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Zeitgeschichte und Erinnerungskonflikte in Europa

Muriel Blaive Thomas Lindenberger Muriel Blaive Thomas Lindenberger /

/ 16 Minuten zu lesen

Im gegenwärtigen Erinnerungsboom droht memory Geschichte zu ersetzen. Erinnerungskonflikte (memory clashes) beruhen auf tendenziell statischen Opferidentitäten, die einem dynamischen Verständnis europäischer Geschichte im Wege stehen.

Einleitung

Die Rede von "Erinnerung" und "Gedächtnis" hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens übergegriffen, in Europa wie im Rest der Welt. Manche Vertreter eines umfassenden memory-Begriffs halten mittlerweile die Dichotomie zwischen "Erinnerung" und "Geschichte" für überholt und unergiebig: Erinnerung/Gedächtnis schließe "Geschichte" ohnehin mit ein. Demnach solle sich die Geschichtswissenschaft zu einer übergreifenden "Metawissenschaft der Erinnerung" ausweiten. Die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl schlägt vor, Geschichtswissenschaft, da die Phase des "Zerbrechens" von nationalen Mythen der Vergangenheit angehöre, fortan "als kritische Reflexionsagentur des Gedächtnisses" zu verstehen. Ob es mit einer solchen an die Aufgaben eines Technischen Überwachungsvereins erinnernden Dienstleistung für die Gedächtnisanstrengungen der Gesellschaft sein Bewenden haben kann, sei indes füglich bezweifelt; mit Sicherheit wird sich Geschichtswissenschaft nicht darauf reduzieren lassen. Darauf werden wir am Ende unseres Beitrags wieder zu sprechen kommen.

Ende der Geschichte?

Zunächst soll es darum gehen, sich zu vergegenwärtigen, wie der Begriff "Geschichte" zuletzt neue Bedeutungen und Implikationen erhalten hat und wie ältere Begriffsbestimmungen allmählich redundant geworden sind. Ausgangspunkt ist das Jahr 1989, jenes annus mirabilis, in dem, so Timothy Garton Ash, Europa seinen besten historischen Moment erlebte, aber auch zum letzten Mal im Zentrum der Weltgeschichte stand. Im Sommer jenes Jahres veröffentlichte Francis Fukuyama seinen Essay "The End of History?" Dieser Text war ein Versuch, die mit dem Ende des Kommunismus und der bipolaren Ordnung des Kalten Krieges heraufbeschworene Epochenzäsur zu verstehen. Fukuyamas Hauptthese sah die "liberale Demokratie" zur konkurrenzlos herrschenden Ideologie aufsteigen, die von diesem Zeitpunkt an weltweit die Organisation von Gesellschaften und Staaten bestimmen werde.

Ungeachtet der Tatsache, dass sich diese These recht bald als Wunschdenken herausstellte, ist sie als Signum der Epoche bemerkenswert. Fukuyamas Essay traf zeitlich mit dem Sichtbarwerden einer neuen Qualität von Demokratie zusammen, die sich nicht nur auf freie Wahlen und Rechtsstaatlichkeit bezog, sondern auch auf den Auftritt des Individuums als anerkannter und vollwertiger historischer Akteur. Nicht nur versuchten Ende der 1980er Jahre Diktaturen, sich eine demokratische Maske überzustülpen; nicht nur wurden zur selben Zeit krasse Verletzungen der Menschenrechte, wie sie etwa vom chilenischen Regime oder vom Apartheidregime in Südafrika praktiziert wurden, moralisch inakzeptabel; nicht nur fanden staatliche Lügen und Propagandabehauptungen immer weniger Gehör im Osten und im Westen; nicht nur wurden Regierungen zunehmend für politische Entscheidungen, die noch wenige Jahrzehnte zuvor keinerlei Aufsehen erregt hätten (etwa die französischen Atomtests im Pazifik oder die katastrophalen Umweltschäden in Mittelosteuropa), öffentlich zur Rechenschaft gezogen; nicht nur war die Globalisierung bereits unterwegs, sondern - und dies entging Fukuyamas hegelianischer Konzeption von "Geschichte" - individuelle Akteure oder Gruppen von Akteuren forderten jetzt das Recht auf ihre eigene "Geschichte" ein.

