Einleitung
Die Rede von "Erinnerung" und "Gedächtnis"
Ende der Geschichte?
Zunächst soll es darum gehen, sich zu vergegenwärtigen, wie der Begriff "Geschichte" zuletzt neue Bedeutungen und Implikationen erhalten hat und wie ältere Begriffsbestimmungen allmählich redundant geworden sind. Ausgangspunkt ist das Jahr 1989, jenes annus mirabilis, in dem, so Timothy Garton Ash, Europa seinen besten historischen Moment erlebte, aber auch zum letzten Mal im Zentrum der Weltgeschichte stand.
Ungeachtet der Tatsache, dass sich diese These recht bald als Wunschdenken herausstellte, ist sie als Signum der Epoche bemerkenswert. Fukuyamas Essay traf zeitlich mit dem Sichtbarwerden einer neuen Qualität von Demokratie zusammen, die sich nicht nur auf freie Wahlen und Rechtsstaatlichkeit bezog, sondern auch auf den Auftritt des Individuums als anerkannter und vollwertiger historischer Akteur. Nicht nur versuchten Ende der 1980er Jahre Diktaturen, sich eine demokratische Maske überzustülpen; nicht nur wurden zur selben Zeit krasse Verletzungen der Menschenrechte, wie sie etwa vom chilenischen Regime oder vom Apartheidregime in Südafrika praktiziert wurden, moralisch inakzeptabel; nicht nur fanden staatliche Lügen und Propagandabehauptungen immer weniger Gehör im Osten und im Westen; nicht nur wurden Regierungen zunehmend für politische Entscheidungen, die noch wenige Jahrzehnte zuvor keinerlei Aufsehen erregt hätten (etwa die französischen Atomtests im Pazifik oder die katastrophalen Umweltschäden in Mittelosteuropa), öffentlich zur Rechenschaft gezogen; nicht nur war die Globalisierung bereits unterwegs, sondern - und dies entging Fukuyamas hegelianischer Konzeption von "Geschichte" - individuelle Akteure oder Gruppen von Akteuren forderten jetzt das Recht auf ihre eigene "Geschichte" ein.
"Gedächtnis" und "Erinnerung"
Es ging dabei auch um eine Geschichte, deren Kriterien nicht auf Gedeih und Verderb von der Selektion durch professionelle und in der Regel staatsnahe Historikerinnen und Historiker abhing. Stattdessen sollte sie aus der unmittelbarsten, "authentischsten" Quelle schöpfen, die noch dazu jedem zu Gebote steht: aus der Erinnerung der Akteure.
Man könnte sagen, die elitäre Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen, wie sie bis dahin sowohl in hegelianischen wie materialistischen Ausformungen vorherrschte, sei damals gewissermaßen zur Abdankung gezwungen worden. Sehr bald meldete eine Nachfolgerin ihre Ansprüche auf den vakanten Thron der metaphysischen Repräsentationen des kollektiven Selbst an: memory beziehungsweise, im Deutschen aufgespalten, Erinnerung und Gedächtnis.
Erinnerung bezeichnet ursprünglich den bewussten Teil der Beziehung des Individuums zu seinen Erfahrungen. In der Ausweitung auf (kollektives oder soziales) "Gedächtnis" ist "Erinnerung" im Begriff, zu dem Paradigma für institutionalisierte, allumfassende Modi des kollektiven Bezugs auf die Vergangenheit zu werden. Zahlreiche Traumata, Erinnerungen, Überlieferungen und Relikte waren gerade in Europa unter dem Gewicht atomarer Abschreckung verborgen geblieben und konnten sich angesichts des Vorrangs von Wiederaufbau und der Notwendigkeit, eine Moderne in der Zeit der atavistischen Glaubenskämpfe zwischen Ideologien und Dogmen neu zu definieren, jahrzehntelang kein Gehör verschaffen, geschweige denn Legitimität und Anerkennung beanspruchen. Sie wurden nun mit einem Mal sichtbar und hörbar und dominierten überall in Europa, vor allem aber in den ehemals kommunistischen Ländern, die Bühne der öffentlichen Debatten, um dort auf Augenhöhe mit der "offiziellen Geschichte" Geltung zu beanspruchen. All das Verdrängte und vielfach Halb- oder gar nicht Gewusste wurde plötzlich freigesetzt, um neu in Besitz genommen, gefühlt, erfahren, durchlebt zu werden im geöffneten Raum einer Welt, in der das Individuum zunehmend geschätzt und respektiert wurde. Als die Historiker sich als zu behäbig und langsam erwiesen, um diesen Trend zu begreifen und zu nutzen, wurden sie in den 1990er Jahren nicht nur von den Akteuren mit ihren zahllosen Memoiren und öffentlichen Erinnerungen überrollt, sondern auch von Politikern und Parlamenten, die sich anschickten, in Ausschüssen und Expertenkommissionen "Geschichte" zu verhandeln, Erinnerungen zuzuhören und über deren Interpretation und Wahrhaftigkeit Mehrheits- und Minderheitsvoten zu erstellen.
