Einleitung
Die Weltpolitik befindet sich im Umbruch. Während des vergangenen Vierteljahrhunderts durchlebte sie tief greifende strukturelle Veränderungen, die noch nicht zur Herausbildung eines neuen und dauerhaften Systems internationaler Beziehungen geführt haben. Am Beginn dieser Umgestaltung stand das stabile, wenn auch starre Korsett des Kalten Kriegs, als das nukleare Patt zweier Supermächte disziplinierend wirkte. Beide organisierten ein eigenes "Lager" - den Warschauer Pakt und die Nato - und prägten durch die Unterstützung von Klientelregimen in der "Dritten Welt" auch die Nord-Süd- und Süd-Süd-Beziehungen. Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Sowjetunion kam es zu einem "unipolaren Augenblick" der Dominanz der USA im Weltsystem, der fast 20 Jahre die internationalen Beziehungen bestimmte. Sowohl innerhalb der westlichen Industrieländer als auch der Nord-Süd-Beziehungen wurden die USA zum unangefochtenen Hegemon, auch wenn dieser am 11. September 2001 symbolisch - nicht machtpolitisch - von einem nichtstaatlichen Akteur herausgefordert wurde. Das vergangene Jahrzehnt war von einer schleichenden Erosion der US-Dominanz gekennzeichnet, insbesondere seit 2003, als wichtige US-Verbündete trotz massiven Drängens seitens Washington ihre Beteiligung am Irak-Krieg verweigerten.
Heute durchläuft das internationale System einen Prozess der Pluralisierung von Machtzentren, auch wenn die USA weiterhin der mit Abstand wichtigste Einzelakteur bleiben. Zugleich lässt sich ein gradueller Kontrollverlust der Großmächte über die Rahmenbedingungen internationaler Politik konstatieren. Die Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte werden von unterschiedlichen Faktoren verursacht, die sowohl für die relative Schwächung Washingtons als auch für andere Aspekte der Machtverschiebung verantwortlich sind und deshalb bei der Formulierung deutscher Außenpolitik berücksichtigt werden sollten.
Überdehnung US-amerikanischer Macht
Zum einen wird die Dominanzposition Washingtons im internationalen System von wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in den USA selbst untergraben. Die globale Führungsrolle scheint das Land zunehmend finanziell zu überfordern. Die USA deuteten in der Vergangenheit ihre Machtposition oft in militärischen Kategorien. Bis zur Hälfte der weltweiten Militärausgaben wurden allein von den USA getätigt. Dadurch entstand einerseits eine überwältigende militärische Überlegenheit Washingtons im Vergleich zu allen anderen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (was das technologische Niveau, das Zerstörungspotenzial oder auch die Mobilität angeht); andererseits überforderte dies die wirtschaftlichen und innenpolitischen Möglichkeiten der USA, einen solchen Militärhaushalt dauerhaft zu finanzieren. Die massive Aufrüstung erfolgt seit einigen Jahrzehnten vor allem durch Verschuldung der US-Regierung und erweist sich nun als nicht länger tragbar.
Dabei handelt es sich allerdings nicht allein um ein ökonomisches Problem, nämlich einen Mangel an wirtschaftlicher Dynamik im Vergleich zum ehrgeizigen Rüstungsniveau sowie zu geringe Staatseinnahmen im Vergleich zur Rüstungsfinanzierung, sondern auch um ein politisches: Innenpolitisch sind die nötigen höheren Steuern zum Abbau der Überschuldung des Staats nicht durchzusetzen, und das auf checks and balances angelegte politische System der USA funktioniert nur bei einem politischen Konsens der zentralen politischen Akteure - der aber seit Längerem fehlt. Weder der Präsident noch der Kongress können ohne die jeweils andere Seite weitgehende Reformen durchsetzen. Das führt zu einer chronischen politischen Lähmung, welche den Abbau der Überschuldung verhindert. So schwindet die Möglichkeit der USA, ihre globale Dominanz dauerhaft militärisch zu fundieren, während zugleich ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung relativ zu anderen Akteuren abnimmt.
2013 wird der US-Verteidigungshaushalt zum ersten Mal seit 1998 - wenn auch geringfügig - sinken; für das nächste Jahrzehnt sind darüber hinaus Einsparungen von 487 Milliarden US-Dollar vorgesehen.
