Einleitung
Die Bedeutung einer lebendigen Zivilgesellschaft, verstanden als Motor politischer Veränderungen, kann für den Erfolg eines Demokratisierungsprozesses nicht hoch genug eingestuft werden. Ihre dauerhafte öffentliche Präsenz gilt als Gradmesser für eine stabile Demokratie, sofern sie frei von politischer Einmischung "von oben" agiert. Dabei liegt es in der Hand der jeweils Regierenden, den zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum zu definieren, der das Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einerseits und der staatlichen Gewalt andererseits mitbestimmt. Als zwingende Voraussetzung für Demokratie erfordert Zivilgesellschaft die Existenz umfassender Freiheitsrechte wie Meinungs-, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, um sich wirksam entfalten zu können. Nur wenn diese vorhanden sind, kann eine Zivilgesellschaft zu einer konstruktiven "Gegenmacht" im außerparlamentarischen Raum werden, welche die Politik auf andere, zumeist marginalisierte Themen und gesellschaftliche Schichten hinweist und Lösungsvorschläge aufzeigt.
Ihre organisatorische Ausgestaltung kann mannigfaltig sein. Gewerkschaften und Verbände zählen ebenso dazu wie spontane und kurzfristige Massen- und Protestbewegungen.
Seit 2006 erhält Indonesien von der US-amerikanischen Denkfabrik Freedom House, einem führenden Institut zur Messung von Demokratie und politischen Freiheiten, das Prädikat "frei" und steht damit hinsichtlich seiner demokratischen Performanz an der Spitze der südostasiatischen Staaten. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, welche Entwicklung die indonesische Zivilgesellschaft seit der Unabhängigkeit des Landes von der niederländischen Kolonialmacht durchlaufen hat. Dabei wird gezeigt, dass es ihr immer wieder gelungen ist, sich den jeweiligen politischen und sozialen Bewegungsgrenzen anzupassen. Heute unterliegt sie weitestgehend Trends, wie sie vergleichsweise auch in anderen sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern vorzufinden sind. Dazu zählt die doppelte Herausforderung der Zivilgesellschaft, sowohl ihren eigenen Platz in der postautoritären Ordnung zu finden und diesen zu bewahren, als auch interne Anpassungsleistungen zu vollziehen, um den aktuellen (entwicklungs-)politischen Spielregeln gerecht zu werden. Ferner eignet sich Indonesien, um exemplarisch kulturelle und regionale Besonderheiten einer zivilgesellschaftlichen Genese zu skizzieren. Dominierende Faktoren hierfür waren die spezifischen Berührungspunkte mit der niederländischen Kolonialverwaltung und der autoritären Herrschaft bis 1998.
Kaum Luft zum Atmen: zwischen Kolonialisierung und "Neuer Ordnung"
Die Anfänge zivilgesellschaftlichen Lebens in Indonesien gehen zurück auf die Zeit der niederländischen Kolonialzeit, als sich lokale Gemeinden Themen wie Bildung, Soziales und Mikrokrediten annahmen. Das gewerkschaftliche Leben nahm hier ebenfalls seinen Anfang; zudem fiel die Gründung religiöser Massenorganisationen wie der Muhammadiyah (1912) und der Nahdatul Ulama (1926) in diese Phase.
Präsident Sukarno (1945-1967) griff in den ersten Regierungsjahren die gesellschaftliche Partizipation am Aufbauprozess des unabhängigen Indonesiens auf.
Ihrer politischen Instrume beraubt, hielten NGOs der "Neuen Ordnung" stand, indem sie sich Suhartos Entwicklungsparadigma anpassten und in die Lücken seiner Wirtschaftspolitik sprangen. Sogenannte development-NGOs fokussierten ihre Arbeit ab den 1970er Jahren auf marginalisierte Gruppen der verarmten Unterklasse. Der Anpassungsdruck katapultierte die NGOs zwar in einen apolitischen Raum, eröffnete ihnen zugleich aber eine Überlebensstrategie. Eine nachwirkende Leere verursachte die politische systematische Verfolgung von Kommunisten nach dem gescheiterten Putschversuch von 1965. Infolge eines grassierenden Antikommunismus wurde die politische Linke geschwächt und weitestgehend aus der Öffentlichkeit verbannt.
Entgegen der modernisierungstheoretischen Annahme, die Chance einer erfolgreichen Demokratisierung wachse mit dem Wohlstand einer Gesellschaft, gelang Suharto der ökonomische Erfolg bei gleichzeitiger Kooptation und Marginalisierung entscheidender Vetomächte.
Glasnost auf Indonesisch: 1998 und die Folgen
Ein Paradigmenwechsel setzte erst in den 1990er Jahren ein, als trotz unveränderter rechtlicher und politischer Repressionen Menschenrechtsverstöße angeprangert und demokratische Reformen immer lauter gefordert wurden. Eine begrenzte Liberalisierung (keterbukaan), die Ende der 1980er Jahre eingeführt, aber schon 1994 zurückgenommen wurde, bestärkte die kritischen Teile der Zivilgesellschaft in ihrem Kampf für Veränderungen.
