Einleitung
Globalgeschichte ist "in"; dies gilt zunehmend auch für den deutschen Sprachraum.
Die Ursachen für den Boom der Globalgeschichte sind vielfältig. Ein wichtiger Impuls war die Überwindung des Eurozentrismus in der Geschichtswissenschaft, verbunden mit dem Anliegen, die Geschichte Europas gleichsam zu "provinzialisieren",
Was ist Globalgeschichte?
Eine verbindliche Definition von Globalgeschichte existiert indessen nicht. Dominic Sachsenmaier spricht gar von der "notwendigen Unmöglichkeit, Globalgeschichte zu definieren".
Vor allem unter amerikanischen Historikerinnen und Historikern sind Debatten über die theoretische Lufthoheit in der Globalgeschichte in vollem Gange. Zu zentralen Aspekten zählen etwa die Balance zwischen globalen Perspektiven und der Berücksichtigung lokaler Besonderheiten oder die Frage nach Untersuchungsdesigns. Ironischerweise zeichnen sich diese Diskussionen jedoch durch eine verblüffende Enge aus. Denn die Anstrengungen von Historikern in Afrika, Asien und Lateinamerika, Möglichkeiten einer "Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates" (Jürgen Osterhammel) auszuloten, bleiben weitgehend unberücksichtigt. Mit anderen Worten: Das international stetig wachsende Interesse an globaler und transkultureller Geschichte geht bisher - Ausnahmen bestätigen die Regel - nicht mit einem signifikanten Anstieg internationaler, über den Westen hinausgehender Kooperation in diesem Feld einher. Akademische Hierarchien, Ungleichheiten des Wissens und die Dominanz des Englischen spielen eine wichtige Rolle: So kann ein Historiker aus Großbritannien oder Nordamerika ein führender Vertreter seines Faches werden, ohne einschlägige Studien in anderen Sprachen überhaupt zur Kenntnis nehmen zu brauchen. Gelehrte in anderen Teilen der Welt müssen hingegen mit dem neuesten Stand der Forschung in Europa und Amerika vertraut sein, um Anerkennung zu finden. Auch die Forschungsüberblicke und Einführungswerke amerikanischer Historiker zur Globalgeschichte basieren in der Regel ausschließlich auf englischsprachiger Literatur. Ein japanischer Kollege könnte jedoch schwerlich einen "globalen" Überblick des Forschungsfeldes schreiben und sich dabei nur auf japanische Literatur berufen.
Trotz der noch weitgehenden Ignoranz nicht-westlicher Globalforschung und der sich erst zaghaft entwickelnden globalhistorischen Kooperation westlicher Historiker mit ihren Kolleginnen und Kollegen in Asien, Lateinamerika und Afrika bleibt die sich kontinuierlich ausbreitende transnationale Praxis der historischen Forschung ein wesentlicher Antrieb für Globalgeschichte. Dabei ist nur schwer zu bestimmen, "ob die transnationale Praxis, die durch beschleunigte Kommunikation via Internet, durch leichtere Reisemöglichkeiten an entfernte Archivorte und eine Ausdehnung der Förderung für Studienaufenthalte im Ausland stimuliert wurde, die Prestigehierarchie der Deutungsangebote umgestoßen und den länder-, wenn nicht kontinentübergreifenden Interpretationen zu höherem Ansehen verholfen hat, oder ob es umgekehrt so war, dass die Wertschätzung für global ausgerichtete historische Erklärungen die dafür erforderliche transnationale Forschungspraxis inspiriert hat".
Dekolonisation und "Entwicklung"
Der Schwerpunkt der globalgeschichtlichen Forschung liegt bisher deutlich auf der Zeit vor 1900. Das 20. Jahrhundert scheint hingegen weit weniger reif für eine umfassende Synthese wie das davor liegende Säkulum.
