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Außenpolitische Entscheidungsprozesse in Krisenzeiten

Hanns W. Maull

/ 16 Minuten zu lesen

Außenpolitische Handlungsspielräume der Exekutive werden durch nationale wie auch internationale Verhandlungskontexte eingeengt. In Krisen wird eine Konzentration der Kompetenzen an der Spitze der Entscheidungshierarchien erkennbar.

Einleitung

Die gegenwärtig amtierende Bundesregierung hat bislang zwei außenpolitisch gewichtige Entscheidungen getroffen. Diese Entscheidungen als "wegweisend" zu bezeichnen, wäre freilich problematisch. Eine ist die Stimmenthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 17. März 2011 bei der Resolution 1973. Sie autorisierte militärische Maßnahmen zum Schutze der libyschen Zivilbevölkerung vor dem Regime von Muammar Gaddafi. Unter dem Strich blieb nach dieser Entscheidung bei Deutschlands Partnern und Verbündeten vor allem Verwirrung: Deutschland war zum "unsicheren Kantonisten" geworden. Die andere betraf die finanzielle Hilfe für Griechenland. Als die Verschuldungskrise in Griechenland Ende des Jahres 2009 erstmals aufbrach, weigerte sich die deutsche Außenpolitik zunächst, dies als Problem europäischer Solidarität zu betrachten. An dieser Position hielt sie bis ins Frühjahr 2010 fest. Erst im Mai 2010, nachdem die Verschuldungskrise dramatisch eskaliert war und andere Euro-Staaten in ihren Sog hineingezogen hatte, stimmte Deutschland einem ersten gemeinsamen Finanzpaket für Griechenland mit einem Gesamtvolumen von 110 Milliarden Euro zu. Zugleich wurde ein auf drei Jahre begrenzter Krisenmechanismus mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro beschlossen. Im Gegenzug sollte die Haushaltspolitik in der Eurozone stärker überwacht und eine Vertiefung der europäischen Integration im Bereich der Haushalts- und Finanzpolitik eingeleitet werden. Nach 16 europäischen Krisengipfeln zeichnete sich zum Jahresende 2011 schließlich der "deutsche Weg" ab, auf dem die Verschuldungsproblematik in der EU und die Defizite der Währungsunion nach dem Willen Berlins bewältigt werden sollten. Dieser Weg führt zu einer Vertiefung der europäischen Integration, zur Fiskalunion.

Die Enthaltung im Weltsicherheitsrat und die Verweigerung deutscher Mitwirkung an der Nato-Intervention zur Umsetzung der Resolution 1973 hatten kaum nennenswerte Folgen. Die außen- und sicherheitspolitische Marginalisierung Deutschlands kontrastiert zudem deutlich mit der dramatischen Aufwertung des Gewichts Deutschlands innerhalb der EU. In den Bemühungen um Eindämmung und Überwindung der Verschuldungskrise dominierte Berlin immer deutlicher die gemeinsamen Entscheidungen und wurde so zum "Hegemon wider Willen" der EU und zur "geo-ökonomischen Macht" . Dabei verfolgte die Bundesregierung eine zunehmend klar erkennbare, aber risikoreiche Strategie: Die finanziellen Solidaritätsleistungen Deutschlands knüpfte Berlin an die Auflage, die zerrütteten Staatsfinanzen in den Empfängerländern zu sanieren. Um diese Auflagen durchzusetzen, wollte Berlin auf die disziplinierende Wirkung der Finanzmärkte nicht verzichten und war somit angewiesen auf eine riskante Mischung aus Druck (um die Problemländer auf den Pfad der "fiskalischen Tugend" zu zwingen) und Konzessionen an die internationalen Finanzmärkte (um den Zusammenbruch von Banken oder gar den Staatsbankrott eines Landes zu vermeiden). Bislang gelang es so, die Eurozone zwischen der Charybdis des Schuldenstrudels und der Scylla eines Zusammenbruchs nationaler Finanzmärkte hindurchzusteuern. Doch Land ist nicht in Sicht: Der Kurs der Bundesregierung droht vielmehr, die Eurozone, die EU und auch die Weltwirtschaft insgesamt durch eine drastische Austeritätspolitik in eine Rezession zu treiben; dies wiederum würde die Verschuldungsprobleme durch sinkende Steuereinnahmen und höhere Ausgaben für Sozialleistungen verschärfen und könnte eine Spirale nach unten auslösen.

