Einleitung
Was also urteilen Sie, geehrte Zuhörer? (...) Wollen Sie annehmen, dass es keine enge Verbindung und Verwandtschaft der Historie mit der Politik gebe? Ich kann mir nicht denken, dass eine solche Ansicht ihre Beistimmung werde erlangen können. Dies allein ist fraglich, welches Verhältnis zwischen beiden obwalte. (...) Sprechen also will ich von der Verwandtschaft der Historie und Politik, und werde zu zeigen versuchen, welches die Grenzen dieser Wissenschaften sind, wo die eine die andere berührt, wo sie sich zu trennen beginnen, welcher Unterschied zwischen ihnen stattfindet." Das Zitat stammt aus der Berliner Antrittsvorlesung Leopold von Rankes aus dem Jahr 1836: "Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik".
In enger Nähe so fern?
Auch wenn sich mit Klaus von Beyme und Wolfgang Seibel zwei herausragende Vertreter der deutschen Politikwissenschaft erst in jüngerer Zeit diesem Problemfeld zugewendet haben,
Dass diese enge Verbundenheit zweier Disziplinen nicht nur ein Intermezzo war und nunmehr gleichsam eine Rückkehr zur Normalität oder Tradition zu verzeichnen ist, belegt schon der Bezug auf Ranke. Überhaupt findet sich im 19. Jahrhundert - so kompliziert die Geschichte beider Fächer gerade in jenem Säkulum war - eine ganze Reihe von Doppellehrstühlen für Politik und Geschichte. Heinrich von Sybel, der Begründer der "Historischen Zeitschrift", oder Johann Gustav Droysen wirkten nicht nur als Historiker, sondern lasen auch über Politik. Der für seine "Historik" berühmte Droysen schrieb 1851: "Ich rüste mich, die Wissenschaft von der Politik zu treiben (...) - eine pragmatische Politik, will sagen die exakte Wissenschaft vom Staat und von den Staaten, Machtlehre dergleichen."
Die gegenwärtige Politikwissenschaft in Deutschland vereinigt unterschiedliche Methoden, Theorieansätze und Richtungen. Dabei lässt sich ein Trend hin zur empirischen wie theoretischen Sozialwissenschaft sowie zu Vielzahlen-Vergleichen bei gleichzeitiger Kappung geisteswissenschaftlicher Bezüge und Traditionen ablesen - nicht selten zusätzlich auf Kosten stilistischer Eleganz. Der "Politologenjargon" ist berühmt-berüchtigt und schafft Distanz zur Öffentlichkeit. Die Historiker sind schon lange nicht mehr wie selbstverständlich Vertreter einer geglückten Narration. Bereits 1979 ertönte daher der Ruf nach einem "revival of narrative".
Schnittmengen im Bereich der schlechten Darstellungsformen dürften aber kaum zur Entspannung der zunehmend prekären bilateralen Beziehungen beider Fächer beitragen. Die Historiker tragen dafür ebenfalls Verantwortung. Kaum eine zweite Disziplin beschäftigt sich so intensiv mit der Entwicklung der Zünfte wie die Geschichtswissenschaft und versteht sich zugleich selbst als eine solche; das bringt strenge Aufnahmebedingungen ebenso wie eigentümlich elitäre Abgrenzungsbestrebungen mit sich. Galt einst der nicht der Zunft angehörende Handwerker als Pfuscher, so mag manch zünftiger Historiker diese Rolle heute den Politologen zuweisen. Ein geringer ausgeprägtes Kastendenken und weniger Revierverhalten täten gut.
Ungeachtet von Schuldzuweisungen dürfte die von Charles Tilly konstatierte Tatsache zutreffen, dass wir es mit einem dünn bevölkerten Niemandsland an den Grenzen zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft zu tun haben.
Gleichwohl sind wesentliche Kooperationsmöglichkeiten der beiden Fächer ebenso wenig zu übersehen und wiederholt herausgestellt worden. Demnach profitiert die Geschichtswissenschaft vorrangig von der Theorie-, Begriffs- und Methodenübernahme aus der Politikwissenschaft im Besonderen und den Sozialwissenschaften im Allgemeinen. Eine Hochzeit erlebte dieser enge Fächerkontakt während der 1970er Jahre, als sich die "Gesellschaftsgeschichte" in ihrem Verständnis als "Historische Sozialwissenschaft" als neues Leitparadigma durchsetzte. Sozialwissenschaftliche Entwicklungs- und Modernisierungstheorien erfreuten sich einer regen Übernahme durch Historiker.
Die Politikwissenschaft hingegen nutzt die Historie, sofern sie sich auf sie einlässt, in erster Linie als empirisches "Lagerhaus" (Klaus von Beyme), um ihre Modellvorstellungen und theoretischen Konzepte zu testen. Das Interesse an der "historischen Methode" ist dagegen eher gering. Dies zeigt sich deutlich am Beispiel der Biografik, die in der Geschichtswissenschaft wieder als ernstzunehmendes Genre salonfähig geworden ist, in der Politikwissenschaft dagegen ein Mauerblümchendasein fristet. Politikwissenschaftler, die personalen Aspekten nachspüren, greifen meist lediglich auf die durch die Geschichtswissenschaft bereitgestellten Daten für Sekundäranalysen zu. Sie fahren dann nicht selten "auf dem Trittbrett der mühsam recherchierenden historischen Forschung".
