Einleitung
Am 26. Dezember 2004 erschütterte ein gewaltiges Seebeben den indischen Ozean und rückte die indonesische Provinz Aceh, gelegen auf der Insel Sumatra am nordwestlichen Rand des Landes, in den medialen Fokus. Die Tsunami-Katastrophe brach inmitten eines bewaffneten Sezessionskonflikts herein und setzte eine Dynamik in Gang, welche die politische, soziale und wirtschaftliche Lähmung infolge gescheiterter Friedensverhandlungen, Gewalt und Kriegswirtschaft durchbrach und bis heute anhaltende Transformationsprozesse initiierte.
Erste Katastrophe: der Aceh-Konflikt (1976-2005)
Aceh Nanggroe Darussalam - das "Land des Friedens Aceh" - blickt auf eine lange, von Gewalt geprägte Geschichte zurück. Dem jüngsten Konflikt zwischen der "Bewegung freies Aceh" (GAM, Gerakan Aceh Merdeka) und dem indonesischen Zentralstaat von 1976 bis 2005 gingen der antikoloniale Widerstand gegen die Niederlande (1873-1942), die sogenannte soziale Revolution (1945/46) und die islamische Rebellion der Darul-Islam-Bewegung (1953-1959) voraus. Die Geschichte Acehs als politisch, kulturell, wirtschaftlich eigenständiges und wehrhaftes islamisches Reich hat dessen Selbstverständnis geprägt und verschiedene Opfermythen geformt, die als legitimatorische Basis des von der GAM begründeten Sezessionismus gelten können.
Die 1959 gewährte Sonderautonomie der Provinz wurde mit der Entwicklungsdiktatur unter Präsident Suharto in den 1970er Jahren bereits wieder aufgeweicht. Die staatliche Zentralisierung auf Java, die Kooptierung acehischer Eliten und die forcierte Migration zahlreicher Javaner nach Aceh nährten die Empfindung eines javanischen Neokolonialismus. Mit der Entdeckung umfangreicher Erdgasressourcen vor der Küste Acehs und deren einseitige Nutzung durch den Zentralstaat wurde die rohstoffreiche, aber agrarisch geprägte Provinz von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes abgekoppelt und das Gefühl der ökonomischen Ausbeutung verstärkt.
Die anfangs begrenzte Rebellion einer kleinen Gruppe Intellektueller und Geschäftsleute wurde mit massiver militärischer Repression des indonesischen Militärs beantwortet. Insbesondere die gravierenden Menschenrechtsverletzungen von 1991 bis 1998 unter dem Status Acehs als "Militärische Operationszone" lösten in der acehischen Bevölkerung eine nachhaltige Entfremdung vom indonesischen Staat aus. Der nachlassende militärische Druck führte mit der Abdankung Suhartos 1998 zunächst zur Ausweitung und zum strukturellen Umbau der Unabhängigkeitsbewegung. Die GAM suchte einerseits den Brückenschlag zu zivilgesellschaftlichen Organisationen wie SIRA (Sentral Informasi Referendum Aceh), die sich für ein Referendum über die Unabhängigkeit Acehs einsetzte, und bemühte sich andererseits um die Internationalisierung des Konflikts. Die durch das Henry Dunant Centre vermittelte "Humanitarian Pause" 2000 scheiterte jedoch ebenso wie das "Cessation of Hostilities Agreement" 2002 und führte schließlich zur erneuten militärischen Großoffensive gegen die GAM im März 2003. Die Einführung des islamischen Rechts trug wenig dazu bei, den Konfliktursachen zu begegnen. Medial von der Außenwelt abgeschnitten, gedieh ein repressives Klima von Unsicherheit in einem dichten Netz aus Konfliktökonomie und Korruption.
Zweite Katastrophe: der Tsunami 2004
Der Tsunami Ende 2004 zerstörte bis zu 80 Prozent der Küsten-Infrastruktur, forderte über 180000 Todesopfer und überlagerte die Konflikt-Opfermythen plötzlich durch einen gewaltigen neuen. Die Blockade der Konfliktparteien wurde durch eine greifbare, und vor dem Hintergrund der immensen Hilfs- und Wiederaufbauerfordernisse zwingende, neue Handlungsmöglichkeit durchbrochen. Eine öffentliche Willensbekundung zur Lösung des Konflikts gab es bereits mit dem Amtsantritt von Präsident Susilo Bambang Yudhoyono im September 2004, die Flutwelle katalysierte den Prozess zudem nachhaltig. Der GAM war die ökonomische und logistische Basis weggebrochen, der indonesischen Regierung entzog die erforderliche hohe Präsenz ausländischer Organisationen die Grundlage zur Isolation der Provinz. Die Fortsetzung des Kampfes hätte für beide Seiten immense Reputationsverluste bedeutet. Zudem löste die international angekurbelte "Katastrophenökonomie" die weitgehend obsolet gewordenen Vorteile der Konfliktökonomie größtenteils ab.
