Einleitung
Gestern wie heute bildet der Zeitraum der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus eine Schlüsselepoche der deutschen und europäischen Zeitgeschichte. Allerdings verändern sich die Perspektiven und Rahmenbedingungen der Forschung. Mit dem Voranschreiten der Zeit drängen neue Gegenstände und Fragestellungen in den Vordergrund, während der Begriff der Zeitgeschichte selbst unscharf geworden ist. Folgt man Hans Rothfels' klassischer Definition, so hat sich die "Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung"
Nach dem Umbruch von 1989/90 bestand kurzzeitig die Befürchtung, nun werde die Erforschung des Nationalsozialismus gegenüber dem aktuellen Interesse an der DDR-Geschichte in den Hintergrund treten. Solche Sorgen waren indes kaum begründet. Zumindest quantitativ hat sich die Forschung über den Nationalsozialismus ebenso wenig vermindert wie jene über die Weimarer Republik. Auch der Spezialist steht vor einer überwältigenden Fülle an Neuerscheinungen, die eine strenge Auswahl erfordert. Die folgenden Bemerkungen erheben daher keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern greifen drei aktuelle Forschungstrends heraus, die das gegenwärtige Bild Weimars und des Nationalsozialismus maßgeblich prägen.
Weimar ist kein Lehrstück mehr
Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie ist mittlerweile zu einem herausragenden Beispiel für den grundlegenden zeit- und generationenbedingten Perspektivenwechsel geworden, dem jede historische Forschung unterliegt. Lange Zeit nämlich stand die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Weimarer Republik unter der Frage nach den Gründen ihres Scheiterns. Das gilt für die politische Geschichte, die etwa nach den Schwächen der Verfassung und des Parteiensystems fragte, ebenso wie für die Sozialgeschichte in der Bielefelder Tradition einer "Historischen Sozialwissenschaft".
Erst auf diesem Fundament lässt sich plausibel argumentieren, dass die historisch-pädagogische Funktion Weimars an ihr Ende gekommen sei. Tatsächlich droht Berlin nicht Weimar zu werden. Angesichts gereifter Traditionen, gefestigter zivilgesellschaftlicher Fundamente, aber auch gänzlich neuer Herausforderungen benötigt die Bundesrepublik heute die Weimarer Republik nicht mehr als Negativfolie zur politischen Legitimation. Ihre Bedeutung als historisch-politisches "Argument" hat sich, wenn nicht verflüchtigt, so doch stark abgeschwächt.
Vor diesem Hintergrund hat sich die Historiografie der Weimarer Republik in den vergangenen beiden Dekaden zunehmend dem cultural turn geöffnet. Die Frage, wie die Akteure ihre eigene Zeit und Umwelt wahrnahmen, sich aneigneten und deuteten, strukturiert einen großen Teil der gegenwärtigen Weimar-Forschung. Das Forschungsinteresse hat sich von den Ursachen des Scheiterns zu den Erfahrungen der kulturellen Moderne verlagert. So kommt zum Beispiel ein kulturgeschichtliches Panorama des Jahres 1926 weitgehend ohne Kontext und Bezug auf das Jahr 1933 aus.
Auch wenn über Möglichkeiten und Grenzen kulturhistorischer Ansätze unterschiedliche Auffassungen bestehen mögen, so duldet es doch keinen Zweifel, dass die Weimar-Forschung durch entsprechende Fragestellungen und Methoden enorm an Tiefenschärfe gewonnen hat. Wir wissen heute weitaus mehr als noch vor zwei Jahrzehnten über Mentalitäten, langfristige Deutungsmuster, erfahrungsgeschichtlich gesättigte Orientierungen und intellektuelle Herausforderungen während der Zwischenkriegszeit. Und in dem Maße, in dem Geschichte und Scheitern der Weimarer Republik von ihrer Funktion als Lehrstück für die Bundesrepublik befreit werden, tut sich die Forschung auch leichter, neue Fragen an den Nationalsozialismus zu stellen. Insofern sie den Deutungskulturen zwischen Weimar und NS-Regime nachspüren, tendieren sie dazu, das Datum von 1933 zu überwölben und Kontinuitäten zu ermitteln.
"Volksgemeinschaft" als Forschungsparadigma
Insbesondere gilt dies für das gegenwärtig vielleicht aktuellste, wenngleich umstrittene Paradigma der NS-Forschung: das Konzept der "Volksgemeinschaft". Während die nationalsozialistische Volksgemeinschaft früher meist als bloße Propagandaformel betrachtet wurde, ist in letzter Zeit die tatsächliche, sozial integrierende und mobilisierende Kraft des Konzepts hervorgehoben worden.
