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Eine deutsche Versuchung: östliche Horizonte? | Deutsche Außenpolitik | bpb.de

Deutsche Außenpolitik Editorial Deutsche Außenpolitik: eine Gestaltungsmacht in der Kontinuitätsfalle - Essay Eine deutsche Versuchung: östliche Horizonte? Deutschland - Europas einzige Führungsmacht? Perspektiven für die deutsche Nato-Politik Perspektiven der internationalen Politik im 21. Jahrhundert. Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik Außenpolitische Entscheidungsprozesse in Krisenzeiten Prozesse fördern, nicht nur Produkte fordern: Demokratie und Menschenrechte in der deutschen Außenpolitik

Eine deutsche Versuchung: östliche Horizonte?

Ulrike Guérot

/ 18 Minuten zu lesen

Deutschland verhandelt sein Verhältnis zwischen Ost und West – zwischen Europa und der "großen Welt" – neu. Die vermeintliche Strategielosigkeit deutscher Außenpolitik sorgt im Ausland für Nervosität, Unverständnis und Vorwürfe und löst im Inland Strategiedebatten aus.

Einleitung

Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz, dass sich die Welt derzeit rasant verändert und man seit Beginn des neuen Jahrtausends eine dramatische Verschiebung des globalen Machtgefüges von West nach Ost beobachten kann. Außenpolitisch scheinen diese Veränderungen dem Zeitraum zwischen den Jahren 1900 und 1914 zu ähneln, der sämtliche Machtverschiebungen und Bruchlinien des 20. Jahrhunderts schon in sich trug, bevor sich diese als geschichtsmächtige Kräfte einen konvulsiven Ausbruch suchten: den zweiten 30-jährigen Krieg Europas. Die Geschichtslinien der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts bergen aus Sicht des Westens - und damit auch für Deutschland - erneut erhebliche Krümmungen: gleich zu Beginn, am 11. September 2001, durch die Anschläge auf das World Trade Center in New York, durch den Ausbruch der Weltfinanzkrise im Oktober 2008 und schließlich durch die Aufstände und Revolutionen im Nahen Osten und Nordafrika seit Januar 2011. Wenn es eines weiteren Beweises bedurft hätte, dass die Zeiten des Kalten Kriegs und damit der politischen, militärischen, wirtschaftlichen und normativen Vormachtstellungen des "Westens", zu dem auch Deutschland gehört, endgültig vorbei sind, so müssten die letzten Zweifel nun zerstoben sein: Rund 60 Jahre nach ihrer Gründung ist die Bundesrepublik Deutschland in jener "dritten Generation" angekommen, für welche die traumatischen Ereignisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr die Grundlage beziehungsweise das Motiv ihres Handelns sind.

Man könnte sagen, dass die "Berliner Republik", die zweite deutsche Republik seit Weimar, zwar verfassungsrechtlich in der Kontinuität der "Bonner Republik" steht, aber - im Hinblick auf die Außenpolitik - als eine "dritte deutsche Republik" vielleicht neue Wege sucht. Berlin scheint mittlerweile aus dem Doppelbett der Nato und der EU herauszufallen. Das Korsett des Kalten Kriegs ist aufgeschnürt, Berlin atmet die Luft einer neuen Geschichte. Sowohl die Jalta- als auch die Maastricht-Ordnung scheinen auf dem Prüfstand, wenn nicht gar auf dem Spiel zu stehen. Berlin verwässert das Paradigma der Bonner Außenpolitik, europäische Integration und transatlantische Beziehungen als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen. Zumindest bringt Berlin außenpolitisch neue Münzen in Umlauf, die mit russischen und chinesischen Schriftzeichen versehen sind und in den vergangenen Jahren eine unübersehbare Wertsteigerung erfahren haben.

Im Vakuum der Transition

Die offizielle außenpolitische Rhetorik bleibt indes von Bekenntnissen zur europäischen Integration und den transatlantischen Beziehungen geprägt, die allerdings an Glaubwürdigkeit verloren haben. Deutschland verhandelt offensichtlich sein Verhältnis zwischen West und Ost, zwischen Europa und der "großen Welt" neu. Eine neue Generation wächst gleichsam in eine außenpolitische Beliebigkeit hinein, in der nicht mehr erkennbar ist, wofür Deutschland steht - und an wessen Seite. Die Enthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im März 2011, an der Seite Russlands und Chinas, sowie seine Nichtbeteiligung am "westlichen" Libyen-Einsatz waren die sichtbarsten Zeichen dieses außenpolitischen Kulturbruchs.