"Gedächtnis" und "Erinnerung"

Es ging dabei auch um eine Geschichte, deren Kriterien nicht auf Gedeih und Verderb von der Selektion durch professionelle und in der Regel staatsnahe Historikerinnen und Historiker abhing. Stattdessen sollte sie aus der unmittelbarsten, "authentischsten" Quelle schöpfen, die noch dazu jedem zu Gebote steht: aus der Erinnerung der Akteure. Als Indikator für die demokratische Selbst-Evidenz im Rahmen einer globalisierenden politischen Kultur kann die enorme Popularität des Konzepts der Erinnerungsorte (lieux de mémoire) von Pierre Nora gelten, das Ende der 1980er Jahre seinen Siegeszug durch die Feuilletons antrat.

Man könnte sagen, die elitäre Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen, wie sie bis dahin sowohl in hegelianischen wie materialistischen Ausformungen vorherrschte, sei damals gewissermaßen zur Abdankung gezwungen worden. Sehr bald meldete eine Nachfolgerin ihre Ansprüche auf den vakanten Thron der metaphysischen Repräsentationen des kollektiven Selbst an: memory beziehungsweise, im Deutschen aufgespalten, Erinnerung und Gedächtnis.

Erinnerung bezeichnet ursprünglich den bewussten Teil der Beziehung des Individuums zu seinen Erfahrungen. In der Ausweitung auf (kollektives oder soziales) "Gedächtnis" ist "Erinnerung" im Begriff, zu dem Paradigma für institutionalisierte, allumfassende Modi des kollektiven Bezugs auf die Vergangenheit zu werden. Zahlreiche Traumata, Erinnerungen, Überlieferungen und Relikte waren gerade in Europa unter dem Gewicht atomarer Abschreckung verborgen geblieben und konnten sich angesichts des Vorrangs von Wiederaufbau und der Notwendigkeit, eine Moderne in der Zeit der atavistischen Glaubenskämpfe zwischen Ideologien und Dogmen neu zu definieren, jahrzehntelang kein Gehör verschaffen, geschweige denn Legitimität und Anerkennung beanspruchen. Sie wurden nun mit einem Mal sichtbar und hörbar und dominierten überall in Europa, vor allem aber in den ehemals kommunistischen Ländern, die Bühne der öffentlichen Debatten, um dort auf Augenhöhe mit der "offiziellen Geschichte" Geltung zu beanspruchen. All das Verdrängte und vielfach Halb- oder gar nicht Gewusste wurde plötzlich freigesetzt, um neu in Besitz genommen, gefühlt, erfahren, durchlebt zu werden im geöffneten Raum einer Welt, in der das Individuum zunehmend geschätzt und respektiert wurde. Als die Historiker sich als zu behäbig und langsam erwiesen, um diesen Trend zu begreifen und zu nutzen, wurden sie in den 1990er Jahren nicht nur von den Akteuren mit ihren zahllosen Memoiren und öffentlichen Erinnerungen überrollt, sondern auch von Politikern und Parlamenten, die sich anschickten, in Ausschüssen und Expertenkommissionen "Geschichte" zu verhandeln, Erinnerungen zuzuhören und über deren Interpretation und Wahrhaftigkeit Mehrheits- und Minderheitsvoten zu erstellen.

