Einleitung
Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz, dass sich die Welt derzeit rasant verändert und man seit Beginn des neuen Jahrtausends eine dramatische Verschiebung des globalen Machtgefüges von West nach Ost beobachten kann. Außenpolitisch scheinen diese Veränderungen dem Zeitraum zwischen den Jahren 1900 und 1914 zu ähneln, der sämtliche Machtverschiebungen und Bruchlinien des 20. Jahrhunderts schon in sich trug, bevor sich diese als geschichtsmächtige Kräfte einen konvulsiven Ausbruch suchten: den zweiten 30-jährigen Krieg Europas.
Man könnte sagen, dass die "Berliner Republik", die zweite deutsche Republik seit Weimar, zwar verfassungsrechtlich in der Kontinuität der "Bonner Republik" steht, aber - im Hinblick auf die Außenpolitik - als eine "dritte deutsche Republik" vielleicht neue Wege sucht.
Im Vakuum der Transition
Die offizielle außenpolitische Rhetorik bleibt indes von Bekenntnissen zur europäischen Integration und den transatlantischen Beziehungen geprägt, die allerdings an Glaubwürdigkeit verloren haben. Deutschland verhandelt offensichtlich sein Verhältnis zwischen West und Ost, zwischen Europa und der "großen Welt" neu. Eine neue Generation wächst gleichsam in eine außenpolitische Beliebigkeit hinein, in der nicht mehr erkennbar ist, wofür Deutschland steht - und an wessen Seite. Die Enthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im März 2011, an der Seite Russlands und Chinas, sowie seine Nichtbeteiligung am "westlichen" Libyen-Einsatz waren die sichtbarsten Zeichen dieses außenpolitischen Kulturbruchs.
Das Ergebnis ist eine Strategielosigkeit deutscher Außenpolitik, die im Ausland für Nervosität, Unverständnis und entsprechende Vorwürfe sorgte
"Der lange Weg nach Westen"
"Der lange Weg nach Westen" ist der Titel eines Standardwerks zur deutschen Außenpolitik von Heinrich August Winkler. In zwei Bänden wird ausführlich die Langatmigkeit (und teilweise Rückständigkeit) eines historischen Prozesses beschrieben, durch den Deutschland über Sonderwege und die bekannten, tragischen Verirrungen im vergangenen Jahrhundert schließlich im Westen ankam.
Ketzerisch gesprochen ist "der Osten" den Deutschen erst 1945 von den USA ausgetrieben worden. Konrad Adenauers (neue) Westbindung könnte man als ein kongeniales Konzept realitätsgetriebener und oktroyierter politischer Anpassung bezeichnen, die nur unter dem Druck der sicherheitspolitischen Bedrohung durch die Sowjetunion so gut funktionierte. Selbst das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch nach 1949 vor allem innerhalb der SPD ein dezidiert russlandfreundliches, links-nationales Milieu gegeben hat. Rudolf Augstein war dessen publizistischer Vertreter, Egon Bahr und Herbert Wehner waren dessen politische Köpfe. In den 1970er Jahren gelang es Willy Brandt, eine gleichsam autochthone, nach Osten blickende und junge (west-)europäische Traditionslinie bundesdeutscher Außenpolitik zusammenzuführen,
Wenn die "Berliner Republik" heute auf einen erweiterten Osten - über Moskau bis Peking - schielt, muss diese Zeitschiene berücksichtigt werden. Die Fortsetzung dieser historischen Schwerkraft gen Osten war, plakativ gesprochen, sowohl die "Sauna-Freundschaft" zwischen Boris Jelzin und Helmut Kohl als auch die "Gazprom-Connection" von Gerhard Schröder und Wladimir Putin. Dass sich die deutsche und die russische "Seele" auf wundersame Weise verstehen, würde heute in den Chatrooms der "Berliner Republik" niemand bestreiten. Auch wenn es lange eher leisetreterisch daherkam, gebietet doch die offizielle Rhetorik Kritik an der zunehmend autokratischen Entwicklung Russlands, den parteipolitischen Verzerrungen sowie einer souveränistisch konzipierten Außenpolitik, die allzu oft deutsche beziehungsweise europäische Interessen konterkariert.
Europa als Korsett?
Insofern gibt es im Westen prinzipiell nichts Neues, wenn sich Deutschland im Osten wieder wohlfühlt. Dies führte aber gerade mit Blick auf die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Russlandpolitik seit einigen Jahren zu mehr oder weniger verdeckten Spannungen; auch wenn sich dies gerade ändert, indem sich Berlin sichtbar von einer "deutschen Ostpolitik" distanziert und den Ton gegenüber Moskau verschärft.