Statt mich diesem gemeinsamen, insgesamt vernachlässigten Untersuchungsbereich beider Fächer, den handelnden Akteuren und Personen im Spannungsfeld zwischen Individual- und Kollektivbiografik, zuzuwenden,
Clios Datenreservoir
"Aus Umfragen unter vielen tausend Menschen ist (...) das Material für eine Geschichtsschreibung entstanden, die die Ereignisse nicht als Folge politischer und wirtschaftlicher Absichten zeigt, sondern im Echo der Betroffenen." Dies schrieb Elisabeth Noelle-Neumann im Jahr 1949.
Lange Zeit scheuten deren Fachvertreter aber vor Material und Methoden der Meinungsforschung zurück. Erst in allerjüngster Zeit kündigt sich hier ein Wandel an. Ein Grund für das Misstrauen vieler Historiker gegenüber Demoskopen liegt vermutlich in ihrer unterschiedlichen Perspektive (oder wenigstens den entsprechenden Perzeptionen): Die einen schauen zurück in die Vergangenheit, die anderen blicken meist nach vorn. Vereinfacht gesprochen beginnt der Historiker mit einem Ereignis, einer vollendeten Tatsache und schließt von da aus auf das Meinungsklima, das den Vorgang ermöglichte. Der Meinungsforscher - wie die prognosenaffine Politikwissenschaft überhaupt - ermittelt Einstellungen und versucht, Kommendes besser einzuschätzen.
Eine weitere Ursache für die Skepsis, mit der Historiker der Demoskopie begegnen, könnte darin bestehen, dass sie sich mit längerfristigen Entwicklungen und Prozessen befassen, die Demoskopen in ihren Augen dagegen nur mit dem sprunghaften Wandel von Meinungen über kleine Fragen in kurzen Zeiträumen. Manche Historiker lehnen den Umgang mit Umfrageergebnissen auch deshalb ab, weil sie die Bedeutung der öffentlichen Meinung zur Erklärung der "großen Politik" bestenfalls für zweitrangig halten. Angesichts von Demokratisierungsprozessen in der Massengesellschaft - und auch angesichts von Tendenzen einer "Kulturgeschichte der Politik", die Medien und Öffentlichkeit gerade im 20. Jahrhundert erhöhte Beachtung schenkt
Was leistet die Demoskopie als Geschichtsquelle, auf welchen Gebieten der Zeithistorie kann sie Aussagen machen? Einen wichtigen Beitrag steuert sie zur Mentalitätsforschung bei. Sie untersucht gemeinschaftliche Weltbilder, erfasst Ein- und Vorstellungen zu zentralen Lebenssituationen, zu politisch-gesellschaftlichen Institutionen und Konstellationen, um Verhaltensweisen größerer Gruppen besser zu verstehen. Die Mentalitätsgeschichte unterscheidet sich von der herkömmlichen Ideen- und Geistesgeschichte. Sie will kulturelle Selbstverständlichkeiten erfassen, zumal von Gruppen und Menschen, die wenig oder keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben. Sie ist im Grunde historische "Zeitgeist"-Forschung. Im Bereich der Politik spricht man statt von Mentalitäten häufig von der politischen Kultur.
Die amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba gaben mit ihrer auf Umfrageergebnisse gestützten Länderstudie von 1963 "The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations" der politischen Kulturforschung einen starken Impuls. In dieser Studie untersuchten sie auch die politische Kultur der Bundesrepublik. Sie gelangten damals zu einem skeptischen Urteil, stellten für die Westdeutschen viele Traditionselemente fest, eine nur langsam fortschreitende Entfernung vom Obrigkeitsdenken, Konfliktschwäche, ein eher formales Verhältnis zu Politik und Wahlen sowie ein starkes soziales Misstrauen. Knapp zwanzig Jahre später wies mit David Conradt abermals ein amerikanischer Politikwissenschaftler anhand von Umfragedaten des Allensbacher Instituts für Demoskopie einen positiven Wandel in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland nach.
Hier war über einen längeren Zeitraum hinweg ein "Wertewandel" zu beobachten, womit das Thema des Politikwissenschaftlers und empirischen Zeitdiagnostikers Ronald Inglehart angesprochen ist. Ende der 1970er Jahre konstatierte er in seinem gleichnamigen Klassiker eine "Silent Revolution".
Neuerdings haben die Bemühungen zur Ausbildung einer zeitgeschichtlichen Wertewandelsforschung zugenommen, die sozialwissenschaftliche Erklärungsangebote und Umfragedaten aufgreift und sie zu historisieren sucht.
Hier wie stets ist aller Anfang schwer. Dies sollte aber nicht dazu führen, beispielsweise die Demoskopie als Geschichtsquelle auszusparen. Schließlich kann sie gute Dienste zur Erforschung und Beurteilung von Fragen nach Kontinuität und Wandel der politischen Kultur und zentraler gesellschaftlicher Wertvorstellungen - jenseits geistiger Höhenkammwanderungen - leisten.