Die deutsche Außen-, Sicherheits- und Europapolitik klaffen also in ihrer Wertigkeit wie in ihrer inhaltlichen Ausrichtung deutlich auseinander. Im Folgenden werden die Entscheidungsprozesse nachgezeichnet, die zu beiden Weichenstellungen führten, und dabei die wichtigsten Akteure und Motive identifiziert. Die hier zu untersuchenden Entscheidungen lassen sich analytisch am besten mit der Metapher und dem Instrumentarium des Two-level-game-Ansatzes erfassen. Entscheidungen sind demnach das Ergebnis komplexer und vielschichtiger Aushandlungsprozesse in Verhandlungsarenen der Innen- und Außenpolitik. Im Falle der Libyen-Entscheidung waren dies die EU-Ebene, die Nato und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen; im Falle des Krisenmanagements der Verschuldungsproblematik die EU, die Eurozone sowie eine diffuse globale Arena, in der Akteure wie die US-Regierung oder der Internationale Währungsfonds (IWF) gewichtige Rollen innehatten. Diese komplexe multilaterale Architektur von internationalen Verhandlungskontexten wiederum baute auf einer Vielzahl bilateraler Kontakte, Gespräche und Verhandlungen auf. In den hier untersuchten Entscheidungen dominierten die Absprachen zwischen der französischen und deutschen Regierung, allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen: Im Falle Libyens stand am Ende der offene Dissens, in der Frage der Verschuldungskrise der deutsch-französische Schulterschluss. Deutlich geringer war vergleichsweise in beiden Entscheidungen die Bedeutung der bilateralen Kontakte zwischen Washington und Berlin.

Handlungsräume in der Libyen-Krise

Ausschlaggebend für das Ergebnis der Verhandlungen im Hinblick auf die Libyen-Entscheidung waren zwei Determinanten: die innenpolitischen Anforderungen des Koalitionsmanagements in der schwarz-gelben Regierung sowie die skeptische Einstellung der wichtigsten außenpolitischen Entscheidungsträger (Bundeskanzlerin, Außenminister und Verteidigungsminister) gegenüber den Möglichkeiten und Chancen einer militärischen Intervention in Libyen.

Im Zentrum des außenpolitischen Entscheidungsprozesses stand formal das Auswärtige Amt. Faktisch dominierte die politische Abstimmung zwischen dem Außenminister und der Bundeskanzlerin; der Verteidigungsminister spielte eine wichtige sekundierende Rolle. Die Koalition steckte zum Zeitpunkt, als der Widerstand gegen das Regime in Libyen eskalierte, in einem Umfragetief, die FDP zudem in einer schweren personellen Krise. Der Außenminister hatte bereits zuvor versucht, sich selbst und seine Partei konsequent als Befürworter einer Friedenspolitik zu positionieren, die militärische Machtmittel und Machtentfaltung ablehnte, ohne dabei Rücksichten auf die Bündnispartner erkennen zu lassen. Die Positionierung der deutschen Außenpolitik in der Libyen-Frage und die Stimmenthaltung Deutschlands im Weltsicherheitsrat entsprachen dieser Profilierungssuche, die mit einer breiten Resonanz in den Parteien und in der Öffentlichkeit rechnen konnte.