Zu diesen Feldern gehört die Geschichte von Dekolonisation und "Entwicklung". Die internationale Forschung hat das Thema Dekolonisation aus sehr verschiedenen Perspektiven aufgegriffen. Dabei ist weiterhin nicht eindeutig, was dieser Begriff meint. Dekolonisation, befand etwa der amerikanische Historiker Raymond F. Betts, sei ein unbeholfener, uneleganter Begriff und daher recht passend zu der Thematik, die er bezeichnen soll. Denn die Dekolonisation, welche die Weltgeschichte in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg prägte, war weniger ein gradliniger Prozess als ein komplexes Gemisch aus diversen Aktivitäten und Ereignissen, aus friedlichen Übergängen und von Gewalt geprägten Befreiungskämpfen, aus lokalen Konstellationen und internationaler Politik.
Neuere Perspektiven in der Erforschung der Dekolonisation sind nicht zuletzt einer verstärkten Sensibilität für globale Verflechtungen geschuldet. Insgesamt ergibt sich noch ein unübersichtliches Bild, doch lassen sich eine Reihe von zentralen Themen ausmachen. Dazu gehört ein zunehmendes Interesse an internationalen Organisationen, in denen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges neue Ordnungsvorstellen auch unter Beteiligung der ehemals Kolonisierten (freilich mit deutlicher Hegemonie der USA, der Sowjetunion sowie der ehemaligen Kolonialmächte) ausgehandelt wurden. Die Rolle des Wissens, nicht zuletzt im Rahmen der rasch expandierenden Entwicklungszusammenarbeit, findet ebenfalls wachsende Aufmerksamkeit. Eine weitere Perspektive wird auf das Thema Gewalt angelegt, die den Prozess der Dekolonisation wesentlich geprägt hat - Algerien, Kenia, aber auch Malaya (Vorläufer von Malaysia) gehören zu den bedrückenden Beispielen. Hier stellt sich etwa die Frage, wie stark die Kolonialmächte sich in ihren Aktionen gegen Nationalisten jeweils beobachteten, gegebenenfalls auch voneinander zu lernen suchten, oder welche Kontakte Nationalisten verschiedener Kolonien miteinander pflegten. Insgesamt rücken die verflechtungsgeschichtlichen Aspekte des Dekolonisationsprozesses zunehmend ins Bild - die Bedeutung multinationaler Unternehmen etwa, oder das Phänomen, dass sich verschiedene Gruppen sehr genau beobachteten. Indische Kirchen wurden zur wichtigen Referenz für afrikanische kirchliche Gruppen, englische Militärs suchten von den Erfahrungen ihrer französischen Kollegen zu profitieren, die europäische Linke glaubte, von den Befreiungsbewegungen der "Dritten Welt" Anregungen für den eigenen "Kampf" in den Industrieländern zu erhalten.
Eng mit dem Prozess der Dekolonisation verbunden ist der Aufstieg des Konzepts "Entwicklung", der sich im Kontext der globalen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog. Die facettenreiche Geschichte von "Entwicklung" hat sich inzwischen zu einem Feld der zeitgeschichtlichen Forschung etabliert, in dem globalgeschichtliche Perspektiven eine wichtige Rolle spielten. "Entwicklung" mauserte sich in den Dekaden nach 1945 zum Schlüsselkonzept für die grundlegende Transformation der politischen Geografie der Welt, als große Gebiete, vormals als Kolonien bekannt, zu "unterentwickelten" Gebieten oder zur "Dritten Welt" mutierten. Der Begriff "Entwicklung" sagte den politischen Oberhäuptern der "unterentwickelten" Gesellschaften ebenso zu wie den Menschen in "entwickelten" Ländern. Denn er ließ Bürger beider Weltregionen in einem intellektuellen Universum zusammentreffen: in der moralischen Gemeinschaft, die nach 1945 im Kontext weltweiter Entwicklungsinitiativen entstand. Diese Gemeinschaft teilte die Überzeugung, dass die Linderung der Armut keineswegs durch ökonomische und soziale Selbstregulierungsversuche möglich sei. Vielmehr bedürfe es konzertierter Interventionen von Regierungen armer und reicher Länder in Zusammenarbeit mit der wachsenden Gruppe internationaler Hilfs- und Entwicklungsorganisationen. Im Laufe der Zeit hat sich "Entwicklung" zu einer Großindustrie gemausert, die mehrere Milliarden Dollar, eine Vielzahl von privaten, staatlichen und internationalen Organisationen sowie eine globale Gemeinschaft von Experten umfasst.