Die Tragweite des damit verbundenen Paradigmenwechsels lässt sich durch einen Rückgriff auf eine der beliebtesten Figuren modernen historischen Denkens veranschaulichen. Während für Marx "die Tradition aller toten Geschlechter" "wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden"
Diese bedenkenlos optimistische Erwartung bezüglich der läuternden Wirkungen von Erinnerung ist auch zu spüren in den Konzepten neuer Modi kollektiver Erinnerung wie etwa "dialogische Erinnerung" (Aleida Assmann), "negative Erinnerung" (Volkhard Knigge) oder gar "kosmopolitisches Erinnern" (Daniel Levy/Natan Sznaider).
Erinnerung als empowerment
Statt das Gefühl sozialer Zugehörigkeit und die sich daraus ergebenden Praktiken zu belasten, liefert Erinnerung jetzt empowerment. Dieser Übergang von negativ zu positiv, von restriktiv zu befähigend, fügt sich nahtlos ein in einen weiteren Wandel kollektiver Wertvorstellungen: Es ist gerade so, als wäre Woodrow Wilsons Botschaft vom unveräußerlichen Selbstbestimmungsrecht der Völker in Nationalstaaten, deren territoriale Begrenzung unter Berufung auf die Geschichte festzulegen sei, dem Recht auf ein gemeinsames kollektives Gedächtnis gewichen, dessen mitunter reichlich arbiträre Selbst-Bestimmung nun allen nationalen, ethnischen, kulturellen und subkulturellen Gemeinschaften zugestanden wird. Während die Grenzen der Nationalstaaten im Europa von heute mehr oder weniger sakrosankt sind, es bis auf Weiteres wohl bleiben werden und es keine Neuauflage der Konflikte um die Territorien der um Selbständigkeit ringenden Nationen geben wird wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bieten die in kollektiven Gedächtnissen gründenden Gemeinschaften reichlich Anlässe zu heftigen Konflikten und Konkurrenzen.
Zweifellos lässt sich hier eine Verbindung herstellen zur Konjunktur eines im Nachbeben der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs individualisierten Verständnisses der Menschenrechte.
In der logischen Folge darf niemandem das Recht verweigert werden, Erinnerung an etwas Gesehenes oder anderweitig Erfahrenes für sich zu beanspruchen, unabhängig von der Richtung, in die diese Erinnerung gehen mag. Vom Standpunkt des sich erinnernden Subjekts kann Erinnerung nie "falsch" sein (auch wenn das Erinnerte leicht rekonstruiert werden kann), weil sie subjektiv authentisch ist. Diese als gegeben vorausgesetzte Authentizität wird von der Sprecherin oder der Zuhörerin nicht in Zweifel gezogen. Genau genommen macht ein Individuum, welches das Recht auf persönliche Erinnerung für sich in Anspruch nimmt, lediglich eine Aussage über den Inhalt seines Bewusstseins in Bezug auf ein Element einer vergangenen Faktenlage. Der Anspruch auf Erinnerung hat nichts mit dem erinnerten Faktum als solchem zu tun, sondern nur mit dem zum Thema des Faktums sprechenden Selbst. Wenn sich sowohl Sprecherin wie Zuhörerin auf den Prozess des Erinnerns konzentrieren und auf die Analyse seiner Konsequenzen für das Individuum und die Gesellschaft, dann bleibt das thematisierte Faktum selbst unhinterfragt, ohne anderen Quellen und anderen Fakten gegenübergestellt zu werden, mithin ohne Verweis auf das, was bis dato als "Geschichte" gilt. Da Erinnerungen nicht "falsch" sein können, sind alle Beteiligten berechtigt, an "ihren" Erinnerungen festzuhalten, womit - egal auf welcher Ebene wir uns bewegen, von der Kleinfamilie bis zur Weltgesellschaft - Konflikte zwischen Erinnerungen ebenso unausweichlich sind wie die Notwendigkeit, mit ihren Unvereinbarkeiten zu leben.
