Einleitung
Deutschland gilt international als leuchtendes Beispiel - Timothy Garton Ash sprach mit feiner Ironie von einer neuen "DIN-Norm" - für die Auseinandersetzung mit einer höchst problematischen Nationalgeschichte; einer jüngeren Vergangenheit, die nachgeborenen Generationen kaum Anlässe bietet, eine positive Identifikation mit der eigenen Nation zu entwickeln. Genau das aber war seit dem 19. Jahrhundert und teilweise bis heute ein wichtiges Anliegen staatlichen Geschichtsunterrichts. Insofern drängt sich die Frage auf, wie diese Spannung ins Schulbuch, also in jenes frühe "Massenmedium", übersetzt wird, dem fast alle Staaten dieser Welt (auch) die Aufgabe zuschreiben, kohärente Deutungen und überzeugende Embleme (nationaler) Zugehörigkeit zu vermitteln.
Vor dem Hintergrund der historischen Belastungen und der Intensität, mit der diese nach einer längeren Phase des "Beschweigens" gesellschaftlich durchgearbeitet wurden,
Für die Gestaltung von Schulbüchern leiten sich daraus Erwartungen ab, die im Kontext der ohnehin komplexen und gebrochenen deutschen Geschichte allein in fachlicher Hinsicht zu veritablen Herausforderungen werden: Dies betrifft etwa die Konkurrenz zwischen Schulbuch und (anderen) Massenmedien, die sich mit Vorliebe der Zeitgeschichte annehmen. Selbst wenn Jugendliche nicht zur bevorzugten ZDF-Klientel gehören und Guido Knopps Schlaglichter auf den Nationalsozialismus eher bei der Generation der Zeitzeugen denn bei Nachgeborenen populär sein dürften, so bilden medial vermittelte Sichtweisen doch eine wichtige Rahmung auch für Schulbuchrepräsentationen. Spielfilme wie "Schindlers Liste", "Good Bye, Lenin" oder "Das Leben der Anderen" wurden von vielen Jugendlichen gesehen und dürften deren Sicht auf die jeweiligen historischen Phänomene (mit) geprägt, also auch Lehrplan, Schulbuch und Lehrende herausgefordert haben.
Schulbücher stehen für staatlich approbiertes und hinreichend legitimiertes Wissen, das von den Deutungseliten einer Gesellschaft als relevant eingestuft und als gesichert verstanden wird.
Bildungspolitische, fachliche und didaktische Erwartungen
Obwohl das Schulbuch schon mehrfach totgesagt wurde, hat es sich im deutschen Geschichtsunterricht als Leitmedium behauptet
Angemessen beurteilen lassen sich diese nur, wenn man sich vergegenwärtigt, welch hohen Anforderungen Schulbücher gerecht werden müssen: Einerseits unterliegen sie dem Zwang, Komplexität zu reduzieren, andererseits sollen sie dem Stand fachwissenschaftlicher, fachdidaktischer und pädagogischer Forschung sowie bildungspolitischen Vorgaben entsprechen.
Ein Kennzeichen der deutschen Schulbuchlandschaft im Fach Geschichte ist eine - gemessen am internationalen Maßstab - fast beispiellose Breite und Diversität.
Geprägt wird die Schulbuchlandschaft auch durch Aktualität: Schulbücher wagen sich näher an die Gegenwart heran als die Geschichtswissenschaft, die oft erst aktiv wird, wenn Quellen staatlicher Provenienz frei zugänglich sind.
Gemäß den Rahmenrichtlinien und Lehrplänen der Länder wird Zeitgeschichte ab Jahrgangsstufe 9 unterrichtet, bis Klasse 11 überwiegend in chronologischer Struktur. Die Schwerpunkte zur Zeitgeschichte weichen dabei nur geringfügig voneinander ab. Nationalsozialismus, Holocaust und Zweiter Weltkrieg; Kalter Krieg und deutsche Teilung sowie die deutsche und europäische Einigung haben - wenngleich in unterschiedlicher Gewichtung
Tätergedächtnis und Opferdiskurse
Nationalsozialismus und Holocaust sind in allen Bundesländern Kernthemen schulisch vermittelter (National-)Geschichte. Obwohl die Zahl der Zeitzeugen signifikant zurückgeht und die Epoche dem kommunikativen Gedächtnis nach und nach entschwindet, wird der Zivilisationsbruch keineswegs marginalisiert, sondern intensiver als je zuvor verhandelt. Die zentralen Perspektiven allerdings haben sich verschoben. Die Periode wird zwar nach wie vor auch als personenzentrierte Täter- und Opfergeschichte geschrieben - mit wachsender Sensibilität für die Würde der Opfer -, zugleich aber wird sie nun auch in ihrer Alltäglichkeit erschlossen. Begriffe wie "Hitler-Deutschland", "verstrickt" oder "im deutschen Namen", die ebenso wie früher dominante Visualisierungsstrategien den Eindruck vermitteln konnten, nur eine kleine Gruppe führender Nationalsozialisten habe Verantwortung getragen, sind aus Schulbüchern nahezu verschwunden.