Das Ergebnis ist eine Strategielosigkeit deutscher Außenpolitik, die im Ausland für Nervosität, Unverständnis und entsprechende Vorwürfe sorgte und im Inland eine Strategiedebatte auslöste. Die neuen außenpolitischen Fragen bleiben bislang unbeantwortet: Was will, wohin will und wofür steht Deutschland? Eine umfassende Strategiedebatte müsste (mindestens) drei Facetten beleuchten: das fragwürdige "Sich-heraus-winden" Deutschlands aus EU-Europa in Verbindung mit einem enormen, ökonomisch begründeten Machtzuwachs und die Frage nach einer neuen deutschen Hegemonie in der EU. Diese Debatte könnte zeigen, dass Deutschland möglicherweise andere nationale Optionen jenseits von Europa entwickelt. Die zweite Facette ist die Verschiebung der deutschen Interessenlage und des politischen Augenmerks auf der Ost-West- beziehungsweise der EU-BRIC-Achse. Die dritte Frage handelt von den Grundlagen und Werten deutscher Außenpolitik. Die These, dass Deutschland im Zuge der Verschiebungen von Geostrategie zu Geoökonomie derzeit faktisch Außenpolitik durch Handelspolitik substituiert, wird dadurch erhärtet, dass Deutschland als "große Schweiz", als "Zivilmacht ohne Zivilcourage" (Christian Hacke) beziehungsweise als "Nur-Handelsmacht" einen Einsatz für Menschenrechte in Libyen nicht bewerkstelligen kann, wohl aber Panzerverkäufe nach Saudi-Arabien.

"Der lange Weg nach Westen"

"Der lange Weg nach Westen" ist der Titel eines Standardwerks zur deutschen Außenpolitik von Heinrich August Winkler. In zwei Bänden wird ausführlich die Langatmigkeit (und teilweise Rückständigkeit) eines historischen Prozesses beschrieben, durch den Deutschland über Sonderwege und die bekannten, tragischen Verirrungen im vergangenen Jahrhundert schließlich im Westen ankam. Mit anderen Worten: Es wird beschrieben, wie Deutschland in einem dichten multilateralen Geflecht und einem festen institutionellen Rahmen aus Nato und EU ankam, der den letzten drei deutschen Generationen zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine dauerhafte Befriedung mit ihren Nachbarn bescherte. Das Buch ist in toto auch der Versuch, eine gelungene Westbindung im 20. Jahrhundert als politische Kultur der Bundesrepublik gleichsam ex ante als Staatskultur, außenpolitische Vernunft und Paradigma zu zementieren und als krönenden Abschluss der Umsteuerung eines mehrere Hundert Jahre anhaltenden "Drangs nach Osten" zu zelebrieren. Denn, wer die vergangenen 1000 und nicht die vergangenen 100 Jahre als Maßstab für das Interesse und Augenmerk deutscher Geschichte anlegt, der kann zu dem Schluss kommen, dass beides - im Sinne der großen geschichtlichen Schwerkräfte, wie sie die Annales-Schule von Ferdinand Braudel formuliert - seit jeher im Osten lag: vom Deutschen Orden im 12. Jahrhundert bis zu Katharina der Großen im 18. Jahrhundert, von der Bedeutung Ostpreußens für Land, Adel und Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert bis hin zum Vertrag von Rapallo 1922, von den makaberen Lebensraum-Philosophien des "Dritten Reichs" bis zum Hitler-Stalin-Pakt und einer damals schnell eingestampften Diskussion über die Stalin-Note von 1952 "als verpasster Gelegenheit" : Deutschland hat immer nach Osten geschaut, man hat es nur in den vergangenen 60 Jahren vergessen.

Ketzerisch gesprochen ist "der Osten" den Deutschen erst 1945 von den USA ausgetrieben worden. Konrad Adenauers (neue) Westbindung könnte man als ein kongeniales Konzept realitätsgetriebener und oktroyierter politischer Anpassung bezeichnen, die nur unter dem Druck der sicherheitspolitischen Bedrohung durch die Sowjetunion so gut funktionierte. Selbst das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch nach 1949 vor allem innerhalb der SPD ein dezidiert russlandfreundliches, links-nationales Milieu gegeben hat. Rudolf Augstein war dessen publizistischer Vertreter, Egon Bahr und Herbert Wehner waren dessen politische Köpfe. In den 1970er Jahren gelang es Willy Brandt, eine gleichsam autochthone, nach Osten blickende und junge (west-)europäische Traditionslinie bundesdeutscher Außenpolitik zusammenzuführen, welche die europäische Integration jenseits eines amor fati zunehmend als Kerninteresse deutscher Außenpolitik begriff. In den 1980er Jahren schließlich kam diese unter Helmut Kohl zur vollen Blüte.