Aufstieg neuer Mächte
Ein weiterer Faktor ist, dass es aufgrund weltwirtschaftlicher Entwicklungen zum Aufstieg neuer Mächte kam, die sich nicht bedingungslos einer US-amerikanischen Führungsrolle unterordnen wollen. Die imposanten Wachstumsraten Chinas im vergangenen Jahrzehnt (bis zu 14 Prozent jährlich), aber auch zunehmend die Indiens, das 2010 sogar schneller wuchs als China (10,4 statt 10,3 Prozent),
Neben China sind auch andere Länder dabei, zunehmend eine selbstständige und selbstbewusste Außenpolitik zu verfolgen, die aus dem Schatten Washingtons heraustritt: Neben Indien sind hier etwa Brasilien, Südafrika oder die Türkei zu nennen. Sie vertreten in ihren Regionen, aber auch darüber hinaus (etwa in Bezug auf Iran oder Libyen) eigenständige Positionen, die zum Teil der Politik Washingtons (oder der anderer westlicher Industrieländer) entgegenlaufen. Selbst die in der Vergangenheit oftmals "gelähmte" Arabische Liga oder Kleinstaaten wie Katar können inzwischen punktuell Initiativen entwickeln, die ihnen bis vor Kurzem nicht zuzutrauen waren.
Die relative (wenn auch nicht absolute) Schwächung der letzten verbliebenen Supermacht trifft also auf eine Regionalisierung der Politik aufgrund des Aufstiegs regionaler Großmächte. Es ist zu erwarten, dass es in diesem Zusammenhang zu Friktionen kommen wird: Das Hineinwachsen neuer regionaler und später globaler Mächte in ungewohnte Führungsrollen muss zu Erschütterungen der regionalen Gleichgewichte führen. Sie wird bei manchen ihrer Nachbarn auch auf Widerstand stoßen (etwa bei Pakistan in Bezug auf Indien). Auch wäre es erstaunlich, wenn ein solches Hineinwachsen in eine neue Position der Stärke immer von allen aufstrebenden Mächten verantwortungsvoll und zurückhaltend bewältigt würde. Damit besteht die Gefahr, dass neue Großmächte zumindest in einer Übergangsphase dazu neigen könnten, ihre noch ungewohnte Stärke zu unbefangen oder hemmungslos einzusetzen, was zu entsprechenden Gegenreaktionen näherer oder fernerer Akteure führen müsste.
Darüber hinaus darf unterstellt werden, dass auch die USA ihre neue Rolle als stärkste, aber nicht mehr dominierende Macht erst werden lernen müssen. Solche Lernprozesse verlaufen selten ohne Rückschläge und Widersprüche - ein punktueller Rückfall in imperiale Abenteuer und Konflikte mit den neuen Großmächten sind Szenarien, die nicht ausgeschlossen werden können. Für Europa wird es darauf ankommen, sich in solche Politiken nicht mehr als unvermeidbar hineinziehen zu lassen, ohne die weiterhin wichtigen Beziehungen zu Washington zu sehr zu belasten.
Globalisierung
Eine weitere Rahmenbedingung der internationalen Politik liegt in der fortschreitenden wirtschaftlichen und technologischen Globalisierung. Sie bewirkt die Verschränkung wirtschaftlicher Interessen wie ein gemeinsames Bedürfnis nach verlässlichen und stabilen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wenn die Immobilien- und Bankenkrisen in den USA vor einigen Jahren oder die gegenwärtige Euro- und Schuldenkrise in der EU den Wohlstand auch in entfernten, aber wirtschaftlich verflochtenen Ländern massiv bedrohen (etwa die indisch-chinesische Wirtschaftsdynamik und die Wachstumsaussichten in anderen Teilen der Welt), dann entstehen Anreize weltwirtschaftlicher Kooperation.
Umgekehrt können lokale und weit entfernte Entwicklungen aber auch negative Auswirkungen auf Dritte und ganze Regionen zeitigen: Der "Energiehunger" Chinas und Indiens beispielsweise führt zu einem weltweit höheren Preisniveau bei Erdöl und Erdgas (und damit geringeren Wachstumsraten anderswo). Aufgrund der Verknappung von Energieressourcen wird auch die Konkurrenz um diese größer - und führt zu einem höheren Interesse an einer Kontrolle der ressourcenreichen Regionen (etwa am Persischen Golf). In einem konkreten Fall bewirkt dies die Untergrabung des europäisch-amerikanischen Ölboykotts gegenüber Iran durch die chinesische Bereitschaft, gegebenenfalls als Abnehmer iranischen Erdöls einzuspringen.