Dabei waren die Handlungsspielräume der deutschen Außenpolitik in der Libyen-Krise vergleichsweise groß. Die Zustimmung zum Mandat des Weltsicherheitsrats und eine deutsche Beteiligung daran wären mit begrenzten Kosten und Risiken für die deutsche Politik verbunden gewesen - den Einsatz von Bodentruppen etwa schloss die Resolution explizit aus. Zwar konnte die Regierung mit ihrer Position auf die Unterstützung der eigenen Bundestagsfraktionen sowie von Teilen der Opposition und Öffentlichkeit zählen. Nur Die Linke war eindeutig gegen die Intervention. Doch gab es auch innerhalb der Regierungs- wie auch Oppositionsparteien prononcierte Gegner der Enthaltung. Dennoch entschied sich die Bundeskanzlerin, dem Drängen des Außenministers auf Stimmenthaltung in der Libyen-Krise zu entsprechen. Das Abrücken von den traditionellen Leitlinien der deutschen Außenpolitik geschah daher primär aus Gründen des innenpolitischen Koalitionsmanagements. Die Folgen waren weniger ausgeprägt, als es zunächst den Anschein haben mochte: Was sich in dieser Entscheidung vollzog, war keineswegs der Einstieg in eine neue Außenpolitik, keine "Rückkehr zum Sonderweg" , sondern - aus deutscher Sicht - ein zurückhaltendes Engagement für Traditionslinien der Bündnissolidarität, das allerdings auf die Verbündeten befremdlich und halbherzig wirkte.

Die Enthaltung reflektierte zudem eine bereits seit längerem erkennbare Tendenz zur außen- und sicherheitspolitischen Selbstmarginalisierung Berlins im Kontext der Nato und der EU. Sie liegt begründet in der zögerlichen Haltung Berlins in der militärischen Sicherheitspolitik. Dahinter stand ein bis heute prägendes Einstellungselement der außenpolitischen Kultur, des außenpolitischen Rollenkonzepts als Zivilmacht: eine tiefe Skepsis gegenüber den Möglichkeiten militärischer Macht im Allgemeinen und dem Einsatz deutscher Streitkräfte im Besonderen. Diese "Kultur der Zurückhaltung" war zwar durch die Lehren der Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren modifiziert, aber keineswegs eliminiert worden. Die Erfahrungen mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan haben dazu beigetragen, diese Skepsis erneut zu beleben. Sie wird von Entscheidungsträgern wie von der Bevölkerung geteilt und lieferte somit entscheidende Handlungsmotive wie auch den innenpolitischen Resonanzboden für eine Politik der Enthaltung.

Entscheidungen in der Verschuldungskrise

Anders als im Falle Libyens vollzog sich bei der Verschuldungskrise seit Frühjahr 2010 in der Tat eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Europapolitik. Auch spielten gesellschaftlich und politisch tief verankerte Einstellungen eine Rolle: die Rückkehr zu einer entschlossen proeuropäischen Ausrichtung der deutschen Außenpolitik sowie die historisch verankerte, traditionelle deutsche Furcht vor Inflation und unsolider Finanzpolitik. Der neue Kurs in Richtung Fiskalunion beendete eine Phase europapolitischer Nachlässigkeit, in der Deutschland dazu tendierte, europäisches Engagement gegenüber unmittelbaren, kurzfristigen "deutschen Interessen" hintanzustellen. Mit der Eskalation der Verschuldungsprobleme geriet die deutsche Außenpolitik allerdings zunehmend in den Sog von inneren und äußeren Handlungszwängen, die ihre Entscheidungsspielräume immer stärker einengten.

Die Strukturen des Entscheidungskontextes und die Aushandlungsprozesse waren bei der Verschuldungsthematik wesentlich komplexer als im Falle Libyens. Die Handlungsspielräume der Exekutive wurden durch eine Reihe von wichtigen Vetospielern empfindlich eingeengt. Hierzu zählten - aufgrund des wachsenden Gewichts von Legislative und Judikative in der Europapolitik, also ihrer "Domestizierung" - der Bundestag, die Bundesländer und das Bundesverfassungsgericht, aber auch aufgrund der massiven wirtschaftlichen und finanziellen Kosten und Risiken die Bundesbank sowie die Spitzenverbände der Wirtschaft. Im weiteren Sinne hatten auch die Medienberichterstattung und die öffentliche Meinung (Umfragen) erhebliches Gewicht in den Entscheidungsprozessen, die innenpolitisch weitaus stärker politisiert wurden, als dies bei der Libyen-Entscheidung der Fall war. Andererseits konzentrierte sich die eigentliche Entscheidungskompetenz auch hier zunehmend auf die Bundeskanzlerin, institutionell dominierte das Kanzleramt die Prozesse; lediglich dem Bundesfinanzministerium kam daneben eine gewichtige, aber klar sekundäre Rolle zu.

