlungsräume in der Libyen-Krise
Ausschlaggebend für das Ergebnis der Verhandlungen im Hinblick auf die Libyen-Entscheidung waren zwei Determinanten: die innenpolitischen Anforderungen des Koalitionsmanagements in der schwarz-gelben Regierung sowie die skeptische Einstellung der wichtigsten außenpolitischen Entscheidungsträger (Bundeskanzlerin, Außenminister und Verteidigungsminister) gegenüber den Möglichkeiten und Chancen einer militärischen Intervention in Libyen.
Im Zentrum des außenpolitischen Entscheidungsprozesses stand formal das Auswärtige Amt. Faktisch dominierte die politische Abstimmung zwischen dem Außenminister und der Bundeskanzlerin; der Verteidigungsminister spielte eine wichtige sekundierende Rolle. Die Koalition steckte zum Zeitpunkt, als der Widerstand gegen das Regime in Libyen eskalierte, in einem Umfragetief, die FDP zudem in einer schweren personellen Krise. Der Außenminister hatte bereits zuvor versucht, sich selbst und seine Partei konsequent als Befürworter einer Friedenspolitik zu positionieren, die militärische Machtmittel und Machtentfaltung ablehnte, ohne dabei Rücksichten auf die Bündnispartner erkennen zu lassen.
Dabei waren die Handlungsspielräume der deutschen Außenpolitik in der Libyen-Krise vergleichsweise groß. Die Zustimmung zum Mandat des Weltsicherheitsrats und eine deutsche Beteiligung daran wären mit begrenzten Kosten und Risiken für die deutsche Politik verbunden gewesen - den Einsatz von Bodentruppen etwa schloss die Resolution explizit aus.
Die Enthaltung reflektierte zudem eine bereits seit längerem erkennbare Tendenz zur außen- und sicherheitspolitischen Selbstmarginalisierung Berlins im Kontext der Nato und der EU. Sie liegt begründet in der zögerlichen Haltung Berlins in der militärischen Sicherheitspolitik.
Entscheidungen in der Verschuldungskrise
Anders als im Falle Libyens vollzog sich bei der Verschuldungskrise seit Frühjahr 2010 in der Tat eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Europapolitik. Auch spielten gesellschaftlich und politisch tief verankerte Einstellungen eine Rolle: die Rückkehr zu einer entschlossen proeuropäischen Ausrichtung der deutschen Außenpolitik sowie die historisch verankerte, traditionelle deutsche Furcht vor Inflation und unsolider Finanzpolitik. Der neue Kurs in Richtung Fiskalunion beendete eine Phase europapolitischer Nachlässigkeit, in der Deutschland dazu tendierte, europäisches Engagement gegenüber unmittelbaren, kurzfristigen "deutschen Interessen" hintanzustellen.
Die Strukturen des Entscheidungskontextes und die Aushandlungsprozesse waren bei der Verschuldungsthematik wesentlich komplexer als im Falle Libyens. Die Handlungsspielräume der Exekutive wurden durch eine Reihe von wichtigen Vetospielern empfindlich eingeengt. Hierzu zählten - aufgrund des wachsenden Gewichts von Legislative und Judikative in der Europapolitik, also ihrer "Domestizierung"
Dagegen verzeichneten das Wirtschaftsministerium und das Auswärtige Amt deutliche Einflussverluste. Ihr "Niedergang" reflektierte die politische Schwäche der jeweiligen Minister, war aber auch die Folge von strukturellen Verschiebungen im Entscheidungssystem der EU infolge der Vertragsrevisionen von Lissabon: Die Aufwertung der EU-Gipfeltreffen und die Einsetzung eines Präsidenten des EU-Rats (Herman van Rompuy) gingen mit einer Abwertung des Allgemeinen Rats der Außenminister als zentralem Steuerungsorgan der EU einher.
Zu den Akteuren, welche die Handlungsspielräume der Regierung innenpolitisch einengten, gehörte zunächst das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Es hat in seiner Rechtssprechung der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU und damit der europapolitischen Gestaltungsfreiheit der Legislative und Exekutive seit dem ersten Maastricht-Urteil im Jahre 1993 immer wieder Beschränkungen auferlegt; dies beeinflusste erheblich die Entscheidungsprozesse in Berlin zur Verschuldungskrise. Das Gericht hat auch mehrfach den Bundestag an seine Verantwortung erinnert und so zu seiner aktiveren Mitwirkung an den europapolitischen Entscheidungsprozessen beigetragen.