Die Tragweite des damit verbundenen Paradigmenwechsels lässt sich durch einen Rückgriff auf eine der beliebtesten Figuren modernen historischen Denkens veranschaulichen. Während für Marx "die Tradition aller toten Geschlechter" "wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden" lastete, mithin als vergangene Umstände, die menschliches Handeln immer wieder unabweisbar begrenzen, scheint der Vergangenheitsbezug der Erinnerung unserer Tage im Gegensatz dazu eine viel offenere Konstellation der Selbstbestimmung und einen gegenläufigen Effekt der Befreiung zu bewirken. Häufig wird ihr das Potenzial einer Katharsis zugeschrieben. "Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung", lautet das populärste, der legendären Gründungsfigur des Chassidismus, Rabbi Baal Shem Tov (1698-1760), zugeschriebene Zitat, wenn es darum geht, eine Feierstunde am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus zu gestalten oder die Eröffnungsrede bei einer Geschichtsausstellung zu halten. Die erste Hälfte des Zitats, "Vergessen verlängert das Exil", wird freilich nicht annähernd so häufig zitiert.

Diese bedenkenlos optimistische Erwartung bezüglich der läuternden Wirkungen von Erinnerung ist auch zu spüren in den Konzepten neuer Modi kollektiver Erinnerung wie etwa "dialogische Erinnerung" (Aleida Assmann), "negative Erinnerung" (Volkhard Knigge) oder gar "kosmopolitisches Erinnern" (Daniel Levy/Natan Sznaider). Das Prinzip, das in diesen Konzepten zuversichtlich unterstellt wird, ist die Integration der Erfahrung des "Anderen", das heißt der Erfahrung sozialer Gruppen, die lange eine Rolle als Außenseiter, Gegner oder Feinde in ganz spezifischen nationalen und ideologischen Kontexten gespielt hatten. Nach einem Jahrhundert kollektiver Gewalt und gezielter Vernichtung sollen diese Konzepte zur Überwindung eines tiefen Gefühls existenzieller Selbstentfremdung beitragen und Gruppen wie Einzelne dazu befähigen, sich von der Idee einer "selbstgerechten Nation" abzuwenden und mythologische Konzeptionen von Nation und anderen vorgeblich legitimen Kollektivitäten hinterfragen. Sie können allerdings auch zu einem sich in den Dienst der Erinnerung stellenden, radikalisierten Aktivismus führen, der aus einer Position angenommener oder tatsächlicher Unterlegenheit die Mehrheitsnation noch stärker in Widersprüche verwickelt, wie man das zum Beispiel anhand des Themas der Vertreibung der Sudetendeutschen in der Tschechischen Republik seit den 1990er Jahren beobachten konnte.

Erinnerung als empowerment

Statt das Gefühl sozialer Zugehörigkeit und die sich daraus ergebenden Praktiken zu belasten, liefert Erinnerung jetzt empowerment. Dieser Übergang von negativ zu positiv, von restriktiv zu befähigend, fügt sich nahtlos ein in einen weiteren Wandel kollektiver Wertvorstellungen: Es ist gerade so, als wäre Woodrow Wilsons Botschaft vom unveräußerlichen Selbstbestimmungsrecht der Völker in Nationalstaaten, deren territoriale Begrenzung unter Berufung auf die Geschichte festzulegen sei, dem Recht auf ein gemeinsames kollektives Gedächtnis gewichen, dessen mitunter reichlich arbiträre Selbst-Bestimmung nun allen nationalen, ethnischen, kulturellen und subkulturellen Gemeinschaften zugestanden wird. Während die Grenzen der Nationalstaaten im Europa von heute mehr oder weniger sakrosankt sind, es bis auf Weiteres wohl bleiben werden und es keine Neuauflage der Konflikte um die Territorien der um Selbständigkeit ringenden Nationen geben wird wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bieten die in kollektiven Gedächtnissen gründenden Gemeinschaften reichlich Anlässe zu heftigen Konflikten und Konkurrenzen.