Die europäische Erinnerungslandschaft war in den vergangenen zwanzig Jahren mehrfach Schauplatz von heftigen "Erinnerungskonflikten" (memory clashes). Es handelt sich dabei um Konflikte in der Öffentlichkeit über vergangene Ereignisse und um deren Interpretation, die manchmal über nationale Grenzen hinweg stattfinden, manchmal auf den nationalen Rahmen begrenzt bleiben. Es erhebt sich die Frage, was in den hitzigen Debatten und Polemiken dieser Konflikte eigentlich aufeinander prallt. Es geht dabei keineswegs nur um die sozialen Praktiken des Erinnerns in dem von Maurice Halbwachs eingeführten Sinn des "kollektiven Gedächtnisses",
Ohne Erinnerungspolitik und ohne das Verlangen einiger dieser Sprecherinnen und Sprecher, wirtschaftliche, materielle, kulturelle oder moralische Krisen der Gesellschaft, für die sie sprechen und der sie unter Umständen Rechenschaft schuldig sind, auszunutzen, würde es wohl kaum Erinnerungskonflikte geben. Diese sollten daher zutreffender als "Konflikte von Erinnerungspolitiken" bezeichnet werden. Gesellschaftliche Erinnerungen sind im Europa des 20. Jahrhunderts allerdings von den dramatischen und - ihrem Wesen nach - politischen Dimensionen gewaltsamer Konflikte geprägt, die sie von vornherein zur Verwendung in solchen Politiken des Erinnerungskonflikts prädestinieren.
Zwischen Geschichte und Memory: Wohin mit den Experten?
Der Aufstieg von Erinnerung/Gedächtnis als Schlüsselelement des nationalen und transnationalen politischen Diskurses wurde vom Moment seiner Entfaltung an von Beobachtungen und Kommentierungen durch Experten begleitet und damit auch von diesen in Gang gehalten. Die Herangehensweisen an Erinnerung/Gedächtnis als Gegenstand der Forschung sind ebenso vielfältig wie das Phänomen selbst. Das Spektrum reicht von der Mikroebene empirischer Untersuchungen konkreter Erinnerungsgemeinschaften bis zu diskursanalytischen Interpretationen von literarischen Texten und Produkten der Hochkultur, von wissenschaftlichen, faktenorientierten politischen Analysen bis zu philosophischen und methodologischen Reflexionen für ein intellektuelles Publikum von Feuilleton- und Internet-Blog-Lesern. Um einige dieser Konstellationen, in denen Erinnerungen tatsächlich aufeinanderprallen, haben sich heftige Debatten entsponnen.
Angesichts des offenbar endlosen Stroms von Publikationen, Tagungspanels und anderen Manifestationen, die alle für sich in Anspruch nehmen, neue Erkenntnisse über "Erinnerung" und Zeitgeschichte in und über Europa zutage fördern zu wollen, befällt Zeithistoriker ein Gefühl des Unbehagens. Das Anliegen, sich mit diesem - wie man sagen könnte - "mnemonischen Overkill" kritisch auseinanderzusetzen, wird mittlerweile von vielen geteilt. Allerdings werden entsprechende Meinungen eher im Pausengespräch auf einer der zahlreichen Memory-Konferenzen und nebenbei ausgetauscht, seltener hingegen an das Tageslicht öffentlicher Diskussionen gezogen.