Mit Unterzeichnung der Absichtserklärung Memorandum of Understanding (MoU) zwischen der GAM und der indonesischen Regierung am 15. August 2005 in Helsinki, unter Vermittlung der Crisis Management Initiative (CMI) und mit Unterstützung der EU und dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN), wurde der Grundstein für einen Friedensprozess gelegt. Das MoU beinhaltet Sicherheitsarrangements, Regelungen zur Amnestie und Reintegration früherer Kombattanten, die Aufstellung einer internationalen Aceh Monitoring Mission (AMM) sowie die Vorlage für ein Gesetz zur politischen Gestaltung Acehs.
Tsunami und Wiederaufbau schufen jedoch auch neue Disparitäten und Konfliktpotenziale: Während der finanziell gut ausgestattete "Tsunami-Wiederaufbau" zügig voranschritt, erhielt der eigentliche "Post-Konflikt-Wiederaufbau", insbesondere im küstenferneren Hochland, weitaus weniger Aufmerksamkeit, was die Betroffenen oft zu Opfern zweiter Klasse degradierte. Höherrangigen Kadern im Umfeld des KPA gelang es zwar recht zügig, durch die Nutzung ihrer Netzwerke und infolge der politischen Neugestaltung wichtige Schlüsselstellen in der Aufbauökonomie und Politik zu besetzen, viele ehemalige Kombattanten gingen zunächst jedoch leer aus. Nicht zuletzt keimten mit der gesamtgesellschaftlichen Umwälzung auch erneut Forderungen nach der strikteren Umsetzung islamischen Rechts auf.
Von Rebellen zu Regierenden
Die insgesamt achtmonatigen, von starkem gegenseitigem Misstrauen geprägten Friedensverhandlungen unter Federführung des ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari und der CMI in Helsinki standen wiederholt vor dem Aus.
Ende Juli 2006 verabschiedete das indonesische Nationalparlament schließlich das "Gesetz zur Regierung Acehs" (UUPA, Undang-Undang Pemerintahan Aceh). Durch die Zulassung parteiunabhängiger Kandidaten und lokaler Parteien in Aceh gelang es damit zwar, die Rahmenbedingungen für eine schnellstmögliche politische Partizipation der GAM zu schaffen.
Die zwischen Ende 2006 und 2008 abgehaltenen direkten Gouverneurs-, Landrats- und Bürgermeisterwahlen waren der erste Schritt zur politischen Integration der GAM. Sowohl der 2006 gewählte parteilose Gouverneur Irwandi Yusuf als auch zehn der insgesamt 23 Landräte und Bürgermeister Acehs entstammen der ehemaligen Unabhängigkeitsbewegung. Ein weiterer Meilenstein war die Zulassung lokaler Parteien. Dies ermöglichte neben anderen lokalen Parteigründungen auch die Formierung der sogenannten Aceh-Partei durch die GAM Anfang 2008. Sie gewann im April 2009 bei den Wahlen zu Acehs Regionalparlament 48 Prozent der Sitze und deutliche Mehrheiten in den Distriktparlamenten. Die Wahlerfolge haben ihre Ursache zum einen in der Entfremdung eines Großteils der überwiegend ländlichen Bevölkerung gegenüber den etablierten nationalen Parteien, die für Korruption und Misswirtschaft während der Konfliktjahre verantwortlich gemacht werden. Zum anderen hatte sich die Aceh-Partei in einer beispiellosen Wählermobilisierung mittels eindeutiger ethno-nationaler Symbolik als einzig legitime Vertreterin der Interessen Acehs mit dem Versprechen der vollständigen Umsetzung des MoU inszeniert. Darüber hinaus führten ihre territorial organisierten "Wahlkämpfer" der KPA eine gezielte Einschüchterungskampagne, bei der es häufig nicht bei der Androhung von Gewalt blieb. Die Aceh-Partei war aber auch Ziel gewalttätiger Aktionen: Neben vier gezielten Morden an Führungskadern kam es zu unzähligen Brandanschlägen, Bombenangriffen und anderen Übergriffen auf ihre Büros.