Zweifellos lässt sich hier eine Verbindung herstellen zur Konjunktur eines im Nachbeben der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs individualisierten Verständnisses der Menschenrechte. Die moralische Priorität des Kollektiven vor dem Individuellen wurde durch die totalitären Erfahrungen ohnehin völlig diskreditiert, und Individualität etablierte sich als einzige legitime Alternative, nicht nur als Basis von jeder Form von Leid und Opfertum, sondern auch in der Anerkennung des Eigen-Sinns der Vielen, wie Alf Lüdtke das auf den Begriff gebracht hat. Erinnerung steht daher jetzt auch für das Recht jedes einzelnen Menschen auf seine oder ihre eigene Identität; dies gibt jedem Menschen in Bezug auf seine Gesellschaft einen zeitlich definierten Ort, an dem er oder sie existieren kann. Dieses Recht auf Erinnerung gilt, um den ersten Artikel des Grundgesetzes zu zitieren, als fast ebenso "unantastbar" wie die Würde des Menschen selbst.

In der logischen Folge darf niemandem das Recht verweigert werden, Erinnerung an etwas Gesehenes oder anderweitig Erfahrenes für sich zu beanspruchen, unabhängig von der Richtung, in die diese Erinnerung gehen mag. Vom Standpunkt des sich erinnernden Subjekts kann Erinnerung nie "falsch" sein (auch wenn das Erinnerte leicht rekonstruiert werden kann), weil sie subjektiv authentisch ist. Diese als gegeben vorausgesetzte Authentizität wird von der Sprecherin oder der Zuhörerin nicht in Zweifel gezogen. Genau genommen macht ein Individuum, welches das Recht auf persönliche Erinnerung für sich in Anspruch nimmt, lediglich eine Aussage über den Inhalt seines Bewusstseins in Bezug auf ein Element einer vergangenen Faktenlage. Der Anspruch auf Erinnerung hat nichts mit dem erinnerten Faktum als solchem zu tun, sondern nur mit dem zum Thema des Faktums sprechenden Selbst. Wenn sich sowohl Sprecherin wie Zuhörerin auf den Prozess des Erinnerns konzentrieren und auf die Analyse seiner Konsequenzen für das Individuum und die Gesellschaft, dann bleibt das thematisierte Faktum selbst unhinterfragt, ohne anderen Quellen und anderen Fakten gegenübergestellt zu werden, mithin ohne Verweis auf das, was bis dato als "Geschichte" gilt. Da Erinnerungen nicht "falsch" sein können, sind alle Beteiligten berechtigt, an "ihren" Erinnerungen festzuhalten, womit - egal auf welcher Ebene wir uns bewegen, von der Kleinfamilie bis zur Weltgesellschaft - Konflikte zwischen Erinnerungen ebenso unausweichlich sind wie die Notwendigkeit, mit ihren Unvereinbarkeiten zu leben.

Die europäische Erinnerungslandschaft war in den vergangenen zwanzig Jahren mehrfach Schauplatz von heftigen "Erinnerungskonflikten" (memory clashes). Es handelt sich dabei um Konflikte in der Öffentlichkeit über vergangene Ereignisse und um deren Interpretation, die manchmal über nationale Grenzen hinweg stattfinden, manchmal auf den nationalen Rahmen begrenzt bleiben. Es erhebt sich die Frage, was in den hitzigen Debatten und Polemiken dieser Konflikte eigentlich aufeinander prallt. Es geht dabei keineswegs nur um die sozialen Praktiken des Erinnerns in dem von Maurice Halbwachs eingeführten Sinn des "kollektiven Gedächtnisses", die einander gegenüberstehen - oder auch nicht. Gemeinschaften können durchaus antagonistische Beziehungen zu ihren je eigenen "Anderen" unterhalten und trotzdem entweder auf direkte Interaktion mit diesen "Anderen" verzichten oder in ihrer Interaktion mit ihnen heikle Themen bewusst meiden. In diesem Sinn könnte man sagen: Was in und zwischen verschiedenen Gemeinschaften dazu führt, dass Erinnerungen feindlich aufeinander prallen, hat in herausragender Weise mit den extrem unterschiedlichen Formen ihrer politischen Repräsentation und/oder ihrer Instrumentalisierung in der Öffentlichkeit zu tun. Selbsternannte oder auch gewählte Sprecherinnen und Sprecher im Bereich des politischen und kulturellen Lebens artikulieren "Erinnerung", wobei sie eine Mehrheit, eine Minderheit oder auch nur sich selbst repräsentieren.