Dagegen verzeichneten das Wirtschaftsministerium und das Auswärtige Amt deutliche Einflussverluste. Ihr "Niedergang" reflektierte die politische Schwäche der jeweiligen Minister, war aber auch die Folge von strukturellen Verschiebungen im Entscheidungssystem der EU infolge der Vertragsrevisionen von Lissabon: Die Aufwertung der EU-Gipfeltreffen und die Einsetzung eines Präsidenten des EU-Rats (Herman van Rompuy) gingen mit einer Abwertung des Allgemeinen Rats der Außenminister als zentralem Steuerungsorgan der EU einher. Hinzu kamen die Vorbehalte der Bundeskanzlerin gegenüber der Europäischen Kommission unter ihrem Präsidenten José Manuel Barroso und ihre Präferenz für eine intergouvernemental ausgerichtete "Unionsmethode". Dies trug dazu bei, den Einfluss des Allgemeinen Rats und damit der Außenministerien zu verringern und die Entscheidungen stärker auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs zu verlagern.

Zu den Akteuren, welche die Handlungsspielräume der Regierung innenpolitisch einengten, gehörte zunächst das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Es hat in seiner Rechtssprechung der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU und damit der europapolitischen Gestaltungsfreiheit der Legislative und Exekutive seit dem ersten Maastricht-Urteil im Jahre 1993 immer wieder Beschränkungen auferlegt; dies beeinflusste erheblich die Entscheidungsprozesse in Berlin zur Verschuldungskrise. Das Gericht hat auch mehrfach den Bundestag an seine Verantwortung erinnert und so zu seiner aktiveren Mitwirkung an den europapolitischen Entscheidungsprozessen beigetragen. Im Verlauf der Krise gewann - nicht zuletzt aufgrund der Mahnungen des BVerfG - auch der Bundestag an Gewicht und Einfluss. Auf den ersten Blick konnte die Bundesregierung zwar mit einer breiten Mehrheit für ihre Politik der Vertiefung der EU zur Fiskalunion rechnen, aber die Unterstützung in den Koalitionsfraktionen war durchaus fragil. In den Fraktionen der Regierungsparteien formierte sich ab Mai 2010 Widerstand gegen die - wenngleich restriktive und an harte Auflagen gebundene - Politik der Finanzhilfen für Krisenländer. Zwar gelang es der Bundeskanzlerin, sie auf ihre Linie einzuschwören, und in der FDP scheiterte ein parteiinterner Vorstoß, die Parteiführung über einen Mitgliederentscheid gegen weitere Hilfsmaßnahmen zu positionieren. Dennoch wurde deutlich, dass in beiden Parteien erhebliche Widerstände gegen die eingeschlagene Politik bestanden.

Auf der internationalen Ebene waren die Entscheidungsprozesse in der Verschuldungskrise zunächst breit aufgestellt. Auf Insistieren der Bundeskanzlerin wurde der IWF in die Verhandlungen um das erste Rettungspaket für Griechenland einbezogen, um den Auflagen für Griechenland größeres Gewicht zu verleihen und die Basis der Rettungsaktion möglichst umfassend anzulegen. Für die in den Sog der Krise hineingezogenen Euroländer Irland und Portugal wurden entsprechende Vereinbarungen getroffen. Mit Rücksicht auf die hohen Verbindlichkeiten europäischer Banken in den betroffenen Ländern, die von der ersten Welle der Finanzmarktkrise im September 2008 bereits angeschlagen waren, wurde ein Schuldenschnitt ausgeschlossen. Stattdessen setzte man auf drastische Haushaltssanierungsprogramme in den betroffenen Ländern, die scharfe Einbrüche der Wirtschaftsaktivität zur Folge hatten. Allerdings unterstützte nunmehr die Europäische Zentralbank (EZB) die betroffenen Staaten durch umfangreiche Aufkäufe von Staatsanleihen.