Auf der internationalen Ebene waren die Entscheidungsprozesse in der Verschuldungskrise zunächst breit aufgestellt. Auf Insistieren der Bundeskanzlerin wurde der IWF in die Verhandlungen um das erste Rettungspaket für Griechenland einbezogen, um den Auflagen für Griechenland größeres Gewicht zu verleihen und die Basis der Rettungsaktion möglichst umfassend anzulegen. Für die in den Sog der Krise hineingezogenen Euroländer Irland und Portugal wurden entsprechende Vereinbarungen getroffen. Mit Rücksicht auf die hohen Verbindlichkeiten europäischer Banken in den betroffenen Ländern, die von der ersten Welle der Finanzmarktkrise im September 2008 bereits angeschlagen waren, wurde ein Schuldenschnitt ausgeschlossen. Stattdessen setzte man auf drastische Haushaltssanierungsprogramme in den betroffenen Ländern, die scharfe Einbrüche der Wirtschaftsaktivität zur Folge hatten. Allerdings unterstützte nunmehr die Europäische Zentralbank (EZB) die betroffenen Staaten durch umfangreiche Aufkäufe von Staatsanleihen.
Im Kern ging es in den Verhandlungen um eine Mischung aus finanzieller Solidarität der Länder mit Außenhandelsüberschüssen und international kompetitiven Volkswirtschaften (wie Deutschland, die Niederlande oder die skandinavischen Staaten) und Reformauflagen für diejenigen Länder, die im Verlauf der ersten Dekade einer gemeinsamen Währung an Wettbewerbsfähigkeit verloren hatten und nunmehr vor hohen Schuldenbergen standen (wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien). Frankreich befand sich in einer Mittelposition zwischen den beiden Lagern. Dennoch - oder gerade deshalb - verengten sich die Entscheidungsprozesse auf internationaler Ebene zunehmend auf die französische und deutsche Regierung. Dabei kam es zu wechselseitigen Anpassungen. In der Substanz setzten sich die deutschen Positionen durch, die finanzielle Solidarität strikt zu begrenzen und auf eine möglichst breite Basis zu stellen, um so die geld- und fiskalpolitische Solidität der Eurozone zu erhalten und wiederherzustellen. Dagegen konnten sich die französischen Vorstellungen zur politischen Steuerung der Krisenbewältigung in zweifacher Hinsicht durchsetzen: Berlin akzeptierte nunmehr nicht nur die Notwendigkeit eines gouvernement économique, also einer stärkeren politischen Lenkung der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf europäischer Ebene, sondern auch, dass diese Lenkung nicht supranational über die bestehenden europäischen Institutionen, sondern intergouvernemental durch enge Koordinierung zwischen den Regierungen vorgenommen werden sollte.
Die wichtigsten Weichenstellungen auf diesem Wege - wie die Bemühungen um eine Entschuldung Griechenlands durch partiellen Schuldenerlass der privaten Gläubiger, die Entscheidung für eine Vertiefung der EU im Bereich der Haushalts- und Finanzpolitik (Fiskalunion) auf dem Wege der Vertragsänderung und schließlich, im Oktober 2011, die Bereitschaft, die Eurozone mit neuen, eigenen politischen Lenkungsstrukturen auszustatten - wurden von Frankreich und Deutschland bilateral vorbereitet und durchgesetzt. Die europäische Verhandlungsebene verlor dabei an Gewicht; erkennbar war dies an der Marginalisierung des Einflusses von Jean-Claude Juncker, dem luxemburgischen Ministerpräsidenten und Finanzminister und in dieser Eigenschaft Vorsitzender der Eurogruppe (etwa im Hinblick auf die Diskussionen um Eurobonds), von Jean-Claude Trichet, dem Präsidenten der EZB (im Hinblick auf die Beteiligung privater Gläubiger am Schuldenschnitt für Griechenland) oder vom Präsidenten des EU-Rats Herman van Rompuy (im Hinblick auf die Vertragsänderung). Dem Anschein nach dienten die EU-Gipfel primär der Ratifizierung, aber kaum noch der inhaltlichen Ausgestaltung der Vereinbarungen. Auch auf der internationalen Ebene lässt sich also im Verlauf der Krise eine Konzentration der Entscheidungskompetenzen an der Spitze der Entscheidungshierarchien erkennen: In den Staaten sind es die Staats- und Regierungschefs, die den entscheidenden Einfluss auf den Gang der Geschehnisse ausübten, auf internationaler Ebene die beiden größten und wirtschaftlich leistungsfähigsten Mitgliedsstaaten der EU, Deutschland und Frankreich. Die anderen Mitgliedsländer, aber auch die europäischen Institutionen (EU-Kommission, EU-Parlament, EZB) hatten die Entscheidungen umzusetzen, ihr eigener Einfluss war aber inhaltlich eng begrenzt.
Elemente der außen- und wirtschaftspolitischen Kultur
Die Strategie Berlins in der europäischen Verschuldungskrise lässt sich ohne Rückgriff auf Elemente der außen- und wirtschaftspolitischen Kultur Deutschlands kaum verstehen. Dabei spielt zum einen die proeuropäische Nachkriegstradition der deutschen Außenpolitik eine wichtige Rolle. Diese war in den vergangenen Jahren zwar deutlich erkennbaren Erosions- und Veränderungsprozessen ausgesetzt, gewann aber im Verlauf der Krise in dem Maße wieder an Gewicht, in dem sich die Alternativlosigkeit gemeinsamen europäischen Handelns deutlicher herausstellte. Dementsprechend fand der eingeschlagene Kurs der Bundesregierung letztlich breite politische Zustimmung.