Ohne Erinnerungspolitik und ohne das Verlangen einiger dieser Sprecherinnen und Sprecher, wirtschaftliche, materielle, kulturelle oder moralische Krisen der Gesellschaft, für die sie sprechen und der sie unter Umständen Rechenschaft schuldig sind, auszunutzen, würde es wohl kaum Erinnerungskonflikte geben. Diese sollten daher zutreffender als "Konflikte von Erinnerungspolitiken" bezeichnet werden. Gesellschaftliche Erinnerungen sind im Europa des 20. Jahrhunderts allerdings von den dramatischen und - ihrem Wesen nach - politischen Dimensionen gewaltsamer Konflikte geprägt, die sie von vornherein zur Verwendung in solchen Politiken des Erinnerungskonflikts prädestinieren.

Zwischen Geschichte und Memory: Wohin mit den Experten?

Der Aufstieg von Erinnerung/Gedächtnis als Schlüsselelement des nationalen und transnationalen politischen Diskurses wurde vom Moment seiner Entfaltung an von Beobachtungen und Kommentierungen durch Experten begleitet und damit auch von diesen in Gang gehalten. Die Herangehensweisen an Erinnerung/Gedächtnis als Gegenstand der Forschung sind ebenso vielfältig wie das Phänomen selbst. Das Spektrum reicht von der Mikroebene empirischer Untersuchungen konkreter Erinnerungsgemeinschaften bis zu diskursanalytischen Interpretationen von literarischen Texten und Produkten der Hochkultur, von wissenschaftlichen, faktenorientierten politischen Analysen bis zu philosophischen und methodologischen Reflexionen für ein intellektuelles Publikum von Feuilleton- und Internet-Blog-Lesern. Um einige dieser Konstellationen, in denen Erinnerungen tatsächlich aufeinanderprallen, haben sich heftige Debatten entsponnen.

Angesichts des offenbar endlosen Stroms von Publikationen, Tagungspanels und anderen Manifestationen, die alle für sich in Anspruch nehmen, neue Erkenntnisse über "Erinnerung" und Zeitgeschichte in und über Europa zutage fördern zu wollen, befällt Zeithistoriker ein Gefühl des Unbehagens. Das Anliegen, sich mit diesem - wie man sagen könnte - "mnemonischen Overkill" kritisch auseinanderzusetzen, wird mittlerweile von vielen geteilt. Allerdings werden entsprechende Meinungen eher im Pausengespräch auf einer der zahlreichen Memory-Konferenzen und nebenbei ausgetauscht, seltener hingegen an das Tageslicht öffentlicher Diskussionen gezogen.

Es ist an der Zeit, die Vorzüge wie auch die Defizite von "Erinnerung" und "Erinnerungspolitik" und ihren einzigartigen Status in Debatten über das heutige Europa vorbehaltlos zu bilanzieren. Im Besonderen bedarf die inflationäre Verwendung von modischen Schlagworten, die sich von Halbwachs' "kollektivem Gedächtnis" herleiten - "kommunikatives", "kulturelles", "soziales" Gedächtnis -, und die mittlerweile geradezu inflationäre Überbeanspruchung von Pierre Noras lieux-de-mémoire-Metapher der kritischen Überprüfung. Andernfalls werden nichtthematisierte Dimensionen des Vergessens und Verdrängens unterkonzeptualisiert bleiben. Dasselbe gilt für die Unterscheidung von kollektiver Erinnerung und den instrumentell auf Interessenverfolgung und Machterwerb ausgerichteten Politiken der Anerkennung beziehungsweise der Geschichtspolitiken.

