Einleitung
Indonesien befindet sich seit dem erzwungenen Rücktritt Suhartos im Mai 1998 in einem Prozess der Demokratisierung. Das Land war 1998 in der Region am schwersten von der Asienkrise betroffen und hatte eine nur schwach entwickelte Zivilgesellschaft - trotzdem kam es zügig zu umwälzenden politischen Reformen. Als die wichtigsten Revisionen der Verfassung beendet und 2004 zum zweiten Mal kompetitive und weitgehend faire Wahlen abgehalten worden waren, sprachen Beobachter davon, dass die Phase der Transition vom Autoritarismus zur Demokratie abgeschlossen sei und damit die Periode der Demokratiekonsolidierung beginnen könne.
Allerdings verläuft diese Transition keineswegs linear. Laut Greg Fealy
Seit ein paar Jahren bemerken Beobachter zudem, dass sich die Beziehungen zwischen dem muslimisch-sunnitischen Mainstream und Angehörigen religiöser Minderheiten sowie nicht-orthodoxen Muslimen verschlechtern. Das Meinungsforschungsinstitut LSI (Lembaga Survei Indonesia) hat beispielsweise 2007 in einer Studie gezeigt,
Vor diesem Hintergrund wird der zunehmende Einfluss konservativer Muslime verständlicher. Seit mehreren Jahren werden in zahlreichen Distrikten Verordnungen erlassen, die sich an der Scharia orientieren; sie verbieten Prostitution, Alkoholkonsum und Glücksspiel oder schreiben bestimmte Kleidungsformen und Verhaltensweisen insbesondere für Frauen vor. In der Provinz Aceh auf der Insel Sumatra wurde 2009 sogar das islamische Strafrecht eingeführt, das unter anderem Steinigung bei Ehebruch vorsieht. 2008 setzten konservative Politiker im indonesischen Parlament das Pornografie-Gesetz durch: Es sieht hohe Strafen für vage definierte "unzüchtige" Darstellungen und Handlungen vor. Ein interministerielles Dekret erteilte vor ein paar Jahren Angehörigen der Ahmadiyya-Sekte die Erlaubnis, sich zu versammeln, nicht aber ihre Lehre zu verbreiten, woraufhin die Sekte vermehrt zur Zielscheibe von Islamisten wurde. Nach Angaben der indonesischen Nichtregierungsorganisation Setara kam es 2007 aus religiösen Gründen zu insgesamt 135 Angriffen auf Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften, 2010 waren es 216 und 2011 244. In Bogor, wo sich der Gouverneur derzeit über ein Urteil des Obersten Gerichtshofes hinwegsetzt und verhindert, dass Mitglieder der GKI Yasmin in ihrer Kirche Gottesdienste abhalten können, wird die Presbyterianer-Gemeinde von islamistischen Gruppierungen bedroht. In Pasuruan und Sampang (Ost-Java) ist es 2011 sowie zuletzt im Januar 2012 zu Übergriffen auf Internate von Schiiten gekommen. Als im Februar 2011 ein Priester von einem Distriktgericht wegen Blasphemie zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, griffen Extremisten, denen das Urteil zu mild war (sie forderten die Todesstrafe), drei Kirchen in Temanggung (Zentraljava) an.
Die Zunahme interreligiöser Spannungen und die größere Präsenz einer Vielzahl islamistischer Organisationen ist eine Folge der demokratischen Öffnung, die radikalen Muslimen neue Freiräume eröffnet hat, und der Globalisierung, die transnationale Einflüsse verstärkt und zugleich das Bedürfnis nach einer deutlichen Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden wachsen lässt. In Indonesien führt dies zu einer Pluralisierung und verminderter Toleranz gegenüber Minderheiten zugleich. Trotzdem ist in dieser Vielfalt ein politisch moderater Islam immer noch dominant, und die junge, elektorale Demokratie ist zumindest mittelfristig durch Islamisten nicht grundlegend gefährdet.