Mit anderen Worten: Die weltwirtschaftliche Integration und Globalisierung dürften mittelfristig einerseits zur Zunahme strategischer Gemeinschaftsinteressen in weltwirtschaftlichen Fragen führen (wie heute bereits dem gemeinsamen Wunsch, eine Verschärfung der Finanzkrise in der EU zu vermeiden), aber zugleich substrategische und taktische Interessengegensätze verschärfen. Die weitere Integration des Weltmarkts - beziehungsweise globaler Märkte in unterschiedlichen Sektoren - wird mittelfristig also zum gemeinsamen Bedürfnis nach deren Funktionsfähigkeit und der allgemeinen Einhaltung der jeweiligen Regeln und Regelungssysteme führen, zugleich aber einen Rahmen des Austrags von neuen Interessengegensätzen darstellen. Hier wird die internationale Politik gefordert sein, diese auszugleichen.
Scheitern in Regionalkonflikten
Der vierte Aspekt der Schwächung bisheriger Machtzentren besteht in der immer offenkundiger werdenden Unfähigkeit der Großmächte, ihre Politikziele auf zivilem oder militärischem Wege durchzusetzen, soweit sie sich auf die positive Gestaltung der inneren Verhältnisse selbst mäßig großer anderer Länder beziehen.
Der Triumphalismus nach Ende des Kalten Kriegs - bis hin zu Fantasien eines "Endes der Geschichte" - führte insbesondere bei der verbliebenen Supermacht zu der Vorstellung, nach der Auflösung der Sowjetunion die Welt in eine "Neue Weltordnung" umstrukturieren und letzte Regionen der Widerspenstigkeit oder Unordnung unter Kontrolle bringen zu müssen. Somalia, Bosnien, Kosovo, Afghanistan, der Irak und einige Länder Westafrikas demonstrierten, dass dies jenseits der Fähigkeiten selbst der unipolaren Hegemoniemacht lag. Das Zögern, Länder wie Iran, Syrien oder Nordkorea ebenfalls politisch zu reorientieren, deutet auf einen, wenn auch zögerlichen und unvollkommenen, Lernprozess. Der möglicherweise bevorstehende Bürgerkrieg der Milizen in Libyen könnte diesen noch einmal forcieren. Inzwischen gelingt es selbst unter dem Einsatz beträchtlicher militärischer Macht nicht mehr, Länder wie Somalia, Afghanistan, den Irak oder Libyen nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten.
Zwar hat sich aufgrund des überwältigenden Zerstörungspotenzials des US-Militärs ein Sturz von Diktaturen durch Krieg als eine Sache nur weniger Wochen oder Monate erwiesen (Afghanistan, Irak, Libyen) - aber die positive Neugestaltung solch komplexer Länder zur nachhaltigen Durchsetzung der eigenen Politikziele erwies sich als schwierig oder unmöglich. Dieser Tatbestand belegt nicht nur den begrenzten Nutzen militärischen Zwangs zu zivilen und gestaltenden Zwecken, sondern auch einen größeren Spielraum kleiner oder mittelgroßer Länder als die überwältigende Überlegenheit der Großmächte eigentlich vermuten ließe. So wie früher der Vietnam-Krieg und der sowjetische Afghanistan-Krieg zu Symbolen eines politischen Scheiterns der damaligen Supermächte wurden, demonstrierten die Erfahrungen der USA und ihrer Verbündeten in Somalia, Afghanistan und dem Irak ebenfalls die Grenzen der Macht der dominierenden Länder und Länderkoalitionen. Dies bleibt weder in den Ländern des Südens noch denen des Nordens unbeachtet.
Rolle nichtstaatlicher Akteure und Strukturen
Inzwischen besteht ein breiter Konsens, zivilgesellschaftlichen und nichtstaatlichen Akteuren in den internationalen Beziehungen eine wichtige Rolle zuzugestehen. Dies gilt, wenn auch oft diskret, für die großen privatwirtschaftlichen oder staatlichen (Russland, China) Wirtschaftsunternehmen, ihre Interessen und Vernetzung. Kaum ein wichtiger außenpolitischer Staats- oder Regierungsbesuch kommt noch ohne eine eindrucksvolle Begleitung durch Wirtschaftsvertreter aus, und die Förderung privatwirtschaftlicher Interessen (oft Exportinteressen, aber auch zur Rohstoff- und Energiesicherung) gehört zum Standardrepertoire der Außenpolitik.