Wenn die "Berliner Republik" heute auf einen erweiterten Osten - über Moskau bis Peking - schielt, muss diese Zeitschiene berücksichtigt werden. Die Fortsetzung dieser historischen Schwerkraft gen Osten war, plakativ gesprochen, sowohl die "Sauna-Freundschaft" zwischen Boris Jelzin und Helmut Kohl als auch die "Gazprom-Connection" von Gerhard Schröder und Wladimir Putin. Dass sich die deutsche und die russische "Seele" auf wundersame Weise verstehen, würde heute in den Chatrooms der "Berliner Republik" niemand bestreiten. Auch wenn es lange eher leisetreterisch daherkam, gebietet doch die offizielle Rhetorik Kritik an der zunehmend autokratischen Entwicklung Russlands, den parteipolitischen Verzerrungen sowie einer souveränistisch konzipierten Außenpolitik, die allzu oft deutsche beziehungsweise europäische Interessen konterkariert.

Europa als Korsett?

Insofern gibt es im Westen prinzipiell nichts Neues, wenn sich Deutschland im Osten wieder wohlfühlt. Dies führte aber gerade mit Blick auf die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Russlandpolitik seit einigen Jahren zu mehr oder weniger verdeckten Spannungen; auch wenn sich dies gerade ändert, indem sich Berlin sichtbar von einer "deutschen Ostpolitik" distanziert und den Ton gegenüber Moskau verschärft. So wurde der sogenannte Merseburg-Prozess zwischen Deutschland und Russland im Mai 2010 begonnen, ohne die EU- oder auch Nato-Partner zu konsultieren. Deutschland hatte hier mit Blick auf Russland die Agenda zunächst allein in die Hand genommen, dadurch aber auch die Beziehungen dynamisiert, denn der Merseburg-Gipfel wurde 2011 dazu genutzt, auf deutsches Drängen hin einen strategischen Dialog der EU mit Russland und Visaerleichterungen auf eine vorherige Lösung des Transnistrien-Konflikts zu konditionieren. Indes, Deutschland wurde vorgeworfen, mit Russland sicherheitsrelevante Engagements auch jenseits der Nato zu treffen, die eine Neujustierung der EU-Politik mit Russland erschweren und dabei oft auch die Interessen osteuropäischer Länder übergehen würden. Das von Deutschland in Merseburg initiierte "EU-Russland Politische und Sicherheitspolitische Komitee", das gemeinsame zivile und militärische Krisenlösungsstrategien entwickeln soll, stand besonders in der Schusslinie dieser oft US-amerikanischen Kritik.

Auch die energiepolitische Zusammenarbeit Deutschlands mit Russland wird im europäischen Ausland kritisch beäugt. Der Vorwurf lautet, dass diese die "Finnlandisierung Europas" (steigende Abhängigkeit Europas von Russland) beschleunigen könnte. So führte die North-Stream-Pipeline anfangs zu erheblichen Spannungen zwischen Deutschland und Polen sowie den baltischen Staaten. Deutschland hat diese Kritik aufgegriffen und umgesteuert. Im November 2011 verfassten die Außenminister Polens und Deutschlands einen gemeinsamen Brief zur europäischen Russlandpolitik als Vorlage für den EU-Russland-Gipfel im Dezember 2011. Dieser deutsch-polnische Schulterschluss mit Blick auf Russland kann als game change für die europäische Russlandpolitik bewertet werden, durch den die EU ihr strategisches Gewicht gegenüber Russland erhöht hat, während die russische Außenpolitik, bedingt durch wirtschaftliche Schwäche und innenpolitische Zersetzungen, derzeit in ein konzeptuelles Vakuum zu fallen scheint. Die deutsche Dominanz in der europäischen Russlandpolitik wurde mithin erfolgreich sublimiert und die deutsche Stärke gegenüber Russland der EU nutzbar gemacht - auch wenn noch nicht alle Ungleichgewichte ausgeräumt sind.