Auch die energiepolitische Zusammenarbeit Deutschlands mit Russland wird im europäischen Ausland kritisch beäugt. Der Vorwurf lautet, dass diese die "Finnlandisierung Europas" (steigende Abhängigkeit Europas von Russland) beschleunigen könnte. So führte die North-Stream-Pipeline anfangs zu erheblichen Spannungen zwischen Deutschland und Polen sowie den baltischen Staaten. Deutschland hat diese Kritik aufgegriffen und umgesteuert. Im November 2011 verfassten die Außenminister Polens und Deutschlands einen gemeinsamen Brief zur europäischen Russlandpolitik als Vorlage für den EU-Russland-Gipfel im Dezember 2011. Dieser deutsch-polnische Schulterschluss mit Blick auf Russland kann als game change für die europäische Russlandpolitik bewertet werden, durch den die EU ihr strategisches Gewicht gegenüber Russland erhöht hat, während die russische Außenpolitik, bedingt durch wirtschaftliche Schwäche und innenpolitische Zersetzungen, derzeit in ein konzeptuelles Vakuum zu fallen scheint.
Die Dominanz Deutschlands bei den europäischen Beziehungen zu China ist vielen europäischen Partnerstaaten ebenfalls ein Dorn im Auge. 45 Prozent des EU-Handels mit China entfallen auf Deutschland. Das ist ein reelles Problem: Wie will man den "handelspolitischen Goliath" Deutschland beschneiden, wie ihm versagen, diese handelspolitischen Beziehungen im legitimen Eigeninteresse auszubauen? Was kann die EU in und mit China besser als Deutschland alleine? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten.
In Deutschland werden inzwischen außenpolitische Entwürfe mit "weniger Westen" ("weniger EU") und "mehr Osten" ("mehr BRIC-Staaten") beziehungsweise einem "nationalen, weltpolitischen Konzept", das der Brechung durch Integrationssysteme wie der Nato oder der EU nicht mehr bedarf, offen diskutiert. So schreibt etwa der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser: "Die erfolgreiche Vertretung deutscher Interessen auf dem Weltmarkt setzt aber zunächst eine eigene deutsche Vorstellung von Weltpolitik und globaler Bündnispolitik voraus. Darüber nachzudenken wird freilich in Deutschland nach wie vor als nicht korrekt angesehen, weil dabei immer noch die gescheiterten Ambitionen des Kaiserreichs und die ruch- und maßlosen Konzepte der dreißiger Jahre im Hintergrund stehen."
Solche Ansätze füttern die These eines Deutschlands, das sich vom Diktum einer "europäischen Zivilmacht" weg- und zu einer "neomerkantilen Wirtschaftsmacht" hinbewegt. Außenpolitik werde de facto durch Handelspolitik substituiert, auf ein normatives Konzept oder eine strategische Einbindung dieser Handelsbeziehungen werde verzichtet. Verblüffend ist an diesem Ansatz vor allem, dass die Abwesenheit einer Wertegemeinschaft mit den neuen dominanten Handelspartnern - China und Russland - nicht problematisiert wird und eine potenzielle politische oder auch wirtschaftliche Erpressung keine Gefahr zu sein scheint. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Kritiker inzwischen nicht nur auf ökonomische Parallelen zwischen China und Deutschland hinweisen (sie sind beide exportorientiert und vor allem im produzierenden Gewerbe stark), sondern beiden in einem Atemzug "Wirtschaftsnationalismus" oder "merkantilen Realismus" vorwerfen, der mit einer wertegebundenen Außenpolitik nichts mehr zu tun habe.
So scheint die für das 21. Jahrhundert spannende politische Frage zu sein: Lässt sich (Deutschlands) Außenpolitik jenseits eines Carl-Schmittschen Freund-Feind-Schemas konzipieren? Also jenseits eines Konzepts, in welchem es entweder überhaupt keine Feinde mehr gibt oder in welchem augenscheinlich nicht Feind sein darf, wer Feind werden könnte (oder wem man zumindest mit einem gesunden Misstrauen und einem Reflex zum Selbstschutz begegnen sollte). Es ist interessant, dass in diesen handelspolitischen Ansätzen im Sinne Abelshausers selten auf China als strategisches Risiko verwiesen wird - immerhin rüstet China derzeit militärisch massiv auf. Auch sollte zu denken geben, dass sowohl die Ideen von einer nationalistischen Wirtschaftsmacht im Sinne von Friedrich List (1789-1846) als auch der liberale Autoritarismus von Carl Schmitt derzeit in China besonderes Interesse finden und breit rezipiert werden.
Deutschland zwischen Baum und Borke
Demgegenüber mutet der neue außenpolitische Vorschlag von Thomas Kleine-Brockhoff und Hanns W. Maull eines west-östlichen "Sowohl-als-auch" (multilaterale Integrationssysteme plus aufgesattelter Bilateralismus) fast zaghaft an, berücksichtigt er doch sowohl die Ängste der europäischen Partnerstaaten sowie die Vorteile eines Integrationssystems wie der EU für Deutschland. Die auf diese Art und Weise geregelten und im Wesentlichen konfliktfreien Beziehungen zu allen seinen unmittelbaren Nachbarn sind ein unschätzbarer Vorteil für das Land in kontinentaleuropäischer Mittellage.