Es ist an der Zeit, die Vorzüge wie auch die Defizite von "Erinnerung" und "Erinnerungspolitik" und ihren einzigartigen Status in Debatten über das heutige Europa vorbehaltlos zu bilanzieren. Im Besonderen bedarf die inflationäre Verwendung von modischen Schlagworten, die sich von Halbwachs' "kollektivem Gedächtnis" herleiten - "kommunikatives", "kulturelles", "soziales" Gedächtnis -, und die mittlerweile geradezu inflationäre Überbeanspruchung von Pierre Noras lieux-de-mémoire-Metapher der kritischen Überprüfung. Andernfalls werden nichtthematisierte Dimensionen des Vergessens und Verdrängens unterkonzeptualisiert bleiben. Dasselbe gilt für die Unterscheidung von kollektiver Erinnerung und den instrumentell auf Interessenverfolgung und Machterwerb ausgerichteten Politiken der Anerkennung beziehungsweise der Geschichtspolitiken.
Was auf dem Spiel steht, wenn man diese gegenwärtig weitgehend selbstverständliche Vermischung von Erinnerungskonzepten weiterhin als best practice gelten lässt, zeigt sich bei Betrachtung extremer Fälle der Generalisierung innerhalb solcher Diskurse. Wie bereits gesagt, kann man im Aufstieg universalistischer Werte zu Recht eine der treibenden Kräfte hinter dem "Erinnerungsboom" der vergangenen Jahrzehnte sehen. Innerhalb dieser Universalisierung, so hat Natan Sznaider kürzlich argumentiert, hat das Konzept des "Trauma" und seine Entwicklung eine Schlüsselrolle gespielt: Es etablierte sich mit der Erinnerung an den Holocaust als das allgemein anerkannte Paradigma für den Umgang mit vergangenen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" (crimes against humanity) und mit einem Opferstatus. Aus dem Gedanken eines historischen Traumas, mit seinem Bezug auf die Leidenserfahrung von spezifischen Opfern in spezifischen Kontexten, wurde ein solcher des strukturellen Traumas, der das ursprüngliche Ereignis - die Ermordung europäischer Juden - in einen Kontext verschiebt, der geprägt ist von der säkularen Wahrnehmung von massenhafter Gewalt, die in Europa und in anderen Teilen der Welt erlitten wurde. Eines der Ergebnisse dieser Verschiebung ist die Gefahr, dass der Unterschied zwischen Tätern und Opfern verschwindet. Daher sollten wir, so Sznaider, wenn wir einen generischen Ausdruck wie "Trauma" benutzen, uns "seiner menschlichen und historischen Dimensionen bewusst bleiben und zugleich seine strukturellen Elemente hintanhalten".
Eine Folge der Allgegenwart vergangenen Leids und Opfertums in den internationalen Arenen europäischer Politik sind Gelegenheitsstrukturen, die aus dem Zusammenwirken von Geopolitik, Versöhnungsdiplomatie und dem, was man öffentlich inszenierte "Erinnerungsspiele" (memory games) nennen könnte, hervorgehen. Sehr unterschiedliche politische Akteure verfügen mittlerweile über die Fähigkeit, die vielfältigen Energien anzuzapfen, die in der konfliktreichen europäischen Vergangenheit gespeichert sind, um ihre Ansprüche auf Macht und Ressourcen anzumelden. Die Etablierung von Versöhnung, Bedauern und schließlich Restitution hat einen Rahmen für einen Ausgleich gewalttätiger Konflikte in der internationalen Politik geschaffen, hinter den es kein Zurück mehr gibt. Daraus ist ein eigenständiger virtueller Markt entstanden, der gleichsam auf die Eroberung durch eine neue Art politischen Unternehmertums wartet.
Die Existenz solcher "Märkte" und die von ihnen gebotenen Möglichkeiten lassen ein Nachdenken und eine Neudefinition der Rolle von Politikwissenschaftlern und Historikern als geboten erscheinen. Diesen Experten bieten sich mehrere Optionen: Sie können mit eigenen Angeboten auf diesem neuen Geschäftsfeld tätig werden; sie können ihre Dienste als Marktanalysten anbieten; sie können neue und bessere Produkte bewerben; oder sie können eine Position in mittlerer Distanz beziehen, von der aus sie als kritische Beobachter neue Regeln für den Markt vorschlagen oder seine institutionellen und ideologischen Rahmenbedingungen überhaupt in Frage stellen. Kulturwissenschaftlerinnen wie etwa Aleida Assmann plädieren für ein Konzept der "dialogischen Erinnerung", das dann zum Zug kommt, wenn zwei oder mehr Nationen eine gemeinsame gewalttätige Geschichte abzuhandeln haben. Dies würde nicht weniger bedeuten als das Ende der "monologischen Erinnerung" innerhalb nationaler Rahmenwerke.