Im Kern ging es in den Verhandlungen um eine Mischung aus finanzieller Solidarität der Länder mit Außenhandelsüberschüssen und international kompetitiven Volkswirtschaften (wie Deutschland, die Niederlande oder die skandinavischen Staaten) und Reformauflagen für diejenigen Länder, die im Verlauf der ersten Dekade einer gemeinsamen Währung an Wettbewerbsfähigkeit verloren hatten und nunmehr vor hohen Schuldenbergen standen (wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien). Frankreich befand sich in einer Mittelposition zwischen den beiden Lagern. Dennoch - oder gerade deshalb - verengten sich die Entscheidungsprozesse auf internationaler Ebene zunehmend auf die französische und deutsche Regierung. Dabei kam es zu wechselseitigen Anpassungen. In der Substanz setzten sich die deutschen Positionen durch, die finanzielle Solidarität strikt zu begrenzen und auf eine möglichst breite Basis zu stellen, um so die geld- und fiskalpolitische Solidität der Eurozone zu erhalten und wiederherzustellen. Dagegen konnten sich die französischen Vorstellungen zur politischen Steuerung der Krisenbewältigung in zweifacher Hinsicht durchsetzen: Berlin akzeptierte nunmehr nicht nur die Notwendigkeit eines gouvernement économique, also einer stärkeren politischen Lenkung der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf europäischer Ebene, sondern auch, dass diese Lenkung nicht supranational über die bestehenden europäischen Institutionen, sondern intergouvernemental durch enge Koordinierung zwischen den Regierungen vorgenommen werden sollte.

Die wichtigsten Weichenstellungen auf diesem Wege - wie die Bemühungen um eine Entschuldung Griechenlands durch partiellen Schuldenerlass der privaten Gläubiger, die Entscheidung für eine Vertiefung der EU im Bereich der Haushalts- und Finanzpolitik (Fiskalunion) auf dem Wege der Vertragsänderung und schließlich, im Oktober 2011, die Bereitschaft, die Eurozone mit neuen, eigenen politischen Lenkungsstrukturen auszustatten - wurden von Frankreich und Deutschland bilateral vorbereitet und durchgesetzt. Die europäische Verhandlungsebene verlor dabei an Gewicht; erkennbar war dies an der Marginalisierung des Einflusses von Jean-Claude Juncker, dem luxemburgischen Ministerpräsidenten und Finanzminister und in dieser Eigenschaft Vorsitzender der Eurogruppe (etwa im Hinblick auf die Diskussionen um Eurobonds), von Jean-Claude Trichet, dem Präsidenten der EZB (im Hinblick auf die Beteiligung privater Gläubiger am Schuldenschnitt für Griechenland) oder vom Präsidenten des EU-Rats Herman van Rompuy (im Hinblick auf die Vertragsänderung). Dem Anschein nach dienten die EU-Gipfel primär der Ratifizierung, aber kaum noch der inhaltlichen Ausgestaltung der Vereinbarungen. Auch auf der internationalen Ebene lässt sich also im Verlauf der Krise eine Konzentration der Entscheidungskompetenzen an der Spitze der Entscheidungshierarchien erkennen: In den Staaten sind es die Staats- und Regierungschefs, die den entscheidenden Einfluss auf den Gang der Geschehnisse ausübten, auf internationaler Ebene die beiden größten und wirtschaftlich leistungsfähigsten Mitgliedsstaaten der EU, Deutschland und Frankreich. Die anderen Mitgliedsländer, aber auch die europäischen Institutionen (EU-Kommission, EU-Parlament, EZB) hatten die Entscheidungen umzusetzen, ihr eigener Einfluss war aber inhaltlich eng begrenzt.