Intensivierung transnationaler Einflüsse und Pluralisierung des Islams
Im vorkolonialen Indonesien verbanden sich verschiedene islamische Lehren mit den schon bestehenden indigenen Ideensystemen, die selbst von hinduistischen und buddhistischen Vorstellungen geprägt waren. Dieser Synkretismus gilt vielen als typisch für Südostasien. Schon in den ersten Jahrhunderten der Ausbreitung des Islams ergaben sich also Idiosynkrasien (identitäre Eigenheiten), die man heute als transnationale oder als Globalisierungsphänomene analysieren würde. Auch danach gelangten islamische Staats-, Rechts- und Gesellschaftsmodelle aus dem Nahen Osten, zum Teil über Südasien, nach Südostasien.
Als politische Ideologie wurde der Islam von den niederländischen Kolonialherren unterdrückt, vor allem als sich Anfang des 20. Jahrhunderts, insbesondere unter arabischem Einfluss, neue Strömungen herausbildeten und islamische Organisationen formierten. 1912 bildete sich die von reformistischen Ideen inspirierte, modernistische Muhammadiyah, deren Gründung wiederum einer der auslösenden Faktoren für die Entstehung eines traditionalistischen Pendants war, der Nahdatul Ulama im Jahre 1926. Die koloniale Schwächung des politischen Islams hatte zur Folge, dass sich zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit im Jahre 1945 moderate Muslime und Angehörige religiöser Minderheiten gegen Islamisten, die in einem Verfassungszusatz die Befolgung der Scharia zur Pflicht aller Muslime machen wollten, durchsetzen konnten. 1957 war dieser Konflikt, der in der Verfassunggebenden Versammlung wieder aufflammte, einer der Gründe für die Einführung der sogenannten gelenkten Demokratie durch Präsident Sukarno.
Trotz der Kontrolle der Islamisten durch das Regime haben die transnationalen Verflechtungen in ihrer Intensität besonders seit den 1970er Jahren aufgrund der sich beschleunigenden Globalisierung zugenommen. So ist zum Beispiel die vor ein paar Jahren gegründete Partai Keadilan Sejahtera (PKS, Wohlfahrts- und Gerechtigkeitspartei)
Auch die vielleicht bedeutendste missionarische Bewegung in Indonesien ist von Ideen der Muslimbrüder geprägt. Hizbut Tahrir Indonesia (HTI, Partei der Befreiung Indonesiens) wurde in den frühen 1950er Jahren von dem Palästinenser Taqiuddin an-Nabhani in Ost-Jerusalem gegründet. Die Organisation, die sehr stark von außen kontrolliert wird, ist seit Anfang der 1980er Jahre in Indonesien präsent und will dort einen Islamstaat errichten, der als Vorstufe zu einem Kalifat betrachtet wird. Trotz dieser radikalen, antidemokratischen Ziele lehnt HTI Gewalt ab.
Islamistische Gruppierungen wie HTI sind in Indonesien durchaus keine Randerscheinungen mehr. Es gibt daneben aber auch einflussreiche liberale Strömungen, die zum Teil schon unter Suharto entstanden waren. Sogenannte Neomodernisten wie Nurcholish Majid oder Abdurrahman Wahid forderten eine "Säkularisierung" des Islams - einen Rückzug aus der Politik sowie eine kulturelle Transformation der Gesellschaft. Diese neomodernistische Linie, die etwa Ende der 1960er Jahre entstand und auch stark von westlichen Konzepten geprägt ist, vereint sowohl traditionalistische als auch modernistische Elemente in sich.
In der Nachfolge von Abdurrahman Wahid und Nurcholish Majid ist in Indonesien nach dem Sturz Suhartos ein "Netzwerk liberaler Islam" (Jaringan Islam Liberal, JIL) entstanden, das versucht, ein "unorthodoxes" Islamverständnis zu verbreiten. Gerade unter Intellektuellen, etwa im Sektor der Nichtregierungsorganisationen, in den Medien oder an Universitäten, sind solche Interpretationen weit verbreitet.