Was auf dem Spiel steht, wenn man diese gegenwärtig weitgehend selbstverständliche Vermischung von Erinnerungskonzepten weiterhin als best practice gelten lässt, zeigt sich bei Betrachtung extremer Fälle der Generalisierung innerhalb solcher Diskurse. Wie bereits gesagt, kann man im Aufstieg universalistischer Werte zu Recht eine der treibenden Kräfte hinter dem "Erinnerungsboom" der vergangenen Jahrzehnte sehen. Innerhalb dieser Universalisierung, so hat Natan Sznaider kürzlich argumentiert, hat das Konzept des "Trauma" und seine Entwicklung eine Schlüsselrolle gespielt: Es etablierte sich mit der Erinnerung an den Holocaust als das allgemein anerkannte Paradigma für den Umgang mit vergangenen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" (crimes against humanity) und mit einem Opferstatus. Aus dem Gedanken eines historischen Traumas, mit seinem Bezug auf die Leidenserfahrung von spezifischen Opfern in spezifischen Kontexten, wurde ein solcher des strukturellen Traumas, der das ursprüngliche Ereignis - die Ermordung europäischer Juden - in einen Kontext verschiebt, der geprägt ist von der säkularen Wahrnehmung von massenhafter Gewalt, die in Europa und in anderen Teilen der Welt erlitten wurde. Eines der Ergebnisse dieser Verschiebung ist die Gefahr, dass der Unterschied zwischen Tätern und Opfern verschwindet. Daher sollten wir, so Sznaider, wenn wir einen generischen Ausdruck wie "Trauma" benutzen, uns "seiner menschlichen und historischen Dimensionen bewusst bleiben und zugleich seine strukturellen Elemente hintanhalten".

Eine Folge der Allgegenwart vergangenen Leids und Opfertums in den internationalen Arenen europäischer Politik sind Gelegenheitsstrukturen, die aus dem Zusammenwirken von Geopolitik, Versöhnungsdiplomatie und dem, was man öffentlich inszenierte "Erinnerungsspiele" (memory games) nennen könnte, hervorgehen. Sehr unterschiedliche politische Akteure verfügen mittlerweile über die Fähigkeit, die vielfältigen Energien anzuzapfen, die in der konfliktreichen europäischen Vergangenheit gespeichert sind, um ihre Ansprüche auf Macht und Ressourcen anzumelden. Die Etablierung von Versöhnung, Bedauern und schließlich Restitution hat einen Rahmen für einen Ausgleich gewalttätiger Konflikte in der internationalen Politik geschaffen, hinter den es kein Zurück mehr gibt. Daraus ist ein eigenständiger virtueller Markt entstanden, der gleichsam auf die Eroberung durch eine neue Art politischen Unternehmertums wartet.

Die Existenz solcher "Märkte" und die von ihnen gebotenen Möglichkeiten lassen ein Nachdenken und eine Neudefinition der Rolle von Politikwissenschaftlern und Historikern als geboten erscheinen. Diesen Experten bieten sich mehrere Optionen: Sie können mit eigenen Angeboten auf diesem neuen Geschäftsfeld tätig werden; sie können ihre Dienste als Marktanalysten anbieten; sie können neue und bessere Produkte bewerben; oder sie können eine Position in mittlerer Distanz beziehen, von der aus sie als kritische Beobachter neue Regeln für den Markt vorschlagen oder seine institutionellen und ideologischen Rahmenbedingungen überhaupt in Frage stellen. Kulturwissenschaftlerinnen wie etwa Aleida Assmann plädieren für ein Konzept der "dialogischen Erinnerung", das dann zum Zug kommt, wenn zwei oder mehr Nationen eine gemeinsame gewalttätige Geschichte abzuhandeln haben. Dies würde nicht weniger bedeuten als das Ende der "monologischen Erinnerung" innerhalb nationaler Rahmenwerke.