Bisher hat "Entwicklung" alle Anfeindungen und Selbstkritik überstanden. Ein zentraler Grund liegt vielleicht darin, dass Kritik an Entwicklungsinstitutionen und -ideologien zwar berechtigt sein mag, diese Kritik jedoch nicht jenen sauberes Trinkwasser liefert, die über keines verfügen, Medikamente gegen Durchfallerkrankungen und Malaria verteilt oder das Schicksal von Aids-Waisen mildert. Es gibt endlose Debatten über die Frage, ob Entwicklungszusammenarbeit "gut" oder "schlecht" ist, ob Entwicklung in der Lage ist, Armut, Krankheit, Analphabetismus und die Unterdrückung der Frauen zu beseitigen, oder im Gegenteil eine kapitalistische westliche Moderne der ganzen Welt oktroyiert. Antworten auf diese Fragen werden anders ausfallen, wenn sie systematisch und differenziert in historischer Perspektive gestellt werden.
In der Tat gibt es in der Geschichte der Entwicklung inzwischen jahrzehntelange Erfahrungen zu analysieren. Die großen spätkolonialen Entwicklungsprogramme, der "Colonial Development and Welfare Act" und der "Fonds d'Investissement pour le Développement Economique et Social" datieren aus den 1940er Jahren. Die Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten ist seit nahezu zwei Jahrhunderten formal unabhängig, in Afrika sind es rund fünf Dekaden, in Asien oft einige Jahre mehr. Die bisherigen Forschungen verweisen darauf, dass die Erfahrungen mit Entwicklung weder einheitlich noch durchgängig negativ waren. So haben zahlreiche Studien gezeigt, dass die Resultate von Entwicklungsprojekten desaströs sein konnten, diese Projekte aber durchaus auch Leiden zu mildern vermochten. Vor allem aber ist die Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit nicht zuletzt die Geschichte von sich beständig wandelnden, oft enttäuschten Erwartungen. Die vielleicht wichtigste Konsequenz von "Entwicklung" seit Mitte des 20. Jahrhunderts liegt darin, dass die damit verbundenen Aspekte überall auf der Welt sehr anschaulich diskutiert werden können. Die Tatsache, dass das Leiden von Kindern in afrikanischen Flüchtlingslagern in Genf oder New York Anlass zu kontroversen Debatten liefert, mag zu stereotypen Bildern über die "Anderen" als "die Armen und Elenden" beitragen. Sie unterstreicht jedoch "unsere" Verwobenheit mit der Vergangenheit und Zukunft aller Menschen.
Beispiel: Bevölkerungswachstum und -kontrolle
Ein Beispiel für eine globalhistorische Perspektive auf den Komplex "Entwicklung" wären jüngere Studien zum globalen Diskurs über Bevölkerungswachstum und zur Bewegung für Bevölkerungskontrolle, die intensiv mit Projekten der Entwicklungszusammenarbeit verknüpft waren. Matthew Connelly hat vor wenigen Jahren in einer beeindruckenden Studie gezeigt, dass Familienplanung eine Form der Bevölkerungskontrolle werden konnte, wenn Befürworter dieser Politik danach trachteten, das Leben der Familien anderer Menschen zu planen und entsprechende "Zielgruppen" definierten - so etwa mehrere zehn Millionen Menschen in Asien und auch in Afrika, die Geld erhielten oder unter Druck gesetzt wurden, um sich sterilisieren zu lassen.