Erscheinungsformen des gewaltbereiten Islamismus
Auch die bekanntesten gewaltbereiten Organisationen, also die inzwischen aufgelösten Laskar Jihad (LJ, "Dschihad-Krieger"), die Front Pembela Islam (FPI, "Front der Verteidiger des Islams"), die unter anderem durch "Aktionen gegen die Sünde" (also Überfälle auf Bars und Diskotheken) während des Fastenmonats von sich reden machte, und das heute ebenfalls wohl nur noch rudimentär existierende terroristische Netzwerk Jemaah Islamiyah (JI, "Islamische Gemeinschaft"), sind stark von transnationalen Einflüssen geprägt.
Die Szenerie des gewaltbereiten Islamismus ist jedoch so unübersichtlich, dass selbst eine sehr gut informierte Nichtregierungsorganisationen wie die International Crisis Group (ICG) in immer neuen Berichten nur Momentaufnahmen machen und flüchtige Situationsbeschreibungen veröffentlichen kann. Laut ICG gibt es heute drei terroristische, dschihadistische Gruppierungen in Indonesien: die JI, deren Gewaltbereitschaft nachgelassen hat, die Anhänger des inzwischen getöteten Noordin Top, die durch Bombenanschläge den "Feind" systematisch schwächen wollen, und eine neue Gruppe, die Anfang 2010 in Aceh aufgeflogen ist und nun von woanders aus gezielt Anschläge verüben will.
Es sind allerdings nur bestimmte Formen religiös motivierter Gewalt, die sich ausbreiten und häufiger geduldet werden: Der islamistische Terrorismus, dessen Hochphase etwa von 2001 bis 2005 war, ist heute geschwächt, und auch andere Formen eines kriegerischen Islamismus wie in den Molukken zwischen 1999 und 2002 treten heute nur noch sporadisch auf. Diese Gewaltformen sind von einem immer häufiger auftretenden Vigilantismus abgelöst worden, einer Art religiöser Selbstjustiz gegen Andersgläubige. Bei einigen kleinen Gruppen gehen zudem Vigilantismus und Terrorismus ineinander über.
Moderater Islam in der Parteipolitik
Obwohl sich seit den 1950er Jahren nach Ansicht der meisten Indonesien-Experten und Islamwissenschaftler eine viele Bereiche umfassende Islamisierung vollzogen hat, lässt sich eine Schwächung islamischer bzw. islamistischer Parteien konstatieren. 1955 bekamen die beiden stärksten islamischen Parteien (die in der Verfassunggebenden Versammlung Ende der 1950er Jahre islamistische Positionen einnahmen), Nahdatul Ulama und Masyumi, zusammen knapp 40 Prozent der Stimmen. Damals ergab sich eine Art Pattsituation zwischen säkularen und islamischen bzw. islamistischen Parteien. Bei den Wahlen 1999, den ersten fairen und freien Wahlen seit 1955, waren hingegen säkular orientierte Parteien eindeutig am erfolgreichsten. Zu den säkularen Kräften zählen unter anderem viele Mitglieder der Partei der Ex-Präsidentin Megawati Sukarnoputri, PDI-P (Partai Demokrasi Indonesia-Perjuangan, "Demokratische Partei Indonesien-Kampf"), der Partai Golkar (die unter Suharto Regierungspartei gewesen ist) und der relativ neuen Partai Demokrat des jetzigen Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono. Die drei größten islamistischen Parteien erhielten dagegen zusammen nur rund 14 Prozent (1999), 18 Prozent (2004) bzw. 13 Prozent (2009) der Stimmen.
Die wichtigsten Ämter werden entweder von den Säkularisten oder von den laizistisch orientierten Muslimen besetzt, die unter anderem zur PKB (Partai Kebangkitan Bangsa, "Partei des Volkserwachens") und der PAN (Partai Amanat Nasional, "Partei des Nationalen Mandats") gehören. Die PKB entstand im traditionalistischen Milieu, in dem alte javanische Glaubenspraktiken eher toleriert und Angehörige aus bestimmten ulama-Familien besonders verehrt werden. Diese ulama betreiben in vielen Fällen Internate (pesantren) und stehen an der Spitze der schon erwähnten Nahdatul Ulama, die eine Zeit lang selbst eine politische Partei gewesen ist und heute - in einer sehr vagen Definition - 40 Millionen Mitglieder haben soll. Die PAN entstammt im Gegensatz dazu einem modernistischen, urban geprägten Milieu im Umfeld der angeblich 30 bis 35 Millionen Mitglieder starken Muhammadiyah. Allerdings sind die Beziehungen dieser insgesamt moderaten, zum Teil liberalen Massenorganisationen zu den beiden Parteien in den vergangenen Jahren immer mehr gelockert worden.