Im Gegensatz dazu meinen manche Historiker, es sei an der Zeit, einige Annahmen zu hinterfragen, auf denen der gegenwärtige Konsens über europäische Erinnerungspolitik aufbaut: zum Beispiel die unhinterfragte Anerkennung von vergangenem Opfersein (im Gegensatz zum gegenwärtigen Opferstatus, dessen Anerkennung vielfach offen gelassen oder überhaupt abgelehnt wird) und der damit unmittelbar verbundene Gedanke der kollektiven Identität als ihrer vorgeblich vornehmsten Errungenschaft.
Der belgische Historiker Pieter Lagrou etwa kritisiert auf dem Opferstatus gründende Ansprüche, die sich aus einer sekundären Verwertung der Holocaust-Erfahrung ableiten: Dadurch würden kollektivistische und unpolitische Partikularismen gestützt, die ihre Proponenten in einer Fixierung auf Retrospektion und Nostalgie erstarren lassen. Eine weitere negative Folge des Opferstatus-Diskurses sei die Verdinglichung von Identitäten gerade dort, wo das Gewahrwerden sich ändernder Identifikationen wünschenswert wäre. Diese Reifikation der im Opferstatus begründeten Identität erzeuge zudem ein eigenes Register des es umgebenden Sakralen mit seinem eigenen Arsenal an Sprechverboten und Sakrilegien, Profanierungen und Blasphemien. Was die Diskurse um den Opferstatus und seine kommemorativen Praktiken am Leben erhält, ist der ständige Kampf um den vordersten Platz auf der Bühne in der politischen Arena - und nicht der Kampf gegen die vorgeblichen Gefahren des Vergessens. Damit stehen fortwährende Retrospektion und eine statische Vergangenheitsbewahrung im Vordergrund, während das europäische Projekt doch viel eher zukunftsorientierte Utopien und eine dynamische Konzeption von Geschichte bräuchte.
Es ergibt sich aus dem Gesagten, dass nicht nur kollektive Erinnerungen und Erinnerungspolitiken miteinander im Widerstreit liegen können, sondern auch verschiedene Ansätze zu ihrer wissenschaftlichen Deutung. Anstatt einem von mehreren möglichen Standpunkten innerhalb des Erinnerungsbooms in Europa zum Durchbruch zu verhelfen, sollte man zunächst einmal das Potenzial der Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit der zur Verfügung stehenden Sichtweisen ermessen.
Wir vertreten mit Nachdruck die Überzeugung, dass der Widerstreit zwischen den europäischen Erinnerungen, ebenso wie sein intellektuelles Gegenstück, die gegensätzlichen Ansichten der Historikerinnen und Historiker zu diesem Thema, als ein belebender Prozess der Begegnung, der öffentlichen Debatte und des vorbehaltlosen Engagements gesehen werden sollte. Vielfach tragen Dramatisierungen zu einem Bild von clashes of memory bei, das an den schon seit Jahrzehnten herbeigeredeten clash of civilizations denken lässt.
Tatsächlich bleibt es fast immer bei Wortwechseln und Symbolkämpfen, bei Appellen an Dritte, die auf Anerkennung und Restitution zielen und manchmal von leidenschaftlichen Demonstrationen begleitet werden. Entgleisungen, die zu Ausgrenzung und Hasstiraden gegen herabgewürdigte "Andere" sowie zu physischer Gewalt führen, sind die Ausnahme. In jedem Fall braucht es ein hohes Maß an Abgeklärtheit, damit die Europäer des 21. Jahrhunderts das Beste aus ihren Erinnerungskonflikten machen können. Auf andere Weise werden sie ihr hoch komplexes gemeinsames Herkommen nicht annehmen können, um sich zugleich von den Albträumen einer geteilten Vergangenheit zu befreien.