Die Dominanz Deutschlands bei den europäischen Beziehungen zu China ist vielen europäischen Partnerstaaten ebenfalls ein Dorn im Auge. 45 Prozent des EU-Handels mit China entfallen auf Deutschland. Das ist ein reelles Problem: Wie will man den "handelspolitischen Goliath" Deutschland beschneiden, wie ihm versagen, diese handelspolitischen Beziehungen im legitimen Eigeninteresse auszubauen? Was kann die EU in und mit China besser als Deutschland alleine? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten. Der Vorwurf lautet, dass das deutsche Vorgehen China eine Divide-et-impera-Strategie mit Blick auf die EU ermögliche beziehungsweise befördere; Europa bleibe gegenüber China "zahnlos". Wenn gerade Deutschland seine wirtschaftliche Macht nicht zur politischen Konditionierung Chinas einsetze, habe Europa einer chinesischen shopping tour durch Europa nichts entgegenzusetzen. Mit anderen Worten: Deutschland betreibe beziehungsweise befördere den europäischen Ausverkauf an China.

In Deutschland werden inzwischen außenpolitische Entwürfe mit "weniger Westen" ("weniger EU") und "mehr Osten" ("mehr BRIC-Staaten") beziehungsweise einem "nationalen, weltpolitischen Konzept", das der Brechung durch Integrationssysteme wie der Nato oder der EU nicht mehr bedarf, offen diskutiert. So schreibt etwa der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser: "Die erfolgreiche Vertretung deutscher Interessen auf dem Weltmarkt setzt aber zunächst eine eigene deutsche Vorstellung von Weltpolitik und globaler Bündnispolitik voraus. Darüber nachzudenken wird freilich in Deutschland nach wie vor als nicht korrekt angesehen, weil dabei immer noch die gescheiterten Ambitionen des Kaiserreichs und die ruch- und maßlosen Konzepte der dreißiger Jahre im Hintergrund stehen." Abelshauser kommt zu dem Schluss, dass eine weitere Integration der EU und des Euroraums für Deutschland nicht nötig seien; das beste strategische Konzept sei Bestandssicherung des derzeitigen Integrationsgrads. Deutschland brauche zwar ein stabiles Umfeld, damit Europa nicht zu viele politische Energien binde, doch die eigentlichen Interessen Deutschlands lägen jenseits von Europa, in der Entwicklung eines eigenen weltpolitischen Konzepts.

Solche Ansätze füttern die These eines Deutschlands, das sich vom Diktum einer "europäischen Zivilmacht" weg- und zu einer "neomerkantilen Wirtschaftsmacht" hinbewegt. Außenpolitik werde de facto durch Handelspolitik substituiert, auf ein normatives Konzept oder eine strategische Einbindung dieser Handelsbeziehungen werde verzichtet. Verblüffend ist an diesem Ansatz vor allem, dass die Abwesenheit einer Wertegemeinschaft mit den neuen dominanten Handelspartnern - China und Russland - nicht problematisiert wird und eine potenzielle politische oder auch wirtschaftliche Erpressung keine Gefahr zu sein scheint. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Kritiker inzwischen nicht nur auf ökonomische Parallelen zwischen China und Deutschland hinweisen (sie sind beide exportorientiert und vor allem im produzierenden Gewerbe stark), sondern beiden in einem Atemzug "Wirtschaftsnationalismus" oder "merkantilen Realismus" vorwerfen, der mit einer wertegebundenen Außenpolitik nichts mehr zu tun habe.

So scheint die für das 21. Jahrhundert spannende politische Frage zu sein: Lässt sich (Deutschlands) Außenpolitik jenseits eines Carl-Schmittschen Freund-Feind-Schemas konzipieren? Also jenseits eines Konzepts, in welchem es entweder überhaupt keine Feinde mehr gibt oder in welchem augenscheinlich nicht Feind sein darf, wer Feind werden könnte (oder wem man zumindest mit einem gesunden Misstrauen und einem Reflex zum Selbstschutz begegnen sollte). Es ist interessant, dass in diesen handelspolitischen Ansätzen im Sinne Abelshausers selten auf China als strategisches Risiko verwiesen wird - immerhin rüstet China derzeit militärisch massiv auf. Auch sollte zu denken geben, dass sowohl die Ideen von einer nationalistischen Wirtschaftsmacht im Sinne von Friedrich List (1789-1846) als auch der liberale Autoritarismus von Carl Schmitt derzeit in China besonderes Interesse finden und breit rezipiert werden.