Die weitgehend erfolgreiche Integration der GAM in die Lokalpolitik Acehs zeugt von einem hohen Institutionalisierungsgrad des Friedensprozesses. Gleichzeitig ist die ehemalige Unabhängigkeitsbewegung in der Konkurrenz um politische Ämter und den Zugang zu öffentlichen Mitteln mittlerweile tief gespalten. Dabei stehen sich prominente Vertreter der jungen GAM-Generation um Gouverneur Yusuf und die alte GAM-Exilregierung um den ehemaligen "Premierminister" Malik Mahmud unversöhnlich gegenüber. Die Aceh-Partei wird dabei eindeutig von Vertretern der ehemaligen Exilführung dominiert, die gegenüber der Nationalregierung eine unversöhnlichere Haltung einnehmen. Dieses Schisma, welches wiederholt zu Gewaltausbrüchen zwischen den Fraktionen führte, verschärft sich erneut im Vorfeld der anstehenden, schon mehrfach verschobenen Gouverneurs-, Landrats- und Bürgermeisterwahlen, die nun voraussichtlich im April 2012 abgehalten werden. Nachdem Yusuf angekündigt hatte, erneut für den Gouverneursposten kandidieren zu wollen, boykottierte die Aceh-Partei die bevorstehenden Wahlen sogar offen, um gegen die Zulassung parteiunabhängiger Kandidaten zu protestieren.
Das Vordringen der Aceh-Partei in die Parlamente markiert eine doppelte Zeitenwende. Mit dem Ende des offiziellen Wiederaufbaus nach dem Tsunami lief der Großteil der fast sechs Milliarden Euro umfassenden internationalen Hilfen für Aceh aus. Gleichzeitig trat der Friedensprozess mit der de-facto-Übernahme der parlamentarischen Prozesse durch die unerfahrene und kapazitätsschwache Aceh-Partei in eine kritische Phase ein. Seit der "Übernahme" der acehischen Parlamente durch die Partei ist die Umsetzung des UUPA durch sogenannte qanun (Regionalgesetze) ins Stocken geraten. Streitigkeiten um Vergaberichtlinien für öffentliche Ausschreibungen haben wiederholt die Verabschiedung des Provinzhaushaltes verzögert und die Wirtschaftskreisläufe Acehs empfindlich geschwächt. Darüber hinaus waren führende Mitglieder der Aceh-Partei wiederholt in Korruptionsskandale verstrickt. Dies und das als sehr autoritär wahrgenommene Gebaren der Partei haben zu einer politischen fatigue innerhalb der Zivilgesellschaft geführt. In der Öffentlichkeit wird zunehmend die Frage gestellt, ob die neuen politischen Führer tatsächlich eine Alternative zu den alten darstellen.
Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln?
Um eine Gefährdung des Friedens dauerhaft auszuschließen, sah das MoU für die ehemaligen Kämpfer eine Amnestie und die Rückgabe aller politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte, die Einrichtung eines Reintegrationsfonds, den Ersatz von Eigentumsverlusten, die Vergabe von Farmland, Unterstützung beim Eintritt in den Arbeitsmarkt und soziale Absicherung im Falle von Invalidität sowie die Möglichkeit zur Integration in die organischen Sicherheitskräfte Indonesiens vor. Hierfür wurde 2006 eigens eine acehische Reintegrationsbehörde geschaffen. Die von der GAM zunächst genannte Zahl von 3000 Kämpfern erwies sich aber als viel zu niedrig, was weitreichende Verteilungsprobleme mit sich brachte. Die Behörde erkannte daraufhin neben der großen Gruppe ziviler Konfliktopfer weitere anspruchsberechtigte Kämpfer aller Seiten an. Bis 2009 wurden bereits 90 Prozent (rund 140 Millionen Euro) des Reintegrationsfonds für Direktzahlungen, Hausbau und Entschädigungen ausgezahlt.
Die Kämpfer, die sich als Beschützer des acehischen Volkes und verantwortlich für die hinterbliebenen Witwen und Waisen empfinden, sehen in den Reintegrationszahlungen jedoch allenfalls einen berechtigten Anspruch aus dem originären Konflikt-Opfermythos ökonomischer Benachteilung und als Entschädigung für angetane Kriegsgreuel, nicht jedoch eine Friedensdividende. Des Weiteren nehmen Frauen innerhalb der offiziellen Reintegrations- und Friedensprogramme nur eine untergeordnete Rolle ein und können meist nur durch Eigeninitiative und gute Kontakte zu Mitgliedern des KPA-Kaders finanzielle Mittel erhalten.