Zentral ist vielmehr die Perspektive Gesellschaft: Intensiv wird die Frage nach Tätern und Opfern, nach Handlungsoptionen unter den Bedingungen der Diktatur, nach dem Wissen um die Judenvernichtung und nach aktiver Beteiligung daran verhandelt.
Noch immer sind es allerdings überwiegend Täter, die verbale wie visuelle Sprecherrechte haben: Es dominieren Blicke auf (zumeist jüdische) Opfer und nicht deren eigene Sichtweisen und Wahrnehmungen. Das hängt zwar auch mit der asymmetrischen Quellenüberlieferung zusammen. Diese rechtfertigt aber nicht einen unbedarften Umgang mit Quellen - seien es nun mangelhaft oder gar nicht kontextualisierte Abbildungen (Propagandaplakate und Presseerzeugnisse, inszenierte Fotos) oder aber Texte, deren nationalsozialistische Semantik nicht ausreichend problematisiert und dekonstruiert, sondern bestenfalls als Wertung vorgegeben wird.
Dabei bemühen sich Schulbuchautoren durchaus darum, nicht allein die Ausnahmesituation zu dokumentieren, in der viele Betroffene Geschichte nur noch erleiden, aber nicht (mit)gestalten konnten.
Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die leidenschaftlichen Debatten um die angemessene Bewertung der nationalsozialistischen Vergangenheit und die im vergangenen Jahrzehnt ausgetragenen Kontroversen um den Opferstatus "der Deutschen" die Auseinandersetzung mit der ersten deutschen Diktatur und der Vernichtung der europäischen Juden weder verdrängt noch relativiert haben. Im Gegenteil: Auschwitz als negativer Gründungsmythos eines neuen demokratischen Deutschland und eines auf Friedenssicherung und Verständigung ausgerichteten Europa prägt alle Lehrwerke. Dies stützt die Einschätzung Martin Sabrows, der prognostiziert, dass Holocaust und Mauerfall wohl auf absehbare Zeit "die beiden und zugleich hierarchisch gestuften Bezugspunkte des zeitgeschichtlichen Denkens in Deutschland bleiben" werden.
Die Befürchtung, dass sich ganz neuartige, auf Deutsche verengte Opfererzählungen im Schulbuch manifestieren und den Basisnarrativ für den späten Nationalsozialismus und die frühe Nachkriegszeit prägen könnten,
Komplexität deutscher Nachkriegsgeschichte
Die Frage, wie die Geschichte beider deutscher Staaten und Gesellschaften in ein annähernd kohärentes und zugleich für transnationale Perspektiven offenes Geschichtsbild zu integrieren ist, stellt nicht nur wegen der unmittelbaren zeitlichen Nähe zum Geschehen, sondern auch wegen der unübersehbaren Asymmetrien im gesellschaftlichen Diskurs eine besondere Herausforderung dar. Für sie kann der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nur bedingt als "Kopiervorlage" dienen. Aus der Vogelperspektive ging es zwar nach 1945 ebenso wie nach 1990 um die Frage, wie eine Gesellschaft Vergangenheit kritisch analysieren und zugleich - auch über Identitätsbildung durch Geschichte - jene Menschen in die neue Ordnung integrieren kann, die sich einer nunmehr diskreditierten Ideologie verpflichtet hatten. Im Unterschied zur Nachkriegszeit standen aber nach 1990 vielfach Entwürfe eines ganzen Lebens - unter Umständen in zwei deutschen Diktaturen - zur Disposition.