Deutschland zwischen Baum und Borke

Demgegenüber mutet der neue außenpolitische Vorschlag von Thomas Kleine-Brockhoff und Hanns W. Maull eines west-östlichen "Sowohl-als-auch" (multilaterale Integrationssysteme plus aufgesattelter Bilateralismus) fast zaghaft an, berücksichtigt er doch sowohl die Ängste der europäischen Partnerstaaten sowie die Vorteile eines Integrationssystems wie der EU für Deutschland. Die auf diese Art und Weise geregelten und im Wesentlichen konfliktfreien Beziehungen zu allen seinen unmittelbaren Nachbarn sind ein unschätzbarer Vorteil für das Land in kontinentaleuropäischer Mittellage.

Denn das Problem national-weltpolitischer Ambitionen für Deutschland besteht darin, dass der ökonomisch nicht quantifizierbare Wert von guten nachbarschaftlichen Beziehungen nicht in die Gleichung eingerechnet wird. Es wird davon ausgegangen, dass die europäischen Nachbarn einem deutschen "Auf- und Ausbrechen" nach Osten und einem weltpolitischen Alleingang tatenlos zusehen würden. Tatsächlich aber muss berücksichtigt werden, dass ein auch nur partielles Wegbrechen der institutionalisierten Beziehungen Deutschlands zu seinen europäischen Nachbarn die "gute Nachbarschaft" belasten und wohl auch der deutsch-französische Motor nicht mehr wie geschmiert laufen würde. Der Aufwand, den Deutschland betreiben müsste, um in einem weniger institutionell gesicherten europäischen Umfeld das Verhältnis zu seinen unmittelbaren Nachbarn konstruktiv zu halten, wäre vermutlich ein beträchtlicher.

Schon heute sinnen vielleicht schon manche EU-Staaten auf Konkurrenz beziehungsweise Gegenpolitiken: Der strategische Bruch im deutsch-französischen Tandem ist trotz der wirtschafts- und finanzpolitischen Kooperationsbereitschaft Frankreichs im Zusammenhang mit der Eurokrise vor allem am Libyen-Einsatz 2011, der Energiepolitik und der jüngst von Frankreich eingegangenen nuklearen Kooperation mit Großbritannien abzulesen - auch wenn momentan im Zuge der Vorbereitungen für den 50. Jahrestag des Elysee-Vertrags im Januar 2013 die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen wieder betont wird. Die polnische Regierung wiederum belässt es derweil bei Ermunterungen an Deutschland, das europäische Kerngeschäft nicht zu vergessen und sich erneut des Wertes Europas für Deutschland zu besinnen; sie setzen zwar auf geschicktes europäisches Einbinden Deutschlands, sind de facto aber "wachsamer" gegenüber Deutschland geworden.

Das Gleichnis vom Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, ist bekannt. Wenn es zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts der Zweifrontenkrieg war, der Deutschland 1916 und 1942 zu Boden warf, so könnte es ein Jahrhundert später die altbekannte Tatsache werden, dass sich Deutschland zwischen Ost und West, zwischen Europa und der Welt, nicht entscheiden kann. Eine "Sowohl-als-auch"-Strategie birgt das Risiko, keinen der beiden Ansätze richtig zu verfolgen, keine Prioritäten zu setzen, sich zu überfordern und am Ende alleine zu stehen, sprich: den europäischen Spatz für das östliche Täubchen auf dem Dach deutscher Weltillusionen verloren zu haben. Die Idee einer deutschen (Export-)Insel der Seligen auf dem europäischen Festland, die mit den europäischen Partnern nur lose verbunden ist, dürfte nicht funktionieren. Die ökonomische Asymmetrie zwischen Deutschland und anderen Mitgliedern der Eurozone ist in vielerlei Hinsicht dergestalt, dass sie zur schleichenden Desintegration und letztlich zum Bruch der Eurozone und vielleicht auch des Binnenmarkts führen könnte. Wenn Deutschland Europa als Anker und Resonanzboden nicht verlieren will, wird es sich stärker für Europa engagieren müssen.

Mit Verve zurück in den Westen?