Denn das Problem national-weltpolitischer Ambitionen für Deutschland besteht darin, dass der ökonomisch nicht quantifizierbare Wert von guten nachbarschaftlichen Beziehungen nicht in die Gleichung eingerechnet wird. Es wird davon ausgegangen, dass die europäischen Nachbarn einem deutschen "Auf- und Ausbrechen" nach Osten und einem weltpolitischen Alleingang tatenlos zusehen würden. Tatsächlich aber muss berücksichtigt werden, dass ein auch nur partielles Wegbrechen der institutionalisierten Beziehungen Deutschlands zu seinen europäischen Nachbarn die "gute Nachbarschaft" belasten und wohl auch der deutsch-französische Motor nicht mehr wie geschmiert laufen würde.
Schon heute sinnen vielleicht schon manche EU-Staaten auf Konkurrenz beziehungsweise Gegenpolitiken: Der strategische Bruch im deutsch-französischen Tandem ist trotz der wirtschafts- und finanzpolitischen Kooperationsbereitschaft Frankreichs im Zusammenhang mit der Eurokrise vor allem am Libyen-Einsatz 2011, der Energiepolitik und der jüngst von Frankreich eingegangenen nuklearen Kooperation mit Großbritannien abzulesen - auch wenn momentan im Zuge der Vorbereitungen für den 50. Jahrestag des Elysee-Vertrags im Januar 2013 die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen wieder betont wird. Die polnische Regierung wiederum belässt es derweil bei Ermunterungen an Deutschland, das europäische Kerngeschäft nicht zu vergessen und sich erneut des Wertes Europas für Deutschland zu besinnen;
Das Gleichnis vom Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, ist bekannt. Wenn es zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts der Zweifrontenkrieg war, der Deutschland 1916 und 1942 zu Boden warf, so könnte es ein Jahrhundert später die altbekannte Tatsache werden, dass sich Deutschland zwischen Ost und West, zwischen Europa und der Welt, nicht entscheiden kann. Eine "Sowohl-als-auch"-Strategie birgt das Risiko, keinen der beiden Ansätze richtig zu verfolgen, keine Prioritäten zu setzen, sich zu überfordern und am Ende alleine zu stehen, sprich: den europäischen Spatz für das östliche Täubchen auf dem Dach deutscher Weltillusionen verloren zu haben. Die Idee einer deutschen (Export-)Insel der Seligen auf dem europäischen Festland, die mit den europäischen Partnern nur lose verbunden ist, dürfte nicht funktionieren.
Mit Verve zurück in den Westen?
Die Alternative lautet daher nicht Ost oder West. Vielmehr stehen sich folgende Ansätze gegenüber: Einerseits ein Deutschland, das fest verankert ist in einem neuartig integrierten Europa, mit einer transnationalen Demokratie nach innen
Die Versuchung, gar die Gefahr ist nicht, dass die zweite Option aktiv verfolgt wird, sondern dass Deutschland gleichsam durch die normative Kraft des Faktischen in sie hineinschlittert, weil die erste, die europäische Option, schwierig und vor allem zeitraubend ist. Zudem sind jüngere deutsche Eliten in Politik und Wirtschaft dem europäischen Projekt emotional weniger verbunden und gleichzeitig schwindet der Zuspruch in der Bevölkerung. Die Versuchung wird von der politischen Illusion genährt, Deutschland könne sich auf der Weltbühne alleine neben die USA und China stellen.
Indes, das politische Meta-Projekt einer "Verantwortungsmacht Europa" gegen eine kurzfristige handelspolitische Schwerkraft durchzusetzen, die Deutschland förmlich aus dem Binnenmarkt herausschraubt, ist trotzdem schwierig, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Eurokrise, welche die Vorbehalte gegen Europa und das, was es vermeintlich "kostet", nährt und die Einstellung der deutschen Öffentlichkeit zu Europa zum Negativen verändert hat.
Mit Blick auf die Energiepolitik hieße dies beispielsweise die Vollendung des Energiebinnenmarkts oder ein europäisches Stromverbundnetz; mit Blick auf die Sicherheitspolitik hieße dies eine konsequente Zusammenlegung von militärischen Fähigkeiten im Sinne eines Share-it-or-lose-it-Ansatzes;
Es ist letztlich immer noch das Konzept zwischenstaatlicher Konkurrenz, das - einem verstaubten Begriff von Souveränität verhaftet
Es wird Deutschland sein müssen, das eine geschlossene EU gen Osten und in die globale Welt führt, oder die EU dürfte innen- und außenpolitischen Desintegrations- und Fliehkräften unterliegen. Die eigentliche Frage ist, ob Deutschland dafür innenpolitisch noch die notwendige Energie und innerhalb Europas noch gleichgesinnte Partner hat. Vor allem Frankreich - jahrzehntelanger Vordenker großer europäischer Initiativen vom "Schuman-Plan" bis hin zur Währungsunion - fällt derzeit als "Designer" für große europäische Pläne ebenfalls aus. Dennoch: In der EU passiert nichts ohne, geschweige denn gegen Deutschland. Deutschland ist in der EU gleichsam der "erste Beweger". Darum sollte es Ziel deutscher Außenpolitik im 21. Jahrhundert sein, von einer weitgehend fremdbestimmten Westbindung im vergangenen Jahrhundert zu einer selbstbestimmten Westbindung zu gelangen. Nur so kann die EU als kraftvoller Wegbereiter für "moderne Weltinnenpolitik"