Daneben haben sich die Zivilgesellschaft und die Zivilgesellschaftsförderung als Elemente internationaler Politik fest etabliert, auch wenn deren Einfluss oft überschätzt wird. Nichtstaatliche Akteure sind aber zunehmend auch als Störenfriede oder Gegner in den Blick geraten. Dies gilt lokal (etwa bei Warlords in Somalia oder Afghanistan), aber in Bezug auf den internationalen Terrorismus auch global. Im letzteren Fall zeichnen sich in der internationalen Politik inzwischen Akzentverschiebungen ab. Nach den katastrophalen Terroranschlägen des 11. September 2001 wurden der Terrorismus im Allgemeinen und die Terrororganisation Al Qaida im Besonderen zum Zentralproblem der internationalen Politik erklärt, und ihnen wurde ein strategischer Charakter zugewiesen.
Ausdruck dieser Bewertung war die Formulierung des US-Präsidenten George W. Bush, einen "Krieg" gegen den Terrorismus führen zu wollen, der in seiner Bedeutung immer wieder mit dem Kalten Krieg gegen die Sowjetunion verglichen wurde. So sehr dies innenpolitisch und nach den dramatischen Fernsehbildern vom Einsturz der Zwillingstürme in New York 2001 auch psychologisch verständlich war, so wenig war dies sachlich angebracht. Die damals weltweit etwa 3000 bis 4000 Al-Qaida-Kämpfer
Dies bedeutet nicht, dass Al Qaida nicht weiter in der Lage wäre, blutige Anschläge durchzuführen, wenn ihr seit dem 11. September auch kein vergleichbar furchtbares Verbrechen gelang. Aber als globale strategische Bedrohung kam Al Qaida bereits lange vor dem Tod ihres Anführers Osama bin Laden im Mai 2011 nicht in Betracht. Die US-Regierung unter Barack Obama hat behutsam versucht, daraus Schlüsse zu ziehen. Auch wenn es innenpolitisch unklug wäre, im Umgang mit dem Terrorismus als leichtfertig zu erscheinen, so wurde doch rhetorisch abgerüstet: Von einem "Krieg gegen den Terrorismus" ist schon lange nicht mehr die Rede.
Die Umwälzungen in der arabischen Welt ("Arabischer Frühling") haben nun dem islamisch geprägten Terrorismus seine wichtigste Grundlage entzogen: Anstelle westlicher Regierungen oder Gesellschaften werden die eigenen diktatorischen Regimes als größtes Problem begriffen. Die Veränderungen vor allem in Tunesien und Ägypten, aber vermutlich auch in Ländern wie Marokko und Jordanien weisen den Weg zu nichtterroristischen Formen des politischen Kampfs. Das politische Scheitern von Al Qaida und die Umbrüche im Rahmen des "Arabischen Frühlings" werden den politischen Islam ("Islamismus") insgesamt stärker in die Mitte ihrer Gesellschaften führen und in die Richtung einer "türkischen" Entwicklung drängen. (In der Türkei konnte die islamistische Bewegung in das politische System integriert werden; seit 2002 regiert die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP.) Auch dadurch entstehen der Außenpolitik neue Spielräume, die es zu nutzen gilt.
Anpassung an die neuen Rahmenbedingungen
Vor diesen sehr unterschiedlichen Hintergründen muss die im Januar 2012 veröffentlichte Militär- und Sicherheitsstrategie der US-Regierung begriffen werden.
Insgesamt ist zu erwarten, dass die USA ihre militärische Präsenz im pazifischen Raum mäßig ausbauen werden, während sie zwischen dem östlichen Mittelmeer, dem Persischen Golf und Zentralasien etwas ausgedünnt und auf indirektere Art einsatzfähig gehalten wird. Die Pläne zur Verwendung eines großen "Mutterschiffs" im Persischen Golf als Einsatzbasis gegen Iran oder die verstärkten Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien und in die Vereinigten Arabischen Emirate sind Beispiele dafür. Die Rolle Europas in der US-amerikanischen Globalstrategie dürfte trotz rhetorischer Versuche einer Relativierung im Vergleich zu anderen Regionen weiterhin abnehmen.