Die Alternative lautet daher nicht Ost oder West. Vielmehr stehen sich folgende Ansätze gegenüber: Einerseits ein Deutschland, das fest verankert ist in einem neuartig integrierten Europa, mit einer transnationalen Demokratie nach innen und einer einheitlichen Stimme nach außen. Als ein verantwortungs-, aber auch machtbewusster Akteur in der Welt könnte dieses Europa eine normativ rückgekoppelte Interessenpolitik verfolgen. Andererseits ein Deutschland, dessen Strategie-entkoppelte, handelspolitische Alleingänge einen "außenpolitischen Primat der Politik" der EU zersetzen. Zwar machen auch andere Länder Alleingänge oder versuchen es zumindest. Aber realistischerweise hat nur Deutschland eine solche Option, die auch weltpolitische Resonanz entfalten könnte - zumindest glaubt Deutschland, eine zu haben. In den vergangenen Monaten schien in Berlin die Frage, ob es eine deutsche oder eine europäische Weltpolitik geben wird, nicht beantwortet zu sein: Berlin zauderte mit Europa.

Die Versuchung, gar die Gefahr ist nicht, dass die zweite Option aktiv verfolgt wird, sondern dass Deutschland gleichsam durch die normative Kraft des Faktischen in sie hineinschlittert, weil die erste, die europäische Option, schwierig und vor allem zeitraubend ist. Zudem sind jüngere deutsche Eliten in Politik und Wirtschaft dem europäischen Projekt emotional weniger verbunden und gleichzeitig schwindet der Zuspruch in der Bevölkerung. Die Versuchung wird von der politischen Illusion genährt, Deutschland könne sich auf der Weltbühne alleine neben die USA und China stellen. Ökonomische Prognosen befeuern diese Illusion: Der Handel mit den BRIC-Staaten werde schon bald die Bedeutung des EU-Binnenmarkts für die deutschen Exporte schwächen. Doch die aktuellen konkreten Zahlen geben diese Dynamik noch nicht her: Deutschland exportiert mit rund 53 Milliarden Euro derzeit etwa ebenso viel nach China wie nach Österreich. Den Binnenmarkt abzuschreiben ist daher eine Wette auf die Zukunft - die im Übrigen die problematische Demografie und ihre Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaftskraft noch gar nicht berücksichtigt.

Indes, das politische Meta-Projekt einer "Verantwortungsmacht Europa" gegen eine kurzfristige handelspolitische Schwerkraft durchzusetzen, die Deutschland förmlich aus dem Binnenmarkt herausschraubt, ist trotzdem schwierig, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Eurokrise, welche die Vorbehalte gegen Europa und das, was es vermeintlich "kostet", nährt und die Einstellung der deutschen Öffentlichkeit zu Europa zum Negativen verändert hat. Wenn das Projekt einer "europäischen Verantwortungsmacht" gelingen soll, bedarf es eines neuartigen Bekenntnisses zu und der Imaginierung eines politischen Europas in einer neuen Dimension - zu dem Deutschland die EU anleiten müsste. Es müsste ein globaler Machtentwurf für die EU skizziert werden, in welchem die ökonomische und die politische Macht in Europa überzeugend zusammengeführt werden, in welchem dezidiert vergemeinschaftete Konzepte von unter anderem Energie-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik verfolgt werden und nicht mehr zugelassen wird, dass diese durch nationale Politiken ausgebremst werden.

Mit Blick auf die Energiepolitik hieße dies beispielsweise die Vollendung des Energiebinnenmarkts oder ein europäisches Stromverbundnetz; mit Blick auf die Sicherheitspolitik hieße dies eine konsequente Zusammenlegung von militärischen Fähigkeiten im Sinne eines Share-it-or-lose-it-Ansatzes; und mit Blick auf die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion hieße dies - weit über den derzeit verhandelten Fiskalpakt hinaus - die Schaffung eines fiskalischen Föderalismus und der Sprung in eine Haftungsgemeinschaft, ganz gleich ob durch die Einführung von Eurobonds oder durch eine Banklizenz für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), um die Division Europas auf den Kapitalmärkten zu unterbinden. Dazu gehört auch ein europäisches Wachstumskonzept, das die EU beziehungsweise den Euroraum als eine aggregierte Volkswirtschaft versteht, das einen belastbaren Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Eurokrise, der "Agenda 2020" und dem EU-Budget als distributives Steuerungsmittel herstellt und das den Euroraum als einen Solidar- und Wachstumsraum mit einer zusammenhängenden Wertschöpfungskette begreift. De facto werden aber immer noch in vielen Bereichen durch nationale Politiken wie Bemessungsgrundlagen für Unternehmenssteuern oder unterschiedliche Subventionsregelungen in der Energiepolitik wirtschaftspolitische Verzerrungen verstärkt. Damit wird innerhalb der EU letztlich Konkurrenz als Prinzip zementiert, und die EU gibt eine strategische, wirtschaftliche Hebelwirkung nach außen aus der Hand.