Um zu verstehen, welche Dynamik diese Verheißungskultur entwickelte und warum es den Nationalsozialisten gelang, sie für ihre rassistischen Ziele umzudeuten und einzusetzen, hilft eine erfahrungsgeschichtliche Perspektive. Ein Teil des verheißenen Landes hieß nämlich eine gleichsam "normale", private Existenz. Tatsächlich waren die Sehnsucht nach einem sicheren Arbeitsplatz und nach einem bescheidenen Heim, der Wunsch, eine Familie zu gründen und einen gewissen Zugang zu dem wachsenden Angebot an Konsumgütern zu haben, eine zentrale, häufig aber unterschätzte Antriebskraft im politischen Verhalten der Deutschen zwischen Weimar und Hitler. Und es war entscheidend für das Schicksal der Weimarer Republik, dass sie so viele Hoffnungen auf ein kleines Stück privaten Glücks enttäuschte. So erweiterte die mediale Etablierung einer weithin sichtbaren Konsumkultur die diesbezüglichen Erwartungshorizonte; zugleich aber blieben weite Teile der deutschen Bevölkerung mehr oder weniger vollständig von dieser emporwachsenden Konsumkultur ausgeschlossen.
Hitler gelang es, seine eigene Biografie als repräsentativ für Millionen anonymer Lebensläufe zu inszenieren: für die sozial Benachteiligten, die materiell Gedemütigten und die politisch Enttäuschten. Der Nationalsozialismus hatte darin Erfolg, alle diese Dispositionen zusammenzubringen mittels eines Bildes der Volksgemeinschaft, das versprach, das Unglück der Gegenwart zu beenden und in der Zukunft Gerechtigkeit, Wohlergehen und Anerkennung zu erreichen. Die Inszenierung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft nach der Machteroberung 1933 erfolgte in doppelter, in sich paradoxer Weise: Einerseits präsentierte sich Deutschland als eine junge, sozial homogene, kraftvolle Nation, die bereit war, ihren neuen Platz in der Welt einzunehmen und, wenn nötig, für ihn zu kämpfen. Aus der Opfergemeinschaft der Weimarer Republik war die nationalsozialistische Kampfgemeinschaft geworden. Andererseits aber förderte das Regime mit allen Kräften die Privatsphäre, um die öffentliche und politische Leistung der Volksgemeinschaft zu steigern. Die inklusiven Elemente der kämpfenden Volksgemeinschaft lauteten: harte Arbeit, eine klar geformte Geschlechterordnung und das Versprechen eines deutlich erweiterten Konsums.
Während der 1930er Jahre richtete sich ein Großteil der nationalsozialistischen Propaganda auf eben diese drei Aspekte und hob Arbeit, Geschlechterordnung und Konsum hervor. Und dies passte exakt zu dem, was sich Millionen von Deutschen längst für ihr Privatleben ersehnt hatten, nämlich: bezahlte Erwerbstätigkeit, Heim und Familie, materielles Wohlergehen. Mithin rief das Regime zum Kampf auf, versprach aber Normalität. Diese Interaktion zwischen öffentlicher Propaganda und privatem pursuit of happiness lag an der Wurzel dessen, was man den "Erfolg", die "Realität" oder auch nur die "soziale Praxis" der Volksgemeinschaft nennen kann. Trotz aller fortbestehenden ideologischen Distanz begann auch die Mehrheit der Arbeiter die Anforderungen und Zumutungen der NS-Volksgemeinschaft zu akzeptieren, um ihre privaten Prioritäten zu verfolgen. "Das Interesse am Klassenschicksal ist zum großen Teil völlig verschwunden", klagte ein Sopade-Bericht 1936, "an seine Stelle ist der kleinlichste Einzel- und Familienegoismus getreten."
Die Resultate blieben freilich ambivalent und verstärkten die Antinomien des Regimes. Vieles ist zum Beispiel über die widersprüchliche Politik des Regimes gegenüber Frauen gesagt worden.
Wenngleich diese Pläne, vielleicht mit Ausnahme des "Volksempfängers", scheiterten, so ist doch nicht zu bezweifeln, dass sich der Lebensstandard der deutschen Bevölkerung während der 1930er Jahre insgesamt verbesserte und das Alltagsleben unter dem Nationalsozialismus durchaus Elemente der Freude und des Vergnügens kannte.
Überdies war die "Normalität" der Privatsphäre zu keinem Zeitpunkt des NS-Regimes ein unpolitischer, geschützter Bereich. Die Förderung des Privaten durch das Regime folgte stets einer instrumentellen Logik und diente der effizienteren Mobilisierung der Gesellschaft für den Krieg. Privatheit war in erster Linie der Erholungsraum der Kampfgemeinschaft. Insoweit war und blieb das Private unter der nationalsozialistischen Herrschaft immer politisch. Die Hoffnung auf echte Privatheit, die ein "normales" ziviles Leben ermöglicht hätte, blieb Illusion. Erst nach Ende des Krieges, als die durch Propaganda und Verheißung konstruierte nationalsozialistische Volksgemeinschaft zusammengebrochen war, wurde Privatheit als geschützter Raum tatsächlich wieder - wenngleich in den zeitbedingten Grenzen - möglich.