Betrachtet man also den Ort des Öffentlichen in Indonesien bis 1998, stand dieser unter alleiniger Hoheit von General Suharto. Sein Regime bündelte alle Formen staatlicher und militärischer Gewalt, um die bestehenden Machtverhältnisse stabil zu halten. Doch wurde diese Stabilität eklatant herausgefordert, als mit dem erzwungenen Rücktritt des Diktators im Mai 1998 dessen geistig-politisches Monopol zerbrach. Die beiden Präsidenten der ersten Reformasi-Jahre, Jusuf Habibie (1998-1999) und Abdurrahman Wahid (1999-2001), erlaubten die Entwicklung eines Mehrparteiensystems, führten Bürgerrechte wieder ein und düngten so die Erde, aus der viele zivilgesellschaftliche Organisationen wuchsen.
Seit 1998 hat sich in Indonesien ein stabiles Mehrparteiensystem entwickelt. Neun Parteien ist bei den Wahlen 2009 der Einzug ins nationale Parlament gelungen. Diese lassen sich allerdings nicht nach westlichen Kriterien in "konservativ", "links" oder "grün" kategorisieren. Eine demokratiefeindliche Partei ist nicht im Parlament vertreten. Trotz der dezentralen Verankerung mit Dependancen in allen Provinzen mangelt es den Parteien vielfach an internen demokratischen Strukturen. Wegen Korruptionsvorwürfen, schlechter legislativer Leistungen und mangelnder Kommunikation, so ein Forscherteam, sehe die Zivilgesellschaft in Parlament und Parteien primär die "schlechte Seite der Demokratie".
Das trägt wesentlich dazu bei, dass die Zivilgesellschaft zwar die Rolle der Parteien als Säulen der Demokratie lobt, weitestgehend aber eine skeptische Distanz zu ihnen behält. Die strukturellen und inhaltlichen Probleme der Parteien sowie ihr negatives Image innerhalb der Zivilgesellschaft verhindern derzeit eine Kooperation zwischen beiden Gruppen. Von der eingangs beschriebenen, gesellschaftlich-politischen Brückenfunktion der indonesischen Parteien kann daher momentan nur bedingt gesprochen werden. Dies erschwert letztlich das Einwirken der Zivilgesellschaft auf die Politik, denn selbstkritisch wird festgestellt, dass sie den parlamentarischen Prozess nur unzureichend beeinflusst.
Kulturelle Implikationen erschweren zudem das politische Zusammenspiel zwischen der Regierung und den Oppositionskräften in- und außerhalb des Parlaments. Die politische Kultur Indonesiens leitet sich aus der javanischen Harmonielehre ab.
Seit 1998 setzen sich NGOs auch mit den Prinzipien guter Regierungsführung auseinander und prangern Missstände aufgrund fehlender Verantwortung der politischen Eliten an.
Nichtsdestotrotz gibt es auch antidemokratische Vetomächte, die ihren Platz in der postautoritären Ordnung suchen und dabei zur Gefahr für die weitere Entwicklung der Zivilgesellschaft werden können. Zu den wichtigsten Kräften dieser Art wird etwa das Militär gezählt.
Anpassungsdruck als Normalzustand
Dass sich die Zivilgesellschaft mittlerweile im politischen Bereich bewegen kann, ist Zeugnis der positiven demokratischen Liberalisierung im größten muslimischen Land der Welt. Heute werden zivilgesellschaftliche Organisationen selbst zu Adressaten von Forderungen nach Demokratie und Transparenz. Insbesondere ältere NGOs werden oftmals von einem "starken Mann", in der Regel dem Gründer der Institution, geleitet, der ohne Rechenschaftsverpflichtungen waltet. Dort, wo zuständige Gremien im Sinne von Aufsichtsräten bestehen, findet oftmals eine unzureichende Trennung zu der operativen Ebene statt. Dass die Gründercliquen nicht abtreten, erschwert zudem die Profilierungsmöglichkeiten der nachrückenden Generation. Diese Tendenz ruft Organisationen auf den Plan, die ihrerseits die Überwachung des zivilgesellschaftlichen Sektors zum Ziel haben. Schließlich sind die organisatorischen Anforderungen gestiegen: NGOs müssen sich den Bedingungen moderner Strategie-, Personal- und Programmentwicklung anpassen, um im Wettbewerb mit konkurrierenden Organisationen den Anschluss nicht zu verlieren. Dabei geht es nicht nur um die Allokation finanzieller Ressourcen, sondern auch um die besten Ideen und Zugänge zu den relevanten Entscheidungsträgern.