Zudem vollzog sich der Systemwandel 1989/90, in dessen Folge ein durchgreifender Elitenwandel in Gang kam und Geschichte neu geschrieben wurde, nur auf einen, den kleineren Teil der Nation. Die alte Bundesrepublik existierte territorial vergrößert weiter, während sich in den neuen Bundesländern fast alle bisherigen Orientierungspunkte auflösten, ein durchgreifender Elitenwandel in Gang kam und Geschichte neu geschrieben werden sollte. Während es beim Nationalsozialismus mehr als einer Generation bedurfte, bis das Vergessen durch Erinnern abgelöst wurde, begann das Ringen um die Bewältigung der Diktaturerfahrungen nun ohne zeitlichen Verzug und - nach einer kurzen Phase bürgerrechtlicher Dominanz - vielfach unter der Deutungshoheit von Westdeutschen. Dies gilt auch für Schulbücher und ihre Autoren, bei denen sich die Narrative des Kalten Krieges verständlicherweise nicht sofort auflösten: Stalinismus, 17. Juni 1953 und Mauerbau, Teilung und Repression - nun ergänzt durch Informationen zu Bürgerbewegung und Opposition, zum Mauerfall und zur gelungenen deutschen Einheit bildeten den Kernbestand von DDR-Geschichte im Schulbuch der frühen 1990er Jahre. Im Zentrum standen der autoritäre Charakter des sozialistischen Staates und die Durchherrschung der Gesellschaft durch die SED beziehungsweise die von ihr kontrollierte Staatssicherheit.
Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat sich der - von oben und von außen geformte - Blick thematisch und konzeptionell sichtbar erweitert: Die DDR wird nicht mehr nur als Polizeistaat charakterisiert, sondern adäquat zu anderen Epochen auch über ausgewählte Aspekte seiner Gesellschaftsgeschichte vergegenwärtigt. Totalitarismustheorien taugen kaum noch zur Leiterzählung. Die meisten Bücher bemühen sich um Historisierung und unterscheiden zwischen der NS-Herrschaft mit ihrem Vernichtungswillen und ihren Menschheitsverbrechen einerseits, und den autoritären sozialistischen Systemen und ihren Menschenrechtsverletzungen andererseits.
Grenzen findet das Bemühen um Historisierung allerdings insofern, als die Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der DDR oder der Staaten des Ostblocks nur selten in einen Zusammenhang mit der des europäischen Sozialismus gestellt wird. Die von den Nationalsozialisten unterbrochenen Kontinuitätslinien bleiben gekappt, was eine reduzierte Wahrnehmung und eine Externalisierung dieses historischen Phänomens ("ohne Stalin kein Sozialismus") begünstigt.
Im Umkehrschluss wird damit freilich auch der Westen enthistorisiert. Die Geschichte der alten Bundesrepublik ist mehr oder weniger zwingend eingebettet in eine Erfolgserzählung und besitzt eine auf Kontinuität ausgerichtete Temporalstruktur, in der für Krisen, Konflikte oder Brüche kaum Raum bleibt. Die DDR hingegen steht fast unabhängig von dem jeweils dominierenden narrativen Konzept für eine einprägsame Misserfolgsgeschichte und erscheint nachgerade als "bleierne Zeit". Damit spiegeln viele Schulbücher ein Grundaxiom deutscher Erinnerungskultur präzise wider: Der Blick auf 1989/90 (und von da zurück) konturiert die Deutung der europäischen Nachkriegsgeschichte fast exklusiv. Allerorten begegnet man retrospektiven, auf Mauerfall, Wiedervereinigung und europäische Integration ausgerichteten Erzählstrukturen.
Auch wenn vom "Ende der Geschichte"
Schon jetzt gibt es innerhalb des skizzierten, tendenziell teleologischen Rahmens unterschiedliche, mit fachwissenschaftlichen Diskussionen korrespondierende Akzentsetzungen. Dies zeigt sich beispielsweise an der Wahl der Zäsuren. Für einen Teil der Autoren bilden die friedliche Revolution bzw. die in den sozialistischen Gesellschaften Europas erwachenden zivilgesellschaftlichen Kräfte den Fluchtpunkt für die Darstellung der jüngeren Zeitgeschichte, die einige Bücher inzwischen auch europäisch lesen.
Die meisten Schulbuchautoren sind um eine vergleichende, teilweise auch integrative Behandlung der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte bemüht. Die Frage nach Gegensätzen und Gemeinsamkeiten zieht sich durch viele Lehrwerke. Damit entsprechen sie dem Stand fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Diskussionen,
Während Jugend im Westen meist für "Vielfalt von Lebensformen" steht, scheint sich das Leben ihrer Altergenossen im Osten nur "Zwischen Druck und Anpassung" bewegt zu haben.