Elemente der außen- und wirtschaftspolitischen Kultur

Die Strategie Berlins in der europäischen Verschuldungskrise lässt sich ohne Rückgriff auf Elemente der außen- und wirtschaftspolitischen Kultur Deutschlands kaum verstehen. Dabei spielt zum einen die proeuropäische Nachkriegstradition der deutschen Außenpolitik eine wichtige Rolle. Diese war in den vergangenen Jahren zwar deutlich erkennbaren Erosions- und Veränderungsprozessen ausgesetzt, gewann aber im Verlauf der Krise in dem Maße wieder an Gewicht, in dem sich die Alternativlosigkeit gemeinsamen europäischen Handelns deutlicher herausstellte. Dementsprechend fand der eingeschlagene Kurs der Bundesregierung letztlich breite politische Zustimmung.

Für die spezifische inhaltliche Ausrichtung der neuen Europapolitik spielen zwei Einstellungselemente der deutschen Wirtschaftskultur eine besonders gewichtige Rolle: die Furcht vor Inflation und, damit eng verknüpft, eine tiefe Abneigung gegen Schulden und unsolides Haushaltsgebaren. Eine offensichtliche Wurzel dieser Einstellung bilden die traumatischen Erfahrungen der deutschen Gesellschaft mit der Hyperinflation 1923, doch reichen ihre Ursprünge noch weiter in die Geschichte zurück. Das zweite Einstellungselement reflektiert die strukturelle Exportorientierung der deutschen Industrie. Es sieht Exportüberschüsse als Gradmesser wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Die Rollentheorie beschreibt dieses Einstellungselement und die daraus abgeleiteten Handlungsanleitungen mit dem Begriff des "Handelsstaats". Diese Einstellung ignoriert die unvermeidlichen finanziellen Folgen von Überschüssen in den Außenhandels- und Dienstleistungsbilanzen in Form von gegenläufigen Kapitalströmen: Deutsche Exportüberschüsse bedingen unabweislich entsprechende deutsche Kapitalexporte, die direkt oder indirekt an die Volkswirtschaften mit defizitären Handelsbilanzen fließen müssen. Es besteht damit ein direkter Zusammenhang zwischen den wachsenden deutschen Überschüssen im EU-Binnenhandel und der zunehmenden Verschuldung der europäischen Problemländer. Dass deutsche Banken in erheblichem Umfang Forderungen gegenüber den Problemländern aufzuweisen haben und dadurch erneut in Schieflagen geraten könnten, war vor diesem Hintergrund wenig überraschend, verengte die Handlungsspielräume der deutschen Politik aber weiter. Diese beiden Einstellungsmuster prägen auch die öffentliche Meinung in Deutschland zur Verschuldungskrise. Kennzeichnend ist dabei die Skepsis gegenüber finanziellen Unterstützungsleistungen, weil diese die deutsche Schuldenlast erhöhen und vor dem Hintergrund unsolider Haushaltspraktiken anderenorts tendenziell vergeudet würden.

Erhebliches Gewicht hatten in den Entscheidungsprozessen aber auch die wahrgenommenen finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Kosten und Risiken, die mit der Verschuldungskrise verbunden waren. Unmittelbar ging es dabei um direkte und indirekte (über die Verbindlichkeiten der EZB) Belastungen für den Bundeshaushalt, mittelbar um die Auswirkungen der Verschuldungskrise und des Krisenmanagements auf die Konjunkturentwicklung in den großen Absatzmärkten der deutschen Exportindustrie und damit letztlich auch auf die Binnenkonjunktur in Deutschland. In der Vergangenheit hatte die deutsche Wirtschaftsentwicklung ebenso wie diejenige in anderen Mitgliedsstaaten der Eurozone vom Euro profitiert; nun drohte dieser Zusammenhang ins Gegenteil zu kippen. Untersuchungen über die möglichen Kosten eines Auseinanderbrechens der Eurozone produzierten wirtschaftliche Horrorszenarien.

Was sind deutsche Interessen?