Dadurch, dass das Aceh-Übergangskomitee KPA die Hoheit über die Listung Anspruchsberechtigter und die Distribution der Gelder innehatte, konnte es sich erfolgreich in den Reintegrationsprozess einschalten, trug damit aber auch zu einer Stärkung des Patronagenetzwerks bei. Die nach wie vor intakte Militärstruktur sorgt einerseits dafür, dass die Mitglieder, gebunden an Befehl und Gehorsam, auf den Frieden und die Solidarität mit Kameraden und Konfliktopfern verpflichtet werden. Andererseits verfügt das KPA damit über ein gefährliches Mobilisierungpotenzial, was eine Verstetigung konkurrierender Vereinigungen bedeutet. Interne Bruchlinien zwischen ökonomisch und politisch erfolgreichen ehemaligen Kommandeuren und benachteiligten einfachen Kämpfern werden immer deutlicher. Korruption, Raubüberfälle, Erpressung und andere kriminelle Aktivitäten werden jedoch zumeist Einzeltätern oder geheimdienstlichen Verunglimpfungen zugeschrieben. Dies verdeutlicht aber auch, dass die ökonomische Absicherung unzureichend ist und der beabsichtigte Übergang in zivile Existenzen weitgehend verfehlt wurde. Nicht zuletzt wegen der ideologischen Feindprägung gelingt auch die Integration der ehemaligen Kämpfer in die organischen Sicherheitskräfte Indonesiens kaum.
Eine "mentale Entwaffnung" ist noch nicht zu verzeichnen, und auch die im MoU vorgesehene Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission sowie eines Menschenrechtsgerichtshofes ist bisher ausgeblieben. Symbole, Lieder, Erzählungen und die Rhetorik des Kampfes bleiben in den Reihen der einfachen Kombattanten stark und revitalisieren beständig die Idee von der Unabhängigkeit Acehs. Immer wieder wird die Bereitschaft betont, jederzeit kampfbereit zu den Waffen zurückzukehren, sollte sich die Situation nicht bessern. Splittergruppen, die das MoU gänzlich ablehnen und desillusionierten Kämpfern eine gefährliche Alternative zum Frieden bieten könnten, gibt es durchaus, finden bislang aber wenig Gehör.
Einführung der Scharia - Hintergründe und Auswirkungen
Aceh ist bis heute die einzige Provinz Indonesiens, in der strafrechtliche Aspekte der Scharia, des islamischen Rechts- und Gesellschaftssystems, eingeführt wurden. Als Gründe werden mit Bezugnahme auf Acehs historischen und politischen Kontext hauptsächlich zwei miteinander verwobene Argumentationslinien betont:
Der Diskurs eines allumfassenden Wiederaufbaus Acehs nach der Naturkatastrophe verstärkte die moralische und soziale Normierungsfunktion der Scharia. Das durch die internationalen Wiederaufbauprogramme propagierte, westliche Demokratisierungsmodell verstärkte die islamische Revitalisierung, welche die Besonderheit Acehs betont und versucht, ein "eigenes" Zukunftsmodell moralischer Ordnung durchzusetzen. So verabschiedete das acehische Provinzparlament am 14. November 2009 mit Bezug auf das islamische Strafrecht (Qanun Jinyat) einen Gesetzesentwurf, der bei Ehebruch die Todesstrafe durch Steinigung vorsieht. Da Gouverneur Irwandi Yusuf die Unterzeichnung des Gesetzes aber bis heute verweigert, ist es vorerst suspendiert.
Die Implementierung des islamischen Rechts- und Gesellschaftssystems hat geschlechtsspezifisch höchst unterschiedliche Auswirkungen. Männer werden überwiegend aufgrund von Vergehen gegen das Alkohol- und Glücksspielverbot verurteilt und einer öffentlichen Auspeitschung unterzogen. Frauen dagegen werden vor allem durch die rigorose Durchsetzung von Verhaltens- und Kleidervorschriften seitens der Scharia-Polizei (Wilayatul Hisbah) und durch gewalttätige Übergriffe von vigilanten Gruppen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und öffentlich gedemütigt. Ein Beispiel für die Instrumentalisierung des Islams für individuelle machtpolitische Interessen stellt eine Verordnung des Landrats von West-Aceh, Ramli Mansur, dar: In dieser wurde Frauen das Tragen von enger Kleidung wie etwa Hosen untersagt, wodurch sich Mansur, welcher der nicht-religiösen Aceh-Partei angehört, die Unterstützung islamischer Autoritäten sicherte.