Warum spiegeln sich die oben angeführten Umfrageergebnisse und der allgemein verzeichnete Aufstieg eines zunehmend kämpferischen Islams nicht in den Wahlergebnissen wider? Offensichtlich trennen die indonesischen Wählerinnen und Wähler zwar häufig nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis zwischen Religion und Politik, denn die religiösen Parteien haben durch Korruption und Machtpolitik ihre Glaubwürdigkeit zum Teil verspielt. Das gilt auch für die PKS, die mehrere Jahre lang als die einzige Partei galt, die nicht von money politics beschmutzt worden ist.
Widerstandsfähige Demokratie
Der Soziologe Vedi Hadiz hat auf die in der Forschung häufig vernachlässigten Macht- und wirtschaftlichen Interessen muslimischer Akteure aufmerksam gemacht.
Die Religion wird auch in vielfacher Form unmittelbar instrumentalisiert. Michael Bühler
Es ist anzunehmen, dass viele dieser Gruppierungen private Geldgeber und Unterstützer im staatlichen Verwaltungs- und Sicherheitsapparat haben. Entsprechend werden islamistisch-militante Gruppierungen oft nur halbherzig von den Sicherheitskräften verfolgt. Das gilt nicht für terroristische Gruppierungen, wohl aber für Gruppierungen, die Minoritäten (Homosexuelle, Christen, Mitglieder islamischer Sekten, Anhänger eines liberalen Islams) unter Druck setzen und zum Teil offen Gewalt einsetzen. Dabei können sie auch mit der Tolerierung durch Teile der politischen Eliten bis hinauf zur Ministerebene rechnen.
In Indonesien treffen gegenwärtig unterschiedliche Strömungen aufeinander: Auf der einen Seite gibt es starke, die Demokratisierung unterstützende Kräfte, die sich teils auf "westliche", teils auf einheimische Modelle beziehen. Auf der anderen Seite stehen radikale Islamisten, welche die liberale Demokratie ablehnen und die Errichtung eines Islamstaats oder Kalifats anstreben. Dazwischen positionieren sich moderate Islamisten wie jene der PKS, die sich den demokratischen Spielregeln beugen, also an Wahlen teilnehmen und Koalitionen selbst mit christlichen Parteien eingehen.
Der Islam in Indonesien ist als Folge der Demokratisierung seit 1998 und der beschleunigten Globalisierung vielfältiger und wandelbarer geworden. Die Demokratisierung hat insbesondere islamistischen Kräften neue Möglichkeiten zur Verbreitung ihrer Ideen gegeben, zugleich gelangen durch die Globalisierung immer mehr transnationale Einflüsse wie Pamphlete, Glaubensinterpretationen, Missionare oder Bildungsinstitutionen ins Land. Interreligiöse Spannungen scheinen zuzunehmen und islamistische Gruppierungen sind in ihrer Bedeutung enorm gewachsen. Dennoch wäre es unangemessen, die Lage zu dramatisieren, gibt es doch durchaus Hinweise darauf, dass bestimmte Formen eines radikalen Islams heute schwächer sind als in den ersten Jahren nach dem Sturz Suhartos. Außerdem dominieren in der Parteipolitik moderate Kräfte; selbst islamistische Parteien wie die PKS öffnen sich zusehends.
Vieles spricht dafür, dass Islamisten in diesem "Kulturkampf" und in den politischen Auseinandersetzungen nicht die Oberhand gewinnen. Auch eine sich als islamistisch definierende Außen- oder Wirtschaftspolitik existiert nicht; Demokratie und Marktwirtschaft sind die von der Mehrheit der Bevölkerung favorisierten Modelle. Und diese Demokratie ist trotz der Rückschläge etwa im Antikorruptionskampf und islamistischer Anfechtungen stabil.