Ohne Zweifel ist die gegenwärtige Krise der europäischen Integration die schwerste in ihrer über 60-jährigen Geschichte. Auf der deutschen Politik lastet große Verantwortung für die Zukunft der EU. Dabei steht die eigentliche Herausforderung für Europa derzeit viel zu sehr im Schatten: Sie besteht darin, die EU als einflussreiche globale Macht zu etablieren. Dazu brauchte es eine effektive gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diese Bezeichnung tatsächlich verdient.

Um Europas Selbstbehauptung in den Turbulenzen der Globalisierung und seinen Beitrag zur Gestaltung einer tragfähigen internationalen Ordnung zu ermöglichen, muss sich Europa aber zunächst selbst konsolidieren. Hier engagiert sich die deutsche Europapolitik inzwischen nach anfänglichem Zögern umso energischer. Dabei prägen zwei grundlegende Interessenkalküle das Handeln der Bundesregierung: der europäische Imperativ und die Sorge um die Grenzen der deutschen Belastbarkeit. Der europäische Imperativ besagt, dass Deutschlands Sicherheit und Prosperität unauflöslich mit der Zukunft Europas verbunden sind. Die Konsolidierung der europäischen Integration in der jetzigen Krisensituation stellt deshalb ein existenzielles deutsches Interesse dar. Daraus folgt die Bereitschaft, durch finanzielle Beiträge praktische Solidarität zu üben und die Krisenländer zu unterstützen.

Diese Unterstützung muss freilich berechenbar und für Deutschland tragbar bleiben. Bei allem vordergründigen Selbstbewusstsein und aller wirtschaftlichen Stärke Deutschlands schwingt im europapolitischen Agieren Berlins eine Sorge mit, die bereits Konrad Adenauer, unter völlig anderen Umständen, folgendermaßen formulierte: "Es darf uns nichts zugemutet werden, was unsere finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigt. Daher werden wir zwar in der steuerlichen Beanspruchung des deutschen Volkes bis an die äußerste Grenze gehen müssen. Aber dann muss unter Berücksichtigung der ganzen finanziellen Situation geprüft werden, inwieweit wir noch leistungsfähig sind. Dabei muss beachtet werden, dass wir unsere wichtigsten sozialen Aufgaben weiter erfüllen können und müssen." Um dieser Sorge gerecht zu werden, drängte die Bundesregierung auf strukturelle Reformen nach deutschem Vorbild: solide Haushaltspolitik, Wahrung der Geldwertstabilität, Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Ein "europäisches Deutschland" bemüht sich so nach Kräften, ein "deutsches Europa" zu schaffen - was Thomas Mann noch als politische Alternativen ansah, verschmilzt nun in dieser neuen Gestalt Deutschlands in Europa.

Realistischerweise wird davon auszugehen sein, dass sich die Gesellschaften Europas auf Dauer mit einer Politik und mit Regierungen nicht abfinden werden, die außer Sparmaßnahmen keine Zukunftsperspektiven anzubieten haben und nach immer neuen finanziellen Leistungen im Namen der europäischen Solidarität rufen, um Zinszahlungen und Tilgungen der überschuldeten Gesellschaften zu ermöglichen. Demokratie und europäische Integration stehen deshalb derzeit in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht gar in direktem Widerspruch zueinander. Zu erwarten sind in vielen Mitgliedsstaaten grundlegende und langwierige politische Auseinandersetzungen um die Zukunft des eigenen Landes in Europa. Dabei dürfte es darum gehen, welche Formen, welchen Umfang und welche Reichweite die Solidarität in Europa annehmen soll, aber auch um die Bereitschaft, die eigenen Gesellschaften nachhaltig zu verändern und dabei tief verwurzelte Strukturen zur Disposition zu stellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Erik Jones, Merkel's Folly, in: Survival, 52 (2010) 3, S. 21.