Diese Vorstellungen signalisieren einen ersten Schritt in Richtung einer Anpassung der US-Strategie an die neuen internationalen Bedingungen und die enger werdenden eigenen Möglichkeiten. Sie reflektieren zugleich die skizzierten Veränderungen der internationalen Rahmenbedingungen. Auch wenn im gegenwärtigen US-amerikanischen Vorwahlkampf die Mehrheit der Republikanischen Kandidaten eher trotzig auf einer weiteren Aufrüstung zur Sicherung der US-Dominanz beharrt, so wird dies kaum gelingen: Wollen die USA angesichts ihrer fiskalpolitischen Probleme und der Pluralisierung des internationalen Systems ihre Position nicht zusätzlich schwächen, wird ihnen kaum eine Alternative zur schrittweisen Rückführung der militärischen Überrüstung, einer Konzentration auf die Rückgewinnung wirtschaftlicher Dynamik (mit Investitionen in die eigene Infrastruktur und das Bildungswesen) und der Intensivierung der Zusammenarbeit mit regionalen Partnern in Asien, Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten und Europa bleiben.
Ein solcher mittelfristig zu erwartender, selektiver Multilateralismus wird allerdings nicht wie während der Phase der Unipolarität funktionieren,
Schlussfolgerungen für europäische Außenpolitik
Aus europäischer Perspektive besteht ebenfalls die Notwendigkeit, sich auf die neuen internationalen Begebenheiten einzustellen, allerdings aus einer anderen Lage heraus. Von einer europäischen Dominanz des internationalen Systems kann bereits seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr die Rede sein; ihre "Reste" wurden nach dem Zweiten Weltkrieg liquidiert. Deshalb werden die europäischen Staaten und die EU weit weniger Schwierigkeiten haben, sich mit einer multipolaren Grundstruktur der internationalen Politik abzufinden. In gewissem Sinne kommt dies sogar ihren Interessen und ihrem Politikstil entgegen - der plurale Charakter europäischer Politik und die Unmöglichkeit einer europäischen Hegemonialpolitik über die direkte Nachbarschaft hinaus legen Europa eine kooperativ-multilaterale Politik nahe, insbesondere, da die europäische Mittelmacht eher an Außenwirtschaft denn Geopolitik interessiert ist und sein muss.
Darüber hinaus ist die EU in absehbarer Zeit nicht in der Verfassung zu einer wirksamen und aktiven Außenpolitik mit einem internationalen Gestaltungsanspruch - außer als Anhängsel der Politik Washingtons, was allerdings weniger wahrscheinlich wird. Die EU hat sich durch ihre letzten Erweiterungswellen (vor allem seit 2004) strukturell überfordert, ihre Organisationsform ist nicht mehr in der Lage, die internen Probleme erfolgreich zu lösen, geschweige denn, nach außen mit einem aktiven Machtanspruch aufzutreten. Sie ist bürokratisch tüchtig, aber noch keine Gestaltungskraft. Zwar wird es aus Gründen innenpolitischer Opportunität gelegentlich rhetorische Ansprüche zur regionalen oder globalen Gestaltung oder kurze Ausbrüche einer aktivistischen Politik einzelner Länder geben (wie im Falle der Libyen-Politik des französischen Präsidenten 2011), aber diese unterstreichen nur die strategisch eng begrenzte Politik der EU. Sie und ihre wichtigsten Mitgliedsländer sind im Kern zivile Mittelmächte, deren globale Rolle von der Kooperation mit anderen Mittel- und Großmächten abhängt. Deshalb dürfte die europäische Außenpolitik in Zukunft weiterhin eher regional und auf die Nachbarregionen angelegt sein, während die Außenwirtschaftspolitik global bleibt.
In diesem Zusammenhang drängt sich für die EU eine weiterhin aktive Ost- und Südosteuropapolitik auf, die zu Russland die kooperativen Beziehungen ausbaut, ohne zum Komplizen der autoritären Tendenzen zu werden. Eine aktive und behutsame Balkanpolitik wird wichtig bleiben - etwa in Bezug auf Kosovo, Albanien und Serbien, aber auch zu den EU-Mitgliedern Bulgarien und Rumänien. Dass Griechenland und die Türkei dabei eine dauerhaft wichtige Rolle spielen müssen, liegt auf der Hand.