NGOs haben sich in den vergangenen Jahren der Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik der internationalen Gebergemeinschaft angepasst und sich professionalisiert. Sie sind heute in der Lage, Projektanträge in Fremdsprachen zu stellen und ihre Agenden ausländischen Gebern anzupassen. Eine Ökonomisierung des Zivilgesellschaftssektors ist die Folge, wie sie derzeit im lukrativen Umwelt- und Klimaschutz zu beobachten ist.
Leichter wird diese Aufgabe angesichts der vielen NGO-Neugründungen und der damit einhergehenden Fragmentierung der Zivilgesellschaft nicht. Es wird schwieriger, "seriöse" Institutionen von solchen zu unterscheiden, die den nichtstaatlichen Sektor in erster Linie als profitträchtigen Wirtschaftszweig identifizieren. Erstrebenswert, so die an sich selbst gerichtete Forderung der Zivilgesellschaft, wäre ein Dachverband, der als öffentlicher Ansprechpartner dienen und Standards für die Arbeit seiner Mitglieder setzen könnte.
Ferner bedarf es einer Koordinierung der Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen, die auf unterschiedlichen administrativen Ebenen angesiedelt und tätig sind: Es gilt, einen Bogen zu spannen zwischen den in der Hauptstadt operierenden NGOs, die über bessere Zugangsmöglichkeiten zur Politik verfügen, und den Organisationen auf der Graswurzelebene und in den Provinzen, die wiederum den Problemen und Zielgruppen näher sind. Denn es gewinnen zunehmend Themen an Relevanz, die nur bearbeitet werden können, wenn das urbane Zentrum Jakarta mit der ländlichen Peripherie Hand in Hand arbeitet. Dies ist beispielsweise bei den sich häufenden Fällen religiös motivierter Gewalt dringend geboten. Zugleich beweisen NGOs aber auch Anpassungsfähigkeit: So schließen sich für einzelne Gesetzesinitiativen Organisationen zu Spontankoalitionen zusammen, um ihre Ressourcen und Kompetenzen zu bündeln.
Blick über den Tellerrand
Dem theoretischen Zivilgesellschaftskonzept liegt ein grenzüberschreitendes Verständnis zugrunde. Im Einsatz für universell geltende Normen wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit fördert eine im Korsett des Nationalstaats operierende Zivilgesellschaft zugleich einen politischen Freiheitsdiskurs im Sinne globaler Standards. Gleichzeitig haben sich mit der Zunahme internationaler Konferenzregime und Vertragsverhandlungen zivilgesellschaftliche Netzwerke gegründet, die globale Themen in den Blick nehmen und als pressure groups nicht mehr nur in den Lobbys der Konferenzhallen auf Zuhörer ihrer Forderungen warten, sondern selbst als Vollmitglieder oder als Teil nationaler Verhandlungsdelegationen zu den Versammlungen anreisen.
Eine Internationalisierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Südostasien bahnt sich seit den 2000er Jahren im Rahmen des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN) an. Der Integrationsprozess, der bis 2015 zur Realisierung einer Staatengemeinschaft führen soll, wird zunehmend von Treffen der Staats- und Regierungschefs mit der Zivilgesellschaft flankiert. Mit der normativen Ausgestaltung der ASEAN-Charta und der Gründung der intergouvernementalen Kommission für Menschenrechte wurden Ziel- und Wertekataloge auf regionaler Ebene festgeschrieben, die zivilgesellschaftlichen Idealen entsprechen. Dies führt zu der optimistischen Annahme, dass im Windschatten des staatlichen Integrationsprozesses auch die nationalen Zivilgesellschaften zusammenfinden.
Während die indonesische Zivilgesellschaft heute also vor der Aufgabe steht, Kommunikationskanäle zwischen Zentrum und Peripherie zu errichten, etabliert sich auf regionaler Ebene eine weitere Interventionsplattform. Indonesien, als politisches und wirtschaftliches Schwergewicht, kommt bei diesem Prozess große Verantwortung zu. Dies wurde 2011, während der einjährigen ASEAN-Präsidentschaft Indonesiens, noch einmal deutlich. Präsident Susilo Bambang Yudhoyono und Außenminister Marty Natalegawa setzten sich wiederholt für mehr Bürgerbeteiligung ein.
Von einer Institutionalisierung ist die Zivilgesellschaft auf ASEAN-Ebene bislang noch entfernt, wohl aber bilden sich bereits Netzwerke. Themen, die auf ASEAN-Ebene diskutiert werden, resultieren aus einer Filterung nationaler Debatten, so dass noch nicht von einem genuin regionalen Diskurs der Zivilgesellschaft gesprochen werden kann. Die Erfahrungen, die staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure während des politischen Wandels 1998 und des anschließenden Demokratisierungsprozesses sammelten, können ein wertvolles Angebot an jene ASEAN-Mitglieder sein, denen nach wie vor Demokratiedefizite attestiert werden.