  2. William E. Paterson, The reluctant hegemon?, in: Journal of Common Market Studies, 49 (2011), S. 57-75.

  3. Hans Kundnani, Germany as a Geo-economic power, in: The Washington Quarterly, 34 (2011) 3, S. 31-45.

  4. Vgl. Robert D. Putnam, Diplomacy and Domestic Politics, in: International Organization, 42 (1988) 3, S. 427-460.

  5. Vgl. Andreas Rinke, Eingreifen oder nicht?, in: Internationale Politik (IP), (2011) 4, S. 44-52.

  6. Hierzu zählt etwa die im Koalitionsvertrag auf Drängen der FDP verankerte Forderung nach einem Abzug aller verbleibenden Nuklearwaffen aus Deutschland. Vgl. Guido Westerwelle, Neue Chancen für Frieden und Freiheit, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, (2009) 3, S. 295-304.

  7. Die Sorge, eine Zustimmung zur Resolution würde Deutschland auch zur Mitwirkung an der Nato-Militärintervention verpflichten, spielte offenbar eine große Rolle. Vgl. A. Rinke (Anm. 5), S. 52.

  8. Berthold Kohler, Gebrannte Kinder, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 19.3.2011. Vgl. auch: Hans Stark, La politique internationale de l'Allemagne, Villeneuve d'Ascq 2011, S. 287ff.

  9. Vgl. Hanns W. Maull, Deutsche Außenpolitik: Orientierungslos, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, (2011) 1, S. 93-114.

  10. Vgl. H. Stark (Anm. 8), S. 252; Ronja Kempin/Nicolai von Ondarza, Die GSVP vor der Erosion?, SWP-Aktuell, Nr. 25, 2011; Louis-Marie Clouet/Andreas Marchetti, Ungewisse Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, DGAP-Analyse Frankreich, Nr. 6, 2011.

  11. Vgl. Simon Bulmer/William E. Paterson, Germany and the European Union: from "tamed power" to normalized power?, in: International Affairs, 86 (2010) 5, S. 1051-1073; Wolfgang Ischinger, Where is Germany Heading?, Vortrag auf dem 34. Regionaltreffen der Trilateral Commission (Europe) in Bukarest, 16.10.2010.

  12. Vgl. Sebastian Harnisch, IP und Verfassung, Baden-Baden 2006.

  13. Vgl. Andreas Rinke, Europäische Sternstunde, in: IP, (2012) 1, S. 9.

  14. Vgl. H. Stark (Anm. 8), S. 255.

  15. Vgl. ebd., S. 254f.

  16. Vgl. Peter Becker/Andreas Maurer, Deutsche Integrationsbremsen, SWP-Aktuell, Nr. 41, 2009. Auch im Zusammenhang mit den Finanzhilfen für Griechenland wurde das Gericht angerufen. Es ließ aber mit seiner Entscheidung vom 7. September 2011 die Schritte der Bundesregierung unbeanstandet. Vgl. Urteil des Zweiten Senats, online: www.bundesverfassungsgericht.de/
    entscheidungen/rs20110907
    _2bvr098710.html (29.1.2012).

  17. Vgl. A. Rinke (Anm. 5), S. 14f.

  18. Vgl. Gerda Hasselfeldt, Mehr Deutschland in Europa, in: FAZ vom 31.12.2011.

  19. Vgl. John Plender, How Goethe's masterpiece is shaping Europe, in: Financial Times (FT) vom 30.12.2011.

  20. Vgl. Richard Rosecrance, The Rise of the Trading State: Commerce and Conquest in the Modern World, New York 1986; Michael Staack, Großmacht oder Handelsstaat?, in: APuZ, (1998) 12, S. 14-24.

  21. Vgl. Tyler Durden, UBS Quantifies Costs of Europe Breakup, in: Free Republic vom 5.9.2011.

  22. Ansprache Konrad Adenauers vor dem Vorstand der CDU Rheinland und CDU Westfalen in Bonn, 10.2.1951, online: www.konrad-adenauer.de/index.php?msg=9710 (2.1.2012). Ich danke Rachel Folz für diesen Hinweis.

Dr. phil., geb. 1947; Lehrstuhlinhaber für Außenpolitik und Internationale Beziehungen an der Universität Trier, FB III, 54286 Trier. E-Mail Link: maull@uni-trier.de