Connelly führt weiter aus, dass die ambitioniertesten Pläne zur Bevölkerungskontrolle nicht weniger anstrebten, als die Menschheit gleichsam neu zu schaffen. Dies bedeutete in der Regel, die Fruchtbarkeit armer Menschen und armer Länder zu reduzieren. Alle entsprechenden Projekte teilten die Annahme, dass Gesellschaften sich "nach Plan" reproduzieren sollten, selbst wenn dies bedeutete zu kontrollieren, wie Menschen über ihren Körper verfügten. Und all diese Projekte konzeptualisierten menschliche Wesen nicht als Individuen, sondern als Bevölkerungen, welche durch die kombinierte Kraft von Glauben und Wissenschaft gebändigt und geformt werden konnten. Viele Planer und Protagonisten der demografischen Projekte seien, so Connelly, durchaus von guten Absichten beseelt gewesen und hofften mit ihren Vorhaben die Armut zu reduzieren und Konflikten vorzubeugen. Zugleich glaubten sie jedoch einen "Krieg gegen Überbevölkerung" führen zu müssen, um die Menschheit zu retten.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildete sich ein - zunächst noch nicht engmaschiges - internationales Netzwerk mit dem Ziel heraus, die globale Bevölkerungsentwicklung zu regulieren. Insbesondere das vermeintlich stark "überbevölkerte" Indien geriet bald in den Fokus der Bevölkerungsexperten. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielten private amerikanischen Stiftungen, allen voran Rockefeller und Ford, eine wichtige Rolle bei der Etablierung von einschlägigen Einrichtungen wie dem Population Council sowie bei der Finanzierung bevölkerungspolitischer Aktivitäten. Verschiedene Organisationen der Vereinten Nationen engagierten sich ebenfalls verstärkt in diesem Bereich. Verhütungsmittel wurden in großem Umfang in arme Länder exportiert, darunter Millionen Intrauterinpessare, obwohl diese bekanntermaßen Infektionen und Sterilität verursachen konnten. Connelly präsentiert in diesem Zusammenhang höchst zynische Aussagen von Experten. Und einige Jahre darauf erklärte der damalige Weltbankpräsident Robert McNamara, er wolle Gesundheitsfürsorge in der "Dritten Welt" nur dann finanzieren, wenn sie eng mit Bevölkerungskontrolle verknüpft werde. Denn "gewöhnlich führt bessere medizinische Versorgung zum Absinken der Sterberate und trägt somit zur Bevölkerungsexplosion bei".
Das Beispiel der Bewegung zur Bevölkerungskontrolle verdeutlicht die große Bedeutung epistemischer Gemeinschaften, internationaler und Nichtregierungsorganisationen, die ja zentraler Teil der "Entwicklungswelten" sind, für die Geschichte des späten 20. Jahrhunderts. Aber auch nationale Regierungen betrieben dezidiert Bevölkerungspolitik in Afrika und Asien, vor allem die USA. Washington koppelte etwa 1966 amerikanische Getreidelieferungen an das von einer Hungersnot bedrohte Indien an die Anstellung amerikanischer Bevölkerungsexperten. Einige der drastischsten demografischen Maßnahmen führten jedoch, darauf verweist Connelly, asiatische Eliten an ihrer eigenen Bevölkerung durch: Während des Ausnahmezustandes in Indien zwischen 1975 und 1977 wurden in einem einzigen Jahr über acht Millionen Inder sterilisiert. Die Regierung bestach sie mit Geld, drohte ihnen die Zerstörung ihrer Häuser an oder zwang sie mit Gewalt.
Der Zwangscharakter vieler Familienplanungsprogramme erfuhr seit den 1970er Jahren verstärkt Kritik, nicht zuletzt im Kontext eines globalen Menschenrechtsdiskurses. Der Aufstieg von Entwicklungs- und Menschenrechtsdiskursen verläuft nahezu parallel, institutionell gibt es zahllose Überlappungen. Der Frage nach der gegenseitigen Prägung dieser Felder wurde bisher nur sehr unsystematisch nachgegangen. Der Biafra-Krieg etwa bietet ein gutes Beispiel für den Aufstieg des humanitaristischen Diskurses zu einer globalhistorischen Kraft. Der nigerianische Bürgerkrieg stand am Beginn eines neuen Diskurses über "Entwicklungsländer" und insbesondere Afrika. Aus dem Kontinent der Hoffnung wurde ein krisengeschüttelter und zur Entwicklung unfähiger "Hungerkontinent", bestenfalls Gegenstand des Mitleids und der Hilfe. Vor allem aber markierte der Biafra-Krieg ganz entscheidend den Aufstieg der Menschenrechte als globale Leitkategorie in der postkolonialen Weltordnung.
Die empirisch fundierte Forschung dieser Prozesse ist ein Baustein von vielen, auf denen in einigen Jahren vielleicht eine Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts à la Osterhammel geschrieben werden könnte.