Darüber hinaus wird die Entwicklung in Nordafrika und dem Nahen Osten noch längere Zeit die Aufmerksamkeit Europas erfordern. Den Chancen der politischen Öffnung stehen akute und drohende Bürgerkriege gegenüber; auch die in manchen Ländern begonnene Demokratisierung ist alles andere als gefestigt. Es stellt sich die komplexe Aufgabe, Hilfe beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus zu leisten, ohne sich über Gebühr in die einzelnen Länder einzumischen, und Stabilität zu fördern, ohne dabei fortbestehende autoritäre Strukturen zu begünstigen.
Schlussfolgerungen für deutsche Außenpolitik
Eine zugleich interessen- wie wertegeleitete Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland bedarf vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Umbrüche im internationalen System zuerst einer soliden Fundierung in einer funktionsfähigen und wirtschaftlich redynamisierten EU: Wenn die europäischen Länder im Konzert der Mächte eines zunehmend multipolaren internationalen Systems nicht schrittweise an den Rand gedrängt werden wollen, bedarf es einer handlungsfähigen und wirtschaftlich dynamischen EU. In diesem Sinne basiert deutsche und europäische Außenpolitik in der Zukunft noch mehr auf innergesellschaftlichen Voraussetzungen, insbesondere einer vorbildlichen Infrastruktur und einer Wissenschaftskultur, die innovative Grundlagen- mit anwendungsorientierter Forschung verbindet.
Die verstärkte Nutzung militärischer oder im allgemeinen Sinne sicherheitspolitischer Mittel zur Einflussnahme oder zur Kompensation außenpolitischer Schwäche wäre demgegenüber weniger aussichtsreich oder gar kontraproduktiv: Wenn selbst die USA trotz weit höherer Anstrengungen und geringerer interner Reibungsverluste aufgrund eines einheitlichen Beschaffungswesens auf diesem Wege in eine Sackgasse geraten sind, sollte sie jenseits ihrer finanziellen Aussichtslosigkeit ohnehin gemieden werden. Wenn Deutschland und die EU nicht nur die aktuelle Krise überwinden, sondern darüber hinaus zum Taktgeber technologischer und sozialer Innovationen werden, dann gewänne eine deutsche (und europäische) Außenpolitik die Chance, den Abstieg in die Zweitklassigkeit zu vermeiden.
Dazu allerdings müssten die verfügbaren Mittel kompromisslos in die Infrastruktur, die Wissenschaft, Bildung und Ausbildung investiert werden, um verlorenen Boden gutzumachen - und nicht in den hoffnungslosen Versuch, den sonst unvermeidlichen Abstieg militärisch zu dämpfen. Wenn die Bundeswehr und andere europäische Streitkräfte zu diesem Zwecke weiter zurückgeschnitten werden müssen, ist dies angesichts der Tatsache vertretbar, dass die EU militärisch nicht bedroht ist und ferne Abenteuer out of area bisher wenig nützlich waren. Nur als Innovationsmacht könnte es gelingen, zu einem der zentralen Pole des zukünftigen multilateralen Systems internationaler Politik zu werden - und auf dieser Basis Kooperationsgeflechte zu den anderen Polen aufzubauen, zu vertiefen und zu institutionalisieren.
Solange die Organisationsstrukturen der Vereinten Nationen nicht reformiert sind - und hier bietet sich aktuell wenig Grund zum Optimismus -, können diese nur ein Netzwerk neben anderen sein. Daneben bieten sich auch ASEAN (Verband Südostasiatischer Nationen), die Arabische Liga und andere Regionalinstitutionen an. Aber auch Problemlösungsallianzen (wie etwa im Bereich der Energie- oder Klimapolitik, der weltwirtschaftlichen Regulierung, der grenzüberschreitenden Kriminalität) mit einzelnen relevanten Partnern und formellen oder informellen Koalitionen der Zukunftsorientierten bieten sich an. Soft power ist zwar kein Allheilmittel, aber für Europa der einzige Ansatz, die globale Zukunft mitzugestalten - nicht im Sinne überkommener und nicht restaurierbarer Dominanzvorstellungen, sondern als einflussreiche und gut vernetzte Mittelmacht.