Volksgemeinschaft und Holocaust
Irreführend wäre jede Analyse des nationalsozialistischen Konzepts der Volksgemeinschaft, die nicht zugleich deren exklusiven, rassistischen und gewaltsamen Charakter systematisch einbezöge. Der Volksgemeinschaft anzugehören meinte stets auch, den gewaltsamen Ausschluss, die Entrechtung und Verfolgung, schließlich auch die Ermordung der Juden, der Sinti und Roma, der Behinderten, der Homosexuellen, der politischen Opponenten und all jener, die das Regime als antisozial brandmarkte, zu unterstützen oder zumindest hinzunehmen. Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft hieß also immer auch, sich nolens volens auf die Seite der Täter zu stellen. Überdies fungierte der Antisemitismus, im Kontext einer neuen nationalsozialistischen "Moral", durchaus als mobilisierender Motivationsfaktor für die Konstruktion der Volksgemeinschaft "von unten".
Mithin zeigt die neuere Forschung eindrücklich, wie tief die exklusiv-gewaltsamen, auf Vernichtung hin orientierten Zielperspektiven des Nationalsozialismus in die deutsche Gesellschaft hineinreichten. Letztlich bleibt jedes Bild der NS-Diktatur durch die Geschichte des Holocaust grundiert. Dies dokumentieren auch die bisher erschienenen Bände des großen Editionsprojektes "Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945".
Die konstitutive Bedeutung des Holocaust für die NS-Forschung muss auch angesichts einer doppelten Problematik betont werden, deren Gefahren gegenwärtig klar erkennbar sind. Zum einen nämlich sind der Massenmord an den Juden und das Gedenken an ihn inzwischen weitgehend entkoppelt von den Zeitzeugen, das heißt, er geht bereits seit längerer Zeit in das kulturelle Gedächtnis ein. Teil dieses kulturellen Gedächtnisses ist der Prozess der sogenannten "Universalisierung" des Holocausts: Über das konkrete Geschehen hinaus wird der Holocaust zu einem Gedenkzeichen für die Unmenschlichkeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Zum anderen ist die Holocaustforschung im engeren Sinne, die in Deutschland ohnehin nie besonders stark verwurzelt war, seit geraumer Zeit zu einer Art Spezialwissenschaft geworden. Sie droht zu einer "Insel" zu werden, deren Feinstruktur nur noch den entsprechenden Spezialisten zugänglich ist. Die Zeit der großen erkenntnisleitenden Debatten, die zum Beispiel danach fragten, ob der Holocaust als ein "Zivilisationsbruch" oder doch eher als eine extreme Möglichkeit der Moderne selbst betrachtet werden sollte, scheint vorbei zu sein. Faktisch beobachten wir daher eine gewisse Entkoppelung zwischen "allgemeiner" NS-Forschung und der empirischen, quellenbezogenen Erforschung des Holocaust. Beiden Tendenzen, der Universalisierung des kulturellen Gedächtnisses wie der "Verinselung" der Holocaust-Forschung, muss entgegengewirkt werden. Andernfalls droht das gesellschaftliche und historische Bewusstsein für die Tiefenwirkung des NS-Regimes zu schwinden. Möglich ist dies letztlich nur durch die Förderung der empirischen Forschung und die Entwicklung übergreifender Fragestellungen.
Fazit
Es ist deutlich geworden, dass die Geschichtsschreibung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus Veränderungen unterliegt. Ältere Fragestellungen, die sich etwa der deutschen Trias vom Scheitern der Demokratie, nationalsozialistischer Diktatur und demokratischem Neuanfang verpflichtet wussten, treten in den Hintergrund. Kultur- und erfahrungsgeschichtliche Fragestellungen, die sich von den politischen Daten lösen, sind wichtiger geworden.
Im Hinblick auf das NS-Regime verlieren dagegen traditionelle Fragen nach seinen Antriebskräften, nach Ausmaß und Grenzen der gesellschaftlichen Zustimmung und nach dem Gesicht der Täter wie der Opfer ihren Stachel nicht. Tatsächlich bleibt die fatale Verschränkung von ideologisch begründeter und auch nicht weiter ableitbarer Vorgabe und der technokratischen und bürokratischen Effizienz, mit der diese Vorgabe in die Tat umgesetzt wurde, ein entscheidendes Lehrstück der Menschheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Seine genaue Kenntnis ist ohne die systematische Einblendung der Vorgeschichte sowie des dezidierten Vernichtungscharakters des Nationalsozialismus nicht möglich.