Die Internationalisierung nach dem Tsunami brachte durch monetäre, ideelle und personelle Unterstützung im Rahmen der Programme zur Förderung von Gender Mainstreaming und Frauenrechten auch größere Handlungsmöglichkeiten für Frauenrechtsaktivistinnen mit sich. Dies stärkte auch die Einflussnahme acehischer Aktivistinnen auf gesellschaftspolitische Entscheidungsprozesse, jedoch nur im Rahmen ihrer soziokulturell und politisch vermittelten Handlungsmacht. Die von ihnen verfolgten Strategien, um Diskursmacht zu erlangen und durchzusetzen, unterliegen durch die Einführung von Aspekten des islamischen Strafrechts aber zunehmenden Einschränkungen. Momentan ist vor allem im urbanen Raum Acehs - wie auch in anderen Teilen Indonesiens - zu beobachten, dass die patriarchale Auslegung des Korans und die Islamisierung von Gesetzgebung zu einem fortschreitenden Machtverlust von Frauen im öffentlichen Raum führen. Wer öffentlich an den Inhalten und der Umsetzung der Scharia Kritik übt, riskiert den Vorwurf der Apostasie, weshalb Menschen- und Frauenrechtsaktivistinnen ihre Positionen und Strategien verstärkt auf den Islam beziehen.
Trotz der rigiden Umsetzung des islamischen Strafrechts sei die Situation heute im Vergleich zu den Konfliktzeiten jedoch wesentlich entspannter, so die allgemeine Auffassung. Die Angst und Unsicherheit des früheren Kriegsalltags sei verschwunden - ein Eindruck, der sich beispielsweise durch die Vielzahl neu eröffneter und sehr gut besuchter Kaffeehäuser, in denen sich seit 2005 auch vereinzelt Frauen treffen, zu bestätigen scheint.
Herausforderung oder Chance?
Transformationsprozesse brechen verkrustete Strukturen auf, verändern Macht- und Akteurskonstellationen und bergen zunächst unerwartete Chancen, aber auch Herausforderungen und spezifische Probleme. Der Tsunami katalysierte trotz aller Tragik eine Konflikttransformation, die zwar immer noch offenen Ausgangs ist, aber bereits seit mehr als fünf Jahren das Ende der Unsicherheit des früheren Kriegsalltags bedeutet, was von der Mehrheit der Bevölkerung in Aceh positiv bewertet wird. Wenngleich die neu gebildete Aceh-Partei weitgehend unerfahren und schwach an Kapazitäten ist, konnte sie dennoch in Prozesse der Lokalpolitik und des Parlaments integriert werden, und trotz immenser interner Spaltungen gelang es ihr, die drohende Stagnation in der Frage der Nominierung eines Gouverneurskandidaten für die kommende Wahl 2012 abzuwenden. Die Selbstverpflichtung der GAM-Führung zur aktiven Mitgestaltung des Friedensprozesses bleibt somit bestehen. Dennoch ist aufgrund steigender Korruption, Geheimabsprachen und Nepotismus die Frage, ob die neuen politischen Führer tatsächlich eine bessere Alternative zu den alten darstellen, nicht eindeutig zu bejahen. Zwar konnten führende KPA-Kader nach dem Ende des bewaffneten Konflikts innerhalb des mangelhaft umgesetzten Reintegrationsprozesses ausreichend Zugang zu Ressourcen erhalten, und eine Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes ist vorerst nicht zu befürchten, aber der Traum von der Unabhängigkeit Acehs bleibt in vielen Köpfen lebendig.
Die rigide Implementierung der Scharia führt zu vielfach kritisierten Diskriminierungen und Bestrafungen. Dennoch befürworten viele Menschen in Aceh ein islamisches Rechts- und Gesellschaftssystem, da es ihnen auch als Referenz- und Handlungsrahmen dient, mit dem sie Angst und Ungewissheiten, die mit dem Umbruch und der Öffnung Acehs einhergehen, begegnen können.
Abschließend muss konstatiert werden, dass der historische, politische und soziokulturelle Kontext des Aceh-Konflikts sich nur sehr bedingt verallgemeinern und auf andere Konfliktszenarien übertragen lässt. Acehs Lage in der Peripherie eines multikulturellen und trotz eines fortschreitenden Dezentralisierungsprozesses noch stark zentralistisch ausgerichteten Staates und der besondere Umstand einer derart verheerenden Naturkatastrophe sowie der daraufhin geleisteten beispiellosen internationalen Hilfe lassen den bisherigen Verlauf der Konflikttransformation als Ausnahme erscheinen.