Für die spezifische inhaltliche Ausrichtung der neuen Europapolitik spielen zwei Einstellungselemente der deutschen Wirtschaftskultur eine besonders gewichtige Rolle: die Furcht vor Inflation und, damit eng verknüpft, eine tiefe Abneigung gegen Schulden und unsolides Haushaltsgebaren. Eine offensichtliche Wurzel dieser Einstellung bilden die traumatischen Erfahrungen der deutschen Gesellschaft mit der Hyperinflation 1923, doch reichen ihre Ursprünge noch weiter in die Geschichte zurück.
Erhebliches Gewicht hatten in den Entscheidungsprozessen aber auch die wahrgenommenen finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Kosten und Risiken, die mit der Verschuldungskrise verbunden waren. Unmittelbar ging es dabei um direkte und indirekte (über die Verbindlichkeiten der EZB) Belastungen für den Bundeshaushalt, mittelbar um die Auswirkungen der Verschuldungskrise und des Krisenmanagements auf die Konjunkturentwicklung in den großen Absatzmärkten der deutschen Exportindustrie und damit letztlich auch auf die Binnenkonjunktur in Deutschland. In der Vergangenheit hatte die deutsche Wirtschaftsentwicklung ebenso wie diejenige in anderen Mitgliedsstaaten der Eurozone vom Euro profitiert; nun drohte dieser Zusammenhang ins Gegenteil zu kippen. Untersuchungen über die möglichen Kosten eines Auseinanderbrechens der Eurozone produzierten wirtschaftliche Horrorszenarien.
Was sind deutsche Interessen?
Ohne Zweifel ist die gegenwärtige Krise der europäischen Integration die schwerste in ihrer über 60-jährigen Geschichte. Auf der deutschen Politik lastet große Verantwortung für die Zukunft der EU. Dabei steht die eigentliche Herausforderung für Europa derzeit viel zu sehr im Schatten: Sie besteht darin, die EU als einflussreiche globale Macht zu etablieren. Dazu brauchte es eine effektive gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diese Bezeichnung tatsächlich verdient.
Um Europas Selbstbehauptung in den Turbulenzen der Globalisierung und seinen Beitrag zur Gestaltung einer tragfähigen internationalen Ordnung zu ermöglichen, muss sich Europa aber zunächst selbst konsolidieren. Hier engagiert sich die deutsche Europapolitik inzwischen nach anfänglichem Zögern umso energischer. Dabei prägen zwei grundlegende Interessenkalküle das Handeln der Bundesregierung: der europäische Imperativ und die Sorge um die Grenzen der deutschen Belastbarkeit. Der europäische Imperativ besagt, dass Deutschlands Sicherheit und Prosperität unauflöslich mit der Zukunft Europas verbunden sind. Die Konsolidierung der europäischen Integration in der jetzigen Krisensituation stellt deshalb ein existenzielles deutsches Interesse dar. Daraus folgt die Bereitschaft, durch finanzielle Beiträge praktische Solidarität zu üben und die Krisenländer zu unterstützen.
Diese Unterstützung muss freilich berechenbar und für Deutschland tragbar bleiben. Bei allem vordergründigen Selbstbewusstsein und aller wirtschaftlichen Stärke Deutschlands schwingt im europapolitischen Agieren Berlins eine Sorge mit, die bereits Konrad Adenauer, unter völlig anderen Umständen, folgendermaßen formulierte: "Es darf uns nichts zugemutet werden, was unsere finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigt. Daher werden wir zwar in der steuerlichen Beanspruchung des deutschen Volkes bis an die äußerste Grenze gehen müssen. Aber dann muss unter Berücksichtigung der ganzen finanziellen Situation geprüft werden, inwieweit wir noch leistungsfähig sind. Dabei muss beachtet werden, dass wir unsere wichtigsten sozialen Aufgaben weiter erfüllen können und müssen."
Realistischerweise wird davon auszugehen sein, dass sich die Gesellschaften Europas auf Dauer mit einer Politik und mit Regierungen nicht abfinden werden, die außer Sparmaßnahmen keine Zukunftsperspektiven anzubieten haben und nach immer neuen finanziellen Leistungen im Namen der europäischen Solidarität rufen, um Zinszahlungen und Tilgungen der überschuldeten Gesellschaften zu ermöglichen. Demokratie und europäische Integration stehen deshalb derzeit in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht gar in direktem Widerspruch zueinander. Zu erwarten sind in vielen Mitgliedsstaaten grundlegende und langwierige politische Auseinandersetzungen um die Zukunft des eigenen Landes in Europa. Dabei dürfte es darum gehen, welche Formen, welchen Umfang und welche Reichweite die Solidarität in Europa annehmen soll, aber auch um die Bereitschaft, die eigenen Gesellschaften nachhaltig zu verändern und dabei tief verwurzelte Strukturen zur Disposition zu stellen.