Auffällig ist auch, dass politische Geschichte für die Zeit nach 1945 nach wie vor dominiert. Zwar zeigen fast alle Lehrwerke Interesse an Kulturgeschichte und Manifestationen des Alltags auch in der DDR. Der Basisnarrativ aber speist sich hier aus Herrschaftsstrategien, Repression und Propaganda einerseits, Dissidenten und oppositionellem Verhalten andererseits. Über die informellen Strukturen der DDR-Gesellschaft und über den Kitt, der sie - auch - zusammenhielt, finden sich kaum substanzielle Informationen. Während der Überwachungsstaat mit beiden Händen zu greifen ist, bleibt sein Gegenstück, die "partizipatorische Diktatur", nahezu ohne Konturen.
Doch es ist nicht allein die narrative, sondern auch die semantische Struktur, die Zugänge zu Geschichte eröffnet oder verstellt. In den meisten Schulbuchtexten zur Geschichte des Sozialismus dominieren - mehr als in anderen Kapiteln - Passivkonstruktionen. Wer gehandelt hat, wer Verantwortung trug oder Schuld auf sich lud, bleibt unklar. Wenn überhaupt, dann haben - wie vielfach in den Medien - die herrschende Elite und prominente Dissidenten, zuweilen auch westdeutsche Kommentatoren eine historische Stimme. Drei Viertel der DDR-Bürger - nämlich diejenigen, die weder geherrscht und gespitzelt noch mutig widerstanden, sondern sich eingerichtet und angepasst, still gelitten oder aber idealistisch gehandelt haben, die ihren Vorteil suchten oder sich verführen ließen - bleiben historisch "sprachlos". Obgleich dies (ähnlich den in NS-Kapiteln dominierenden Täterquellen) mit der Überlieferungssituation zu tun haben und nicht intendiert sein mag, führt eine solche Zuteilung von Sprecherrechten dazu, dass die Vielfalt der Akteure - auch, ja gerade der Opfer - und Verantwortungen von Einzelnen hinter dem repressiven Charakter des Systems zurücktreten.
Vergleicht man deutsche Schulbuchtexte zu diesem Thema mit denen anderer Länder, so ist der erreichte Grad an Differenzierung gleichwohl bemerkenswert. So sehen englische oder amerikanische Lehrwerke das Phänomen Staatssozialismus zwar - anders als deutsche - aus einer dezidiert europäischen Perspektive, aber nur als Teil des Kalten Krieges und in binären Grundstrukturen von (sowjetisch gesteuerter) Herrschaft und Opposition, changieren also stetig zwischen Repressions- und Widerstandsnarrativ.
Nationalgeschichte im Kontext
Deutsche Schulbücher eröffnen zwar weltgeschichtliche und transnationale Perspektiven; für das 20. Jahrhundert beziehen sich diese aber primär auf die "große Politik", auf Institutionen und zentrale politische Krisen. Der Kalte Krieg mit seinen Kernthemen (Konfrontation, Wettrüsten und Entspannungspolitik, Kuba-Krise, Vietnam-Krieg), die europäische Integration, der Nahost-Konflikt, die Gründung der UNO und teilweise auch Terrorismus gehören zum Basisinventar, während globale Problemfelder wie Ungleichheit und Armut, Migration oder Entkolonialisierung ungleich seltener historisiert werden.
Gesellschafts- und kulturgeschichtliche Zugänge sind in diesem Rahmen ebenso unterrepräsentiert wie postkoloniale Ansätze oder Außensichten auf Europa; nur selten erhalten etwa die Kolonisierten eine eigene (Quellen-)Stimme, wenn es um Kolonialismus und Dekolonisierung geht.
Problematisierung und kritische Distanz kennzeichnet aber auch den Basisnarrativ zur deutschen Geschichte. Die Autoren gehen behutsam mit der historischen Begründung nationaler Identität um, arbeiten den Unterschied zwischen historischer Belastung und Vertrauenswürdigkeit in der Gegenwart heraus und sensibilisieren für historische Mythenbildung.
Man stößt zwar auf korrekturbedürftige Stereotype - etwa zum historischen Islam und Muslimen
Bemerkenswert ist, dass deutsche Schulbücher inzwischen den Wandel von Erinnerungskulturen zu einem eigenständigen Thema machen, dass sie faktisch "Gedächtnisgeschichte" schreiben und Geschichte als Konstrukt verstehbar machen.