Es ist letztlich immer noch das Konzept zwischenstaatlicher Konkurrenz, das - einem verstaubten Begriff von Souveränität verhaftet - einen großen europäischen Wurf verhindert, sei es im Bereich der Energie, der Steuern oder des Militärs. Diese Politik gleicht einem verzweifelten Klammern an einen Eisberg, der immer kleiner wird. Neben eines neuen Begriffs von Souveränität bedürfte es auch einer neuen Begrifflichkeit von Frieden, nicht als "Abwesenheit von Krieg", sondern als "Abwesenheit von Misstrauen". Denn es ist aufkeimendes Misstrauen, das derzeit dazu führt, dass die einzelnen EU-Staaten jeweils einen "nationalen Plan B" (etwa für Energie- oder Sicherheitspolitik) im Hinterkopf behalten und dafür Ressourcen bereitstellen wollen. Ohne die Analogie zu überreizen, darf daran erinnert werden, dass es Misstrauen und der Wettbewerb um Ressourcen (wie Flottenbau oder Kolonien) waren, die Europa vor 100 Jahren in den Abgrund gerissen haben.

Es wird Deutschland sein müssen, das eine geschlossene EU gen Osten und in die globale Welt führt, oder die EU dürfte innen- und außenpolitischen Desintegrations- und Fliehkräften unterliegen. Die eigentliche Frage ist, ob Deutschland dafür innenpolitisch noch die notwendige Energie und innerhalb Europas noch gleichgesinnte Partner hat. Vor allem Frankreich - jahrzehntelanger Vordenker großer europäischer Initiativen vom "Schuman-Plan" bis hin zur Währungsunion - fällt derzeit als "Designer" für große europäische Pläne ebenfalls aus. Dennoch: In der EU passiert nichts ohne, geschweige denn gegen Deutschland. Deutschland ist in der EU gleichsam der "erste Beweger". Darum sollte es Ziel deutscher Außenpolitik im 21. Jahrhundert sein, von einer weitgehend fremdbestimmten Westbindung im vergangenen Jahrhundert zu einer selbstbestimmten Westbindung zu gelangen. Nur so kann die EU als kraftvoller Wegbereiter für "moderne Weltinnenpolitik" aufgestellt werden und in der globalen Verhandlung punkten. Denn weltweit geht es derzeit um eine neue Gleichung zwischen demokratischer Partizipation und Freiheit, Prosperität und Wohlstand einerseits sowie Planungskapazität und Effizienz andererseits, in der europäische Werte nicht mehr notwendigerweise dominieren. Dazu bedürfte es in Deutschland der Einsicht, dass die eigenen Spielräume erweitert und vergrößert werden, wenn Europa zum politischen Resonanzboden der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Phillip Blom, Der taumelnde Kontinent: Europa 1900-1914, München 2009, S. 319.

  2. Vgl. Johannes Gross, Begründung der Berliner Republik, Stuttgart 1995, S. 42.

  3. Vgl. Ulrike Guérot/Mark Leonard, Die neue deutsche Frage: Welches Deutschland braucht Europa?, Policy Brief, ECFR, April 2011.

  4. Vgl. Thomas Kleine-Brockhoff/Hanns W. Maull, Der überforderte Hegemon, in: Internationale Politik (IP), (2011) 6, S. 50ff. Die Autoren bezeichnen den "Sowohl-als-auch"-Ansatz in der deutschen Außenpolitik als "bündnispolitischen Traditionalismus plus aufgesattelten Bilateralismus" (S. 60).

  5. Vgl. Christian Hacke, Zivilmacht ohne Zivilcourage, in: APuZ, (2011) 39, S. 50-53.

  6. Vgl. Tony Corn, Toward a Gentler, Kinder German Reich?, in: Small Wars Journal vom 29.11.2011.

  7. Obgleich die Regierung diesem Eindruck seit Januar 2012 entgegensteuert. Vgl. die Rede des Bundesaußenministers Guido Westerwelle, Der Euro und die Zukunft Europas, 20.1.2012.

  8. Vgl. Christoph Schönberger, Hegemon wider Willen, in: Merkur, (2012) 1; Martin Große Hüttmann, Bundesrepublik Deutschland, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2011, Baden-Baden 2011, S. 283-292.

  9. Vgl. Ulrich Speck, Macht gestalten, in: IP, (2012) 1, S. 88; Ulrike Guérot, Wieviel Europa darf es sein?, Policy Memo, ECFR, Oktober 2010.