Im Gegensatz dazu meinen manche Historiker, es sei an der Zeit, einige Annahmen zu hinterfragen, auf denen der gegenwärtige Konsens über europäische Erinnerungspolitik aufbaut: zum Beispiel die unhinterfragte Anerkennung von vergangenem Opfersein (im Gegensatz zum gegenwärtigen Opferstatus, dessen Anerkennung vielfach offen gelassen oder überhaupt abgelehnt wird) und der damit unmittelbar verbundene Gedanke der kollektiven Identität als ihrer vorgeblich vornehmsten Errungenschaft.

Der belgische Historiker Pieter Lagrou etwa kritisiert auf dem Opferstatus gründende Ansprüche, die sich aus einer sekundären Verwertung der Holocaust-Erfahrung ableiten: Dadurch würden kollektivistische und unpolitische Partikularismen gestützt, die ihre Proponenten in einer Fixierung auf Retrospektion und Nostalgie erstarren lassen. Eine weitere negative Folge des Opferstatus-Diskurses sei die Verdinglichung von Identitäten gerade dort, wo das Gewahrwerden sich ändernder Identifikationen wünschenswert wäre. Diese Reifikation der im Opferstatus begründeten Identität erzeuge zudem ein eigenes Register des es umgebenden Sakralen mit seinem eigenen Arsenal an Sprechverboten und Sakrilegien, Profanierungen und Blasphemien. Was die Diskurse um den Opferstatus und seine kommemorativen Praktiken am Leben erhält, ist der ständige Kampf um den vordersten Platz auf der Bühne in der politischen Arena - und nicht der Kampf gegen die vorgeblichen Gefahren des Vergessens. Damit stehen fortwährende Retrospektion und eine statische Vergangenheitsbewahrung im Vordergrund, während das europäische Projekt doch viel eher zukunftsorientierte Utopien und eine dynamische Konzeption von Geschichte bräuchte.

Es ergibt sich aus dem Gesagten, dass nicht nur kollektive Erinnerungen und Erinnerungspolitiken miteinander im Widerstreit liegen können, sondern auch verschiedene Ansätze zu ihrer wissenschaftlichen Deutung. Anstatt einem von mehreren möglichen Standpunkten innerhalb des Erinnerungsbooms in Europa zum Durchbruch zu verhelfen, sollte man zunächst einmal das Potenzial der Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit der zur Verfügung stehenden Sichtweisen ermessen.

Wir vertreten mit Nachdruck die Überzeugung, dass der Widerstreit zwischen den europäischen Erinnerungen, ebenso wie sein intellektuelles Gegenstück, die gegensätzlichen Ansichten der Historikerinnen und Historiker zu diesem Thema, als ein belebender Prozess der Begegnung, der öffentlichen Debatte und des vorbehaltlosen Engagements gesehen werden sollte. Vielfach tragen Dramatisierungen zu einem Bild von clashes of memory bei, das an den schon seit Jahrzehnten herbeigeredeten clash of civilizations denken lässt.

Tatsächlich bleibt es fast immer bei Wortwechseln und Symbolkämpfen, bei Appellen an Dritte, die auf Anerkennung und Restitution zielen und manchmal von leidenschaftlichen Demonstrationen begleitet werden. Entgleisungen, die zu Ausgrenzung und Hasstiraden gegen herabgewürdigte "Andere" sowie zu physischer Gewalt führen, sind die Ausnahme. In jedem Fall braucht es ein hohes Maß an Abgeklärtheit, damit die Europäer des 21. Jahrhunderts das Beste aus ihren Erinnerungskonflikten machen können. Auf andere Weise werden sie ihr hoch komplexes gemeinsames Herkommen nicht annehmen können, um sich zugleich von den Albträumen einer geteilten Vergangenheit zu befreien.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wir verwenden die Kopplung der beiden Begriffe als gemeinsames Äquivalent zum englischen memory und zum französischen mémoire. Einige Überlegungen dieses Beitrags wurden bereits in englischer Sprache vorgelegt: Muriel Blaive/Christian Gerbel/Thomas Lindenberger, Introduction, in: dies. (eds.), Clashes in European Memory. The Case of Communist Repression and the Holocaust, Innsbruck 2011, S. 7-23. Herzlichen Dank an Otmar Binder für die Erstellung einer Arbeitsübersetzung.