Außerdem kann mit Hilfe demoskopischer Daten die Popularität politischer Entscheidungen und deren Wahrnehmungswandel innerhalb der Bevölkerung besser nachgezeichnet werden. Es lässt sich eine Reihe von Beispielen finden, wie anfangs unbeliebte Maßnahmen nach ihrer Implementierung ins Gegenteil umschlugen. Die Entscheidungen für die Wiederbewaffnung oder die Abschaffung der Todesstrafe in der frühen Nachkriegszeit etwa stellen Fälle einer anfangs unpopulären Politik in der Geschichte der Bundesrepublik dar. Gerade im Zeitalter der Massenmedien werden sich Politikwissenschaft und Zeitgeschichte verstärkt für die Kommunizierung von Politik und Fragen der Responsivität und Rückkopplung in der Bevölkerung interessieren.
Fazit und Thesen
Empirische Politikforschung in Form von demoskopischer Datenerhebung und Geschichtswissenschaft können sich gegenseitig befruchten, vorausgesetzt die Meinungsforschungsexperten bemühen sich um Trendfragen und eine sorgfältige Anlage von Datenarchiven. Unter anderem der Mentalitätsgeschichte, der historischen Erforschung der politischen Kultur und des Wertewandels dienen Umfrageergebnisse als historische Quelle. Außerdem kann mit ihrer Hilfe die Wechselwirkung von öffentlicher Meinung und politischen Entscheidungen besser ausgelotet werden. Eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Frage, wie Historiker demoskopische Daten nutzen und wie sie von den Ergebnissen der Meinungsforscher profitieren können, steht noch am Anfang.
Der berühmte austroamerikanische Wahlforscher Paul Lazarsfeld hielt schon vor mehr als sechzig Jahren einen Vortrag zur "Verpflichtung des Meinungsforschers von 1950 gegenüber dem Historiker von 1984". Der darin gemachte Vorschlag, eine "Kommission für die Auswertung von Umfragen im Dienste der zukünftigen Geschichtsschreibung" zu bilden, bleibt aktuell.
So müssen sich gerade Historiker mit den Entstehungsbedingungen von Umfragedaten vertraut machen und hier wie sonst an Clios eisernem Grundsatz der Quellenkritik festhalten. Umgekehrt sollten sich Politikwissenschaftler, die weiterhin auf Geschichte als Rohmaterial für ihre Analyse zurückgreifen, eben dieses problematisieren. Denn tatsächlich benutzen sie - wie die Historiker im Falle der Umfragedaten - in der Regel kein "ungewichtetes" Material, sondern Aussagen eines bestimmten Geschichtswissenschaftlers oder sogar einer dahinterstehenden Schule. Die Historie gibt es nicht, sondern nur verschiedene Darstellungen einer häufig breit gefächerten Historiografie. Daher gilt es für eine historisch orientierte Politikwissenschaft, sich genauer mit dem pluralen Charakter der Historiografie und dem Problem der Literaturauswahl (selection bias) auseinanderzusetzen.
Beide Fächer täten im Übrigen gut daran, dem Akzidentiellen, der "kurzen Dauer", ja dem Ereignis wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Es gilt ein Gespür für den Zufall ("Kontingenz") und die Offenheit von Situationen auszubilden, ohne jede systematische Makroanalyse gleich als Strukturfatalismus abzutun. Nicht zuletzt die Politikwissenschaft nämlich musste sich mit Blick auf die "Zeitenwende" von 1989/90, aber auch auf die aktuellen Umwälzungen des "Arabischen Frühlings" Kritik an ihrer Prognosefähigkeit gefallen lassen. Gerade wer die Politikgeschichte demokratischer Systeme untersucht, kann sich nicht nur auf prozesshafte Entwicklungen über längere Zeiträume hinweg konzentrieren, würde dies doch dem Systemtypus nicht gerecht.
Peter Graf Kielmansegg hat in einer Analyse der 1970er und 1980er Jahre zu Recht darauf hingewiesen, "dass demokratische Politik systembedingt kurzatmig ist". Wer sich für die Agendaqualität von politisch-gesellschaftlichen Vorgängen und die Handlungsmöglichkeiten von Politik - ob in der politikwissenschaftlichen oder zeithistorischen Analyse - interessiert, der wird sich damit anfreunden müssen, dass in der Politik und zumal in der Demokratie in der Regel das "Gesetz der Vordringlichkeit des Vordringlichen", noch mehr "des als vordringlich Wahrgenommenen" herrscht.
Schließlich sei ein letzter Aspekt zumindest angedeutet, nämlich der bisweilen durchaus politisch-gesellschaftskritische, nicht nur wissenschaftliche Charakter beider Fächer, der sich in dem Bestreben sowohl der Zeithistoriker wie der Politikwissenschaftler zeigt, einen Beitrag zur Deutung und Ortsbestimmung der Gegenwart zu leisten.