  10. BRIC steht für die Staatengruppe der aufstrebenden globalen Mächte Brasilien, Russland, Indien und China. Vgl. Andrew Rettman, Polish FM in Wikileaks, in: EU Observer vom 16.9.2011; Ben Judah/Jana Kobzova/Nicu Popescu, Dealing with a Post-Bric Russia, Policy Report, ECFR, November 2011.

  11. Vgl. Ulrike Guérot, Farewell Europe?, in: Open Democracy vom 14.9.2010.

  12. Vgl. Hans Kundnani, Germany as a Geo-Economic Power, in: The Washington Quarterly, 34 (2011) 3, S. 31-45.

  13. Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. I u. II, München 20107.

  14. Vgl. Ferdinand Braudel, Civilization matérielle, économie et capitalisme, XVe-XVIIIe siècle, Paris 1993.

  15. Hans-Peter Schwarz, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, München 1981, S. 149ff.

  16. Vgl. Gunter Hofmann, Willy Brandt und die europäische Revolution, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2011) 10, S. 93-103.

  17. Die Kooperation Russlands mit der EU wie etwa zu den Themen Iran, Kosovo oder aktuell zu Syrien im Rahmen der sogenannten politischen Dialoge sind oft wenig fruchtbar. So der Eindruck der Verfasserin aufgrund von Hintergrundgesprächen mit EU-Beamten in Berlin am 19.1.2012.

  18. Vgl. B. Judah/J. Kobzova/N. Popescu (Anm. 10).

  19. Vgl. Mark Leonard/Ivan Krastev, The Spectre of a multipolar Europe, Security Report, ECFR, Oktober 2010.

  20. Vgl. Vladimir Socor, Merseburg Process: Germany testing EU-Russia security cooperation potential, in: Eurasia Daily Monitor vom 22.10.2011.

  21. Vgl. B. Judah/J. Kobzova/N. Popescu (Anm. 10), S. 51.

  22. Vgl. François Godement/Jonas Parello-Plessner, The Scramble for Europe, Policy Brief, ECFR, Juli 2011.

  23. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 9.12.2011 und vom 16.1.2012, wo der CEO der Linde Group, Wolfgang Reitzle, ähnliche Thesen vertritt.

  24. Vgl. Tony Corn, Neue deutsche Illusionen, in: FAZ vom 1.1.2012.

  25. Vgl. Leserbrief von Eugen Wendler in: FAZ vom 16.1.2012.

  26. Vgl. Bertrand de Montferrand, France-Allemagne, Paris 2011.

  27. Vgl. Rede des polnischen Außenministers Radek Sikorski am 28.11.2011 in Berlin.

  28. Vgl. Ulrike Guérot, Germany - the beleaguered European Island, in: Open Democracy vom 9.9.2011.

  29. Vgl. Jan Techau, Mit Konkurrenz aus der Krise, in: IP, (2012) 1, S. 26-30.

  30. Vgl. Parag Khanna, The Second World, New York 2008.

  31. Vgl. FAZ vom 24.1.2011; Daniel Gros/Felix Roth, Do Germans support the Euro?, Working Document, CEPS, Nr. 359, 2011.

  32. Interessanterweise werden die in den vergangenen Jahren weitverbreiteten Schriften über eine weltpolitische Machtprojektion Europas, in welchen die EU vor allem in Abgrenzung zur US-Regierung unter George W. Bush (2000-2008) als "Super-Soft-Power" positioniert werden sollte, nicht mehr diskutiert. Vgl. Jeremy Rifkin, The European Dream, New York 2004.

  33. Vgl. Nick Witney, How to prevent the demilitarization of Europe?, Policy Brief, ECFR, Dezember 2011.

  34. Ein moderner Begriff von Souveränität müsste nicht nur die Fähigkeit "zu entscheiden", sondern auch die Fähigkeit "durchzusetzen" und "zu kontrollieren" umfassen.

  35. Vgl. P. Blom (Anm. 1).

  36. Vgl. Jürgen Habermas, Ein Pakt für Europa, in: Süddeutsche Zeitung vom 1.4.2011; Ulrike Guérot et al., Für eine Agenda der Öffnung, in: Heinrich Böll-Stiftung (Hrsg.), Solidarität und Stärke, Oktober 2011.

Dr. phil.; Leiterin und Senior Policy Fellow im Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR), Reinhardtstraße 19, 10117 Berlin. E-Mail Link: ulrike.guerot@ecfr.eu