  2. Vgl. Dirk van Laak, Vom Denkmal zum Mahnmal. Gedächtnisgeschichte im Rückblick, in: Norbert Frei (Hrsg.), Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts?, Göttingen 2006, S. 36-41, hier: S. 39.

  3. Heidemarie Uhl, generation of memory. Geschichtswissenschaft im Kampf um die Erinnerung, in: Heinrich Berger/Melanie Denejga/Regina Fritz/Alexander Prenninger (Hrsg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien-Köln-Weimar 2011, S. 563-573, hier: S. 573.

  4. Timothy Garton Ash auf einer Diskussionsveranstaltung im Wiener Burgtheater, 22.2.2009, veranstaltet vom Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM); vgl. Christopher Anderson, The Best Moment in History, in: iwmpost, 100 (2009) January-March, S. 4.

  5. Francis Fukuyama, "The End of History?", in: The National Interest, (1989) 16, S. 3-18.

  6. Vgl. Pierre Nora, Gedächtniskonjunktur, in: Transit, (2002) 22, S. 18-31.

  7. Pierre Nora, Les lieux de mémoire. Les France, vol. III/3, Paris 1993; ders., Les lieux de mémoire. La Nation, vol. II/3, Paris 1986; ders., Les lieux de mémoire. La République, vol. I, Paris 1984.

  8. Vgl. Muriel Blaive, Soziologie, Geschichte und Gedächtnis. Das postkommunistische Mitteleuropa aus der Sicht Frankreichs, in: Transit, (2006) 30, S. 106-123; vgl. für Deutschland Andrew Beattie, Playing Politics with History: The Bundestag Inquiries into East Germany, New York 2008.

  9. Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: ders./Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin/DDR 1972 (Orig. 1852), S. 15.

  10. Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006; Volkhard Knigge, Gesellschaftsverbrechen erinnern. Zur Entstehung und Entwicklung des Konzepts seit 1945, in: ders./Ulrich Mählert (Hrsg.), Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln-Weimar-Wien 2005, S. 19-30; Daniel Levy/Natan Sznaider, The Holocaust and Memory in the Global Age, Philadelphia 2006.

  11. Vgl. Muriel Blaive, De la démocratie tchèque et des "décrets Bene", in: Georges Mink/Laure Neumayer (eds.), L'Europe et ses passés douloureux, Paris 2007, S. 118-127.

  12. Vgl. Primo Levi, Se questo è un uomo (If This Is A Man), Turin 1947; vgl. auch Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010.

  13. Vgl. Alf Lüdtke (Hrsg.), The History of Everyday Life. Reconstructing Historical Experiences and Ways of Life, Princeton 1989.

  14. Vgl. Jean-Christophe Marcel/Laurent Mucchielli, Maurice Halbwachs's mémoire collective, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (eds.), Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin 2008, S. 141-149.

  15. Natan Sznaider, Suffering as a Universal Frame for Understanding Memory Politics, in: M. Blaive (Anm. 1), S. 239-254, hier: S. 254.

  16. Vgl. Aleida Assmann, Europes Divided Memory, in: ebd., S. 270-280.

  17. Vgl. Pieter Lagrou, Europe as a Place for Common Memories? Some Thoughts on Victimhood, Identity and Emancipation from the Past, in: ebd., S. 281-288.

PhD, geb. 1969; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig-Boltzmann-Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit (s.o.). E-Mail Link: mblaive@gmail.com

Dr. phil., geb. 1955; Professor, Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit, Nußdorfer Straße 64, 1090 Wien/Österreich. E-Mail Link: thomas.lindenberger@ehp.lbg.ac.at